27
Nur die Mutigsten unter allen Menschen erkennen die läuternde Kraft der Pein, die rauschhafte Wahrheit der Schlacht und die betörende Anmut der Grausamkeit.
Aus einer Ansprache des Skra Gul an seine Männer vor der Schleifung der abtrünnigen Stadt Südwart
Der alte Fischer, der den Wanderern sein Boot überlassen hatte, behielt recht: Er sah seinen Kahn nie wieder, denn sie brauchten ihn noch.
Getragen von den glitzernden Wassern des Silvrets, reisten sie mehrere Tage gen Süden. Niemand unter ihnen musste aussprechen, wo ihr neues Ziel lag. Der Weg ihrer Rache näherte sich seinem Ende, dem Königspalast in Silvretsodra.
Dalarr, der den Kahn steuerte, sorgte dafür, dass sie sich nie zu weit vom Ufer entfernten, wo die Strömung schwach und gut zu beherrschen war. Immer, wenn die von den Auen aufsteigenden Nebel vom Nahen der Dämmerung kündeten, landeten sie an. Dann war es inzwischen stets Tschumilal, die sich mit Kjell einige Hunderte Schritte vom Lager zurückzog, um ihm bei seiner Verwandlung beizustehen. Ammorna duldete stumm, dass die Elfentochter nun ihre alte Rolle für den Grafen ohne Land erfüllte – und zudem, so waren sich die anderen sicher, erfüllte Tschumilal Kjell nun auch Wünsche, die eine anständige Amme ihrem Mündel nicht erfüllt.
Namakan war froh, dass sie in dem Kahn unterwegs waren. Es bedeutete, dass er seinen Rucksack nicht aufsetzen musste. Er verstaute ihn jeden Morgen aufs Neue so weit von sich entfernt, wie es der begrenzte Platz auf den Planken zuließ. Trotzdem vergaß er nie, was in ihm lauerte, und ebenso wenig konnte er die schrecklichen Einflüsterungen vergessen, mit denen die schwarze Kette ihn bedrängt hatte.
Am ersten Abend ihrer Fahrt beschloss er, sich Morritbi anzuvertrauen. Er führte sie vom Lager weg, am Ufer entlang, bis unter den Stamm einer alten Weide, deren Zweige so kraftlos in den Fluss hinabhingen, wie er sich fühlte. Den Kopf im Schoß der Hexe geborgen, erzählte er ihr alles. Zunächst stockend, dann befreiter, als er erkannte, dass er sich vor ihr nicht zu schämen brauchte. Wie die Ketten sich angefühlt hatten. Was für ein abstoßender Geruch von ihnen ausgegangen war. Von ihrem furchtbaren Ruf, ihrem Hunger und den Gelüsten nach Tod und Vernichtung, die über ihn hereingebrochen waren.
»Ich habe Angst, Morritbi«, endete er. »Davor, was dieses Ding in mir angerichtet hat. Davor, was ich bereit gewesen wäre, anderen anzutun. Unschuldigen Leuten, die nicht wissen können, wie ihr König wirklich ist. Und davor, dass Dalarr mir noch einmal befiehlt, die Ketten zu tragen. Das stehe ich nicht durch. Die Macht des Plagenvaters ist zu groß.«
»Ach, Namakan.« Sie streichelte ihm das Haar, halb wie einem Geliebten, halb wie einem verunsicherten Kind. »Das glaube ich nicht. Was ich aber ganz fest glaube, ist, dass diese Macht des Plagenvaters, wie du sie nennst, nur ein Feuer in dir anfacht, das dort ohnehin schon brennt. Du hast deine Mutter und deine Geschwister verloren. Natürlich hasst du die Welt dafür, auch wenn es dir nicht immer bewusst ist. Denkst du, ich hätte diese Gedanken nicht auch schon gehabt? Als Waldur meine Mutter umbrachte … Meinst du, da hätte ich nur ihn gehasst?«
Namakan schloss die Augen und dachte an eines seiner ersten Erlebnisse mit Morritbi. Vor der Hütte der Holzfäller, als sie noch unter dem Einfluss der Pilze gestanden hatte, mit denen sie von den Spinnen gefüttert worden war. An den Tritt, den sie einem der Toten versetzt hatte. An den abgerissenen Kiefer im Schnee.
