Unsere Werte
»Lass uns zahlen«, sagte ich zu meinem Onkel. »Dann gehen wir langsam weiter. Oder vielleicht könnten Sie uns ein Taxi rufen?«, fragte ich die sympathische Kellnerin, als sie uns den Kassenbon brachte.
Ich hatte nichts gegen einen Spaziergang, es war auch gar nicht so weit vom Bahnhof bis nach Hause, doch mein Onkel sah müde aus, und die Vorstellung, seinen Koffer mit Steinen die ganze Invalidenstraße entlang über die Bürgersteige zu rollen, machte mich etwas unsicher.
»Können Sie uns ein Taxi besorgen?«, wiederholte ich meine Frage.
»Nein, kann ick nich«, sagte die Kellnerin auf freundlich berlinerische Art. »Ick kenne die Nummer nicht, ick selbst fahre nämlich keen Taxi. Aber hier gleich um die Ecke am Döner-Paradies ist ein Taxistand, da stehen immer welche, das weiß ick genau.«
»Gut, wenn Sie sicher sind, gehen wir zum Döner-Paradies«, nickte ich.
»Sicher bin ick nie, aber da stehen eigentlich immer Taxen«, meinte die Frau. »Dat würde mich wundern, wenn da keine Taxen stehen, kann aber auch passieren. Man muss heutzutage auf alles gefasst sein, nichts ist sicher, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, nicht?«, meinte sie philosophisch. »Wenn um die Ecke keine Taxen stehen, könnt ihr jederzeit zurückkommen, wir haben bis um fünf Uhr früh auf«, lächelte sie uns an.
Ich dankte für die Einladung und sammelte das nötige Kleingeld aus meinen Taschen, um die Rechnung zu begleichen. Der Onkel betrachtete die Münzen auf dem Tisch mit numismatischem Interesse. In Russland werden zwar offiziell noch Münzen hergestellt, sie gehören praktisch aber längst der Vergangenheit an. Durch die ständige Geldentwertung sind sie sinnlos geworden. Rubel und Kopeken werden nicht einmal mehr Bettlern zugemutet. Früher in der Sowjetunion konnte man dagegen mit Hartgeld große Einkäufe machen. Ein Brötchen, das heute dreißig Rubel kostet, kostete in der Sowjetunion drei Kopeken, eine Schachtel Streichhölzer war nur eine Kopeke wert. Als Kinder hatten wir nie Papiergeld in der Tasche, unser Alltag war ein Kopeken-Leben. Alles, was uns interessierte – Milchcocktails, Zigaretten, Eis, Kino – kostete ein paar Kopeken.
Wahrscheinlich erinnerten die deutschen Münzen meinen Onkel an frühere Zeiten. Er drehte sie, schaute den komischen dicken Adler an, wog sie vorsichtig auf der Hand. Tatsächlich hatten die europäischen Silber- und Kupfermünzen eine gewisse Ähnlichkeit mit unseren sowjetischen Kopeken, die eigentlich nur als Übergangswährung zu einer geldlosen kommunistischen Gesellschaft dienen sollten, einer Zukunft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten geben und nach seinem Bedürfnissen nehmen durfte, ohne dafür zu zahlen. Daraus ist nichts geworden, der Traum ist geplatzt. Seitdem vertrauen die Russen ihrer Währung nicht mehr.
