Sechzehntes Kapitel

Seufzend richtete Fiona sich auf, schlug die Bettdecke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Seit zwei Stunden starrte sie nun im Dunkeln an die Decke und konnte nicht einschlafen.

Nebenan in Dawns Zimmer war kein Laut zu hören. Ihre Schwester war kurz nach ihr ins Bett gegangen und schlief sicher längst, erschöpft von den Strapazen der Klassenfahrt.

Während Fiona darauf wartete, dass der Schlaf auch zu ihr kam und sie von den Gedanken erlöste, die pausenlos in ihrem Kopf kreisten, sah sie sich immer wieder in ihrem Zimmer um.

Durch das Fenster fiel das Licht der Mondsichel, die klar am nachtblauen Himmel hing. Sie konnte die Umrisse der Möbel erkennen, und hätte sicher auch Catriona gesehen, wenn sie wie schon so oft stumm in einer Ecke gestanden hätte. Wenn sie in dieser Nacht gekommen wäre, um mit ihr zu reden und ihr zu sagen, was sie tun musste, damit ihre Ahnfrau endlich Ruhe und Vergessen fand. Sicher konnte sie Fiona auch verraten, was nötig war, um Aidan vom Fluch seiner Familie zu befreien und dafür zu sorgen, dass Dawn glücklich wurde. Doch Catriona zeigte sich nicht. Inzwischen war es schon fast Mitternacht, und Fiona hielt es nicht länger aus, sich schlaflos hin und her zu wälzen.

Im Dunkeln tastete sie sich die Treppe hinunter, um zu vermeiden, dass Dawn aufwachte, das Licht unter ihrer Tür durchschimmern sah und ebenfalls nach unten kam, um ihr weitere Fragen über Aidan zu stellen. Obwohl Catriona Fiona mittlerweile vertraut war, verursachte ihr der Gedanke, dass sie jederzeit aus der Dunkelheit vor oder hinter ihr auftauchen konnte, immer noch eine Gänsehaut. Dennoch hoffte sie inständig, sie möge kommen.

Unten in der Küche knipste sie das Licht an und flüsterte Catrionas Namen. Doch nichts geschah. Sie würde versuchen müssen, allein eine Lösung zu finden.

Auf der Anrichte am Fenster lag das »Familienbuch«, wie sie den großen Lederband mit den Aufzeichnungen über Hexensprüche, Zaubertinkturen und magische Zeichen bei sich nannte. Inzwischen hatte Fiona herausgefunden, dass sie einfache Zaubereien wie die Sache mit der Tür ohne Anleitung bewerkstelligen konnte. Schließlich hatte sie solche Dinge schon immer gekonnt, einfach indem sie sich darauf konzentriert und sie sich gewünscht hatte. Sie hatte nur lernen müssen, dies jetzt ganz bewusst und in dem Wissen zu tun, dass es auch funktionieren würde.

Mit Kräutern kannte sie sich dagegen überhaupt nicht aus. Ebenso wenig mit der Lösung komplizierterer Aufgaben. Wie etwa der, ihre Schwester davon abzubringen, einen Mann zu lieben, der nicht in sie verliebt war, der gar nicht in der Lage war, sie jemals zu lieben – und für den noch dazu Fionas Herz schlug. Durfte sie das überhaupt? Durfte sie versuchen, Dawns Gefühle für Aidan wegzuzaubern? Noch dazu ohne ihre Schwester vorher zu fragen, ob sie ihre Zuneigung für ihn tatsächlich loswerden wollte?

Fiona trug das dicke Buch zum Küchentisch, setzte sich davor, schlug es auf und vertiefte sich in die vergilbten Seiten. Die Uhr an der Wand hinter ihrem Rücken tickte emsig, eine Stunde nach der anderen verstrich, während sie las. Als sie aufatmend das Buch zuschlug, lag im Osten der erste Schimmer des neuen Tages über den Hügeln.

