17

Warum plagst du dich beständig mit dem Gedanken, wie weit der Weg deines Lebens sich noch hinziehen wird?

Grämst du dich denn auch darüber, dass auf jeden Tag eine Nacht folgen muss?

Aus den Zehntausend Fragen auf dem Pfad zur steinernen Gelassenheit

Dalarr führte sie drei Tage lang immer tiefer in den Schwarzen Hain. Keiner der anderen brachte ihn dazu, das Ziel ihres Vorstoßes ins Herz des Waldes preiszugeben. »Euch werden die Augen übergehen«, sagte er nur rätselhaft, und bei allzu drängenden Fragen erklärte er: »Jeder Schritt, den wir machen, bringt uns unserer Rache ein Stück näher, auch wenn es euch jetzt wie ein Umweg erscheinen mag.«

Umso erstaunlicher war es, dass kein Unmut über seine mangelnde Auskunftsfreudigkeit ausbrach. Namakans Vermutung nach hing die ruhige Folgsamkeit der Wanderer damit zusammen, dass Dalarr den Eindruck vermittelte, sehr genau zu wissen, wohin er ging. Dass er ein ums andere Mal – für die kurzen Verschnaufpausen ebenso wie für die Nachtlager – bestens geeignete Rastplätze fand, schadete auch nicht.

Es ist nicht mehr so wie damals auf dem abgeholzten Hang, nachdem uns die Spinnen aus ihrem Bau getragen haben, fiel Namakan rasch auf. Der Meister sieht sich immer noch oft um, aber nicht mehr, als wäre er fremd hier. Eher wie jemand, der immer das findet, wonach er sucht. Wie ein Wolf, der mit einem neuen Rudel in eines seiner alten Reviere zurückkehrt und nicht lange Witterung aufnehmen muss, um sich zurechtzufinden.

Ihre erste Nacht verbrachten sie an einer Stelle, an der heißes Wasser aus dem Boden sprudelte, fast wie das von der Natur geformte Becken, an dem Namakan seine Scham überfallen hatte. Da das Gelände hier jedoch wesentlich abschüssiger war und der Untergrund kaum Felsen aufwies, hatte das Wasser keine Gelegenheit, sich zu sammeln. Stattdessen hatte es sich ein schmales Bett in die Erde gegraben, in dem es munter plätschernd ins Tal hinunter floss.

Kurz bevor die Sonne unterging, zogen sich Ammorna und Kjell wortlos von der Lichtung zurück und verschwanden zwischen den Bäumen. Sie brauchten keine Entschuldigung, und selbst wenn sie eine ausgesprochen hätten, hätte sie angesichts der gequälten Schreie, die die Stille der Dämmerung schon bald zerrissen, nur wie Hohn gewirkt. Weder Kjell noch seine treue Amme trugen schließlich die Schuld an dem, was mit ihm jede Nacht geschah.

Die lauten Schreie wurden nach und nach zu einem leisen Pfeifen, und kurz darauf kam Ammorna wieder zwischen den Bäumen hervor. Sie setzte Kjell in seinen Käfig und gab ihm etwas von dem harten Fladen aus Tannenmehl zu essen, den Morritbi ihr reichte.

»Warum sperrst du ihn ein?«, fragte die Hexe. »Hat er nicht lange genug in einem Käfig zugebracht?«

»Sie sperrt ihn nicht ein«, sagte Namakan vorsichtig, nachdem Ammorna lediglich mit einem Kopfschütteln und einem ihrer tiefen Seufzer geantwortet hatte. »Dieser Käfig ist kein Gefängnis. Er dient seinem Schutz. Denk daran, wo wir sind. Es gibt hier viele Tiere, die in Kjell nichts anderes sehen als eine schmackhafte Mahlzeit.«

»Stimmt«, mischte sich Dalarr ein und grinste Ammorna an. »Nebelkrähen zum Beispiel.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer. »Und jetzt hör auf, kluge Sprüche zu klopfen, sondern sieh zu, dass du noch etwas Holz zum Nachlegen findest. Sonst enden wir nämlich noch als schmackhafte Mahlzeit für die Bar Gripir, wenn das Feuer ausgeht.«

Bis Namakan zwei Arme voll Holz gesammelt hatte, war Ammorna eingeschlafen und auch Dalarr hatte sich schon in seine Decke gewickelt. Nur Morritbi saß noch aufrecht und lauschte dem knisternden Flüstern und Knacken der Glut. Namakan legte etwas Holz nach, holte seine Decke, breitete sie aus und setzte sich neben die Hexe. Der Schein des Feuers glühte auf ihren Wangen, und ihre dichten Locken sahen aus wie erstarrte Flammen.