Der Schatten eines tief in ihr vergrabenen Grolls verdüsterte ihre Stimme. »Damals, da musste ich mich im Zaum halten, nur diese eine Frau zu verbrennen, die Waldur den Treffpunkt meiner Eltern verraten hatte. Ich war kurz davor, ihr ganzes Dorf in Flammen zu setzen.«
»Wie hast du es geschafft, das nicht zu tun?«
»Ich habe lange mit dem Feuer gesprochen.«
»Und das Feuer hat dir geraten, deine Wut zu zügeln?«
»O nein.« Zwischen ihren Lippen blitzten ihre kleinen, spitzen Zähne auf. »Da kennst du das Feuer aber schlecht. Es will brennen. Immerzu.«
»Was war es dann?«
»Der Gedanke daran, wozu mich meine Mutter erzogen hat. Trost zu bringen und kein Elend.« Sie seufzte. »Ich will nicht lügen. Ich habe viel geweint und geschrien damals. Am Anfang wollte ich es nicht einsehen. Aber es ist so: Man wiegt das Leid, das einem widerfahren ist, nicht dadurch auf, dass man es anderen antut. Versteh mich nicht falsch. Ich predige gewiss keine vollkommene Friedfertigkeit. Doch wenn man tötet, sollte man darauf achten, dass man sich nicht in der Lust daran verliert.«
Sie schwiegen eine Weile. Er lauschte ihrem Atem und sog den klaren Duft der Auen in seine Nase. Von irgendwo in den Tiefen seines Verstands tauchte das Bild des Mannes auf, dem er auf der Brücke über die Narbe den Kopf gespalten hatte. Ich habe schon getötet, und es hat mir nicht gefallen. »Du meinst also, ich stehe nicht unter dem Bann eines Geists?«
»In den Ketten wohnt bestimmt kein Geist. Höchstens …« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Geist eines Geistes.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass man einen Geist, der so mächtig ist wie der Plagenvater, in einem einfachen Rucksack aus Sauleder gefangen halten kann.«
Sie grinste, und er lächelte zurück.
»Morritbi, ich …«, setzte er an, doch bevor er weiterkam, beugte sie sich zu ihm herunter und erstickte seine Worte mit einem Kuss. Als sich ihre Zungenspitze in seinen Mund schob, kitzelte sie in ihm eine gänzlich andere Lust als die nach Blut wach. Ein Windstoß brauste durch das Weidenlaub, und Namakan warf ihm seine Sorgen gern hinterher. Er wusste, dass sie zu ihm zurückgekrochen kommen würden, doch die Zeit bis dahin gehörte nur ihm und seiner Hexe.
Zwei – oder waren es drei? – Etappen später auf ihrer Reise den Fluss hinunter fand Namakan erneut Gelegenheit, über seine beunruhigenden Erfahrungen mit der Kette zu sprechen.
Eisarn hatte im Kahn Angelschnur und Haken gefunden und sich eine behelfsmäßige Rute aus einem Haselzweig gebaut. Ein Zwerg beim Angeln, dachte Namakan, als er Eisarn so im Dämmerlicht am Ufer sitzen sah. Die Wunder auf dieser Reise …
Eisarn drehte sich zu ihm.
Habe ich das etwa gerade laut gesagt? Namakan lächelte verhalten.
Eisarn klopfte neben sich auf den Boden. »Komm. Dir lastet etwas auf der Seele.«
»Wir werden die Fische verscheuchen«, sagte Namakan, doch er setzte sich trotzdem zu dem ungeschickten Angler.
»Es gibt Wichtigeres.« Eisarn sprach mit ungewohntem Ernst. »Du hast sie berührt.«
Namakan wusste sofort, wovon die Rede war. »Ja.«
»Ich auch.« Eisarn blähte die Nüstern. »Diese verfluchten Ketten. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ein verstoßener Säufer.«
»Dalarr sagte, du seist schon immer sehr trinkfest gewesen.«
»Wohl wahr, wohl wahr«, bestätigte der Zwerg. »Doch es gibt einen Unterschied zwischen Trinken und Saufen. Zumindest in der Sprache meines Volkes. Trinken tut jeder, saufen tun nur die, die etwas in sich ertränken wollen.«
»Den Ruf der Kette …« Namakan zog die Knie an und schlang die Arme darum.