Fiona wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber sie hatte zumindest eine Möglichkeit gefunden. Etwas, das sie versuchen konnte. Sobald Dawn in der Schule war, würde sie all ihren Mut zusammennehmen und nach Sinclair Castle fahren.

Dieses Mal tuckerte das kleine rote Auto problemlos den Hügel zur Burg hinauf. Langsam zwar, doch das störte Fiona nicht. Ihr Herz klopfte vor Angst wie wild, und sie hoffte, es würde sich noch ein wenig beruhigen, bevor sie ihr Ziel erreichte.

Das Gegenteil war der Fall. Alles andere wäre ohnehin ein Wunder gewesen. Da sie sich seit ihrer Ankunft in Schottland daran gewöhnt hatte, an Wunder zu glauben, versuchte Fiona es jedoch auch in diesem Fall.

Etwa hundert Meter vom Burgtor entfernt lenkte sie das Auto an den Straßenrand und parkte unter einer kleinen Ansammlung alter Bäume mit ausladenden Zweigen. Das herbstlich bunte Blätterdach war noch so dicht, dass sie hoffte, Aidan würde den roten Farbtupfer des Wagens vom Turmzimmer aus nicht entdecken. Falls er sie schon auf der Straße gesehen hatte, war das eben Pech, und sie konnte nur hoffen, dass er sich nicht sofort auf den Weg machte, um nachzusehen, was sie hier auf seinem Grund und Boden trieb.

Während Fiona sich mit zitternden Knien zwischen Büschen und Bäumen in Richtung See bewegte, versuchte sie, nicht über die Tiefe des Wassers nachzudenken. Sie hatte gelesen, dass die schottischen Lochs zu den tiefsten Seen der Welt zählten, und ihre Bemühungen, dieses Wissen zu verdrängen, waren nicht besonders erfolgreich. Als sie das Ufer erreichte, keuchte sie, als wäre sie bereits ins Wasser gefallen und müsste um ihr Leben kämpfen.

Plötzlich war es ihr nicht mehr wichtig, dass Aidan sie nicht sah. Was war so schlimm daran, wenn er sie vom Turmfenster aus entdeckte? Auf viele Menschen übte Wasser eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, so dass er sich wahrscheinlich gar nicht wunderte, sie hier, am Ufer des Lochs, zu sehen. Und er hatte sicher nichts dagegen, wenn sie sein Boot für einen kurzen Ausflug zu der kleinen Insel im See benutzte. Sie konnte ihm ja sagen, dass dort ein besonderes Kraut wuchs, aus dem sie Tee zubereiten wollte. Oder besser noch eine Tinktur für ihre Schwester, die sich momentan nicht ganz gesund fühlte. Was der Wahrheit tatsächlich ziemlich nahe kam.

Mühsam sog Fiona die duftende Luft der Highlands in ihre Lunge und näherte sich Schritt für Schritt dem schmalen Steg, an dessen Ende das Boot vertäut war. Schon allein bei dem Gedanken, über die vielleicht morschen Bretter zu gehen, brach ihr der Schweiß aus. Dennoch gelang es ihr, einen Fuß auf die Planken zu setzen. Mit zitternden Knien und angehaltenem Atem verharrte sie so. Eine ganze Minute, vielleicht auch zwei oder drei. Dann zog sie mit fast übermenschlicher Anstrengung auch den anderen Fuß auf das ausgebleichte Holz.

Fiona verbot sich, nach unten zu schauen, und richtete ihren Blick starr auf die Insel im See. Sie erschien ihr unendlich weit weg. Krampfhaft kniff sie die Augen zu, stellte sich vor, wie sie ins Boot stieg, die Ruder ergriff, das Wasser überquerte und auf der Insel an Land ging. Doch während sie diese Bilder heraufbeschwor, begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Und als sie die Augen wieder öffnete, schwankte alles um sie herum, und sie hatte das Gefühl, zur Seite zu kippen und ins Wasser zu fallen.