Da er Morritbi nicht stören wollte, spielte Namakan unschlüssig mit dem Saum seiner Decke und dachte daran, dass er nun besser ausgerüstet war als zu Beginn seiner Reise. Zwischen all dem harmlosen Schnickschnack und dem unheimlichen Gerümpel in Morritbis Haus hatten sich genug Dinge gefunden, die ihnen bei ihrer Wanderung zur Hauptstadt gewiss noch nützlich sein konnten: Angelhaken und Leinen, fingerlose Handschuhe, allerlei Nahrung sowie insgesamt 17 Taler in großen und kleinen Münzen. Er musste daran denken, wie Morritbi sich von ihrer Heimstatt verabschiedet hatte. Sie hat die Tür gestreichelt und die Fensterläden. Und sich von ihrem Kessel verabschiedet und von den Betten. Sie hat mit ihnen gesprochen, als wären sie lebendig. Ob sie glaubt, dass wirklich alles eine Seele hat? Dass in allen Sachen Geister wohnen? Mir wäre nicht wohl dabei.

»Du bist anders zu mir, seit ich dich getröstet habe.« In Morritbis leisen Worten lag ein lauter Vorwurf, wie wenn Namakan aus einer Laune heraus etwas zerbrochen hätte, das ihr irgendwie kostbar war. »Du siehst mich anders an, und du redest anders mit mir.«

»Es ist doch auch alles anders, oder?«, meinte er.

»Und was ist so schlimm daran?«

»Ich weiß nicht.« Namakan zog die Knie an und verschränkte die Arme auf ihnen. »Du bist das erste Mädchen, mit dem ich …« Er stockte. »Es ist albern. Ich hatte immer gedacht, es würde etwas Großartiges geschehen, sobald es so weit ist.«

»Hat es dir nicht gefallen?«

»Doch, doch«, beeilte er sich zu sagen, und es war nichts als die Wahrheit. »Aber … weißt du, ich hatte die Hoffnung, dass ich mich vollkommen neu fühlen würde, sobald ich ein echter Mann bin. Und tue ich das? Nein. Es ist genauso wie vorher.« Er hob den Kopf, um mit dem Kinn auf Dalarrs ruhende Gestalt zu deuten. »Er ist und bleibt mein Meister. Ich bin genauso ungeschickt wie davor, ich weiß genauso wenig über die Welt wie davor, und ich komme mir genauso hilflos vor.«

Sie sah ihn lange aus ihren großen Augen an, in denen sich die Flammen des Feuers spiegelten. »Das hört sich so an, als wärst du nicht gerne der, der du bist.«

»Sieh mich doch an.« Namakan lachte bitter auf. »Was bin ich denn schon? Ein kleiner, halber Schmied mit einem dicken Bauch und haarigen Füßen, der glaubt, er könne dabei helfen, einen König zu töten. Das ist doch jämmerlich. Was könnte ich denn gegen einen wie Arvid oder Waldur ausrichten? Dir gehorcht das Feuer, Ammorna wirkt ihre eigene Magie, und selbst der arme Kjell weiß offenbar wenigstens mit einem Schwert umzugehen. Ihr seid dem Meister eine Hilfe bei unserer Rache. Aber ich? Ich bin für ihn doch nur ein Klotz am Bein. Er hätte mich auf den Almen lassen sollen.«

Morritbi schlug rasch die Augen nieder. »Dann wären wir uns nie begegnet. Wäre dir das etwa lieber?« Sie wandte sich ab und kroch unter ihre Decke.

Namakan biss sich auf die Unterlippe und legte sich neben sie – so dicht, dass sein Bauch gerade ihren Rücken berührte. »Bedeutet es dir etwas, dass wir …« Wie hat sie es genannt? »Dass du mich getröstet hast?«

»Es muss uns so viel bedeuten, wie wir wollen, dass es uns bedeutet.« Ihm war, als würde der sachte Druck auf seinen Bauch eine Winzigkeit zunehmen, weil sie einen Fingerbreit auf ihn zurutschte.

Er rang zwei, drei Herzschläge mit sich, dann wanderte seine Hand auf ihre Hüfte. Er rechnete fest damit, dass sie versuchen würde, seine versöhnliche Geste zurückzuweisen, doch er irrte sich. Mit einem Mal spürte er die Wärme ihrer Finger auf seinen, und er gab sich gern der Hoffnung hin, dass sie ihm verziehen hatte.