»Du bist schlau«, merkte Eisarn an. »Schlauer als ich in jedem Fall, und vielleicht sogar schlauer als dein Meister. Ich habe dich beobachtet, wie du im Boot sitzt. Wo du hinschaust. Wie du da hinschaust. Wenn es nach dir ginge, hätten wir deinen Rucksack schon längst in den Fluss geworfen.«
»Was wäre falsch daran? Dalarr und du, warum seid ihr davon überzeugt, dass wir die Ketten brauchen, um Arvid zu besiegen? Sie sind …« Namakan fiel kein besseres Wort ein. »Böse.«
»Mächtig«, entgegnete Eisarn. »Du hast es selbst gespürt. Du spürst es immer noch. Smarna! Ich spüre es immer noch, und ich habe sie seit Dutzenden von Sommern nicht mehr getragen.« Er zog ungeduldig an der Angelrute. »Du musst sie sehen wie eine Waffe. Ein Schwert ist auch nicht gut oder böse. Der, der es führt, entscheidet darüber, ob er damit Gutes oder Böses tut.«
»Ein Schwert will einen nicht dazu verleiten, die ganze Welt auszulöschen«, widersprach Namakan.
»Sei dir da nicht so sicher.« Eisarn hob einen seiner dicken Finger. »Erst rammt man es womöglich nur in einen einzigen Bauch, aber wenn man danach sieht, wie der Feind tot vor einem liegt, will man den nächsten Feind so sehen. Und den nächsten. Und noch einen. Und immer so weiter. Dann steckt man das Schwert zum ersten Mal in den falschen Bauch. Es spielt keine Rolle, ob man sich darüber grämt oder nicht. Man hat es getan, und man hat wahrscheinlich eine ganze Horde neuer Feinde. Ehe man sich versieht, tötet man schneller, als man denkt. Bis man nur noch Feinde hat. Und seine Feinde muss man töten, bevor sie einen töten. Ich könnte dir so manche Sippe nennen, die auf diese Weise vernichtet wurde.« Er atmete einmal schwer. »Es ist ein Graus …«
»Vielleicht musst du so reden.« Es war ein garstiger Gedanke, den Namakan da entwickelte. Lass es sein, riet ihm sein Gewissen. Er hat dir nichts getan. Namakan ließ es nicht sein. »Vielleicht musst du vor dir und mir rechtfertigen, dass wir die Ketten benutzen – wie immer das auch genau aussehen mag. Du hast keine andere Wahl, weil sie ohne dich noch immer irgendwo tief unter der Erde am Plagenvater hängen würden.«
»Vielleicht«, sagte Eisarn, und zu Namakans Überraschung klang er nicht gekränkt. »Ich habe damals in bester Absicht gehandelt. Das zählt für mich.«
»Um Tristborn zu retten.«
»Tristborn!« Eisarn blies einen lauten Lippenfurz, der gewiss auch noch den letzten Fisch im Silvret in die Flucht schlug. »Ich wusste damals kaum etwas von den Reichen der Menschen. Ich habe es nicht für sie gemacht, sondern für uns. Für mein Volk. Meine Sippe. Darum habe ich meiner Mutter den Schlüssel gestohlen, und nicht weil sich auf der Oberwelt ein paar Langbeine in die Haare gekriegt haben.«
Lügen. Ausflüchte und Lügen. Hätte ich für jede, die ich auf dieser Reise gehört habe, auch nur einen Taler, könnten wir in einem Prunkwagen nach Silvretsodra fahren. »Du hast es aus reiner Gier getan. Um in Arvids Schatzkammer zu kommen. So hat es Dalarr erzählt.«
»Und einmal mehr die Hälfte weggelassen«, parierte der Zwerg. »Ich wollte unseren Ehrenschild zurückholen.«
»Ehrenschild?«
»Die Unwissenheit der Jugend.« Eisarn schüttelte so heftig den Kopf, dass ihm sein ramponierter Helm ein Stück in den Nacken rutschte. »Als König Erowar – das müsste der Urururgroßvater vom Schlohbart gewesen sein, wenn ich mich nicht irre – den letzten Aufstand der freien Zwerge niederschlug, entführte er den Ehrenschild meiner Sippe und hängte ihn bei sich in der Schatzkammer auf. Es ist der Schild, auf dem wir unsere Sippenmutter in die Kammer der Verschmelzung tragen, wenn es neue Zwerge zu machen gilt. Ohne den Schild kann es keine Verschmelzung geben, und auch keine neuen Zwerge.« Er rückte seinen Helm gerade. »Schau nicht so geklöppelt! Es schert mich nicht mehr. Für meine Sippe bin ich schon tot, und sie ist tot für mich.«
Namakan rang nach Worten, doch da klatschte Eisarn aufgeregt in die Hände, beugte sich vor und zog an seiner Angel. »Es hat einer angebissen! Es hat einer angebissen!«
Der große Fang, der dem Lärm am Ufer getrotzt hatte, stellte sich rasch als mickriger Stichling heraus, den Eisarn zurück in den Fluss warf. »Mir ist die Lust vergangen«, grummelte er danach und wickelte seine Angelschnur auf.
