Elftes Kapitel

Als irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss fiel, fuhr Fiona hoch. Sie richtete sich im Bett auf und stellte fest, dass der Septembermorgen sein erstes mattes Licht ins Zimmer warf.

Offenbar hatte ihre Schwester soeben das Haus verlassen. Sie wollte schon früh mit den Schülern und einem Bus zu einer einsam gelegenen Jugendherberge fahren, von wo aus die Klasse ausgedehnte Wanderungen unternehmen würde.

Mit einem Seufzer ließ Fiona den Kopf wieder auf ihr Kissen sinken. Ein oder zwei Stunden konnte sie schon noch schlafen, bevor sie sich auf den Weg nach Sinclair Castle machte, um in den alten Büchern im Turmzimmer nach weiteren Hinweisen auf Catrionas und Arthurs Geschichte zu suchen.

»Fiona!«

Die Stimme hallte merkwürdig durch den Raum und schien von weit her zu kommen. Doch als Fiona sich hastig aufrichtete und mit weit aufgerissenen Augen ins dämmerige Zimmer starrte, stand Catriona stattdessen direkt neben ihrem Bett. Ihre Umrisse waren verschwommen, und Fiona meinte im grauen Dämmerlicht durch sie hindurch die gegenüberliegende Wand sehen zu können.

»Was …«, murmelte sie, obwohl es ihr unendlich schwerfiel, ihre Lippen zu bewegen. »Was willst du mir sagen? Der Fluch … erzähle mir von dem Fluch.«

Doch Catriona stand einfach nur stumm und bewegungslos da. Es war so dunkel im Zimmer, dass Fiona nicht einmal sehen konnte, ob der Geist neben ihrem Bett sie überhaupt ansah. Sie spürte, wie ihre Augenlider immer schwerer wurden, bis sie sie nicht mehr offen halten konnte. Dann spürte sie, wie sie in einen tiefen Schlaf fiel … und sah immer noch Catriona vor sich, die weiter bewegungslos neben ihrem Bett stand.

»Fiona«, flüsterte der Geist im grauen Kleid. »Folge mir, Fiona.«

Catriona breitete die Arme aus, und wegen des dunklen Umschlagtuchs, welches um ihre Schultern lag, wirkte es, als hätte sie Flügel. Die Wände des Zimmers wurden durchsichtig und verschwanden dann ganz. Fiona spürte immer noch die weiche Matratze unter ihrem Rücken, sah aber gleichzeitig unter sich die grünen Hügel und die schroffen Felsen der Highlands, über denen sie nun wie ein Vogel durch die Luft glitt. Über ihr war der bleigraue Morgenhimmel und vor sich erkannte sie undeutlich Catrionas Gestalt, die ebenso wie Fiona selbst einige Meter über dem Boden dahinflog. Catrionas Haare und ihre Kleider flatterten im Wind, und auch Fiona spürte den Luftzug, während sie sich ohne ihr Zutun immer schneller und schneller vorwärtsbewegte.

Sie flogen in Richtung Osten, auf den rosigen Schimmer am Horizont zu. Dann sah Fiona die Umrisse von Sinclair Castle. Ein sanfter Schreck und eine leise Freude durchliefen sie. Sie sehnte sich nach Aidan und hatte gleichzeitig Angst davor, ihn zu sehen.

Sie bemerkte erst, dass sie über die glatte Wasserfläche des Loch Sinclair glitten, als sie den See schon fast überquert hatten, und kam nicht mehr dazu, Angst zu haben. Vor ihr stieg Catriona in der Luft auf und flog auf den Turm zu, in dem sich Aidans Arbeitszimmer befand. Fiona folgte ihr. Sie konnte nicht anders.

Aus dem Turmfenster fiel Licht in den bleigrauen Morgen. Sie sah Aidan an seinem Schreibtisch sitzen. Er war in seine Arbeit versunken und bemerkte die beiden Frauen nicht, die sich Sinclair Castle durch die Luft näherten.

Catriona flog auf eine Mauer zwischen zwei Fenstern zu. Vor Schreck hielt Fiona die Luft an. Wenn ein Mensch in diesem Tempo gegen eine Steinwand prallte, bedeutete das seinen sicheren Tod. Doch Catriona stürzte nicht in die Tiefe, als sie die Mauer erreichte. Sie verschmolz mit dem sandfarbenen Gemäuer und verschwand.