Das heutige russische Papiergeld wird, so denke ich, von den meisten als Falschgeld betrachtet, extra gedruckt, um die Menschen zu verwirren und jeden Ausdruck der Menschlichkeit damit zu ersetzen: Leidenschaft, Freundschaft, Solidarität, Zusammenhalt. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, wird für jede üble Tat als Ausrede genommen und akzeptiert. Eigentlich hatten die Russen auch das sozialistische Papiergeld nicht für voll genommen. Die sowjetischen Scheine mit Lenins Schädel darauf waren nichts als faule Aktien. Die Idee, alle Menschen mit einer gerechteren Gesellschaft zu beglücken, die einst in diesem Schädel geboren wurde, ist irgendwo zwischen den Vernichtungslagern des Stalinismus und der verfilzten sowjetischen Bürokratie der späten sozialistischen Zeit verloren gegangen. Die Idee war tot, nur die Scheine blieben noch eine Weile. Das postsozialistische Geld ohne Lenin darauf verlor so schnell an Wert, dass jeder Geschäftsmann zwangsläufig ein guter Jogger sein musste. Die Summe seiner Gewinne war nämlich nicht zuletzt davon abhängig, wie schnell er seine Rubel zur Bank bringen konnte, um sie in härtere Währung umzutauschen.
Mein Freund Alexander, der damals als einer der Ersten anfing, dem Geldgott der neuen Zeit zu dienen, schleppte ständig Sporttaschen, Koffer und Rucksäcke voller Geldscheine zur Bank. Das Geld zu verdienen fiel ihm leichter, als es zu behalten. Noch während des Geldschleppens schrumpfte sein Gewinn bereits um ein Drittel, allein der Inflation wegen. Später kam noch die Korruption hinzu. Viele Geschäftsmänner aus seiner Umgebung schafften es nicht, ihre Gewinne vernünftig anzulegen oder auszugeben. Ehe sie sich umdrehten, verwandelten sich die Scheine in wertloses Papier. Es war ein frustrierendes Gefühl. So fühlte sich wahrscheinlich das arme Aschenputtel, das den Ball immer zum schönsten Zeitpunkt verlassen musste, damit der Prinz nicht mitbekam, wie ihre Kutsche sich in einen Kürbis verwandelte. Sie musste ihren Prinzen belügen und wegrennen, über drei Stufen springen und ihre von der Fee ausgeliehenen Schuhe verlieren.
Der russische Kapitalismus basierte auf einem ähnlichen Zauber. Zwar waren alle zur Party eingeladen, doch niemand konnte sicher sein, wie lange er mitfeiern konnte. Aber anders als bei Aschenputtel verwandelte sich der Wohlstand samt aller Lebensentwürfe der Neureichen nicht pünktlich um Mitternacht – daran hätte man sich gewöhnen können –, sondern zu jeder beliebigen Stunde in Kürbisse. Ihre Geschäfte verwandelten sich in Kürbisse, ihre Immobilien, ihre Frauen, manchmal sie selbst. Das Land wirkte wie ausgestorben, überall lagen nur Kürbisse herum. Bis heute wird diese Kürbissuppe ausgelöffelt.
Die Kellnerin hatte Recht, nichts ist mehr sicher auf dieser Welt, schon gar nicht eine Geldwährung. Und so schwimmen wir weiter im Fluss des Lebens, ohne festen Boden unter den Füßen, ohne Schnorchel und ohne Flossen, ohne eine Arche Noah, in die sich alle im Notfall retten könnten. Während die Deutschen sparen und etwas auf die hohe Kante legen, versuchen die Russen verzweifelt ihr Geld auf jede Art loszuwerden. Je reicher sie sind, umso verzweifelter. Russen investieren in gigantische Geburtstagsfeiern, kaufen überteuerte Yachten, Hubschrauber, U-Boote und englische Fußballvereine. Sie glauben daran, vielleicht doch noch die richtige Zutat für ein gutes Leben zu ergattern, und werden dabei bloß depressiv. Es kommt ihnen vor, als gäbe es in Wirklichkeit nichts Wertvolles mehr auf der Welt, wofür es sich lohnen würde, Geld auszugeben.
