Siebtes Kapitel

»Du hast ihn eiskalt belogen, als er nach seinem Kugelschreiber fragte«, stellte Fiona anklagend fest, als sie an diesem Abend beim Essen saßen. Sie hatten zum ersten Mal gemeinsam gekocht, nachdem Dawn ihrer Schwester ihre übliche Vorgehensweise in der Küche erklärt hatte.

»Wir sehen nach, was da ist, und daraus machen wir uns was Schönes.«

So hatte ihre Mutter normalerweise gekocht, und es waren fast immer sehr schmackhafte Gerichte auf den Tisch gekommen. Auch in der Küche war Noreen erfindungsreich und mutig gewesen. Oft kombinierte sie Zutaten, die normalerweise nicht zusammen serviert wurden. Und sie liebte farbenprächtige Speisen. Rote Beeren zwischen dunkelgrünem Brokkoli. Spinat mit gelben Bohnen.

»Hm«, machte nun auch Fiona überrascht, als sie die Kombination aus gekochtem Kürbis, Apfel, Zwiebeln und Kartoffeln auf ihrem Teller probierte. Gleichzeitig sah sie Dawn streng an und runzelte die Stirn. Natürlich wollte sie ihr wegen des Kugelschreibers ein schlechtes Gewissen machen.

Dawn ließ ihre Gabel sinken und grinste. »Beruhige dich! Du musst nur möglichst schnell den Liebeszauber machen, und wenn es geklappt hat, finde ich den Kugelschreiber zufällig hinter irgendeinem Schrank, und Aidan bekommt ihn zurück.«

»Immerhin ist es ein Erinnerungsstück«, erinnerte Fiona sie.

»Ich weiß«, erklärte Dawn immer noch grinsend. »Und ich habe ja auch ein schlechtes Gewissen. Aber schließlich geht es auch um sein Glück. Dafür muss er jetzt eben mal ein paar Tage ohne den Stift auskommen.« Sie spießte ein Kürbisstückchen auf. »Was hältst du von einem Liebestrunk mit Damiana? Wo das Zeug plötzlich wie Unkraut im Garten wächst …«

Fiona verschluckte sich, hustete, röchelte und griff verzweifelt nach dem Wasserglas, das Dawn ihr hinschob. Lillybeth, die auf der Anrichte saß und an der Kürbisschale herumpickte, flatterte unruhig mit den Flügeln.

Schließlich tupfte Fiona sich den Mund mit der Serviette ab und lehnte sich erschöpft zurück – um sich im nächsten Moment schon wieder kerzengerade aufzurichten. »Was war das eben mit dem Wasserglas?«

»Was meinst du?«, stellte Dawn sich dumm.

»Du hast es nicht angefasst! Es ist ganz von allein zu mir gerutscht!«

Betont gleichmütig zuckte Dawn mit den Schultern. »Kleiner, ganz einfacher Zauber. Kleine-Schwester-Zauber sozusagen.«

»O Gott!« Fiona schaute hilfesuchend zur Decke.

»Ich kann aber nur die unwichtigen Dinge hexen. Nicht die wichtigen, wie den Liebeszauber«, wiederholte Dawn zum x-ten Mal geduldig. Offenbar fiel es Fiona schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie aus einer Hexenfamilie stammte. Aber mit der Zeit würde sie schon begreifen, dass es auch Vorteile hatte, eine Abercrombie zu sein. Zumal sich die Hexen aus ihrer Familie seit Urzeiten nur der weißen Magie bedienten. Sie richteten niemals irgendwelchen Schaden an, der über ein bisschen zerbrochenes Geschirr hinausging. Es sei denn, sie mussten jemanden beschützen, der ihnen nahestand. Dann handelte es sich sozusagen um Notwehr.

Schweigend beendeten die Schwestern ihre Mahlzeit. Kaum hatten sie die Bestecke beiseitegelegt, klingelte das Telefon. Dawn meldete sich, und eine Frauenstimme fragte nach Fiona.