Mit einem entsetzten Aufschrei wich sie zurück und rettete sich vom Steg ans Ufer. Auch als sie wieder den weichen Boden unter ihren Füßen spürte und mehrere Meter zwischen sich und das Wasser gelegt hatte, gelang es ihr nur mühsam, sich zu beruhigen. Immer noch wurde ihr abwechselnd kalt und heiß, sie bebte am ganzen Körper und hatte Tränen in den Augen. Die kleine Insel im See erschien Fiona so unerreichbar wie der Mond. Dabei wuchsen dem Hexenbuch der Abercrombies nach nur dort die Kräuter, mit deren Hilfe sie Dawns Herz für die Liebe eines Mannes öffnen konnte, der ihre Gefühle erwiderte und gut für sie war.

Liebeszauber funktionierten nicht so einfach, wie Dawn es gern gehabt hätte. Das Buch erklärte, dass ein Zauber das Herz eines störrischen Mannes für die Liebe öffnen könne, doch Liebe zu erzwingen wäre kein noch so wirksames Kraut und keine magische Formel in der Lage. Deshalb hatte derselbe Tee, der zwischen Aidan und Fiona für leidenschaftliche Momente gesorgt hatte, auch nicht gewirkt, als Dawn und Aidan ihn gemeinsam getrunken hatten.

Um Dawn von ihrer Verliebtheit zu Aidan zu kurieren, blieb nur die Hoffnung, dass sie möglichst bald einen Mann traf, der wirklich zu ihr passte. Und dann musste Dawn bereit sein, Aidan für diesen anderen Mann loszulassen. Wobei ihr der Zauber, der im Familienbuch beschrieben war, und das seltene Kraut, welches auf der Insel im See wuchs, gute Dienste leisten würden. Nach den Anweisungen im Buch musste Fiona die Kräuter eigenhändig pflücken.

Als sie aus sicherer Entfernung schaudernd über den See schaute, wusste sie plötzlich, was ihre einzige Chance war. Vor ihrem geistigen Auge sah Fiona sich in einem Boot auf die Insel zu fahren – aber nicht allein.

Seufzend wandte sie sich der Burg zu. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, Dawn zu helfen, würde sie eben das tun. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie es vielleicht ein kleines bisschen auch für sich selbst tat, weil dann für sie der Weg zu Aidan frei war. Was natürlich ohnehin nichts nützte, denn auch das seltene Kraut von der Insel würde die Herzen der MacNaughton-Männer nicht aus ihren Fesseln befreien.

Als Fiona das Burgtor von Sinclair Castle erreichte, parkte davor ein Transporter. Offenbar hatte Aidan die Handwerker im Haus. Sie zögerte, doch wenn sie ihr Vorhaben aufschob, würde sie vielleicht nie mehr den Mut dazu aufbringen. Entschlossen drückte sie auf den Klingelknopf.

Zu ihrem Erstaunen öffnete ihr eine äußerst attraktive Frau mit blonden Haaren und blauen Augen. Wären da nicht die blaue Kittelschürze und der Staubsauger gewesen, dessen Rohr sie in der Hand hielt, hätte man sie für eine Fee halten können.

»Guten Tag.« Beim Lächeln entblößte die blonde Schönheit strahlend weiße Zähne.

Fiona kämpfte einen Anflug von Eifersucht nieder. Musste sich nicht jeder Mann unweigerlich in diese Frau verlieben, selbst wenn sie in einem sackförmigen Kittel steckte?

»Wollen Sie zu Aidan?«, erkundigte die Frau sich freundlich, als Fiona sie nach einer Weile immer noch wortlos anstarrte.

Diese nickte stumm.

»Er ist mit dem Dachdecker im Westturm. Da oben scheint es durchzuregnen. Gehen Sie einfach hinauf.« Einladend deutete das feengleiche Wesen auf die Treppe, bevor sie ihren Staubsauger wieder einschaltete und den schwarz-weißen Fliesenboden der Halle bearbeitete.