Sekunden später erreichte auch Fiona die Stelle, wo sie eben noch Catrionas graue Gestalt gesehen hatte. Unaufhaltsam bewegte sie sich auf die Mauer zu und konnte nichts dagegen tun. Sie kniff die Augen zusammen und wartete auf den Aufprall und den Absturz. Dann gab es einen leichten Ruck, sie spürte den Wind nicht mehr, der eben noch in ihren Haaren geweht hatte, und als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich im Turmzimmer.

Durch die vorhanglosen Fenster fielen die ersten schwachen Sonnenstrahlen in den großen Raum. Aidan saß vor seinem Computer, und das Licht der Lampe fiel auf sein Gesicht. Er sah müde aus. Wahrscheinlich hatte er die Nacht durchgearbeitet.

Als er den Kopf hob und sie ansah, zuckte sie erschrocken zusammen. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie plötzlich vor ihm stand? Noch dazu im Nachthemd?

Doch sein Blick ging durch sie hindurch. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rieb sich das Kinn, auf dem dunkle Bartstoppeln sprossen, und schaute durch das Fenster hinaus ins Tal. Obwohl sie nur wenige Schritte von ihm entfernt stand, bemerkte er sie nicht. Und auch Catriona, die wie ein grauer Schatten durchs Zimmer huschte, schien er nicht zu sehen.

Ein Traum, ging es Fiona durch den Kopf. Ich war schon einmal im Traum hier, und auch jetzt schlafe ich. Aber wieso war dann alles so real, noch realer, als jemals einer ihrer Träume gewesen war? Wieso spürte sie jede winzige Unebenheit des Bodens unter ihren nackten Füßen? Wieso nahm sie so deutlich Aidans inzwischen vertrauten Duft wahr? Sah wie unter einem Vergrößerungsglas die kleine Fliege, die dort über die Fensterscheibe krabbelte?

Fiona machte einen kleinen Schritt und dann noch einen, bis sie so dicht neben Aidan stand, dass sie ihn fast berührte. Der herbe Duft seines Shampoos kitzelte sie in der Nase. Es zuckte in ihren Fingerspitzen, und sie konnte nicht anders: Sie musste die Hand ausstrecken und sie vorsichtig auf seine Schulter legen. Und sie spürte ihn! Die Wärme seines Körpers und seinen Atem, als er den Kopf zur Seite wandte, als hätte er in der Ferne ein Geräusch gehört.

Fiona kam sich vor, als würde sie etwas Verbotenes tun. Denn Aidan wusste ja nicht, dass sie hier war, und sie berührte ihn ohne sein Einverständnis. Doch da es ein Traum war, durfte sie alles tun, was sie wollte und er würde es nie erfahren. Eigentlich tat sie ja auch nichts Besonderes. Es geschah alles ohne ihr Zutun. Und jetzt musste sie sich einfach über ihn beugen und ihm einen Kuss auf den Mundwinkel hauchen.

Als sie zögernd die Lippen von seiner Haut löste, bemerkte sie, dass er die Augen geschlossen hatte, als würde er einem Gefühl oder einer Erinnerung nachspüren. Dann hob er die Hand und legte die Spitze seines Zeigefingers genau auf die Stelle, wo eben noch Fionas Mund gewesen war.

Sie hielt die Luft an. Wie konnte es sein, dass er es spürte, wenn sie ihn in ihrem Traum berührte? Oder war dies doch kein Traum? Befand sie sich in einem Zwischenreich? In einer Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits? Hatte Catriona sie aus bestimmtem Grund hierhergebracht?

Sie schaute sich nach ihr um. Die durchscheinende graue Gestalt stand ihr gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs. Als Fiona sie ansah, erschrak sie. Catrionas grüne Augen, das Einzige, was an ihrer nebelhaften Erscheinung deutlich zu erkennen war, funkelten zornig. Sie deutete auf Aidan und schüttelte energisch den Kopf. Erschrocken wich Fiona zurück.

Sofort beruhigte Catriona sich. Nun war Fiona sich sicher, dass der Geist ihr etwas mitteilen wollte und sie deshalb hierhergeführt hatte. Abwartend sah sie die schmale Gestalt in dem zerschlissenen Kleid an.