Er bot dabei ein so jämmerliches Bild, dass Namakan ihn mit einer Entschuldigung aufzuheitern versuchte. »Es tut mir leid, dass ich dir Gier unterstellt habe.«
»Geschenkt!« Kies knirschte unter den Stiefeln des Zwergs, als er ein paar Schritte davonstapfte, um die Rute in den Kahn zu schleudern. »Aber du kannst deinem feinen Meister von mir mal bestellen, dass er die Wahrheit nicht immer wie ein Stück Ton behandeln soll!«
»Was schreit der Zwerg so?«, erkundigte sich Dalarr bei Namakan, als dieser ins Lager zurückkehrte.
»Er hat kein Glück beim Angeln«, antwortete Namakan und setzte sich neben Morritbi ans Feuer.
»Er hat kein Glück bei nichts«, murmelte Dalarr.
Ammorna hockte etwas abseits, die Hände unter den Achseln, und starrte ins Leere.
»Frierst du?«, fragte sie Namakan.
»Meine Hände sind kalt«, gab die Kroka-Dienerin abwesend zurück.
»Dann wärm sie am Feuer!«, forderte sie Morritbi auf. Ohne Erfolg. Morritbi stand auf, doch sie ging nicht zu der Alten, wie Namakan erwartet hatte. Stattdessen huschte sie eilig vom Ufer weg auf ein Gebüsch zu.
»Wohin willst du?«
»Dorthin, wo du auch am liebsten allein bist!«
Dalarr lachte, und der fröhliche Laut stieß Namakan übel auf.
»Warum hast du mich die Ketten tragen lassen, Meister?«
»Das habe ich dir doch gesagt.« Dalarrs Miene wurde ernst. »Du hast das reinste Herz von uns allen.«
»Ist das der einzige Grund?«
»Hat dir Eisarn etwa irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt?«
»Ist das der einzige Grund?«, wiederholte Namakan.
»Ja.« Dalarr sah ihm fest in die Augen. »Mein Herz ist alles, aber nicht rein. Wer so lange lebt, behält kein reines Herz. Das ist unausweichlich. Ich kenne mich. Ich kann mir sehr gut ausmalen, wozu mich die Ketten bringen würden, wenn ich sie je berühre. Deshalb habe ich sie damals Eisarn tragen lassen, und deshalb hast du sie jetzt getragen. Ich habe sie nicht umsonst so versteckt, dass ich sie nie wieder allein hätte bergen können.«
»Dieses Versteck …« Sowohl Dalarr als auch Namakan zuckten zusammen, als plötzlich Ammornas brüchige Stimme erklang. »Warum hast du diesen Ort in der Welt hinter der Welt gewählt? Waldur muss doch auch von ihm gewusst haben?«
»Waldur?« Namakan runzelte die Stirn. »Wieso Wal…?« Dann fügten sich blitzschnell neue Teile des Mosaiks in seinem Kopf, wie wenn sie nur darauf gewartet hätten, an den passenden Platz zu purzeln. Ein alter Freund des Meisters, mit dem er viele Sommer auf Abenteuersuche durch die Welt gezogen ist. Der Skaldat schmieden und Geister bannen kann. Der einen König auf den Thron hievt, als wäre es ein Kinderspiel. »Er ist wie du!«
»Skra Gul. So nennen ihn die Mörder, die er um sich geschart hat«, sagte Ammorna. »Der Weiße Wind. Ein uralter Name für ein uraltes Geschöpf. Ich bin ihm begegnet.«
»Im Kloster!« Namakan riss die Augen auf. »Als Lodaja zwischen ihm und Dalarr gewählt hat. Und dann noch einmal, als er Kjell aus seinem Käfig geholt hat. Seitdem wusstest du, was er ist. Wegen des Fluchs!«
»Ich wünschte, es wäre so«, erwiderte Ammorna. »Ich wünschte wirklich, es wäre so.«
Es war in der Zeit, kurz nachdem ich endlich aus dem Kloster in die Welt hinausdurfte. Ich hatte meine Eide und Prüfungen abgelegt und mich dem Urteil der Krähen gestellt. Und anstatt mir die Augen auszuhacken, als ich mich zu ihrer Brut ins Nest legte, fütterten sie mich wie eines ihrer Jungen.
