11
Drei volle Monde stellte Smigand der Jäger dem Weißen Hirsch nach. Als der Herrscher des Hains dann zu Smigands Füßen lag, durchbohrt von Dutzenden Pfeilen, ließ der Jäger seiner Gier und seiner Leidenschaft freien Lauf.
Er schlug die Warnungen der Alten in den Wind und brach den Leib seiner Beute auf. Doch was aus dem Leib des Weißen Hirschen quoll, war nicht warm und weich. Es war kalt und starr, und es begrub alles unter sich: Smigand, die Bäume des Hains, selbst die Spitzen der Berge. So kam der Winter in die Welt, die bis dahin nichts als ewigen Frieden gekannt hatte, und deshalb wählt kein Vater mehr Smigand als Namen für seinen Sohn.
Aus einer Legende der Bewohner des Schwarzen Hains
Weiß.
Weiß und kalt.
Das waren die ersten Eindrücke von der Welt jenseits der Narbe, die Namakan hatte. Wohin er den Blick auch wandte, war das Land von einer dicken Schicht Schnee bedeckt, die jeden Laut erstickte und jeden Gedanken an gedeihendes Grün vergessen machte. Nur vereinzelt ragten Baumstümpfe wie gedrungene schwarze Säulen aus dem eisigen Leichentuch hervor. Ganz am Horizont der nach Norden hin ansteigenden Einöde machte Namakan eine flache Linie aus verwaschenem Grau aus. Er schätzte, dass es mindestens ein halber Tagesmarsch bis zum Rand dieses Waldes war. Er schaute an sich herunter, auf seine nackten Füße. Einen halben Tag durch Eis und Schnee stapfen. Falls wir überhaupt in den Wald wollen … Mir werden die Zehen abfrieren. Es war beileibe nicht so, dass Namakan noch nie Schnee gesehen hätte. Aber in den Bergen hatten Dalarr und er die Gletscher an den Hängen stets gemieden, und wenn einmal ein Sturm Schnee bis hinunter in die Almen getrieben hatte, war er immer vom einen auf den anderen Tag wieder getaut. Der Schnee hier sieht aus, als läge er schon sehr lange. Und er wird bestimmt nicht schmelzen, nur weil mir das lieber wäre. Seine Sohlen waren dick, doch schon jetzt, nach wenigen Augenblicken und vielleicht einhundert Schritten, spürte er, wie der Schnee ihm die Wärme aus den Füßen saugte.
Hilfesuchend sah er hoch zu Dalarr. Der große Mensch hatte die Lippen zusammengekniffen und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Dann schüttelte er den Kopf und drehte sich zu der Stelle um, wo eben noch der Ausgang des Tunnels gewesen war, an dem die Spinnen sie abgesetzt hatten. Womöglich hätte man aus der Nähe den Rand der Klappe erkennen können, hinter der der Zugang in das unterirdische Reich verborgen lag. Nun, wo sich die Spinnen wieder zurückgezogen und die Klappe hinter sich geschlossen hatten, deuteten nur die Fußstapfen ihrer entlassenen Gäste darauf hin, dass der verschneite Hang ein Geheimnis barg. Dalarr schaute zurück zum Horizont. »Pack mich einer am Sack! Der Schwarze Hain ist auch nicht mehr das, was er einmal war«, knurrte er wie ein verärgerter Trunkenbold, dessen liebste Kaschemme überraschend in einen Schrein für das Untrennbare Paar umgebaut worden war. Er seufzte schwer und drehte sich zu Namakan um, der unsicher auf der Stelle trat, um immer nur einen Fuß im kalten Schnee zu haben.
Dalarr verzog verächtlich den Mund. »Ich habe nie verstanden, warum ihr kleinen Leute euch so beharrlich gegen eine nützliche Erfindung wie Schuhe wehren musstet.«
»Es fühlt sich besser an, barfuß zu gehen.« Namakans Einwand hätte gewiss überzeugender geklungen, wenn er nicht mit leicht bibbernder Stimme vorgetragen worden wäre. Unter Umständen lag seine mangelnde Überzeugungskraft auch darin, dass es ein Argument war, das Namakan nur von seinen Geschwistern übernommen hatte. Er selbst hatte als Kind manchmal heimlich die Stiefel des Meisters angezogen, um darin durch das nächtliche Haus zu stromern, als sei es etwas Verbotenes.