Sogar Gold ist nicht mehr das, was es einmal war. Ein reicher Russe beschwerte sich neulich öffentlich in der Presse, sein Gold sei verrostet. Zuerst lachten alle bloß. Dieser ältere Neureiche war schon früher durch clowneskes Verhalten aufgefallen. Er fiel etwas aus dem Rahmen, hatte eine Menge Kinder mit Schönheitsköniginnen – aus Schönheitswettbewerben, die er selbst organisierte – und hatte als Hobby in einem Dorf eine Ziegenkäsekolchose gegründet. Er habe viel Geld auf den Aktienmärkten verloren, beschwerte er sich, verkaufte dann all seine Firmen und zog sich mit den Ziegen und seinen Kindern aufs Land zurück, wo er ein naturverbundenes Leben im Kreise seiner Lieben führen wollte. Die Schönheitsköniginnen zogen verständlicherweise nicht mit. Seine letzten Aktien hatte er in russische Goldmünzen umgerubelt, schöne große Münzen mit dem heiligen Georgij darauf, der mit seinem Speer eine Schlange aufspießt. Eine härtere Währung konnte man sich kaum vorstellen. Seine Erben hätten, wenn sie einmal groß wären, nie arbeiten gehen müssen. Doch statt sein Gold, wie ein solider Geschäftsmann es getan hätte, in einem Schließfach in der Bank zu lagern, vergrub der Verrückte es neben seinem Ziegenstall unter einer Eiche.
Nach einem halben Jahr grub er das Gold wieder aus und staunte. Alle Münzen hatten einen brauen Belag und merkwürdige Kratzer bekommen. Der besorgte Ziegenzüchter sprach unverzüglich bei der Bank vor und beschwerte sich, sein Gold sei völlig verrostet. Die Bankexperten hielten ihn zuerst für nicht ganz dicht. Das Gold war absolut rein, die Münzen frisch gepresst. Und einen braunen Belag auf Gold gibt es nicht. Dieses Metall zählt ja zum Wertbeständigsten überhaupt, nicht zuletzt weil Gold mit keinem anderen Element, seien es Metalle oder Gase, eine chemische Verbindung eingeht. Gold reagiert mit nichts und kann demzufolge weder verrosten noch vergammeln oder verschimmeln.
Der Ziegenmann brachte die Münzen zur Bank. Die Experten waren nicht blind, sie gaben zu, dass mit dem Gold etwas nicht in Ordnung war. Die Tatsache, dass das Gold des Ziegenmelkers so merkwürdig braun geworden war, konnte die Expertenkommission der russischen Zentralbank jedoch wissenschaftlich nicht begründen. Sie beschuldigten stattdessen den Kunden eines amoralischen Umgangs mit gesellschaftlichen Werten, weil er das edle Metall unvorschriftsmäßig gelagert hatte. Hätte der Ziegenliebhaber, wie die anderen Goldbesitzer, sein Gold im Schließfach der Bank deponiert, wäre ihm das nicht passiert. Mit dieser Erklärung kaufte die Bank dem Ziegenmelker sein verrostetes Gold mit einem dreiprozentigen Diskont zurück.
Diese Geschichte geriet an die Öffentlichkeit, und viele Goldbesitzer fragten sich daraufhin, ob das alles bloß eine Sommerlochgurke oder ob da doch etwas Wahres dran war. Was, wenn die Welt sich tatsächlich verändert hatte, die Physik und Chemie ihrer Elemente nicht mehr stimmte? Die globale Erwärmung, das Ozonloch, das Erdbeben in Japan, letzten Endes die in der Schweiz in einem Teilchenbeschleuniger erzeugten schwarze Löcher könnten die Elemente des Periodensystems verschoben haben, und daraufhin ist alles durcheinandergeraten. Der Glanz der frühen Zeit ist erloschen, das Gold verschimmelt.