»Für dich.« Lächelnd reichte Dawn ihrer Schwester das Telefon und begann dann, die benutzten Teller aufeinanderzustapeln. Als kleine Übung, und weil es ihr gefiel, Fiona in Erstaunen zu versetzen, benutzte sie dabei ihre Hände nicht. Einer der Teller rutschte dabei leider über die Tischkante und zerschellte auf dem Boden, doch das lag nur daran, dass es Dawn schwerfiel, sich zu konzentrieren. Seit sie heute Nachmittag auf Sinclair Castle gewesen waren, musste sie ständig an Aidans blaue Augen mit den goldenen Flecken darin denken.

»Wie geht es dir? Ich hoffe, es ist alles in Ordnung. Du hörtest dich auf meinem Anrufbeantworter irgendwie … seltsam an?«

Anja klang besorgt.

Fiona hatte tagsüber versucht, ihre Freundin zu erreichen, und war sogar ein bisschen erleichtert gewesen, als diese nicht abgenommen hatte. Das Gespräch würde schwierig werden. Schließlich konnte sie selbst ihrer besten Freundin nicht einfach so am Telefon mitteilen, dass sie seit neuestem eine Hexe war.

»Es geht mir gut«, beteuerte sie also erst einmal. Vielleicht war es besser, wenn sie Anja einen Brief schrieb? Obwohl die Mitteilung, dass sie aus einem alten Hexengeschlecht stammte, wahrscheinlich in schriftlicher Form kaum weniger schockierend war.

»Es ist natürlich alles ungewohnt und neu hier. Aber natürlich finde ich es auch wunderschön, endlich meine Schwester wieder in meiner Nähe zu haben.« Obwohl sie ständig von mir verlangt, dass ich einen Liebeszauber initiiere, um sie mit dem Mann zusammenzubringen, von dem ich schon seit Jahren träume. »Und wie kommt ihr in der Kanzlei klar?«, wechselte Fiona rasch das Thema. »Ist schon eine Vertretung für mich da?«

Anja stieß einen tiefen Seufzer aus. »Anfang nächster Woche fängt eine Aushilfe bei uns an. Bis dahin wird es schon irgendwie gehen. Allerdings … dein Vater …«

»Was ist mit ihm?« Fiona biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass es schmerzte.

»Er ist … Na ja, dass du einfach so abgereist bist, macht ihm ziemlich zu schaffen. Und natürlich auch die Dinge, die du ihm gesagt hast. Er hat schon zwei Gerichtstermine versäumt. Sein Handy war aus, und zu Hause konnte ich ihn auch nicht erreichen.« Anja klang ratlos.

»Er ist erwachsen, und wenn er seine Termine verpasst, ist das seine Sache.« Vom halbdunklen Flur aus konnte Fiona durch die offene Tür einen Teil der Küche sehen, wo ihre Schwester angefangen hatte, das Geschirr abzuwaschen. Zum Glück benutzte sie ihre Hände dazu.

Das altmodische Telefon hing an einem Kabel, so dass Fiona gezwungen war, neben dem Flurschränkchen stehen zu bleiben. Entweder führte ihre Schwester nur kurze Telefonate, oder Hexen brauchten eigentlich kein Telefon, und sie, Fiona, hatte das als Neu-Hexe nur noch nicht herausgefunden.

»Er ist meistens schlecht gelaunt. Und dauernd geht irgendwas kaputt«, erzählte Anja jetzt mit unglücklicher Stimme.