Dalarr wand sich aus den Schlaufen seines Rucksacks und streifte den Halblingsumhang ab. Staunend sah Namakan zu, wie der Meister sein Kurzschwert zog und begann, die Wolle in lange Streifen zu schneiden. Als er so viel von seinem Umhang abgetrennt hatte, dass er ihm nun nicht mehr bis zu den Knien, sondern höchstens noch bis über die Hüften gereicht hätte, hob er die heruntergefallenen Streifen in einem Knäuel auf und warf sie Namakan zu. »Hier. Wickel dir die um die Füße.«
Namakan hockte sich in den Schnee und tat, wie ihm geheißen. Nachdem er seinen einen Fuß ordentlich in den rauen Stoff verpackt hatte, wackelte er probeweise mit den Zehen, um zu überprüfen, ob er die Bänder auch nicht zu fest gewickelt hatte. Nicht schlecht. Gar nicht schlecht. Er griff zum ersten Streifen für seinen anderen Fuß und hielt inne. »Wirst du in deinem kurzen Umhang nicht frieren, Meister?«
»Ich habe schon schlimmer gefroren«, wiegelte Dalarr ab und steckte Swiputir zurück in die Scheide.
Namakan blickte vorsichtig zu ihrer neuen Begleiterin. »Und was ist mit ihr? Sie hat auch keine Schuhe.«
Dass die rothaarige Frau keine Schuhe trug, war zwar die Wahrheit, aber es war gewiss nicht ihre größte Sorge – sofern sie derzeit überhaupt dazu fähig war, sich um irgendetwas zu sorgen. Ihre Augen waren geweitet und glasig, und wenn Namakan es nicht besser gewusst hätte, wäre er vielleicht davon ausgegangen, dass die zwei starren Murmeln nur ein Ausdruck ihres eigenen Erstaunens über die wundersame Rettung waren. Die fassungslose Entrücktheit der Frau hatte indes einen völlig anderen Grund: Sie stand ohne jeden Zweifel noch immer unter der Wirkung der Pilze, mit denen die Spinnen sie die ganze Zeit über gefüttert hatten.
Namakan konnte immer noch nicht glauben, dass sie heil aus Kongulwafas Bau entkommen waren – geschweige denn, dass die Gottkönigin des Spinnenvolks tatsächlich auf Dalarrs dreiste Forderung eingegangen war. »Gib mir dieses Mädchen mit, und wir sind quitt«, hatte er gesagt und dabei auf die Rothaarige gedeutet, als würde er auf einem Ponymarkt Interesse an einem besonders vielversprechenden Fohlen zeigen. Kongulwafa hatte es sich nicht nehmen lassen, noch eine Spitze zu setzen, bevor sie eingewilligt hatte. »Suchst du frisches Fleisch?«, hatte sie keckernd geschabt. »Ersatz für die Einäugige?« Dalarrs einzige Antwort war ein langer, düsterer Blick gewesen.
Die Vorstellung, die Rothaarige könnte Lodaja ersetzen, war für Namakan vollkommen abwegig. Sie ist viel zu jung für den Meister. Außerdem stehen ihre Ohren ab und ihre Nase ist ein ganzes Stück zu groß für ihr Gesicht. Und selbst wenn sie jemals das Gift der Pilze aus ihrem Leib schwitzen sollte, ist sie dem Meister sicher viel zu dürr. Sie muss doch immerzu frieren wie nichts Gutes. Namakan betrachtete die merkwürdige lebende Beute aus dem Spinnenbau. Die Frau trug ein einfaches Kleid, das ihr wie ein Sack bis zu den bloßen Knöcheln hing und das sie ganz offenkundig selbst aus Fetzen von Leder und Pelz zusammengenäht hatte. Sie hatte etwas von einer kranken Katze, der das Fell ausging. Um die kantigen Hüften war lose ein geflochtener Gürtel geschlungen, an den ungefähr ein Dutzend Beutelchen und Säckchen gebunden waren. Namakan war noch unschlüssig, ob der strenge Geruch, der von der Frau ausging, etwas mit dem Inhalt der Säckchen zu tun hatte oder ob er nicht doch davon herrührte, dass sie zu lange eingesponnen gewesen war. Wenn die Spinnen ihr oben etwas hineingestopft haben, muss es ja auch unten wieder herausgekommen sein. Trotz ihres dürren Wuchses erweckte die Frau nicht den Anschein, als würde sie die Kälte stören. Sie trippelte nicht einmal auf der Stelle, wie Namakan es getan hatte. Sie stand einfach nur stocksteif da, und Namakan stellte fest, dass der Schnee unmittelbar um ihre nackten Füße herum geschmolzen war. Unter ihren Sohlen hatte sich bereits Matsch gebildet, der von braunen Tannennadeln durchsetzt war.