Zögernd stieg Fiona die breite Treppe zur Galerie hinauf und erklomm die Wendeltreppe des Westturms.

Oben angekommen, klopfte sie, und als keine Antwort kam, stieß sie entschlossen die Tür auf. Der Raum, in den sie nun eintrat, war ebenso groß wie das Arbeitszimmer im Ostturm. Dieses Zimmer war allerdings bis auf die zahlreichen Gemälde an den Wänden vollkommen leer. Jetzt erinnerte sie sich, dass Aidan eine Ahnengalerie erwähnt hatte, die im zweiten Turm untergebracht war – und die er niemals betrat.

Auch heute war er nicht nach oben gekommen, um die Bilder seiner Vorfahren anzuschauen. Er stand in der Nische neben dem Fenster und redete mit einem vierschrötigen Mann in einer blauen Latzhose. Der Handwerker balancierte auf der obersten Stufe eine Stehleiter, von wo aus er nur mühsam die Zimmerdecke erreichte, die er mit seinen Fingerspitzen betastete. »Es fühlt sich nicht nass an«, verkündete er soeben.

»Da oben ist ein feuchter Fleck, das erkennt man, ohne es anzufassen.« Aidan verschränkte die Arme vor der Brust und machte den Eindruck, als würde er den Mann nicht fortlassen, bevor das Problem gelöst war, von dem der Handwerker behauptete, dass es nicht existierte.

»Entschuldigung.« Fiona räusperte sich, doch die beiden Männer schienen sie gar nicht zu hören. So beschloss sie, zu warten, bis der Handwerker ging, denn solange er da war, wollte sie ihr Anliegen sowieso nicht vorbringen. Stattdessen konnte sie sich die Zeit vertreiben, indem sie die Gemälde betrachtete.

Bei den MacNaughtons handelte es sich um eine bemerkenswert gut aussehende Familie. Sämtliche Frauen waren atemberaubende Schönheiten mit goldblonden oder haselnussbraunen Haaren. Sie alle besaßen ein üppiges Dekolleté und, sofern es sich nicht um angeheiratete Verwandtschaft handelte, dunkelblaue Augen mit goldenen Einsprengseln. Aidans Augen. Auch sämtliche MacNaughton-Männer blickten aus ihren Porträts den Betrachter mit diesen blaugoldenen Augen an.

Während die beiden Männer in der Fensternische immer noch lautstark diskutierten und Aidan nun auf die Leiter kletterte, um seinerseits die Decke zu befühlen, spazierte Fiona von einem Gemälde zum anderen.

Sie wusste, dass sie vor Arthur MacNaughtons Bild stand, bevor sie das kleine Metallschild unten am Rahmen gelesen hatte. Er ähnelte Aidan so sehr, dass es ihr den Atem verschlug.

Bewegungslos stand sie da und starrte in das fremde und doch so vertraute Gesicht. Was hatte es zu bedeuten, dass Aidan aussah wie Arthur und sie selbst Catriona so sehr glich? Erlebten sie beide die Anziehung noch einmal, die zwischen ihren Ahnen geherrscht hatte – und würde auch ihre Geschichte mit Verrat und Tod enden? Fiona versuchte den Schauer zu ignorieren, der sie durchlief, und ging rasch weiter zum nächsten Gemälde.

Gleich neben Arthurs Konterfei hing ein Bild seiner Frau Martha. Ihre Augen waren wie Eis, ihr Mund verkniffen, ihre hellbraunen Haare zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Sie sah genauso aus, wie Fiona sie sich nach dem Lesen von Rodinas Tagebuch vorgestellt hatte.

Rodinas Porträt war dann auch das nächste in der Reihe. Sie musste wunderhübsch gewesen sein, zart und blass, mit riesigen blauen Augen und weißblondem Haar.