Flüsternde Stimmen weckten ihn noch vor dem Morgengrauen. Es war nicht jene Art des Erwachens, bei der man vor Schreck hochfuhr und der Schlaf von einem abfiel, als hätte es ihn nie gegeben. Es war vielmehr ein sanftes Aufsteigen zu einer völligen Klarheit, das immer wieder von zeitlosen Augenblicken unterbrochen wurde, in denen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwammen. Nur weil er glaubte, einmal kurz seinen Namen gehört zu haben, zwang sich Namakan, an den Empfindungen festzuhalten, die ihm der wachen Welt entsprungen schienen: die Kälte des Morgens an seiner Nasenspitze, der klamme Waldboden unter ihm, der Geruch von brennendem Holz – und eben die zwei Stimmen, die einen murmelnden Disput führten.

»Nicht so laut.« Dunkel. Rau. Warnend. Der Meister. »Weck sie nicht.«

»Wann willst du es ihm sagen?« Heller. Weicher. Ammorna? »Du musst es ihm irgendwann sagen.«

»Sobald es Zeit ist. Jetzt noch nicht.«

»Warum nicht? Hast du Angst, dass er es nicht versteht?«

»Er hat genug mitgemacht. Es ist so schon schwer für ihn.«

»Je länger du wartest, desto verletzter wird er sein.«

»Was kümmert dich das eigentlich? Du hast doch dein eigenes Mündel, oder nicht?«

Ein Fiepen und Scharren.

»Ja, ja.« Das Rascheln von Stoff. »Du bist so halsstarrig wie eh und je.«

Schnee knirschte unter raschen, zielstrebigen Schritten.

Worüber streiten sie sich da? Namakan wälzte sich auf die Seite. Über mich? Er öffnete die Augen.

Der nahende Tag schob sich als tristes Grau in den aufhellenden Himmel. Namakan sah seinen Meister an der Glut des Feuers sitzen, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß.

»Meister?«, flüsterte er.

Dalarr schaute auf, betrachtete Namakan einen Moment mit sorgenvoller Miene und öffnete dann so langsam den Mund, als kostete es ihn schier übermenschliche Kraft, seine Kiefer auseinander zu zwängen.

Dann erhoben sich aus dem Wald furchtbare Schreie. Morritbi schreckte auf und sprang auf die Beine, eine Hand schon an dem Beutelchen mit Skaldat, das an ihrem Gürtel baumelte.

»Es ist nur Kjell«, erklärte Dalarr der Hexe ruhig, doch sein Blick ruhte weiterhin auf Namakans Gesicht. »Nichts, worüber es sich lohnt, große Worte zu verlieren.«

Namakan kannte seinen Meister gut genug, um zu begreifen, dass er an diesem Morgen nicht mehr erfahren würde, wozu Ammorna ihn hatte drängen wollen. Und wenn ich Pech habe, werde ich es niemals erfahren. Eher würde man einen Stein zum Sprechen bringen, als ihm etwas zu entlocken, das er für sich behalten will. Also schwieg Namakan, stand auf und schlurfte zur Quelle, um sich den Schlaf aus den Augen zu waschen.

Der zweite Tag ihres Marsches zu einem Ziel, das allein Dalarr kannte, war noch anstrengender als der erste. Der Grund dafür war das Gelände: Immer steiler wurden die Hänge, die sie erklommen, und mehr als einmal mussten sie die Wurzeln der allgegenwärtigen Tannen als Kletterhilfen nutzen. Bald waren alle außer Atem, und an längere Wortwechsel war nicht zu denken.

Selbst bei ihrer kurzen Mittagsrast verhinderte die allgemeine Erschöpfung jegliche Plauderei. Sie kauerten sich einfach nur im Schutz eines umgestürzten Baumriesen zusammen, aus dessen verrottender Rinde Schwammpilze von der Größe von Schweinehälften sprossen, und kauten an ihren Tannenfladen und ihrem Dörrobst. Danach rieben sie sich noch eine Weile die brennenden Muskeln in Armen und Beinen, ehe ihr unerbittlicher Antreiber das Zeichen zum neuerlichen Aufbruch gab. Weiter und weiter ging ihr steiler Anstieg, höher und höher hinauf, bis jeder Schritt und jeder Atemzug eine Qual war. Namakan entwickelte ein ausgesprochen großes Verständnis dafür, warum die kleinen Esel, die so manchen Mühlstein auf den Almen antrieben, manchmal einfach stehengeblieben waren – und warum sie weder gutes Zureden noch Peitschenhiebe wieder hatten in Bewegung setzen können.