Es war eine Zeit großen Aufruhrs im Reich. Nicht jeder war mit den Gesetzen einverstanden, die Arvid erließ. Oh, seine Segnungen nahm man gern, doch mein armer Kjell ist nicht der Erste und nicht der Einzige gewesen, der sich jemals geweigert hätte, Tribut an Arvid zu entrichten.
Kroka lehrt uns, dass Blut fließt, wenn das Hohe mit dem Niedrigen verschmilzt. So geschah es damals in Südwart. Der Baron dort schloss einen Pakt mit den Händlern. Adlige und Kaufleute gleichermaßen waren zu der Überzeugung gelangt, dass es ungerecht war, dass sie überhaupt auch nur den kleinsten Teil ihrer Seide an Arvid abtraten. Ihnen war bewusst, wie Arvid dieser Schmach begegnen würde: mit Waffengewalt. Also wappneten sie sich dagegen, indem sie die Gewinne aus dem Verkauf der Seide, auf die Arvid Anspruch erhob, in die Anwerbung und Ausrüstung einer Armee von Söldnern steckten. Sie igelten sich hinter den Stadtmauern ein und warteten auf den Hieb von Arvids stählerner Faust.
Ich war nur eine von vielen in dem Tross, der von Silvretsodra nach Süden aufbrach. Soldaten auf dem Marsch ziehen immer einen Schwanz hinter sich her, in dem die Hohen und die Niederen Seite an Seite marschieren, und diesmal war es nicht anders: geschäftstüchtige Wanderhuren, die in den Soldaten ihre besten Kunden haben; eifrige Schreiber, die sich mit glühenden Schilderungen der Schlacht ewigen Ruhm erwerben wollen; die Hohepriester des Kriegsgottes, die dem blutigen Wirken ihres strengen Herrn huldigen wollen; und ich, eine einfache Dienerin Krokas.
Allen voran jedoch ritt Waldur. Anführer und Teil des Skra Gul zugleich. Ja, er nennt sich der Weiße Wind, doch so heißt auch die finstere Truppe seiner üblen Gesellen. Ich mag nicht entscheiden, ob er dies aus Eitelkeit oder aus Verschlagenheit so hält. Ob er sich heimlich daran ergötzt, seinen eigenen Namen auf so viele Sterbliche übertragen zu sehen. Oder ob ihm eher daran gelegen ist, seine wahre Natur zu verschleiern und andere Tegin zu verwirren, die vielleicht nicht mehr wissen, welcher Skra Gul nun der echte ist.
Auf diesem Feldzug habe ich erfahren, dass sich niemand mehr für die Deutung von Omen interessiert als Männer und Frauen, die erfahren wollen, ob sie in den Tod oder zum Sieg schreiten. Dies trifft auch auf die Skra Gul zu. Als sie hörten, dass eine Gesandte der Gefiederten in der Nähe war, holten sie mich zu sich.
Ich habe ihnen viele Zeichen gedeutet, und ich kann mich rühmen, dem einen oder der anderen zutreffend vorausgesagt zu haben, wie er sein Ende findet. Und ich habe von vielen gehört, wie sie für den Weißen Wind auserwählt wurden.
Der Skra Gul hat sich zwar in der Hauptstadt eine Bastion errichten lassen, doch er weht von einer Provinz des Reichs zur nächsten. Und überall, wo er auftaucht, sucht er nach Menschen, für die Schmerzensschreie und Waffengeklirr die süßesten Klänge sind. Menschen, die ihre höchste Lust darin finden, Blut und Gedärm spritzen zu sehen. Sie alle unterzieht der Skra Gul einer Prüfung, um die Prahler von den Aufrichtigen zu trennen.
Ein Mann, der damals zu mir kam, hatte auf das Geheiß des Skra Guls einer Mutter die Kehle aufgeschlitzt, die Brot für ihre Kinder gestohlen hatte – und er zertrat den Kindern die Schädel, weil der Skra Gul ihm sagte, aus dem Schoß einer Diebin würden nur weitere Diebe kriechen.