Draußen wurde es rasch heller. Ebenso wie die Schreibtischlampe schwächer zu leuchten schien, wurden mit den ins Zimmer fallenden Sonnenstrahlen auch Catrionas Umrisse noch undeutlicher und ihre Gestalt noch durchscheinender. Ihre Gesichtszüge zerflossen und Fiona fühlte mehr, als dass sie es sah, das unendliche Leid, das in Catrionas Gesicht stand. Jedes Anzeichen von Zorn war verschwunden. Alles an der nebelhaften Gestalt schien um Hilfe zu flehen, und sofort spürte Fiona wieder das warme Mitgefühl. »Sag mir, wie ich dir helfen kann«, flüsterte sie.

Als hätte er ihre Stimme gehört, wandte Aidan den Kopf. Wieder blickte er in ihre Richtung – und durch sie hindurch. Doch Fiona musste sich jetzt auf Catriona konzentrieren. Die geisterhafte Gestalt wurde immer durchscheinender, während sie den Arm hob und auf Aidans Schreibtisch deutete.

Im selben Moment, in dem Fiona sich vorbeugte, um einen besseren Blick auf die Schreibtischplatte zu haben, streckte Aidan den Arm aus und blätterte seinen Terminkalender um. Die Nacht war vorüber, er schlug das Datum des neuen Tages auf.

Als Fiona es sah, durchlief sie ein eisiger Schauer. Es war der 3. September 1679. Dieses Datum war im Sterberegister der Kirche als Catrionas Todestag angegeben gewesen. Doch warum führte ihre Urahnin sie ausgerechnet an diesem Tag nach Sinclair Castle?

Fiona schaute sich suchend im Zimmer um und erspähte den durchscheinenden grauen Schatten jetzt in der Nähe der Tür. Als hätte sie Fionas Blick gespürt, blieb Catriona stehen. Vage meinte Fiona zu erkennen, dass die geisterhafte Erscheinung auf die Tür deutete, als wollte sie sie auffordern, mit ihr zu kommen. Dann bewegte sie sich gleitend nach vorn, verschmolz mit dem Holz der Tür und war verschwunden.

Fiona wollte ihr folgen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Wie angewurzelt stand sie neben Aidans Schreibtisch und war nicht in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Plötzlich spürte sie einen starken Sog in Richtung Fenster. Und im nächsten Augenblick glitt schon wieder in rasender Geschwindigkeit die Landschaft unter ihr dahin. Obwohl es inzwischen hell war, erkannte sie die Hügel und Felsen nur als verschwommene Farbflecke. Sekunden später fühlte sie dann die Matratze unter sich. Sie lag auf dem Rücken in ihrem Bett und starrte an die Decke.

Verblüfft richtete Fiona sich auf und sah sich im Zimmer um. Fenster und Türen waren geschlossen, nichts deutete daraufhin, dass sie fortgewesen war. Und doch war ihr Aufenthalt in der Burg realer gewesen als ein Traum. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie genau sie dorthin und wieder zurück gelangt sein sollte. Wahrscheinlich musste sie sich endlich an den Gedanken gewöhnen, dass sie aus einer Hexenfamilie stammte, bei der eben nicht alles mit rechten Dingen zuging. Bei Gelegenheit musste sie Dawn fragen, ob es zu ihren Fähigkeiten gehörte, blitzschnell an einen anderen Ort zu gelangen und sich dort zu bewegen, ohne gesehen zu werden. Immerhin ritten in Märchen die Hexen auf Besen durch die Luft. Vielleicht ging es ja auch ohne? Allerdings war Fiona ziemlich sicher, dass es nicht ihre, sondern Catrionas Hexenkunst gewesen war, die sie auf diese verblüffende Art nach Sinclair Castle befördert hatte.

Mit ihrer Rückkehr schien Catriona jedoch nichts zu tun gehabt zu haben. Suchend schaute Fiona sich im Zimmer um, doch im Grunde wusste sie, dass der Geist nicht hier war. Er war bei Aidan in der Burg.