»Was geht denn kaputt?«

»Irgendwelche Sachen eben. Vor allem Dinge, bei denen es ihm etwas ausmacht. Die Tasse, die du ihm während deiner Schulzeit geschenkt hast. Sein alter Mercedes fährt plötzlich nicht mehr und ist wohl auch nicht zu reparieren. Du weißt ja, wie er an der alten Kiste hängt. Und jetzt hat er auch noch diesen Schlüsselanhänger mit dem silbernen Herz verloren. Die Schlüssel sind da, aber das Herz ist wohl von dem Ring gerutscht. Ich musste das ganze Büro auf den Kopf stellen, aber es ist weg. Wer weiß, wo er es verloren hat.«

»Das ist alles meine Schuld«, flüsterte Fiona. »Ich habe ihm doch gewünscht, dass er die Erfahrung macht, wie es ist, wenn man etwas verliert, was einem viel bedeutet, bevor ich abgereist bin.« Ihre Kehle war so eng, dass sie nicht weitersprechen konnte.

»Aber deshalb kannst du doch nichts dafür, wenn ihm alles kaputtgeht!« Anjas Lachen klang nicht besonders heiter. »Schließlich kannst du nicht zaubern.«

»Ich wünsche dir, dass ab morgen im Büro alles wieder normal läuft.« So sehr sie konnte, konzentrierte Fiona sich auf ihren Wunsch. Dabei schaute sie die schmale Treppe hinauf, deren Stufen in die Dunkelheit der oberen Etage führten.

Plötzlich meinte sie, dort oben ein bläuliches Flackern zu sehen. Sie zog sich mit dem Telefon so weit in Richtung der hellen Küche zurück, wie das Kabel reichte. Es war leider ziemlich kurz. Und ohne den Hörer aus der Hand zu legen, konnte Fiona auch den Lichtschalter für die Deckenlampe im Flur nicht erreichen.

»Erzähl mir doch noch ein bisschen von Schottland! Sind die Highlands tatsächlich so schön wie auf den Fotos? Ich habe im Internet nachgeschaut.«

»Es ist sehr schön hier«, erklärte Fiona mit gepresster Stimme und wagte nicht, den Blick von der Treppe abzuwenden. Das Licht im oberen Flur schien allmählich heller zu werden. »Aber jetzt muss ich leider Schluss machen.«

»Hast du heute Abend noch was vor?«, erkundigte Anja sich neugierig.

»Dawn wartet auf mich. Wir haben viel zu besprechen. Wir haben uns ja lange nicht gesehen …« Fiona schnappte heftig nach Luft und war dennoch atemlos. Oben an der Treppe tauchte eine verschwommene Gestalt auf. Ihr stockte der Atem, und ihre Knie zitterten so heftig, dass sie sich an dem kleinen Schränkchen im Flur festklammern musste.

»Du bist erst seit zwei Tagen weg, und schon fehlst du mir ganz schrecklich!«

Fiona redete gern mit ihrer Freundin, doch in diesem Moment wollte sie sich einfach nur in die hell erleuchtete Küche zu Dawn retten. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie meinte, Anja müsste es durch die Telefonleitung hören. Dennoch konnte sie unmöglich erzählen, dass sie das Gespräch wegen einer Geistererscheinung beenden musste. Ihre Freundin würde denken, sie sei in der kurzen Zeit, seit sie Deutschland verlassen hatte, vollkommen verrückt geworden.

»Du fehlst mir auch, Anja, aber ich muss jetzt wirklich …« Ihre eigene Stimme schrillte in ihren Ohren.

»Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe.« Jetzt klang Anja ein bisschen beleidigt, aber selbst das war im Augenblick nicht so wichtig. Denn die dunkle Gestalt hatte bereits den Fuß auf die oberste Treppenstufe gesetzt.

»Ich rufe dich bald wieder an!« Fiona warf den Hörer auf die Gabel und stürzte in die Küche.

Erstaunt hob Dawn den Kopf. Sie saß am Tisch, vor sich das große Zauberbuch.