»Sie wird sich den Tod holen«, sagte Namakan.
Dalarr brummte etwas in seiner kehligen Heimatsprache, das nicht unbedingt freundlich klang, zückte Swiputir und verarbeitete auch den Rest seines Umhangs in lange Streifen. »Da hast du Fußlappen für sie, Drengir«, verkündete er, als er damit fertig war.
Namakan nahm das neue Knäuel dankbar entgegen und hielt es der Rothaarigen vors Gesicht. »Da. Für dich.«
Die Frau blickte weiter in eine unergründliche Ferne.
»Setz dich hin, dann binde ich sie dir um«, bot Namakan an und zupfte an ihrem Ärmel. Er hätte genauso gut mit einem der Baumstümpfe reden können.
»Sie hört dich nicht.« Dalarr fasste die Frau mit dem einen Arm um die Schultern, mit dem anderen um die Knie und zwang sie mit sanftem Druck in den Schnee. »So.«
Behutsam säuberte Namakan ihr mit dem Saum seines Umhangs die Sohlen von Matsch und Nadeln, ehe er sich daranmachte, die Wollstreifen um die Füße der Rothaarigen zu wickeln. Ihre Haut ist heiß wie Glut. Ob sie Fieber hat? »Warum haben wir eigentlich ausgerechnet sie mitgenommen? Von all den Leuten, die in Kongulwafas Halle gefangen waren, warum ausgerechnet sie?«
»Weil es richtig war.« Dalarr setzte seinen Rucksack auf. »Sie hat von Prinzen und Königen gesprochen. Ein gutes Omen. Immerhin haben wir vor, die Welt um einen König zu erleichtern. Oder hast du Angst, dass sie uns zu sehr aufhalten könnte?«
»Nein. Aber …« Daran hatte Namakan tatsächlich noch nicht gedacht. »Meinst du, dass sie für immer so bleiben wird?«
»Das wollen wir mal nicht hoffen.« Er legte beide Hände auf die Knäufe seiner Schwerter. »Ich gebe ihr ein, zwei Tage, und wenn ihr Geist sich bis dahin nicht erholt hat …«
Namakan fuhr zusammen, und der feuchte Fuß der Frau glitt zwischen seinen Fingern hindurch. »Du würdest sie erst retten und dann töten, Meister?«
»Was wäre ihr Leben noch wert, falls sie das Gift nicht abschütteln kann? Glaubst du, sie würde wollen, so geistlos wie ein Opfer der Plage durch die Gegend zu wandeln? Ich denke nicht.«
»Der weise Prinz kennt sein Volk, obwohl ihn sein Volk nicht kennt.« Die Worte der Frau stiegen gemeinsam mit ihrem Atem in den Himmel auf, jede Silbe flüchtiger als der weiße Nebel von ihren Lippen. »Der weise Prinz weiß, wann er Held und wann er Mörder ist. Und er kennt die Zeiten, in denen er beides zugleich sein muss. So sagt es das Feuer.«
»Da hast du es.« Dalarr nickte. »Sie sieht die Dinge wie ich. Kluges Mädchen. Also gut, zwei Tage hat sie.«
Nachdem Namakan der Rothaarigen die Füße umwickelt hatte, zogen er und sein Meister sie gemeinsam auf die Beine. Sie nahmen sie zwischen sich wie ein Kind, Namakan an ihrer rechten Hand, Dalarr an ihrer Linken. Dann zogen sie los, dem grauen Streif am Horizont entgegen.