Hastig schlug sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Aidan! Sie musste zu ihm. Denn wenn sie auch glaubte, dass Catriona eigentlich kein böses Wesen hatte, hatte sie doch die Männer der MacNaughtons verflucht. Was, wenn sie sich an ihrem Todestag – dem Tag, an dem sie als Hexe verbrannt worden war – an einem von Arthurs Nachkommen rächen wollte?

Hastig wusch Fiona sich, fuhr sich flüchtig mit dem Kamm durch die Haare, putzte sich die Zähne und sprang in die nächstbesten Kleider. Das Frühstück ließ sie ausfallen und legte nur etwas frisches Obst für Lillybeth draußen auf das Fensterbrett. Die Räbin war nicht zu sehen, aber sie würde sicher bald kommen, um sich die Leckerbissen abzuholen. Auf geheimnisvolle Weise schien sie jederzeit zu wissen, was die Schwestern gerade taten.

Eilig verließ Fiona das Haus, stieg ins Auto, konzentrierte sich und murmelte den Zauberspruch vor sich hin, den Dawn ihr beigebracht hatte. Als der Motor laut tuckernd ansprang, atmete sie auf.

Die Eingangstür, die normalerweise tagsüber nicht abgeschlossen war, ließ sich nicht öffnen. Beunruhigt drückte Fiona auf die Klingel und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während sie wartete. Es dauerte eine Weile, bis sie Aidans Stimme durch den neben der Klingel angebrachten Lautsprecher hörte.

»Hallo? Wer ist da?« Er klang verschlafen.

»Ich bins, Fiona. Ich wollte …« Sie stockte. Wenn sie ihm sagte, dass sie sich wegen Catriona um ihn sorgte, würde er sie für verrückt erklären. Andererseits musste sie ihn warnen. Oder sich zumindest in seiner Nähe aufhalten, um ihn im Notfall vor ihrer Urahnin zu schützen.

Der Türöffner surrte, sie schob die schwere Tür aus Eichenholz auf und stand in der Eingangshalle der Burg. Angespannt schaute sie sich um, konnte jedoch nirgends den vertrauten grauen Schatten sehen. Unter der riesigen Lampe mit den geschnitzten Armen aus Holz, an deren Enden Milchglaskugeln mit Glühlampen angebracht waren, blieb sie stehen und wartete mit klopfendem Herzen. Die Wege in Sinclair Castle waren lang.

Schließlich tauchte Aidan oben an der breiten Treppe auf. Er trug einen dunkelbraunen Morgenmantel, und seine Haare standen wirr vom Kopf ab.

»Oh. Ich habe dich aus dem Bett geholt. Das tut mir leid. Ich hatte vergessen, dass du die Nacht durchgearbeitet hast. Aber ich musste einfach kommen, weil …« Sie knetete verzweifelt die linke Hand in der rechten, weil ihr kein einleuchtender Grund für ihr plötzliches Erscheinen einfiel, ohne ihre komplizierte Geistergeschichte zu erzählen.

Aidan hatte bereits die ersten Stufen nach unten zurückgelegt, blieb aber nun mitten auf der Treppe stehen.

»Woher weißt du, dass ich die ganze Nacht auf war?«

»Weil … Weil du anscheinend noch geschlafen hast. Außerdem weiß ich, dass du schon bald deinen Abgabetermin hast. Schreiben Schriftsteller nicht meistens nachts?« Unvermittelt erinnerte sich Fiona daran, wie sie neben seinem Schreibtisch gestanden und ihn auf den Mundwinkel geküsst hatte. Sie spürte, wie ihre Wangen anfingen, zu glühen.

»Du wirkst so aufgeregt und bist ganz außer Atem. Ist irgendetwas passiert?«

Während er die restlichen Stufen herunterstieg, lag sein prüfender Blick auf ihrem Gesicht. Am liebsten hätte sie sich abgewandt, weil sie mittlerweile sicher puterrot war.

»Nein. Doch.« Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, sich zu konzentrieren. »Dawns Wagen … Er ist unten an der Straße stehen geblieben, und ich bin den Rest des Weges zu Fuß gegangen.«

Sie war allerdings nicht gegangen, sondern den Berg heraufgerannt. Die Angst um Aidan hatte sie getrieben. Nun, da er gesund und munter vor ihr stand und weit und breit keine Spur von Catriona zu sehen war, hätte sie eigentlich erleichtert sein sollen, aber solange der Geist sich in seiner Nähe aufhielt, war er womöglich noch in Gefahr. Sie musste also herausfinden, wo Catriona war und was sie vorhatte.