»Also, die Sache mit dem Liebeskraut Damiana ist ganz einfach. Du musst eigenhändig das Kraut pflücken und den Tee kochen. Dazu gibt es einen Spruch, der am besten wirkt, wenn du gleichzeitig einen persönlichen Gegenstand des Mannes in der Hand hältst, der auf den Zauber reagieren soll. Das einzige Problem ist, dass Aidan hier sein muss, um mit mir zusammen den Tee zu trinken. Das heißt, wir müssen eine Ausrede erfinden, weshalb du plötzlich weg musst, damit Aidan und ich ungestört sind, wenn der Zauber wirkt … He, was ist denn los mit dir?« Dawn unterbrach ihren Redeschwall. »Du bist ja ganz blass! Gibt es schlechte Nachrichten aus Deutschland?«

Mit zitternder Hand deutete Fiona auf die Tür. »Da … auf der Treppe«, stieß sie mühsam hervor. »Catriona.«

Dawn nickte gelassen. »Sie kommt meistens um diese Zeit. Aber du musst wirklich keine Angst vor ihr haben. Sie geht einfach nur durchs Haus oder sitzt stumm da.« Trotzdem schaute auch Dawn ein wenig beunruhigt zur Tür.

»Habt ihr denn schon mal versucht, mit ihr zu reden?«, flüsterte Fiona und presste gleich darauf die Lippen aufeinander, um nicht aufzuschreien, als lautlos die Tür aufschwang, die sie soeben hinter sich geschlossen hatte. Eine zierliche graue Gestalt mit einem schwarzen Tuch um Schultern und Kopf betrat die Küche.

Catriona wirkte seltsam durchscheinend, und selbst im hellen Schein der Pendelleuchte über dem Küchentisch war das blaue Licht zu erkennen, das sie umgab. Ohne nach rechts und links zu sehen, ging sie zu dem Schaukelstuhl in der Ecke der Küche. Dort ließ sie sich nieder, zog sich das schwarze Tuch enger um die Schultern und begann, langsam vor- und zurückzuschaukeln.

»Mim hat alles Mögliche versucht, um mit ihr Kontakt aufzunehmen, aber sie reagiert nicht«, berichtete Dawn und senkte nicht einmal die Stimme. Wie immer, wenn sie von ihrer Mutter sprach, traten ihr Tränen in die Augen.

Fiona stellte sich hinter ihren Stuhl und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Wir finden gemeinsam heraus, was wir tun können, damit Catriona ihre Ruhe findet«, versuchte sie ihre Schwester zu trösten. Denn so sehr sie es sich auch wünschte – ihre Mutter konnte sie nicht wieder lebendig machen. »Woher weißt du überhaupt, dass sie Catriona heißt?«, fiel ihr plötzlich ein.

»Mim hat ein einziges Mal von ihr geträumt. In diesem Traum konnte sie mit ihr reden. Sie fragte sie nach ihrem Namen und bekam auch eine Antwort.«

Fiona ließ die schmale dunkle Gestalt, die sich in dem leise knarrenden Schaukelstuhl hin- und herwiegte, keine Sekunde aus den Augen. »Sie wirkt so jung, obwohl man ihr Gesicht nicht genau erkennen kann. Glaubst du, sie sieht so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie gestorben ist?« Unwillkürlich senkte Fiona die Stimme zu einem Raunen.

»Ja«, beantwortete Dawn in normaler Lautstärke ihre geflüsterte Frage. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht friedlich in ihrem Bett gestorben ist. Dann würde sie jetzt nicht die ganze Zeit hier herumlaufen. Sie will, dass wir die Wahrheit über ihren Tod herausfinden und ihr irgendwie helfen.«

Plötzlich spürte Fiona großes Mitleid mit der stummen Gestalt in der Ecke. Und dieses Mitgefühl verdrängte ihre Angst. Catriona war mit ihr verwandt. Und sie war durch die Jahrhunderte zurückgekehrt, um ihre Familie um Hilfe zu bitten. Sie tat es stumm, doch sie tat es. Fiona war plötzlich ganz sicher, dass ihre Schwester Recht hatte.