Wenn das wahr ist, haben wir überhaupt keine festen Werte mehr, auf die man sich stützen kann. Sogar in der Schweiz, diesem Hort der Stabilität und Neutralität, bemerkte ich neulich eine gewisse Unsicherheit bei Geschäftsleuten und Bankdirektoren. Ich war gleich zwei Mal hintereinander in der Schweiz gewesen. Einmal hatte mich die schweizerische Bankenvereinigung als Redner eingeladen, ein andermal hatte ein großer Pharmakonzern meinen Freund Vitali und mich als DJs mit unserer Tanzmucke »Russendisko« für ihre Weihnachtsfeier gebucht.
»Diese Leute müssen doch unglaublich potente Tänzer sein, nicht umsonst haben sie das Viagra erfunden«, freute sich mein Freund auf die Einladung.
Die Party war aber die ruhigste und langweiligste, die wir jemals erlebt haben. Mehrere hundert Mitarbeiter waren in einem großen Saal versammelt, Quartalszahlen wurden vorgelesen, es wurde russisch gegessen, wenig getrunken und noch weniger getanzt. Am heftigsten tanzten die DJs, also wir selbst, und ein älterer Mann, der trotz seines Alters immer wieder hochsprang und immer dasselbe Lied über die Biene Maja bestellte. Mein Freund gab ihm den Spitznamen »Leiter der Viagra-Abteilung«. Noch vor Mitternacht waren wir entlassen.
Außer uns gab es noch ein zusätzliches Unterhaltungsprogramm. Ein schwäbischer Schauspieler moderierte zwischen den einzelnen Gängen des Menüs. Er gab den russischen Zaren Iwan den Schrecklichen, denn der ganze Abend war unter einem russischen Kulturstern geplant worden. Die Witze des schrecklichen schwäbischen Zaren Iwan waren, höflich ausgedrückt, nicht gut. Sie waren so unappetitlich, dass ich mir Sorgen machte, ob die Konzernmitarbeiter dabei ihr Essen problemlos runterbekamen.
»Wir Russen«, sagte der schreckliche Zar, »waschen uns nie. Denn mein Vater sagte immer: ›Ein Russ muss riechen wie ein Ross‹.«
Eiserne Stille breitete sich im Raum aus, nur mein Freund Vitali hustete höflich. Nach der Veranstaltung wollten wir uns diskret mit dem Zaren unterhalten.
»Sag mal, Zar«, fing ich freundlich an, »ich hätte da eine Frage bezüglich deines Auftritts.«
Der Zar schaute uns ängstlich an und streckte die Hände vor: »Sagen Sie nichts weiter, ich weiß, es waren unglaublich dämliche Witze. Aber ich habe schlicht und einfach keine besseren über Iwan den Schrecklichen gefunden, und die Firma wollte keinen anderen Zaren, es sollte unbedingt dieser Iwan sein.«
Wie ließen den Zaren natürlich laufen.
Drei Wochen später war ich wieder in der Schweiz, in einer Bank. Die bereits erwähnte schweizerische Bankvereinigung hatte zu ihrem kleinen Empfang einen badischen Weinhändler mit Wein, Käse und Schokolade eingeladen sowie einen lokalen Wurstmacher und mich mit einem launigen Vortrag zum Thema Finanzen. Der Weinhändler war sehr aufgeregt. Wein, Käse und Schokolade in die Schweiz zu bringen, das ist, wie Eulen nach Athen zu tragen. Doch die Banker waren sehr freundlich. Sie nahmen alles wohlwollend auf, was man ihnen anbot, sie aßen den Käse und lobten den Wein. Einige von ihnen behaupteten, unter dieser ihrer Bank läge das ganze Gold der Schweiz begraben.