»Am besten legst du dich wieder ins Bett, Aidan. Falls es dich nicht stört, gehe ich nach oben und suche in deinen Büchern weiter nach Hinweisen auf die Geschichte unserer Familie.«

Als plötzlich direkt hinter Aidan wie aus dem Nichts eine schattenhafte Gestalt auftauchte, ruderte Fiona linkisch mit den Armen durch die Luft und rief hektisch: »Vielleicht sollten wir aber auch erst einmal gemeinsam frühstücken, was meinst du, hm? Es ist nicht gesund, ohne Frühstück schlafen zu gehen.« Was redete sie da nur für einen Blödsinn?

Jetzt war Aidans Gesicht ein einziges Fragezeichen. »Ist alles in Ordnung, Fiona?«

»Aber klar. Sicher.« Sie nickte heftig und sah über Aidans Schulter hinweg Catriona streng an. »Ich könnte Kaffee kochen und vielleicht ein paar Pfannkuchen backen. Magst du Pfannkuchen?«

Sie musste ihn irgendwie dazu bringen, in ihrer Nähe zu bleiben, damit sie auf ihn aufpassen konnte. Wenigstens so lange, bis sie herausgefunden hatte, was ihre Urahnin heute auf Sinclair Castle wollte.

Aidan nickte zögernd. »Allerdings habe ich vor einer Stunde, bevor ich mich hingelegt habe, ein Schälchen Müsli und mehrere Scheiben Toast gegessen«, gab er zu bedenken.

»Ha, du hast meine Pfannkuchen noch nicht probiert! Einer passt immer noch rein, das schwöre ich dir. Ich könnte dir auch einen extrakleinen machen.«

Aidan musste mittlerweile zu der Ansicht gelangt sein, dass sie vollkommen durchgedreht war. Als Catriona hinter seinem Rücken die Arme hob und mit den Händen eine Bewegung machte, als wollte sie einen Lappen auswringen, schrie Fiona erschrocken auf, stürzte zu ihm hinüber und zerrte ihn von der durchscheinenden Gestalt weg.

Er war so überrascht, dass er ins Stolpern geriet und gestürzt wäre, hätte er sich nicht im letzten Moment an ihren Schultern festgehalten. »Hoppla«, flüsterte er direkt an ihrem Ohr, und sie spürte seinen heißen Atem. »Du bist heute wohl etwas stürmisch, was?«

Glaubte er etwa, das wäre ein ungelenker Annäherungsversuch gewesen? Fiona wollte sich aus seinen Armen befreien und ihm irgendeine Begründung für ihr seltsames Verhalten liefern. Eine einleuchtende Erklärung, die möglich nichts mit der Wahrheit zu tun hatte. Nur fiel ihr einfach nichts ein. Außerdem wollte sie viel lieber so stehen bleiben. Es war ein wunderschönes Gefühl, ihn so warm und lebendig ganz dicht bei sich zu fühlen. Sie schloss die Augen und genoss den Augenblick.

Aidan bewegte sich als Erster wieder. Sanft schob er sie von sich und trat einen Schritt zurück. »Wir hatten doch beschlossen, das hier nicht mehr zu tun«, erinnerte er sie mit heiserer Stimme.

Sie nickte eifrig. »Tut mir leid. Ich wollte das nicht. Aber ich habe mich erschrocken …« Sie blickte wild um sich, doch von Catriona war nichts zu sehen. Was nicht bedeutete, dass sie fort war.

»Weshalb bist du denn nun wirklich hier, Fiona?« Er lächelte sie aufmunternd an. »Wegen der Bücher hättest du dich nicht so beeilen müssen. Die laufen nicht weg.«

Da hatte sie den rettenden Einfall. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, gab sie unumwunden zu. »In der vergangenen Nacht hatte ich einen sehr beunruhigenden Traum. Es ging um … um eine fremde Frau, die durch die Burg schlich und dich bedrohte. Deshalb dachte ich, es ist besser, wenn ich nachschaue, ob es dir gutgeht.« Sie atmete tief durch.

»Eine fremde Frau, die mich bedroht?« Aidan wirkte amüsiert.