Namakan war auf ihrer Wanderung bald von zwei Dingen überzeugt. Zum einen erhärtete sich sein Verdacht, dass im Körper der Rothaarigen ein schlimmes Fieber wütete. Ihre dürren Finger in seiner Hand fühlten sich an wie glimmender Reisig. Zum anderen würde er echte Schuhe brauchen – am besten Stiefel mit hohem Schaft –, falls die ganze Welt jenseits der Narbe nichts weiter als eine einzige, kalte Ödnis war. Der Schnee haftete zu gut an den Wollstreifen, und jeder neue Schritt fiel ihm schwerer als der davor. Wenn er vor sich nach unten blickte, sah er anstelle des gewohnten Anblicks seiner nackten Füße nur noch zwei unförmige, weiße Klumpen. Ich spüre meine Zehen nicht mehr. Ich weiß, dass sie noch da sind – aber nur, weil sie ja nicht aus den Lumpen fallen können. Er beschäftigte sich eine Weile mit der verzweifelten Aussicht, schon bald ein Gasthaus am Waldrand zu finden, in dem er seine Füße in einem schönen Bottich heißem Wasser aufwärmen konnte. Sein Sehnen schlug in bittere Ernüchterung um, als ihm gewahr wurde, wem er die Tortur dieses Marsches letztlich zu verdanken hatte. »Es tut mir leid, Meister.«
Obwohl sie seit Beginn ihrer Wanderung kein Wort gewechselt hatten, geriet Dalarr nicht aus dem Tritt. »Was?«
»Dass wir bei den Spinnen gelandet sind. Du wolltest nur durch das Netz klettern, aber du hattest nie vor, Kongulwafa zu begegnen.«
»Kann schon sein.«
»Wir hätten ihr aus dem Weg gehen können, wenn ich nicht darauf bestanden hätte, dass sich Wikowar uns anschließen darf, dieses fette Stück Dreck. Wenn ich ihn doch nur gleich abgestochen hätte …«
»Mach dir doch nichts vor«, entgegnete Dalarr milde. »Wenn du ihn gleich abgestochen hättest, dann wärst du nicht der, der du bist.«
»Bist du nicht zornig auf mich?«
»Ich habe dir erlaubt, die Entscheidung zu treffen, ob wir dieses Schwein mitnehmen oder nicht«, erklärte Dalarr. »Also wäre es wohl angemessener, auf mich selbst zornig zu sein, und das versuche ich mir schon seit ewigen Zeiten abzugewöhnen. Es lohnt sich nicht, um ein Pferd zu weinen, sobald man es zu Tode geritten hat.«
Schweigend gingen die drei eine Weile lang weiter. Da er feststellte, dass er die Kälte leichter ertrug, wenn er die Stimme seines Meisters zur Ablenkung hatte, fragte Namakan schließlich: »Wohnt Arvid sehr weit hinter diesem Wald?«
»Ich muss dich enttäuschen. Er wohnt gar nicht hinter diesem Wald.« Dalarr wies mit dem Daumen über die Schulter hinter sich. »Silvretsodra liegt im Süden. Dort steht sein Palast.«
»Und warum laufen wir dann auf diesen Wald zu?«, erkundigte sich Namakan ein wenig beunruhigt.
»Weil der beste Weg zu einem Ziel nicht immer der kürzeste ist«, antwortete Dalarr in jenem Tonfall, von dem Namakan nur allzu gut wusste, dass jedes weitere Nachbohren eine vergeudete Mühe gewesen wäre.
Als sie am Waldrand ankamen, hatte Namakan sich beinahe schon damit abgefunden, dass die Welt jenseits der Berge keine Wunder mehr für ihn bereithalten würde. Bis hierhin hatte sie ihm stattdessen nur Dinge geboten, auf die er gut und gerne hätte verzichten können: kalte Luft, die ihm bei jedem Atemzug in den Lungen brannte. Müde Beine, die vor Anstrengung zitterten. Plötzlich einsetzende Böen, die den Schnee aufwirbelten und ihn ihm wie unzählige winzige Dolche aus Eiskristallen ins Gesicht bliesen.