Wenn man mit Schweizern über die Quelle ihres Reichtums spricht, erzählen sie gerne von Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit und anderen Tugenden ihres Volkes. Wie jede Nation sind die Schweizer völlig in Mythen über sich selbst gefangen. Viele Schweizer glauben tatsächlich, dass Hitler die neutrale Schweiz nicht angegriffen hat, weil er Angst vor diesem kleinen, aber unglaublich mutigen Volk hatte. Die Städte hätte Hitler zwar schnell eingenommen, doch dann wären die Schweizer in die Berge gezogen, gut bewaffnet und organisiert, und hätten dem Führer einen solchen Partisanenkampf mitten in Europa geliefert, dass die deutschen Stellungen an der Ostfront deutlich geschwächt worden wären. Deswegen habe Hitler fast der ganzen Welt, jedoch nicht der Schweiz den Krieg erklärt. Die einfachere Erklärung, dass ihre Neutralität Hitler nutzte und in Wirklichkeit den Bösen half, ihr Gold zu verstecken, käme den Schweizern nicht in den Sinn.
Irgendwie stehen sich die Menschen doch immer selbst im Wege. Ihre Ansprüche werden größer, ihr Können kleiner, und egal, was sie sich wünschen, sie kriegen es nicht hin. Die Amerikaner können sehr gut Löcher in die Erde bohren, um nach Öl zu suchen, aber sie können ihre Löcher nicht mehr schließen. Die Japaner können im sichersten Reaktor der Welt die Kernschmelze nicht verhindern. Deutsche bauen aus Angst vor Radioaktivität unermüdlich Windmühlen, als wollten sie in Zukunft alle als Windmüller überleben. Die Finnen schwitzen in der Sauna weniger als früher. Und die Russen, früher leidenschaftliche Jäger, haben immer weniger Spaß am Jagen großer Tiere, ganz so, als hätte der russische Jagdgott sie verlassen.
Es begann damit, dass mehrere nacheinander ins Amt befohlene Gouverneure auf der Jagd verunglückten. Jeder neue Gouverneur denkt, er sei der bessere, und will sich etwas Besonderes gönnen. Als erste Amtshandlung begibt er sich auf eine Hubschrauberjagd ins Altai-Gebirge, um aus der Luft wilde Steinböcke zu schießen. Manchmal fliegen die Jäger auch zu zweit oder zu dritt. Von insgesamt vier Dutzend Gouverneuren ist inzwischen ein Drittel aus dem Hubschrauber gefallen. Die ersten Vorfälle ereigneten sich alle nach dem gleichen Muster, sodass man zuerst an eine Entführung dachte. Man fand einen vollkommen zerschossenen Hubschrauber mit dem toten Piloten auf dem Boden und keine Gouverneure drum herum. Später wurden die Gouverneure ebenfalls tot in den Bergen gefunden, in der Regel weit weg von der Unfallstelle. Die Rekonstruktion der Vorfälle machte deutlich, dass die Gouverneure die Piloten gezwungen hatten, so tief wie möglich zu fliegen, um die Steinböcke aus sicherer Entfernung abzuschießen. Die Böcke liefen auf die Spitze des Berges, der Hubschrauberpilot schaukelte ein wenig, um die Maschine hochzuziehen, die Gouverneure verloren das Gleichgewicht, schossen um sich und fielen aus der Kanzel. In mehreren Fällen überlebten sie den Absturz, denn Gouverneure haben eigentlich wie Katzen sieben Leben. Nur schämten sie sich, in der Stadt bei ihrem Amt um Hilfe zu rufen. Sie liefen den Steinböcken hinterher, verirrten sich und verdursteten in den Bergen. Seitdem ist die Bocksjagd in Russland offiziell auch für Gouverneure nicht mehr erlaubt.
Selbst die berühmte russische Bärenjagd ist zu einer Touristenattraktion heruntergekommen. Ein Freund von mir, der in der Tourismusbranche arbeitet, erzählte, dass es in der Nähe von Moskau spezielle Naturschutzgebiete gibt, wo Bären von Touristen mit Paintball-Gewehren, also mit Farbkugeln, beschossen werden. Mein Freund hat mehrmals Touristengruppen in eine solche Anlage begleitet und meint, die Tiere sähen dort wie Gummibärchen aus. In allen Haribo-Farben laufen sie durch die Gegend: Es gibt inzwischen gelbe Bären, rote Bären und grüne Bären. In der Regel laufen sie weg, wenn sie einem Touristen mit Gewehr begegnen. Nur ein Bär, den alle übrigens Iwan den Schrecklichen nannten, ging auf die Touristen zu. Er genoss es anscheinend, mit Farbkugeln beschossen zu werden, und sah aus wie die Palette eines avantgardistischen Malers.