»Glaubst du etwa, eine Frau kann dir nicht gefährlich werden?« Fiona warf den Kopf in den Nacken und sah ihn herausfordernd an.

»Oh doch, das glaube ich durchaus.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Aber nicht unbedingt auf eine Art, die es nötig macht, dass du auf mich aufpasst.«

Sie spürte, wie sie schon wieder errötete. »Eine Frau könnte dich genauso wie ein Mann verletzen oder sogar töten«, rechtfertigte sie sich. »Mit einem Messer oder einer Pistole zum Beispiel. Sie könnte dich im Schlaf überwältigen und dich erdrosseln.«

»Was hat denn die Frau in deinem Traum getan?« Während er auf ihre Antwort wartete, schaute er ihr aufmerksam ins Gesicht.

»So genau kann ich mich nicht erinnern«, behauptete sie.

»Jedenfalls ist es nett, dass du gekommen bist«, stellte Aidan fest und klang kein bisschen spöttisch. Dennoch argwöhnte sie, der Teil des Satzes, den er höflicherweise nicht aussprach, lautete: »Aber da mir offensichtlich keine Gefahr droht, kannst du jetzt ja wieder gehen.«

»Dann gehe ich jetzt am besten nach oben ins Turmzimmer«, sagte sie hastig. Wenn Aidan sich wieder schlafen legte, konnte sie die Burg nach Catriona durchsuchen. Falls es überhaupt möglich war, einen Geist zu finden, der nach Belieben auftauchen und wieder verschwinden konnte.

»Sei mir nicht böse, wenn ich dich nicht begleite, ja? Du kennst den Weg, und ich muss dringend noch ein wenig schlafen.«

Aidan lächelte sie auf eine Weise an, die sie in Versuchung brachte, ihn doch lieber in sein Schlafzimmer zu begleiten. Nur für den Fall, dass Catriona gerade dort war…

Fiona atmete tief durch. Irgendwie musste sie ihre wirren Gefühlen unter Kontrolle bringen. Angst, Sehnsucht und Begehren durchströmten ihren Körper in heißen Wellen. Sie wich Aidans Blick aus und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, damit sie ihn nicht versehentlich berührte.

»Falls du etwas essen möchtest, Fiona: Die Küche ist gleich neben dem Kaminzimmer, wo wir neulich gesessen haben. Im Kühlschrank sind Eier, Schinken, Obst und Saft.«

»Vielen Dank, aber momentan habe ich keinen Hunger.« Die Aufregung begann ihr auf den Magen zu schlagen. Sie versuchte, die bedrohliche Vorstellung zu verdrängen, dass Aidan arglos schlafend in seinem Bett liegen würde, während Catriona mit zornig funkelndem Blick in der Burg unterwegs war.

Sie gingen gemeinsam in den ersten Stock hinauf. Dort verschwand Aidan in einem langen Korridor, in dem offenbar irgendwo sein Schlafzimmer lag, und Fiona stieg die Wendeltreppe des rechten Turms hinauf. Es gab in dem schmalen Aufgang nur wenige kleine Fenster, die früher wahrscheinlich als Schießscharten gedient hatten. Da sie nicht wusste, wo sich der Lichtschalter befand, tastete sie sich im Dämmerlicht die Stufen hinauf. Je höher sie kam, umso weniger Fenster gab es. Schließlich sah sie sich fast vollkommener Dunkelheit gegenüber. Fiona blieb stehen und atmete tief durch. Bewegte sich dort im Finstern etwas?

»Catriona?«, flüsterte sie.

Keine Antwort.

»Catriona«, wiederholte sie, dieses Mal ein wenig lauter.

Wieder kam keine Reaktion.

Entschlossen stieg Fiona weiter die Treppe hinauf, wobei sie sich mit der linken Hand am Geländer festhielt und die Rechte tastend vorstreckte. Dabei fürchtete sie, jeden Augenblick mit ihren Fingerspitzen das abgetragene Gewand des Geistes vor sich zu sehen. Zwar sagte sie sich immer wieder, dass sie keine Angst vor ihrer Ahnfrau zu haben brauchte, aber so recht konnte sie sich selbst nicht glauben.