Insofern war er dankbar für die Bäume. Nicht nur, weil sie zumindest ein wenig Schutz vor dem Wind versprachen. Sie waren anders als die Bäume, die er von den Immergrünen Almen kannte. Die Rinde an ihren kerzengeraden Stämmen war schwarz und glatt, sodass sie eher an Säulen aus Basalt oder Marmor oder irgendeinem anderen Gestein und nicht so sehr an Teile einer Pflanze erinnerten. Sie stießen gewiss dreißig oder vierzig Schritt in den verhangenen Himmel hinauf, wobei sie erst nach dem untersten Drittel überhaupt Äste und Zweige zeigten. Ihre Nadeln – schwarz oder vielleicht auch nur von einem sehr, sehr tiefen Blau – waren fingerlang und wuchsen so dicht an dicht, dass am Boden ein beständiges Zwielicht herrschte. Als wäre alles in diesem Wald in einer Dämmerung gefangen, die niemals aufhören wird und die nicht einmal weiß, ob sie der Nacht oder dem Tag Platz machen soll.
Namakan ließ die Hand der Rothaarigen los und wankte zu einem der Bäume, um sich dagegen zu lehnen. Erst hielt er es für Einbildung, doch als er den Stamm eingehend betastete und schließlich seine Wange auf die Rinde presste, wusste er, dass ihm seine Sinne keinen Streich spielten. Die Bäume sind warm! Es war beileibe keine glühende Hitze, die sie verströmten. Im Grunde genommen fühlten sie sich nicht wärmer an als ein Stein an einem Herbstabend. Angesichts der eisigen Luft war das dennoch höchst erstaunlich. Nakaman sah nach oben, um festzustellen, dass auf den Ästen und Nadeln des Baums kein Schnee lag. Auch um den Fuß des wagenraddicken Stamms herum war der Schnee fast vollständig weggeschmolzen. Wenn Namakan nicht seine behelfsmäßigen Fußlumpen getragen hätte, wäre ihm sofort aufgefallen, dass er einen weichen Untergrund aus herabgefallenen, verrottenden Nadeln unter den Sohlen hatte.
»Was sind das für Bäume?«, fragte er Dalarr, der sich mit der Rothaarigen an der Hand suchend umsah.
»Barttannen. So nennen sie die Leute, die in diesem Wald wohnen.«
»Barttannen? Wieso Barttannen?«
Während Dalarr mit schmalen Augen weiter links und rechts am Wald entlangspähte, klärte er seinen Schüler über die Herkunft des Namens auf. Er klang dabei, als kreisten seine Gedanken gerade um etwas wesentlich Bedeutenderes als die Gründe, aus denen irgendwelche Waldbewohner Tannen, die offenkundig keine Bärte hatten, Bärte andichteten. »Sie glauben, dass der Gott, der mit seiner Axt die Narbe ins Antlitz der Erde geschlagen hat, von den anderen Göttern bestraft wurde. Sie waren erzürnt, weil er ihre Schöpfung verschandelt hat. Also haben sie ihn gemeinsam niedergestreckt und ihn dort vergraben, wo er sein Unrecht begangen hat. Er ist zwar tot, aber so wie bei manchen Menschen nach dem Tod noch die Nägel und die Haare weiterwachsen, so ist das zumindest für die Leute aus dem Wald wohl auch für die Götter. Sie meinen, der Bart des Gottes sei weitergewachsen und in der Gestalt dieser Bäume aus der Erde gesprossen.«
»Glaubst du das?«
Dalarr schüttelte den Kopf. »Ich glaube, tot ist tot, und Bäume sind Bäume. Mir ist es gleich, wo sie herkommen. Für mich ist nur wichtig, dass sie da sind. Und hier gibt es zu wenige.«
Namakan genoss die Wärme des Stamms, und so lange er seinen Meister am Reden halten konnte, so lange brauchte er sich auch nicht von der Quelle seines Genusses zu lösen. »Zu wenige? Es ist doch ein ganzer Wald von ihnen da, Meister.«
»Mag sein.« Dalarr zeigte den Hang hinunter, den sie sich durch den Schnee hochgekämpft hatten. »Aber als ich das letzte Mal hier gewesen bin, lag der Eingang zu Kongulwafas Bau auf dieser Seite der Narbe noch mitten im Schwarzen Hain. Und jetzt gibt es da unten nur noch ein paar Baumstümpfe.«
Dalarrs Erwähnung seines letzten Besuchs bei der Spinnenkönigin erinnerte Namakan daran, dass es noch ein Rätsel gab, das nur sein Meister für ihn lösen konnte. Er beschloss, später danach zu fragen. Erst wollte er wissen, was dem Wald so zugesetzt hatte. »Was ist geschehen?«
»Die Äxte des Königs töten den Wald«, sagte die Rothaarige unvermittelt, als wäre sie dem Gespräch aufmerksam und mit klarem Verstand gefolgt. Doch bereits ihr nächster Satz stellte unter Beweis, dass sie noch weit davon entfernt war, eine sinnvolle Unterhaltung zu führen. »Sie verschleppen ihn aufs Meer und in die Berge und in die Wüsten.«
»Wovon redet sie da?«, fragte Namakan.