Spontan stand sie auf und ging langsam auf die graue Gestalt zu. »Catriona?«, fragte sie leise und blieb drei Schritte von dem stetig hin- und herwippenden Schaukelstuhl entfernt stehen.

Die Gestalt schaute weiter starr geradeaus. Jedenfalls wandte sie Fiona ihr Gesicht nicht zu. Selbst aus der Nähe konnte Fiona ihre Züge nur verschwommen erkennen. Aber sie spürte die leidenschaftlichen Gefühle der stummen Frau. Den Schmerz, den Zorn und die Sehnsucht.

»Wie können wir dir helfen, Catriona?« Angespannt sah Fiona die Frau im Schaukelstuhl an. »Du musst mit uns reden, damit wir wissen, was wir tun sollen.«

Der Schaukelstuhl hörte auf, sich vor- und zurückzubewegen. Catriona stand auf und bewegte sich direkt auf Fiona zu. Die wollte zur Seite springen, doch das gelang ihr nicht mehr. Sie spürte, wie eine eisige Welle sie durchlief, als Catriona … durch sie hindurchging.

Zitternd wandte Fiona sich um und sah, wie die geisterhafte Erscheinung durch die offene Küchentür im Flur verschwand. Nur die Kälte war geblieben. Bebend umschlang sie ihren Oberkörper mit den Armen.

»Sie ist schrecklich traurig und wütend.« Fiona spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. »Ich werde gleich morgen versuchen, etwas über ihr Leben und ihren Tod herauszufinden. Vielleicht gibt es Hinweise in alten Kirchenbüchern. Oder in Aidans Bibliothek. Wenn es in einigen seiner Bücher um die Geschichte Keltons geht, wird Catriona vielleicht darin erwähnt.«

»Morgen kann ich dich aber nicht zu Aidan begleiten. Wir haben nachmittags Konferenz in der Schule. Willst du nicht bis übermorgen warten? Zu zweit können wir die Bücher viel schneller durchsehen.« Dawn wirkte ziemlich unglücklich bei dem Gedanken, einen Besuch bei Aidan zu verpassen.

Fiona zögerte. Es drängte sie nicht danach, allein zu Aidan zu fahren. Aber ansonsten würden sie wertvolle Zeit verlieren.

»Ich fange morgen früh im Pfarramt mit der Suche nach Informationen an. Wenn ich dort rechtzeitig fertig werde, mache ich auf Sinclair Castle weiter – falls es Aidan passt und er zu Hause ist. Es wird ohnehin länger als ein paar Stunden dauern, diese riesige Bibliothek dort durchzuschauen. Das nächste Mal kannst du mir dann helfen.«

»Ja, meinst du?« In Dawns Augen blitzte Hoffnung auf.

»Es könnte Aidan allerdings stören, wenn wir tagelang in seinem Arbeitszimmer herumwühlen«, gab Fiona zu bedenken. »Vielleicht sollten wir lieber …«

»Er hat es angeboten, also ist es auch in Ordnung!«, unterbrach Dawn sie energisch. »Ich glaube außerdem nicht, dass meine Anwesenheit ihn stört. Mich würde er niemals stören, ganz gleich, was ich zu tun habe.«

Fiona unterdrückte einen Seufzer. Ihre kleine Schwester war derart in Aidan verliebt, dass sie manchmal den Sinn für die Realität zu verlieren schien. Wie würde Dawn reagieren, falls sich herausstellte, das Aidan nicht mehr als eine nette Nachbarin in ihr sah? In einem Eckchen von Fionas Gehirn tauchte der Gedanke auf, dass es in diesem Fall vielleicht gar nicht so schlimm war, wenn sie den Kuss in der Küche nicht vergessen konnte. Doch sie verdrängte das Bild in ihrem Kopf rasch wieder. Nur das Kribbeln auf ihren Lippen war immer noch da und ließ sich nicht vertreiben. »Wir werden sehen«, bemerkte sie vage.