Mit angehaltenem Atem überwand sie eine Stufe nach der anderen. Nun hatte sie fast schon das nächste schwache Licht erreicht, wo sich wohl wieder eines der winzigen Fenster befand. Eilig stieg sie die wenigen Stufen hinauf, die sie noch von diesem Punkt trennten, und trat aufatmend ins Licht. Von hier aus konnte sie schon die Tür zum Turmzimmer sehen.

Erleichtert nahm Fiona nun zwei Stufen auf einmal – und wäre fast rückwärts die Treppe hinuntergefallen, als plötzlich direkt vor ihr Catrionas schmale graue Gestalt aufragte. Obwohl ihre Ahnfrau eigentlich sehr zierlich war, wirkte sie riesig, wie sie dort zwei Stufen über ihr stand.

Fiona klammerte sich mit der linken Hand am Treppengeländer fest und presste die Rechte auf ihr wild pochendes Herz, während sie die graue Gestalt mit festem Blick ansah. »Du hast mich erschreckt!«, stieß sie vorwurfsvoll hervor.

Catriona schwieg. Sie stand bewegungslos da, das verschwommene weiße Oval ihres Gesichts Fiona zugewandt.

Fiona atmete tief ein und ebenso tief wieder aus. Sie würde sich keine Angst machen lassen, zumal sie spürte, dass die junge Frau unendlich traurig war und stumm um Hilfe flehte. An die seltsame Geste, die Catriona vor wenigen Minuten hinter Aidans Rücken vollführt hatte, wollte sie lieber nicht denken.

Eine kleine Ewigkeit standen Fiona und der Geist da, sahen einander an und rührten sich beide nicht von der Stelle. Schließlich stellte Fiona einen Fuß auf die nächsthöhere Stufe und streckte vorsichtig die Hand aus, bis ihre Fingerspitzen nur noch Millimeter von dem grauen zerfetzten Rock entfernt waren. Sie wagte allerdings nicht, ihn zu berühren.

»Lässt du mich bitte durch?«, fragte sie leise. »Ich möchte oben in den Büchern nach einem Weg suchen, wie wir dir helfen können. Dazu muss ich wissen, was damals zwischen dir und Arthur passiert ist.«

Als sie Arthurs Namen aussprach, legte Catriona wieder den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus, der von den engen Wänden des Turms schaurig widerhallte.

Fiona fuhr zusammen und erstarrte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie diesen Namen nicht nennen durfte. In dem Bemühen, ihre Ahnfrau zu besänftigen, hob sie die Hand.

»Fiona?«, hörte sie kurz darauf Aidans Stimme vom Fuß der Treppe. Offenbar hatte er den Schrei in seinem Schlafzimmer gehört und dachte nun natürlich, sie hätte geschrien.

»Es ist alles in Ordnung, Aidan«, rief sie nach unten, ohne Catriona aus den Augen zu lassen. »Tut mir leid, dass ich dich gestört habe.«

»Was ist denn passiert? Bist du gestürzt?«

Sie meinte, Aidans Schritte auf der Treppe zu hören. Offenbar war er auf dem Weg nach oben, um nach dem Rechten zu sehen. Gleichzeitig flammten ein paar Lampen auf, und in der hellen Beleuchtung wurde Catrionas Körper noch durchscheinender.

»Mir ist nichts passiert. Wirklich gar nichts«, beteuerte Fiona. »Ich habe mich nur erschrocken, aber hier ist … nichts.«

Was würde Aidan sagen, wenn er dieses »Nichts« sah? Konnte er Catriona überhaupt sehen? Während sie hörte, wie er sich näherte, machte sie dem Geist verzweifelte Zeichen, zu verschwinden. Einerseits wünschte sie sich, mit Aidan offen und ehrlich über ihre Urahnin und die historische Verbindung zwischen ihren beiden Familien sprechen zu können, andererseits konnte sie ihn wohl kaum ohne jede Vorbereitung mit ihrer geisterhaften Ahnfrau konfrontieren.

Catriona dachte jedenfalls nicht daran, Fiona den Gefallen zu tun, zu verschwinden. Bewegungslos stand sie da und schaute die Treppe hinunter. Auch Fiona wandte sich um, denn die Schritte waren schon ganz nah. Da tauchte Aidan auch schon um die Biegung der Treppe auf.