»Holzfäller«, kommentierte Dalarr. »Arvid lässt den Wald abholzen, um damit Schiffe und Wälle zu bauen, die wahrscheinlich die Reichsgrenzen sichern sollen.«
Namakan sah auf die Einöde, die sie durchquert hatten. Wie groß war Arvids Reich nur? Mit so viel Holz konnte man doch Tausende von Schiffen bauen und einen Wall, der rund um die Welt reichte. Es sah danach aus, als hätte er noch mehr als genug andere Feinde außer ihnen.
»Freunde dich nicht zu sehr mit der Tanne da an«, sagte Dalarr. »Wir gehen weiter.«
»Wohin?«
Dalarr zeigte nach rechts. »Ich hoffe, dass ich da etwas finde, das mir verraten kann, wo wir genau sind. Wenn wir in den Wald hineingehen, ohne dass ich eine Ahnung habe, verlaufen wir uns nur. Komm.«
Schweren Herzens trennte sich Namakan von der Barttanne und nahm wieder die Hand der Rothaarigen. Sie kam ihm nun nicht mehr ganz so heiß vor.
Die Frau lieferte aber umgehend den Beweis, dass sie immer noch fiebrig war. »Du bist kleiner, als du bist, mein König.«
Sie fanden kein Gasthaus am Waldrand, wie Namakan es sich erhofft hatte. Dennoch stießen sie auf eine menschliche Behausung, als das Licht außerhalb des Waldes so trüb geworden war wie das unter dem Dach aus Zweigen und Nadeln. Namakan wünschte sich sofort, der Meister hätte sich zuvor für die andere Richtung entschieden.
Die Hütte selbst wirkte trügerisch einladend. Sie war aus Holzstämmen gebaut, mit Moos als Dichtung zwischen den Ritzen und einem Ofenrohr, das aus dem Grat des flachen Firsts ragte. Unter der vorkragenden Traufe waren an der Wand allerlei Werkzeuge aufgehängt: große Äxte, Schrotsägen mit hölzernen Griffen an beiden Enden des Blattes, wuchtige Hämmer mit gedrungenen Köpfen. Die Tür stand trotz der Kälte offen, als wollten die Bewohner den Wanderern deutlich zur Schau stellen, dass sie jederzeit willkommen waren.
In Wahrheit gab es hier niemanden mehr, der sie noch hätte willkommen heißen können. Zwanzig Schritte von der Hütte entfernt, inmitten der ersten Barttannen, lagen die Leichen von vier großen Männern im blutigen Schnee. Es war schwer zu sagen, wie lange es her war, seit sie der Tod ereilt hatte, weil die Kälte den Verfall ihrer Leiber sicherlich verlangsamt hatte. Es konnte erst an diesem Morgen oder auch bereits vor einigen Tagen passiert sein. Woran kein Zweifel bestand, war, dass ein Kampf stattgefunden hatte – ein erbittert geführter Kampf, bei dem sich die Männer heftig zur Wehr gesetzt hatten. Alle hatten sich mit Äxten bewaffnet, deren Köpfe von gefrorenem Blut überzogen waren. Alle Gegenwehr war letztlich umsonst gewesen, und die Angreifer hatten schrecklich gewütet. Einem der Männer hing der Unterkiefer nur noch an einer Seite am Schädel, einem anderen war mit einer schartigen Klinge das rechte Bein unter dem Knie abgetrennt worden. Allen waren die Bäuche zerfetzt und die Eingeweide daraus hervorgezerrt worden.