Fiona war so versunken in den Anblick des zerbrechlich wirkenden Mädchens, dass sie zusammenfuhr, als Aidan sie plötzlich ansprach.

»Hallo, Fiona«, sagte er mit sanfter, warmer Stimme. »Schön, dass du mich besuchst.«

Sein Lächeln durchfuhr sie wie ein heißer, kribbelnder Pfeil. Sie deutete auf die Gemälde an der Wand. »Das ist also deine Ahnengalerie.«

»Wie hieß noch der MacNaughton, nach dem du mich gefragt hast?« Sein Lächeln verblasste, und er schien sich um einen sachlicheren Ton zu bemühen. Offenbar hatte er das Gespräch nach der gemeinsam verbrachten Nacht nicht vergessen, in dem sie sich gegenseitig beteuert hatten, dass eine Beziehung für sie nicht infrage kam.

»Er hieß Arthur«, erwiderte sie leise. »Aber deshalb bin ich nicht gekommen. Ich wollte dich um etwas bitten.« Sie schaute sich in dem großen Raum um. Der Handwerker war verschwunden, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Unten in der Halle war eine Frau, die mich hochgeschickt hat.«

»Meine Haushälterin. Mrs Innes. Sie ist eine Schönheit, nicht wahr? Alle Männer im Dorf laufen ihr hinterher, aber sie hat mit achtzehn einen Mann mit einer spastischen Lähmung geheiratet. Die beiden sind jetzt seit fast zehn Jahren zusammen und sehr glücklich, wie es scheint. So etwas nennt man wohl Liebe.«

In Aidans Augen brannte die Sehnsucht so hell, dass Fiona sich unwillkürlich fragte, ob auch er in die schöne Mrs Innes verliebt war. Oder sehnte er sich einfach nur nach einer Liebe, wie diese Frau sie offenbar zu ihrem Mann verspürte? Einer Liebe, die wegen des Fluchs, den Catriona vor vielen Jahren über die MacNaughtons verhängt hatte, immer unerreichbar für ihn sein würde? Für ein oder zwei Sekunden ließ Fiona die Sehnsucht zu, die nun auch in ihr aufstieg. Sehnsucht nach Liebe. Nach Aidan, der zum Greifen nah und doch unerreichbar vor ihr stand.

»Was wolltest du mich fragen?«

Sie fuhr zusammen und machte eine nervöse Handbewegung in Richtung Fenster. »Ich … Ich muss auf die Insel in deinem See. Dort wachsen seltene Kräuter, die ich unbedingt brauche. Es gibt sie angeblich nur dort.«

»Ich habe nichts dagegen, wenn du sie pflückst. Du kannst für die Überfahrt das Boot benutzen, das am Steg liegt.«

»Danke. Das ist nett.« Fiona musste krampfhaft schlucken, bevor sie weiterreden konnte. Es fiel ihr furchtbar schwer, mit ihm über ihre Angst zu reden. Angst war schließlich das intimste Gefühl überhaupt. Aber da sie dort unten am See gespürt hatte, gemeinsam mit Aidan die Überfahrt zur Insel wagen zu können, musste sie nun auch so mutig sein, ihn zu bitten, mit ihr zu kommen.

»Aber?« Aufmerksam schaute er ihr ins Gesicht. »Da kommt doch noch was, hab ich Recht?«

»Ich traue mich nicht allein«, flüsterte sie so leise, dass sie schon fürchtete, er würde sie nicht verstehen.

»Kannst du nicht rudern? Versuch es einfach. Es ist nicht schwierig, und die Strecke ist so kurz, dass du selbst dann irgendwann ankommst, wenn du die Richtung nicht halten kannst.« Er lächelte ihr aufmunternd zu.