Umso dankbarer war er dann, als Dalarr endlich verkündete: »Für heute reicht es.«

Als Lagerplatz hatte er offenbar eine Gruppe dorniger Sträucher auserkoren. Zuerst wunderte sich Namakan darüber, doch er stellte schnell fest, dass die Sträucher einige hilfreiche, wenn auch ungewöhnliche Eigenschaften aufwiesen: Sie wuchsen in einem vollkommenen Rund, sodass sie nicht wie zufällig gewachsen wirkten, sondern von der Hand eines vernunftbegabten Wesens angepflanzt. Verstärkt wurde diese Wirkung durch eine auffällige Lücke, wo ein Strauch hätte sein sollen, aber keiner war. So entstand ein schmaler Durchlass ins Innere des Kreises, wo der Boden anstelle von Schnee mit trockenem Laub bedeckt war. Dieser Umstand ergab sich, weil die Zweige der Sträucher sich dort ungefähr in Dalarrs Kopfhöhe nach innen neigten und zu einem schützenden Dach verflochten waren. Unmittelbar über der Mitte des Runds befand sich wie als Abzug für eine Feuerstelle ein Loch in diesem Geflecht, was ein weiterer Beleg dafür war, dass diese sonderbare Laube ihre Entstehung wahrscheinlich keiner bizarren Laune der Natur zu verdanken hatte.

Namakan war zu erschöpft, um sich lange den Kopf über dieses Rätsel zu zerbrechen. Noch dazu trug ihm sein Meister auf, Feuer zu machen, und bis er das dafür nötige Holz gesammelt und die Flammen entfacht hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass jemand, der einen solchen hervorragenden Unterschlupf für Wanderer schuf, gewiss keine durch und durch bösartige Kreatur sein konnte.

Dalarr beschloss derweil, auf die Jagd zu gehen. »Heute Abend gibt es Fleisch. Mir hängen die Tannenfladen zum Hals raus«, sagte er verächtlich, und so wunderte es Namakan ein wenig, dass Morritbi darauf bestand, sich seinem Meister anzuschließen.

Kjell hingegen strich immer unruhiger durch die Laube. Er ging auf und ab, kratzte sich an Armen und Rumpf, als müsste er gegen ein ganzes Heer von Flöhen ankämpfen. Er begann, sich bis auf die nackte Haut auszuziehen. Dabei spähte er immer wieder ängstlich durch die winzigen Lücken in den Zweigen hinauf zum Himmel, der sich zunehmend verfinsterte. Schließlich brachen auch er und Ammorna in den Wald auf, und Namakan fand sich allein mit dem Feuer wieder.

Eine überraschende Erkenntnis sickerte in sein Bewusstsein. Ich bin allein. Zum ersten Mal auf dieser Reise bin ich wirklich ganz allein. Er spielte mit dem Ring an seiner Hand, drehte ihn das kleine Stückchen hin und her, das er sich mit viel Mühe bewegen ließ. Er hörte Kjell schreien und erinnerte sich daran, dass es anderen noch schlimmer erging. Er grub seine Hände in das Laub, auf dem er saß. Tiefer und tiefer wühlte er, in der Hoffnung, es würde ihm neue Kraft schenken, den festen Boden unter seinen Fingerspitzen zu fühlen.

Ein stechender Schmerz wie von einer Nadelspitze fuhr ihm in die Kuppe seines Daumens. Er steckte sich den Daumen in den Mund und scharrte mit der anderen Hand vorsichtig nach dem Ding, das ihn gestochen hatte. Es war keine Nadelspitze, die ihm die winzige Wunde beigefügt hatte. Es war eine Pfeilspitze, dreieckig und aus kastanienbraunem Holz, das glänzte, als wäre es eben erst mit einem Tuch poliert worden. An ihrem breiteren Ende ragte ein Stück des abgebrochenen Pfeilschafts hervor, kürzer als ein Fingerglied. Namakan hielt sein Fundstück näher ans Feuer. Da war nichts, womit die Spitze am Schaft festgemacht war. Keine Schnüre, kein kleiner Ring aus Metall … als wäre der ganze Pfeil aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt worden. Er prüfte die Härte des Holzes mit dem Daumennagel, doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, auch nur den kleinsten Abdruck im Material zu hinterlassen. Es ist hart wie Stein. Ob man es im Feuer gehärtet hat?