Vielleicht träumte der farbverliebte Bär von einer künstlerischen Karriere. Vielleicht hat er aber einfach ein schlechtes Gewissen, weil er in seinem früheren Leben in Freiheit viele Touristen aufgeschlitzt hat, gaben die Naturparkwächter zu bedenken. Der Bär war schon alt. Nun suchte er nach Vergebung für seine Sünden bei den Touristen, wie Iwan der Schreckliche es kurz vor seinem Tod getan hatte. Dieser Zar war eine tragische Figur und für Witze schlecht geeignet. Er war sein Leben lang von Verzweiflung und Ängsten geplagt. Besonders groß war seine Angst zu sterben. Ihm war bewusst, dass sehr viele Menschen durch ihn gelitten, von ihm gequält und umgebracht worden waren. Deswegen verteilte er sein ganzes Gold an die Kirchen, die Gott Tag für Tag um Vergebung für ihn und um Frieden für die von ihm geschundenen Seelen beten sollten, bis sein Gold aufgebracht war. Damals war Gold noch fest im Kurs und verrostete nicht, es hätte für hundert Jahre Gebete gereicht. Dabei sollten alle Seelen beim Namen genannt werden, damit Gott auch wusste, um wen es dabei ging. An einige Namen konnte sich Iwan der Schreckliche erinnern. An viele andere haben ihn seine Untertanen erinnert, doch die meisten blieben vergessen. Niemand kannte mehr ihre Namen. Niemand erinnerte sich mehr an sie. Iwan dem Schrecklichen war es peinlich, dass seine Rechnung nicht aufging. Er konnte so leicht all diesen Menschen das Leben nehmen, doch er konnte keine einzige ihrer Seelen retten. Er wusste nicht einmal, wie sie hießen. Für diese Menschen dachte sich Iwan der Schreckliche eine neue Gebetsformel aus. Die Popen sollten in diesen Fällen beten: »Oh lieber Gott, lass die Seele von Du weißt schon wem in Frieden ruhen.« Noch Jahre nach dem Tod des Zaren läuteten die Glocken, und die Popen baten um Vergebung für die unschuldig geschundene Seele von Du weißt schon wem, bis das alte Gold des Zaren alle war und das neue zu rosten begann.
Mein Onkel und ich zahlten und gingen in die Nacht. An manchen Ecken sieht Berlin nachts trotz des Tourismus gespenstisch, gar ausgestorben aus. Im Haus auf der anderen Straßenseite brannte in keinem einzigen Fenster Licht. Keine Fußgänger und kein Auto kamen vorbei. Nur wir waren wie zwei verdiente Invaliden mit Rollkoffer auf der Invalidenstraße mitten in der Nacht unterwegs. Zum Glück war es nicht weit bis zum Döner-Paradies. Seine leuchtende Neonreklame konnte man schon von weitem sehen. Vor dem Imbiss stand tatsächlich ein Taxi und drei in Leder verpackte, unrasierte Typen, die trotz der späten Stunde einen nüchternen Eindruck machten und uns aufmerksam anschauten. Ihre Blicke konzentrierten sich auf unseren Koffer und strahlten eine Fröhlichkeit aus, die uns verwirrte. Sogar mein Onkel, ein mutiger Mensch, hatte, glaube ich, ein mulmiges Gefühl in Anbetracht der möglichen Folgen dieser Begegnung. Noch am Bahnhof hatte er mich gefragt, ob es nicht gefährlich sei, nachts durch Berlin spazieren zu gehen, und wie es um die Kriminalität in der deutschen Hauptstadt bestellt sei. Ich gab mir Mühe, den Onkel zu beruhigen, doch meine geringe Erfahrung kann fremde Ängste nicht beseitigen. Dazu kenne ich Berlin viel zu wenig. Wir bewegen uns in der Stadt kaum nachts und wenn, dann nur zur Russendisko, unserer Tanzveranstaltung. Ich war zum Beispiel noch nie im Döner-Paradies gewesen und wusste nicht, wie die Leute dort drauf waren.