Eine Frau mit dem sonnengebleichten Haar, wie man es nur in den Wüsten findet, hatte eine ganze Karawane von vermeintlichen Ketzern zu einer vergifteten Oase geführt – und als Beweis für ihre Tat verschonte sie einen der Frevler vor dem Gift, um ihn nackt hinter ihrem Kamel bis zum wartenden Skra Gul zu schleifen.
Solche Menschen waren es, die in mir eine Verbündete zu erkennen begannen. So kam ich zu der Ehre, dem Skra Gul von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Wir erkannten einander nicht. Viele Sommer waren seit unserer flüchtigen Begegnung im Kloster vergangen, und mir dämmerte nur langsam, dass dieser Krieger in Weiß ebenjener war, den ich schon einmal ohne einen Faden am Leib erblickt hatte. Ich vermute, für ihn war und blieb unser Aufeinandertreffen in seinem Zelt unsere allererste Begegnung. Auch er bat mich, ihm Omen zu deuten, doch er tat es nicht mit dem gleichen Ernst wie die anderen. Er lächelte unentwegt. Er nannte mir heiter Zeichen, die ich für ihn auslegen sollte. Den aufgebrochenen Ameisenhügel am Wegesrand, auf den sein Blick gefallen war. Das schorfige Muttermal auf der Brust einer Hure, die er unlängst besprungen hatte. Die Schmetterlingslarve am Zweig eines Baumes, die er bei der letzten Rast aus einer Laune heraus aus ihrem Kokon geschält hatte und die in seiner Hand verendet war.
Ich besann mich auf das Rauschen der Schwingen Krokas und befolgte meinen heiligsten Eid: Ich sprach die Wahrheit für ihn, und ich sagte ihm, es lägen Tod und Vernichtung am Ende seines Weges. Ich rechnete damit, dass ihm sein Lächeln verging. Ich irrte. Es wurde breiter, und er lobte mich für meine Weisheit, wie man einen Hund dafür lobt, wenn er ein possierliches Kunststück vollführt.
Erst in Südwart begriff ich, warum er gelächelt hatte.
Es stellte sich heraus, dass die Mauern der Zitadelle bei Weitem nicht allen Bewohnern der Stadt Platz boten. Für den Baron und seine verbündeten Kaufleute gewiss, doch nicht für die einfachen Seidenpflücker. Ihnen blieben die Tore verschlossen, und sie hegten einen berechtigten Zorn auf ihre Herren. Sie warteten in den Seidenbaumhainen auf die Ankunft von Arvids Armee, und ich schwöre, sie jubelten, als sie die Drachenbanner am Horizont flattern sahen.
Sie jubelten nicht lange.
Waldur gab den Befehl, sie alle niederzumetzeln, und wo die gewöhnlichen Soldaten zögerten, wüteten die Skra Gul mit verzückten Gesichtern. Sie hackten die armen Leute in Stücke und breiteten ihr Fleisch in der Sonne aus.
Der Baron schickte einen Unterhändler, der schluchzend anbot, Südwart würde in den nächsten fünf Sommern alle Seide der Stadt an Arvid abtreten, wenn die Angreifer nur Gnade zeigen würden. Waldur band ihn höchstselbst an einen Seidenbaum, ehe die Skra Gul sämtliche Haine anzündeten. Es ging nicht mehr um die Seide. Es ging nie um die Seide. Es ging darum, dass es jemand gewagt hatte, an Arvids Ordnung zu zweifeln, die letztlich Skra Guls Ordnung ist.
Der Krieger in Weiß wartete, bis das Fleisch der toten Pflücker reif von Maden und Geschmeiß war. Dann holte er einen Reif aus einer Truhe in seinem Zelt und zerbrach ihn. Ein tosender Wind kam auf, das sichtbare Antlitz der Kreatur, die der Skra Gul entfesselte. Mit Tausenden Fingern nahm sie das Aas auf und wirbelte es in die Stadt hinein.