»Wusste ich’s doch.« Ammorna stand im Eingang der Laube, Kjells Käfig unter dem Arm. »Da will der alte Wanderer also hin.«

»Du weißt, was das ist?« Namakan hielt der Weißhaarigen seinen Fund entgegen.

»Eine Pfeilspitze«, sagte sie nur und stapfte zu dem an ihren Stab gebundenen Beutel, den ihr Morritbi gegeben hatte, um darin ihren Proviant zu transportieren. »Das sieht man doch.«

»Du weißt, wer solche Pfeile macht, meinte ich.«

Ammorna nickte und schnürte den Beutel auf. »Ja. Deshalb bin ich mir jetzt auch sicher, wohin dieser ungehobelte, griesgrämige Klotz uns bringen möchte.«

Namakan betrachtete die Pfeilspitze. »Und wohin wäre das?«

»Ich will dir die Überraschung nicht verderben«, brummte Ammorna, nahm einen Tannenfladen, bröselte ihn klein und fing an, die Krümel an Kjell zu verfüttern. »Außerdem wird dieser Stinkstiefel bestimmt noch stinkstiefeliger, wenn ich es dir verrate. Er hatte schon immer eine ungesunde Vorliebe für große Auftritte und überraschende Enthüllungen. Ich nehme an, er hätte auch einen guten Gaukler abgegeben.«

»Woher kennst du ihn?«

»Hm?« Ammorna beugte sich über den Käfig, als verspürte sie plötzlich eine unbändige Neugier, ob Kjell die dargebotenen Leckerbissen auch wirklich fraß.

So leicht kommst du mir nicht davon. »Tu nicht so. Mir ist klar, dass du mich für dumm hältst. In mancherlei Hinsicht stimmt das vielleicht sogar. Aber ich müsste dümmer als das dümmste Huhn sein, um nicht zu merken, dass du meinen Meister kennst. Von irgendwann früher, als er noch nicht auf den Almen gelebt hat. Als er noch jung war.«

Ammorna verharrte einen Moment reglos. Dann kicherte sie und nickte anerkennend. »Sieh an, sieh an. Ich sollte mir dringend abgewöhnen, die Schärfe des Geists meines Gegenübers anhand der Schönheit seiner stofflichen Hülle einzuschätzen. Na gut, ja, ich kenne ihn.«

»Ha!« Namakan konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

»Und wen ich noch besser gekannt habe«, führte Ammorna aus, »ist deine Mutter. Natürlich nicht deine leibliche Mutter. Du hast die Ehre, der erste Halbling zu sein, mit dem ich mehr als ein paar Worte wechsle. Nein, ich meine Lodaja. Sie und ich waren einmal Freundinnen. Sehr gute Freundinnen sogar. Wir waren durch ein Band verbunden, wie es nur durch geteiltes Leid entsteht.«

»Lodaja …«, wisperte Namakan ungläubig. Sie treibt einen bösen Scherz mit mir!

»Ich war nicht immer die freundliche, beherrschte Person, die du heute vor dir siehst.« Ammorna seufzte. »Ich war als junge Frau das, was manche Männer gern einen Wildfang und die meisten anderen eine Kratzbürste nennen. Mein Vater zählte leider nicht zu den Freunden von Wildfängen. Es kam der Punkt, an dem er zähneknirschend eingestehen musste, dass mir mein Ruf als Kratzbürste in den Reihen vielversprechender Ehemänner zu weit vorauseilte, um mich für ihn gewinnbringend zu verheiraten. Also tat er das, was alle Väter aus gutem Hause tun, wenn sie eine ihrer Töchter nicht unter die Haube bringen und um den tadellosen Ruf ihrer Familie fürchten müssen: Er steckte mich in ein Kloster. Zu den Nebelkrähen, wie dein Meister sagen würde. Dort bin ich Lodaja begegnet. Wir haben alles miteinander geteilt: unsere Zelle, unsere kleinen und großen Geheimnisse, unsere Verachtung für unsere Väter, unser Aufbegehren gegen das strenge Regiment der älteren Schwestern …«

»Dann willst du also dabei gewesen sein, als Dalarr im Kloster aufgetaucht ist, um Lodaja zu befreien?«

»Er hat sie befreit?« Tiefe Falten zerfurchten Ammornas Stirn. »Hat er das gesagt?« Sie winkte ab. »Natürlich hat er das gesagt. Aber so war es nicht. Sie hat sich von ihm befreien lassen. Das ist ein gewaltiger Unterschied, wenn du verstehst. Doch du hast ganz recht. Ich war dabei, als diese beiden Rabauken durch den See geschwommen kamen, um um sie zu werben. Mehr noch: Wir haben die Prüfung, die sie bestehen mussten, schon lange vorher gemeinsam ausgeheckt. So wollten wir dafür sorgen, dass es auch der Richtige für uns ist, falls sich doch einmal ein Freier auf unsere Insel verirren sollte. Und Lodaja hatte Glück. Für sie ist jemand erschienen. Für mich jedoch … nun, sagen wir der Einfachheit halber, es war nie der Richtige für mich dabei.«

Das kann nicht wahr sein. Namakan presste die Lippen zusammen. Sie lügt.