In unserer Diskothek sind die Menschen nicht streitsüchtig, das heißt, grundsätzlich ist natürlich nichts ausgeschlossen, aber man muss sich schon sehr anstrengen, um dort verprügelt zu werden. In zehn Jahren Russendisko gab es so gut wie nie Streit. Einmal hat ein Mitarbeiter der ukrainischen Botschaft versucht, die Eingangstür zu zertrümmern, weil sie sich aus Prinzip nur nach draußen und nicht nach innen öffnen lässt. Ein andermal haben fünf Inder in der Schlange am Tresen untereinander Streit angefangen, wahrscheinlich um ihre Kastenunterschiede zu betonen und damit zu klären, wer am Tresen Vorrang hatte.
Obwohl – vor kurzem hat mein Freund Leonid es doch geschafft, im Café Burger k.o. zu gehen. Er hatte eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe englischer Touristen, die ihn sehr schnell und sehr sportlich, englisch eben, links und rechts auf die Backe boxten. Mein Freund wunderte sich sehr über diese englische Sportlichkeit. Er hatte sich eigentlich für unbesiegbar gehalten, und im Nachhinein konnte er den Engländern nichts vorwerfen. Er hatte den Streit selbst angefangen und war zu Boden gegangen, noch bevor er den Engländern Angst machten konnte.
Tja, ich weiß, das ist keine gute Beschreibung einer Schlägerei, sie hört sich wahrscheinlich zu alltäglich an. Das liegt aber an meiner ungelenken Schreibart. Ein englischer Literat hätte über die Schlägerei bestimmt anders, spannender geschrieben. Er hätte den Vorfall mit massivem rhetorischen Einsatz vom dumpfen Alltag abgehoben wie in der Literatur üblich: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Nichts deutete auf etwas Außergewöhnliches oder gar auf eine Gefahr hin. Doch plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein unbekannter Russe auf. In der Hand hielt er eine Bierflasche … Noch spannender wäre die Geschichte gewesen, hätte mein Freund einen Hammer statt einer Bierflasche in der Hand gehabt. Er war in seinen jungen Jahren übrigens Leichtathlet gewesen und hatte unter anderem Hammer geworfen, hielt sich von daher für supersportlich, überschätzte aber wie gesagt seine Fähigkeiten bei den englischen Touristen völlig.
Russen überschätzen sich in dieser Hinsicht am laufenden Band. Sie halten sich alle für Athleten, weil sie als Kinder in irgendwelchen Sportvereinen merkwürdige Sportarten erlernt haben, die bei heutigen Kindern nur verständnisloses Lächeln hervorrufen. Sie gingen fechten, eisschnelllaufen, hochspringen oder eben hammerwerfen. Mir würde es schwerfallen, Kindern zu erklären, warum man so etwas wie einen Hammer überhaupt werfen sollte. Für mich sind diese Sportarten nichts anderes als Erinnerungen an die Partisanenkämpfe der Vergangenheit. Hierzulande wurden nicht Hämmer, sondern eher Speere geworfen. Die Deutschen erzielen im Speerwerfen, glaube ich zu wissen, nach wie vor gute Ergebnisse bei den Olympischen Spielen. Schon die Römer ärgerten sich unsäglich über diese kurzen hinterhältigen Speere, die die Germanen unter den Mänteln trugen. Ins Gesicht grüßten sie die römischen Ritter höflich, wenn sie ihnen auf dem engen Waldweg begegneten. Aber kaum ritten die Ritter vorbei, bekamen sie den kurzen Speer in den Rücken gestoßen oder geworfen. Die Sonne schien. Und die Vögel zwitscherten natürlich. Die Pferde zwitscherten auch. Sie wunderten sich, wo ihre Reiter plötzlich hingeflogen waren. Die kurzen hinterhältigen Speere nannten die Römer »arma partisana«, später wurden daraus die Partisanen, die Wald- und Hinterhaltkämpfer.