Das waren keine anderen Menschen, begriff Namakan. Das waren Tiere. Aber welche Tiere kämpfen mit schartigen Klingen?
Nun sah er auch, dass der zertrampelte Schnee rings um die Leichen nicht nur die Spuren der schweren Stiefel der Getöteten aufwies. Da waren noch andere Abdrücke, von breiten Tatzen oder Pranken, die nur eine Kralle hatten. Sie saß ganz außen an der Pfote, von der sie in einem nahezu rechten Winkel abstand. Den Spuren nach zu urteilen, war die Kralle doppelt so lang wie Namakans Hand. Damit kann man hervorragend Beine abschneiden. Oder sich in einen Bauch hineingraben. Ihr Untrennbaren, was sind das für Ungeheuer?
Um von den Opfern dieses grausigen Massakers fortzukommen, wollte Namakan einer der Spuren ein Stück folgen. Doch er kam nicht weit. Er schaffte nur zehn Schritte, ungefähr auf einen der nächsten Bäume zu, den Oberkörper weit vornübergebeugt, um die Fährte nicht zu verlieren.
»Bleib stehen, du Fifl!«, befahl Dalarr scharf. Er schaute mit ernster Miene zu den Wipfeln der Barttannen hinauf. »Schaff dich in die Hütte. Und nimm die Kleine mit. Sieh zu, dass du Feuer machst.«
Namakan richtete sich auf. »Was ist mit dir, Meister?«
»Du hast mich gehört«, knurrte Dalarr. »In die Hütte!«
Namakan gehorchte, und es fiel ihm leicht, weil er auch so mehr Abstand zwischen sich und die Leichen brachte. Was ihm nicht leicht fiel, war, die Rothaarige, die sich bisher so folgsam hatte führen lassen, zum Gehen zu bewegen. Sie sträubte sich, als Namakan nach ihrer Hand griff, und erst nachdem ihr Dalarr einen Stoß gegen die Schulter versetzte, riss sie den Blick von den Leichen los.
»Geh mit dem Jungen, verflucht!«, herrschte sie Dalarr an.
Die Frau entspannte sich, und Namakan rechnete damit, dass sie seinem Zerren und Ziehen endlich nachgeben würde. Tatsächlich hob sie einen Fuß, aber was dann geschah, erfüllte Namakan mit blankem Entsetzen. Die Frau trat einem der toten Männer gegen den Kopf. Es war der, dessen Kiefer gebrochen und halb aus dem Gesicht gerissen worden war. Der Tritt brachte zu Ende, was die Monstren mit den Klauen begonnen hatten. Die Rothaarige fletschte wild die Zähne, dann spuckte sie auf die Leiche. Anschließend war es plötzlich sie, die Namakan auf die Hütte zuzog, und nicht umgekehrt.
An der Tür angekommen, ließ sie wieder Namakan den Vortritt, als wäre nichts geschehen. Mit dem Bild des im Schnee liegenden Kiefers noch vor Augen trat Namakan über die Schwelle. Im Innern roch es nach Schweiß, Holz und kalter Asche. Die Hütte war karg eingerichtet: drei Stockbetten mit Pelzen zum Zudecken, sechs kleine Truhen aufgereiht an einer Wand, ein Tisch, an dem zwei lange Bänke standen, ein Regal mit Essgeschirr aus Steingut. Und ein Ofen! Das Untrennbare Paar sei mit Küssen überschüttet, ein Ofen!
Namakan setzte die Rothaarige auf einem der Betten ab und machte sich daran, ein Feuer zu entzünden. Es war alles da: sauber gestapeltes Brennholz, Flint und Zunder. Namakan versuchte, nicht auf die Geräusche zu achten, die von draußen hereindrangen – das Schleifen starrer Leiber über gefrorenem Schnee, den keuchenden Atem und die Flüche seines Meisters.