»Du glaubst mir wohl nicht?« Ammorna deutete Namakans Miene völlig zutreffend. »Schön, dann lass es eben bleiben. Ich bin nur eine Aufschneiderin, die zufällig weiß, dass Lodaja gekochten Kohl nicht ausstehen konnte. Dass sie immer, wenn ihr etwas herunterfiel oder ihr ein sonstiges Missgeschick unterlief, dreimal laut ›Diese verfluchten Kobolde!‹ schimpfte. Oder dass sie nur über solche Zoten richtig lachen konnte, die auf irgendeine Art und Weise mit einem Abort oder wenigstens einem krachenden Furz zu tun hatten. Schon recht, schon recht, kleiner Mann. Du weißt es besser, und ich bin eine Lügnerin.«

Namakan sah sie fassungslos an. Es stimmt. Es stimmt alles. Sie war ihre Freundin. Sie sieht doch sogar ein bisschen aus wie sie, nur nicht so hübsch und viel, viel faltiger. Binnen eines Wimpernschlags fand sich Namakan in den Fängen seiner Trauer wieder. O ihr Untrennbaren! Ich vermisse sie so sehr. Er wandte sich von Ammorna ab und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ich vermisse sie alle so sehr. Und wir könnten Arvid noch so oft töten, keiner kann sie mir je zurückgeben.

»Sie hat ihren Frieden gefunden«, sagte Ammorna ruhig. »Aber es ist dennoch unsere Pflicht, sie und deine Geschwister zu rächen. Nichts wird deinen Meister davon abhalten, und er wird uns alle mitreißen. Wir sind nur Treibgut in der Flut seines Zorns. Ich wusste seit Tagen, dass unsere Wege sich kreuzen würden.«

»Wie das?« Namakan schluchzte fast.

»Auf der Fahrt von der letzten Mühle in den Hain schaute ich in den Himmel. Am Morgen war er noch ganz klar gewesen, doch nun … Ein Sturm braute sich zusammen. Wolkenfetzen wirbelten umeinander, immer schneller, als würden sie in einen Strudel hinabgezogen. Düsterer und düsterer wurden sie, als malte jemand mit schwarzen Pinselstrichen ein Bild, in das er seine gesamte Bitternis zu bannen suchte. Und dann sah ich, wozu die Wolken sich da ballten. Es war ein Hirsch, wie aus dem Gewand der Nacht selbst gewoben, das ausladende Geweih mit den unzähligen Enden zu einem tödlichen Stoß gesenkt. Da wusste ich, dass er nicht fern sein kann, denn Dalarr trägt den Namen des stolzen, wilden Geschöpfs, das ich da vor mir sah.«

Namakan wischte sich die Tränen aus den Augen. »Bist du eine Seherin? Blickst du in die Zukunft?«

Ammorna zeigte ein beinahe schamhaftes Lächeln. »So viel Hochmut ziemt sich nicht. Ich bin nur eine einfache Frau, die danach strebt, die Zeichen zu deuten, die mir meine Herrin in ihrer unerschöpflichen Gnade sendet. Bisweilen gelingt es mir, doch allzu oft scheitere ich daran. Kroka gefällt es, das Licht der Erkenntnis, mit dem sie uns aus der Düsterkeit des Unwissens erlöst, nach ihrem Willen zu kräftigen. Mal erstrahlt es gleißend wie die Sonne selbst, mal ist es nur das schwache Flackern einer kleinen Flamme im Wind. Und das ist gut so. Würde sie es anders halten, wären wir törichten Menschen versucht, genau die Zukunft herbeizuführen, die uns am günstigsten für uns erscheint. Dabei gibt es die Zukunft nicht. Es gibt nur das Zukünftige, das in unendlicher Zahl aus dem Keim des Gegenwärtigen sprießt. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft ebenso wie jede andere Facette unseres Vermögens, genau dem Pfad in diesem Gewirr zu folgen, der uns mit Sicherheit an unser Ziel bringt.« Ammorna hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Selbst dein Meister kann das nicht, ganz gleich, wie sehr er sich auch weigert, diese Lektion zu lernen. Sicher, er wird seine Rache bekommen, doch es könnte auf eine andere Art geschehen, als dass er Arvid und Waldur seine Schwerter in die Brust stößt.«

Eine Weile war nur Kjells Schmatzen zu hören.