»Das ist nicht das Problem.« Es gelang ihr, ein wenig lauter zu sprechen. »Ich habe Angst vor Wasser. Weil ich als kleines Kind im Urlaub mal in einen Bergsee gefallen bin. Ich konnte noch nicht schwimmen und …« Ihre Stimme versagte, als sie wieder das wirbelnde Blau vor ihren Augen sah, kein Oben, kein Unten, eisige Kälte, keine Luft zum Atmen … Dann waren Aidans Hände da, die ihr beruhigend über den Rücken strichen, seine Wärme und seine Arme, die ihr Halt gaben.

»Es geht schon wieder«, murmelte Fiona und befreite sich sanft aus seiner Umarmung. Es war schmerzlich, sich von ihm lösen zu müssen, obwohl alles in ihr nach ihm schrie. Sie hielt den Kopf gesenkt und spürte doch seinen Blick.

»Wenn du mir die Kräuter beschreibst, hole ich sie dir.« Er strich ihr über den zitternden Arm.

»Das ist sehr … lieb von dir, aber das geht nicht.« Es gelang ihr nur kurz, ihn anzusehen, dann musste sie den Blick wieder abwenden. Er schien bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen und all ihre Angst und ihren Schmerz zu sehen. Fiona atmete tief durch. »Ich muss die Kräuter selber pflücken. Sie … sie sind sehr schwer zu erkennen. Aber es wäre schön, wenn du mich begleiten würdest. Ich glaube, dann schaffe ich es, ins Boot zu steigen. Es ist nur der See. Er ist so tief. Ich habe ja inzwischen sogar schwimmen gelernt. In einem Becken, das nicht allzu groß ist, dessen Tiefe ich genau kenne und wo ich jederzeit den Rand erreichen kann, traue ich mich. Aber ich war seitdem nie in einem See oder im Meer. Und ich habe auch niemals ein Gewässer in einem Boot überquert.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, so dass ihre Stimme ganz gequetscht klang.

»Wofür brauchst du die Kräuter denn so dringend?« Er wandte nicht eine Sekunde seinen prüfenden Blick von ihr ab.

»Sie sind für Dawn«, erwiderte Fiona und biss sich auf die Unterlippe. »Es geht ihr nicht gut, und ich glaube, ein Tee aus diesen Kräutern könnte ihr helfen.«

»Ist sie krank? War sie schon beim Arzt?« Aidans Hand war immer noch auf ihrem Arm. Es fühlte sich an, als würde sie langsam ein Loch in den Stoff ihrer Jacke brennen.

»Es ist nicht körperlich«, erklärte Fiona hastig. »Und erwähne ihr gegenüber bitte nicht, dass ich mit dir darüber gesprochen habe.«

»Natürlich nicht.«

Endlich ließ er ihren Arm los. Sie hätte aufatmen müssen, aber stattdessen spürte sie ihre Angst noch deutlicher.

»Dawn kann froh sein, eine solche Schwester zu haben.«

»Aidan, ich weiß, dass du nicht viel Zeit hast und eigentlich arbeiten müsstest.« Weil ihr so kalt war, umschlang sie ihren Oberkörper mit den Armen. »Wenn es dir also nicht passt …«

»Unsinn! Komm, wir rudern hinüber. Ich war schon ewig nicht mehr auf der Insel. Als Junge war ich oft mit einem Freund aus der Nachbarschaft dort. Es gab dort damals ein uraltes Sommerhäuschen, in dem wir ganze Nachmittage lang gespielt haben. Ich bin gespannt, ob es noch steht.« Der Gedanke, diesen Ort seiner Kindheit zu besuchen, schien Aidan zu gefallen.

Fiona folgte ihm die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt wurde ihr Unbehagen größer. Sie wusste, wenn sie es schaffte, in ein Boot zu steigen und darin hinüber zur Insel zu fahren, dann nur an Aidans Seite. Und doch war sie nicht sicher, ob die Kraft ihrer Gefühle für ihn ausreichen würde, um ihre Angst zu besiegen.