»Du hast noch gar nichts zu Aidan gesagt«, beharrte Dawn auf ihrem Lieblingsthema. »Wie gefällt er dir eigentlich so?«

»Was soll ich nach so kurzer Bekanntschaft über ihn schon groß sagen?« Fiona konnte ebenfalls stur sein.

»Irgendetwas muss dir doch zu diesem Mann einfallen! Zu seinem Aussehen, seinem Lächeln, seinen Augen…«

»Seiner Burg?« Trotz allem musste Fiona grinsen, als Dawn sie empört anfunkelte. Sie hatte im Vorhinein gewusst, wie ihre Schwester auf diese Unterstellung reagieren würde.

»Du weißt genau, dass es mir nicht um sein Geld geht!« Dawn hatte Fionas Grinsen bemerkt.

»Okay, okay. Er ist ein extrem gut aussehender, äußerst netter Mann«, erklärte Fiona leichthin.

Zum Glück brach Dawn im selben Moment in Gelächter aus. Das machte es für Fiona leichter, die Enge in ihrer Kehle zu ignorieren.

»Ich gebe es ja zu«, stieß Dawn, immer noch atemlos, hervor, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Ich bin derart verschossen in ihn, dass es schon fast an Albernheit grenzt. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich ihn nicht bekomme, werde ich für den Rest meines Lebens unglücklich sein.«

Sofort hatte Fiona wieder das Gefühl, als hätte jemand einen Eisenring um ihren Hals gelegt. Sie presste die Lippen aufeinander und nickte stumm.

»Guck mal.« Dawn malte mit dem Zeigefinger in die Luft, und obwohl Fiona mehrmals blinzelte, änderte sich das Bild nicht, was sie sah: Vor ihrer Schwester schwebte ein großes, flammendes Herz in der Luft, das nur langsam verglühte.

»So was konnte ich vorher nicht, aber seit ich in Aidan verliebt bin, habe ich die Kraft zu solchen Zaubereien.« Fast verlegen lächelte Dawn sie an. »Versprichst du mir, dass wir es bald mit dem Liebeszauber versuchen?«

»Ja«, flüsterte Fiona und nickte nachdrücklich. Sie streckte die Arme aus und zog Dawn an sich. »Ich hab dich lieb, kleine Schwester. Und ich werde den Liebeszauber für dich machen.«

Langsam löste Dawn sich aus Fionas Armen. »Soll ich heute Nacht wieder bei dir schlafen? Ich meine, wegen Catriona.«

Fiona musste nur kurz überlegen, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich habe keine Angst mehr vor ihr. Sie wartet nur darauf, dass wir ihr helfen, und das werden wir auch tun.«

Als Fiona eine halbe Stunde später die Bettdecke über sich zog und in einer Ecke des Zimmers einen schwachen bläulichen Schein sah, erschrak sie wirklich nur für einen winzigen Moment, und schon in der nächsten Sekunde stieg erneut das warme Mitleid in ihr auf, welches sie früher am Abend unten in der Küche gefühlt hatte.

Vor drei Tagen hatte sie noch geglaubt, eine ganz normale Frau zu sein, der gelegentlich seltsame Dinge passierten, und heute fand sie es schon fast normal, in einem Haus zu leben, in dem eine Tote umging und ihre Schwester brennende Herzen in die Luft zeichnete. Beim Gedanken an den Liebeszauber, den Dawn von ihr erwartete, spürte sie allerdings Unbehagen. Aber vielleicht würde sie sich auch schon bald an die Zauberkräfte gewöhnen, die sie angeblich besaß.

»Gute Nacht, Catriona«, flüsterte sie ins Dunkel. »Morgen versuche ich, herauszufinden, weshalb du hier bist.«

Der blaue Schimmer war nicht mehr zu sehen, aber Fiona war trotzdem sicher, dass die zierliche Gestalt sie gehört hatte. Sie schloss die Augen und schlief sofort ein.