Nachdem er seine Fassung zurückgewonnen hatte, wagte sich Namakan, Ammornas Redseligkeit und Dalarrs Abwesenheit gleichermaßen auszunutzen. »Habt ihr über mich geredet?«

»Wer?«

»Du und mein Meister. Habt ihr über mich geredet? Heute Morgen?«

Ammorna zupfte an einer Strähne ihres Haars, die ihr in die hohe Stirn gefallen war. »Wir haben eigentlich mehr über ihn geredet. Über etwas, das er meiner Ansicht nach dringend tun sollte. Er sollte dir seine Vergangenheit darlegen.«

»Er sagt, er sei früher anders gewesen. Stimmt das?«

»O ja.« Etwas Abschätziges lag mit einem Mal in Ammornas Worten. »Wenn du glaubst, er wäre heute aufbrausend und streitlustig, dann hättest du ihn damals sehen sollen. Er ließ sich von nichts anderem leiten als von seinen Leidenschaften. Und nicht alle seiner Leidenschaften waren für die um ihn herum ein Vergnügen. In dieser Hinsicht ist er keinen Deut besser gewesen als sein Bruder. Er hat …« Sie brach ab und legte den Kopf schief. »Still«, zischte sie.

Und tatsächlich: Draußen näherten sich Schritte.

»Na?«, platzte Morritbi in die Laube. »Was hockt ihr da stumm wie die Fische ums Feuer?«

Hinter ihr trat Dalarr durch den Durchlass, warf zwei tote Hasen neben die Feuerstelle und knurrte: »Da! Abziehen! Mir knurrt der Magen. Wenn ich nicht bald was zu fressen kriege, werde ich ungemütlich.«

Namakan stand auf, zog seinen Jagddolch und griff nach einem der Hasen. Als er das weiche Fell des Tiers berührte, hielt er kurz inne und schaute zu seinem Meister hoch.

»Habe ich etwa Rotze an der Nase hängen?«, blaffte Dalarr. »Oder was ist los?«

»Nichts.« Namakan schüttelte den Kopf und richtete sich auf. »Gar nichts.« Er ging an Dalarr vorbei, hinaus in die Nacht, um den Hasen abzuziehen und dabei darüber zu grübeln, welche Geheimnisse sein Meister wohl vor ihm verbarg.

Am Morgen darauf bestand nach einer Stunde Wegstrecke berechtigter Anlass zur Freude unter den Wanderern: Sie kletterten einen letzten Steilhang hinauf, hinter dem das Gelände flacher, fast schon eben wurde – ganz so, als hätte ein Riese dem Hang einen Fausthieb versetzt und seine obere Hälfte einfach umgeschlagen. Auf dieser Hochebene standen zudem die Tannen nicht mehr so eng beieinander wie zuvor, und dementsprechend dicht wuchs das Unterholz.

Die Wanderer bahnten sich einen Weg durch kahle Büsche und Sträucher, wobei sie langsam den nötigen Atem wiederfanden, um Unterhaltungen zu führen. Morritbi und Dalarr schritten voran, in ein lautstarkes Gespräch vertieft, das halb giftiger Streit, halb heiteres Geplänkel darüber war, wer von ihnen bei der gestrigen Jagd die Hasen als Erster gesehen hatte. Dahinter mischte sich Ammorna hier und da mit einer spitzen Bemerkung in die Debatte ein, während Kjell und Namakan die Nachhut bildeten.

Kjell erwies sich nicht nur als ausgesprochen wortkarg, sondern wirkte insgesamt eher abwesend. Wenn ihm ein Zweig das Gesicht streifte, fuhr er sich so träge über die Wange, als würde er an einem heißen Tag kaum die Kraft aufbringen, eine lästige Fliege zu vertreiben. Wenn er über eine Wurzel stolperte, gab er nur ein kurzes Murren von sich, ohne die Füße für die nächsten Schritte höher zu heben. Wenn Namakan ihn freundlich anlächelte, erntete er dafür nicht die geringste Regung.