Während des Vaterländischen Krieges im 19. Jahrhundert warfen die russischen Bauern der französischen Armee Mistgabeln entgegen und holten die Soldaten Napoleons damit vom Pferd. Auf vielen Gemälden der damaligen Zeit sind die Franzosen mit Kanonen, die Russen mit Mistgabeln abgebildet. Diese Mistgabeln haben den Ausgang des ersten russischen Vaterländischen Krieges entschieden und den russischen Imperator Alexander I. bis nach Paris katapultiert. Wenn neben Speer und Hammer auch das Mistgabelwerfen zu einer olympischen Disziplin geworden wäre, hätten die Russen gute Chancen, auf ewig Weltmeister in dieser Disziplin zu sein. Leider wurde die Gabel vom olympischen Komitee nicht anerkannt. Sie kam zu spät.
In jedem Jahrhundert werden irgendwelche Dinge durch die Gegend geschleudert, man kann sie unmöglich alle olympisch disziplinieren. Mein vietnamesischer Nachbar erzählte mir, wie in Vietnam im vorigen Jahrhundert sogar Brecheisen durch die Luft flogen. Das passierte im Rahmen des Vietnamkriegs, bei dem die besser bewaffneten, aber untermotivierten Amerikaner so schrecklich versagten. Das in der Mitte gebogene Brecheisen liegt nun in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi im dortigen Volkswaffenmuseum. Während des Krieges mussten die Vietnamesen ihre Waffen zunächst selbst erfinden, um ihre Dörfer vor den Hubschrauberangriffen der Amerikaner zu schützen. Sie banden also ein langes Gummiband zwischen zwei Bäume, legten die verbogene Eisenstange als Wurfgeschoß in die Riesenschleuder, im Volk »Gummikanone« genannt, und warteten. Wenn die Hubschrauber kamen, versammelte sich das ganze Dorf an der Kanone, und alle zogen mit vereinten Kräften an dem Gummiband. Auf Kommando ließen sie dann los. Ein auf diese Weise geschleudertes Brecheisen fegte aus 200 Metern Entfernung die Hubschrauberkabine mit dem Piloten einfach weg. Nach dem Schuss lief das ganze Dorf in den Dschungel, um nach dem Brecheisen zu suchen.
Nicht jede Volksgemeinschaft kann eine solche Gummikanone bedienen. Ständig im Kollektiv, im Geiste der Zusammenarbeit erzogen, konnten die Vietnamesen eine beträchtliche Treffsicherheit erreichen. Wie ein Mann zogen sie an dem Gummiband, und wie ein Mann ließen sie los. So ging das vergangene Jahrhundert zu Ende. Die Sonne schien. Die Vögel zwitscherten. Die Brecheisen flogen. Mein Onkel und ich wären aber auch als Kollektiv zu klein und zu schwach gewesen. Wir hatten weder Waffen noch Kraft und wären den bösen Geistern der Invalidenstraße hilflos ausgeliefert, wenn sie es zum Beispiel auf des Onkels Koffer abgesehen hätten.
»Das sind doch bloß die Erzengel, die das Tor zum Paradies bewachen«, beruhigte ich meinen Onkel. »Die Döner-Erzengel vor dem Döner-Paradies!«
Mein Onkel lachte.