Als die ersten Flämmchen züngelten, jauchzte Namakan beinahe laut auf.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Die Rothaarige war aufgestanden und hatte den Kopf schiefgelegt, als würde sie einer Stimme lauschen. Ihre Augen verfolgten den Tanz des Feuerscheins, der aus der geöffneten Ofenklappe auf die gegenüberliegende Wand fiel, und sie strahlte glücklich. Nach einem kurzen Moment nickte sie und flüsterte: »Ich weiß, ich weiß.«
Namakan schauderte es. Sie ist vollkommen verrückt. Am Ende sind es gar nicht Pilze. Am Ende war sie schon vorher verrückt. Hat Kongulwafa nicht gesagt, sie sei freiwillig zu ihr gekommen? Ja, sie ist verrückt.
Namakan vergewisserte sich, dass das Feuer nicht mehr ausgehen würde, und setzte seinen Rucksack ab. Er hockte sich auf eines der Betten, warf sich einen Pelz über und wartete darauf, dass der Meister draußen fertig war.
Als Dalarr in die Hütte kam, trug er in jeder Hand ein Paar gefütterte Stiefel. Das eine stellte er vor die Rothaarige, die nach wie vor vom Feuerschein gebannt war, das andere reichte er Namakan.
Zu seiner Bestürzung stellte Namakan fest, dass seine Hände schon ohne sein Zutun damit begonnen hatten, die nassen Wollstreifen um seine Füße zu lösen. »Was ist nur aus uns geworden, Meister? Leichenfledderer …«
»Der, dem sie gehört haben, braucht sie nicht mehr«, sagte Dalarr ruhig.
»Danke, dass du die Leichen fortgeschafft hast.« Namakan schlüpfte in den ersten Stiefel und hätte um ein Haar geweint – nicht aus Trauer oder Ekel, sondern vor Glück. Das wollene Futter der Stiefel war noch kalt, aber das würde nicht lange so bleiben.
»Wenn die Bar Gripir wiederkommen, um den Rest ihrer Beute zu holen, ist es mir lieber, wenn sie nicht zu nahe an der Hütte sind.« Dalarr trat an den Ofen und wärmte sich die Hände. »Wer weiß, wie viele es sind. Wahrscheinlich ein ganzes Rudel.«
»Bar Gripir?«, fragte Namakan.
»Ich weiß nicht, wie sie beim Talvolk heißen.« Dalarr zuckte mit den Achseln. »Könnte sein, dass ihr nicht einmal einen Namen für sie habt. Sie leben in den Bäumen. Stell dir einen riesigen Marder vor, dem zu große Klauen gewachsen sind. Und Häute zwischen den Vorderläufen und den Hinterläufen, auf denen er durch die Luft gleiten kann.«
»Durch die Luft?«
Dalarr nickte. »Lästige Viecher. Früher haben sie sich von den Menschen ferngehalten, aber da war der Wald auch noch größer.« Dalarr ging zu einer der aufgereihten Kisten, öffnete sie und wühlte darin herum. »Aber das scheint mir ein harter Winter zu sein, und diese Männer da draußen waren leichtere Beute als ein Waldbulle oder ein Elch.« Er zog einen halben Schinken aus der Truhe und grinste übers ganze Gesicht. »Na bitteschön. Die Bar Gripir sind nicht die Einzigen, die hier gut essen werden.«
Bei allem Unbehagen, das die Ausführungen zu den Bar Gripir ihm bereitet hatten, gab es eine Frage, die Namakan nun unbedingt stellen wollte. Wenn Dalarr nicht die früheren Ausmaße des Schwarzen Hains erwähnt hätte, wäre sie ihm womöglich erst später in den Sinn gekommen, doch so wollte er die Gelegenheit nicht erneut verstreichen lassen. »Kongulwafa hat mich gekannt. Sie hat mich schon einmal gesehen.« Namakan sprach schnell, damit ihn der Mut nicht verließ. »Aber das kann nicht sein. Ich war doch noch nie in der Welt jenseits der Berge, oder?«
Dalarr ging schweigend zum Ofen und nahm eine Pfanne und ein langes Messer von den Haken, die darüber hingen. Er setzte sich an den Tisch und schnitt den Schinken auf. Nachdem er die Klinge dreimal durch das Fleisch gezogen hatte, sah er zu Namakan und sagte: »Es ist wohl Zeit, dass du erfährst, wie du wirklich zu mir und Lodaja gekommen bist. Aber beschwer dich nicht, wenn dir diese Geschichte nicht so gut gefällt wie die Lüge, die wir dir immer erzählt haben.«