Als der Wind sich Stunden später gelegt hatte, wies der Krieger in Weiß sein Heer an, die Tore der Zitadelle zu stürmen. Sie stießen auf keinerlei Gegenwehr. Die Rammböcke brachen durch die Tore, ohne dass Pfeile, Steine oder brennendes Öl auf die Männer an ihnen herabregnete. Drinnen war niemand mehr am Leben. Die Toten lagen überall – in den Gängen und Kammern, auf den Treppen und Zinnen. Die Söldner, die Händler, der Baron und deren Weiber und Kinder. Ihre Hälse quollen von dem stinkenden Aas über, das sie allesamt erstickt hatte.
Bevor er die Stadt schleifte, rief mich der Krieger in Weiß noch einmal zu sich. Wir standen auf dem Hügel, auf dem sein Zelt aufgeschlagen war. Er hieß mich freundlich willkommen, küsste mir Stirn und Wangen. Dann wandte er sich von mir ab, die Arme ausgebreitet, legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
Es gibt eine Frage, die mich bis heute quält: Wäre ich schnell genug gewesen, um ihm in diesem Augenblick mit meinem Stab niederzustrecken, und wie viel Leid hätte ich wohl damit verhindert?
Ich darf nicht verschweigen, dass unser Tross auf dem Weg zurück in die Hauptstadt mehr Opfer zu beklagen hatte als auf dem gesamten restlichen Feldzug. Die Schreiber wurden einer nach dem anderen von Unfällen und Krankheiten dahingerafft, und auch die Stridus-Priester wurden von ihrem Gebieter überraschend in seine Waffenkammer geholt, um sich für die Schlacht am Ende aller Zeiten zu rüsten. Die Wanderhuren und die einfachen Soldaten blieben indes verschont. Wer von den hohen Herren daheim hätte ihnen auch geglaubt, wenn sie von den Gräueln berichteten, die sie in Südwart gesehen hatten? Alles Hurengeschnatter. Schauergeschichten, wie sie Bauerntölpel nun einmal erzählen, wenn man sie in einen Waffenrock steckt und in ferne Lande schickt, um Krieg zu führen.
Namakan legte Holz aufs Feuer nach. Morritbi, die nur die letzten Teile der Geschichte mit angehört hatte, spielte mit dem Beutel an ihrem Gürtel, in dem sie das rote Skaldat verwahrte.
Ammorna, die Hände noch immer unter den Achseln, wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, wie sie es von Beginn ihrer Erzählung an getan hatte. »Warum, Dalarr? Wie konntest du die Ketten an einem Ort verwahren, an den außer dir und Waldur nur die wenigsten gehen können?«
»Weil er niemals dorthin gehen würde«, sagte Dalarr. »Er ist zu feige dafür.«
»Sprich nicht in Rätseln, Meister«, verlangte Namakan.
»Er fürchtet diesen Ort wie ein Kalb das Brandzeichen, weil er nicht sterben will.« Dalarr schaute Namakan ernst an. »Du hast mich gesehen, wie ich vor den Bahren stand. Sie verheißen etwas, das meinesgleichen nur schwer findet. Ruhe. Die Stille Leere. Und je mehr Zeit an uns vorüberfließt, desto schwerer wird es für uns, dieser Verheißung zu widerstehen. Ich war mir sicher, dass Waldur es hält wie der treue Gatte, der den weitesten Bogen um die Hurenhäuser macht, weil er sich nicht beherrschen kann, wenn der Rock erst einmal gehoben ist.«
»Ein gefährliches Spiel«, meinte Morritbi.
»Es ist aufgegangen«, erwiderte Dalarr.
»Eines fällt mir schwer zu glauben, Ammorna«, sagte Namakan.
Die Weißhaarige blickte auf. »Warum überrascht mich das nicht?«
»Ich will nicht glauben, dass er sich nicht an dich erinnern konnte, als du nach Silvretsodra gegangen bist, um darauf zu warten, dass Kjell freigelassen wird.«
»Ach …« Ammorna verzog das Gesicht, als hätte er ihr einen Dolch ins Herz gestoßen. »Du mit deinen schlimmen Fragen, kleiner König. Aber du vergisst, dass er mich kannte, als mein Haar noch schwarz, meine Haut noch glatt und meine Brüste noch straff waren. Und später stand ich so vor ihm, wie du mich hier sitzen siehst. Als graue Vettel. Und weißt du was?«
»Was?«
»Ich will glauben, dass er mich vergessen hat.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Weil ich sonst damit leben müsste, dass er mir vielleicht einen Gefallen erweisen wollte, als er Kjell freigegeben hat. Würdest du in der Schuld dieses Ungeheuers stehen wollen?«