Ich halte das nicht mehr aus. Das ist ja wie neben einem Plageopfer herzugehen. »Woran denkst du?«

Kjell schaute sich verwirrt um. »Verzeihung. Hast du etwas gesagt?«

»Ich wollte wissen, woran du denkst.«

»An meine Leute. Ich mache mir Sorgen. Wer soll ihnen jetzt Korn geben?«

Das ist es also. Namakan wusste keine Erwiderung, die den Grafen ohne Land aufgeheitert hätte. Er steckte die Hand in die Hosentasche und förderte die Pfeilspitze zutage. »Schau mal. Die habe ich in der Laube gefunden.«

»Schön.« Kjell würdigte sie kaum eines Blicks.

»Sie ist aus Holz, das hart wie Stein ist«, erklärte Namakan, weil er lieber wenigstens der eigenen Stimme lauschte, als wieder das dumpfe Schweigen zu ertragen. »Das ist merkwürdig. Findest du nicht?«

»Es heißt, die Barbaren von manchen der Pferdestämme würden ihre Pfeile ganz aus Holz schnitzen«, sagte Kjell achselzuckend und ohne echtes Interesse.

»Dann ist das wohl von so einem Pfeil, was?«

»Nein.«

»Nein?«

Kjell blies die Backen auf. »Nein«, sagte er noch einmal in schulmeisterlichem Ton. »Erstens hat er keine Widerhaken, und zweitens steht in keiner Chronik, die ich gelesen habe, dass es jemals eine Barbarenrotte bis in den Schwarzen Hain geschafft hätte.«

»Wer hat ihn denn sonst gemacht?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Dann ist Ammorna aber keine gute Lehrerin.«

»Wieso? Hm? Wie kommst du auf so einen Unfug?«

Namakan senkte den Kopf und inspizierte die Pfeilspitze. Hoppla, jetzt bin ich ihm anscheinend auf die Zehen getreten. »Na ja … sie weiß, wer diesen Pfeil gemacht hat, aber sie wollte es mir nicht sagen. Und wenn du jetzt meinst, dass du es nicht weißt, dann …«

»Gib her!« Kjell riss ihm die Pfeilspitze aus der Hand. »Ammorna!«

Seine Amme drehte sich um, und auch Dalarr und Morritbi blieben stehen, um nachzusehen, was es mit dem scharfen Ruf auf sich hatte.

Kjell präsentierte Ammorna die Pfeilspitze auf seiner Handfläche. »Der Kleine sagt, du wüsstest, welches Volk mit solchen Pfeilen schießt.«

Ammorna funkelte Namakan an. »Dir gehört wirklich der vorlaute Mund zugenäht.«

Dalarr kam näher heran. »Wenn die Nebelkrähe es nicht weiß, ich weiß es bestimmt.« Sein Grinsen war wie weggewischt, als er die Pfeilspitze sah. »Dridd!«

»Was ist ein Dridd?«, wollte Morritbi wissen.

Namakan bedeutete ihr mit einem Finger an den Lippen, dass sie besser schwieg, anstatt Dalarr – ob nun bewusst oder unbewusst – zu reizen.

Glücklicherweise galt Dalarrs Groll der Kroka-Dienerin. »Du musstest mir unbedingt die Freude rauben, meinem Schüler in all diesem verfluchten Elend etwas Gutes zu tun und ihm eine schöne Überraschung zu bereiten, was, du eitle Stute?«

»Wen nennst du hier eitel, du Gockel?« Ammorna stampfte zornig auf. »Und meine Lippen waren versiegelt, so wahr mir die Gefiederte helfe.«

»Worüber streitet ihr euch?« Kjell schnippte die Pfeilspitze zurück zu Namakan. »Was geht hier vor? Ich verlange eine Antwort. Auf der Stelle!«

»Oho«, schnaubte Dalarr. »Der hohe Herr hat den Beutel zwischen seinen Beinen wiederentdeckt!«

Morritbi musste lachen, während Kjells Gesicht puterrot wurde. »Antworte mir!«

»Lass dich von diesem Grobian nicht provozieren«, mahnte Ammorna ihren Schützling.

»Dann sag du mir, warum ihr euch in den Haaren liegt!«, verlangte Kjell.

»Gern.« Ammorna machte einen Knicks. »Wir gehen zu …«

»Untersteh dich, Weib!« Dalarr hielt der Alten den Mund zu, doch sie knallte ihm geschickt ihren Stab in die Kniekehlen.

Während Dalarr um sein Gleichgewicht rang und dabei Ammornas Mund freigab, vollendete sie rasch ihren Satz. »Den Elfen. Wir gehen zu den Elfen.«