Verzweifelt versuchte Fiona, sich möglichst groß und breit zu machen, so dass er Catriona vielleicht nicht bemerkte. Da der Geist jedoch zwei Stufen über ihr stand, war das ein aussichtsloses Unterfangen. Sie presste die Lippen aufeinander und wartete auf Aidans entsetzte Frage, wer »das da« sei.

Er schaute jedoch nur sie an. »Ist dir wirklich nichts passiert? Du siehst blass aus.«

Heftig bewegte sie den Kopf hin und her. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie und fand selber, dass sie nicht sehr überzeugend klang.

»Was hat dich denn so erschreckt?« Prüfend ließ er seinen Blick an den Wänden entlangwandern. Offensichtlich konnte er Catriona nicht sehen.

Erleichtert atmete sie auf. Als Antwort auf seine Frage zuckte sie jedoch nur mit den Schultern. »Nichts. Ich dachte nur, da wäre etwas.«

»Warum tappst du denn auch ohne Licht die Treppe hoch? Hier ist es auch tagsüber dunkel.«

Sie lächelte. »Das weiß ich jetzt auch. Aber unterwegs habe ich keinen Lichtschalter gefunden. Nächstes Mal schalte ich das Licht ein, bevor ich den Aufstieg beginne.«

»Guter Plan!«, lobte er sie. »Gehen wir dann nach oben? Ich habe festgestellt, dass ich nicht schlafen kann. Also kann ich ebenso gut weiterarbeiten.«

Jetzt fiel Fiona auf, dass Aidan inzwischen Jeans und Pullover trug. Wenigstens war er durch Catrionas Schrei nicht aufgewacht, sondern offenbar bereits auf dem Weg zum Turm gewesen. Nun deutete er auffordernd auf die Tür zu seinem Arbeitszimmer, die wenige Stufen hinter Catrionas Rücken lag. Die durchscheinende Gestalt aber stand immer noch bewegungslos mitten auf der Treppe und schien nicht die Absicht zu haben, den Weg freizugeben. Unauffällig wedelte Fiona vor ihrem Körper mit den Händen, als wollte sie ein Huhn wegscheuchen, aber der Geist rührte sich nicht von der Stelle.

Aidan setzte sich in Bewegung und erwartete natürlich von ihr, dass sie ebenfalls weiterging. Wie sollte sie ihm erklären, warum sie hier im Weg herumstand?

Zögernd trat sie auf die nächste Stufe. Jetzt stieß ihr Gesicht schon fast an Catrionas, doch die Geisterfrau rührte sich einfach nicht.

Fiona spürte, dass Aidan direkt hinter ihr war. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als Catriona wegzuschieben. Sie streckte die Hände vor – und griff ins Nichts. Anders als bei ihrer ersten Begegnung mit Catriona im Garten, als sie sie für Dawn gehalten hatte, spürte Fiona nur Feuchtigkeit und Kühle, als würde sie die Hände in dichten Nebel stecken. Sie atmete tief ein und ging einfach weiter, durch Catriona hindurch. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie das schon einmal getan hatte, wenn auch nicht absichtlich. Doch als sie auf die Stufe trat, auf der Catrionas Geist stand, war es nicht so, wie sie es erwartet hatte. Jetzt war es nicht so, als würde sie durch Nebel gehen.

Fiona fühlte einen Aufprall und anschließend einen Ruck, nicht heftig, aber deutlich. Dann war das kühle Nebelgefühl plötzlich in ihr. Nur mühsam unterdrückte sie einen Aufschrei, als ihr klarwurde, was geschehen war. Sie war nicht etwa durch Catriona hindurchgegangen, sondern hatte sie in sich aufgenommen. Oder einen Teil von ihr. Jedenfalls war da etwas in ihr, was vorher nicht dagewesen war. Fremdes Fühlen. Eine andere Art, ihre Umgebung zu sehen. Obwohl die Treppe jetzt beleuchtet war, erschien ihr alles um sich herum trüb und grau.

Ich bin von einem Geist besessen, von Catrionas Geist, fuhr es Fiona durch den Kopf. Doch seltsamerweise spürte sie weder Angst noch Verzweiflung. Es war geschehen, und vorerst konnte sie nicht dagegen tun.

Sie hob den Fuß, trat auf die nächste Stufe und ging einfach weiter, so wie Catriona es wollte.