21
Cullen lag auf der Seite und versteckte sorgsam seine Hände. Als Zeichen für seinen etwas verbesserten Status hatten sie ihm eine Matratze und eine leichte Decke gegeben. Er war zwar immer noch ihr Gefangener, aber sie wollten ihn glauben machen, dass er gut behandelt werden würde, wenn er sich bewährt hatte.
Aber sicher! Er grinste spöttisch. Er glaubte ja auch an den Weihnachtsmann!
Die Matratze war natürlich bequem, aber ansonsten war sie ein rechtes Ärgernis. Das Energienetz unter seiner Zelle war bereits schwer genug zu erspüren gewesen, als er direkt auf dem Boden gelegen hatte, und nun trennte ihn auch noch eine Matratze davon.
Aber die Decke war der reinste Segen. Als Blinder in einem Glaskasten wusste er nie, wann er beobachtet wurde, und die Decke bot ihm wenigstens ein kleines bisschen Privatsphäre. Wenn jemand sah, wie sich seine Hände darunter bewegten, dachte derjenige wahrscheinlich, er würde sich einen runterholen.
Ansonsten hatte er auch wirklich nicht viel zu tun … abgesehen von dem, was er tatsächlich tat. Er bearbeitete Sorcéri.
Zum Zaubern brauchte man eigentlich Formeln oder materielle Objekte oder eine Kombination von beidem, und der Zauber ließ sich dann auf verschiedene Arten mit Energie versorgen. Die Sorcéri miteinander zu verknüpfen war vermutlich ziemlich verrückt, wenn man kein Meister war. Aber theoretisch war es möglich. Cullen wollte versuchen, die Sorcéri, die er gesammelt hatte, dem Muster des Netzes so anzupassen, dass er sie damit verbinden konnte. Wenn er es schaffte, genug von ihnen darin unterzubringen, konnte er die Kontrolle über das Netz übernehmen. Theoretisch, wie gesagt.
In der Praxis endete das Experiment unter Umständen damit, dass er sich mitsamt dem ganzen Glaskasten in die Luft jagte. Wenn dieser Fall eintrat, befand sich Helen hoffentlich in seiner unmittelbaren Nähe.
Komisch. Er hatte die Geschichten von den Großen Kriegen und dass sein Volk erschaffen worden war, um für eine der beiden Seiten zu kämpfen, nie geglaubt. Für die Seite der Wahrheit und Gerechtigkeit natürlich. Für die Guten.
Oh, er hatte schon geglaubt, dass es in grauer Vorzeit einen Konflikt gegeben hatte – einen gewaltigen, weltenübergreifenden Konflikt. Bevor der Codex Arcanum verloren ging, war das für alle eine unumstößliche Tatsache gewesen, also stimmte es wahrscheinlich. Doch die Geschichten, die unter den Lupi von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden und von Helden und Schurken, von Göttern und Göttinnen handelten, waren für ihn Mythen. Es war einfach unmöglich, dass bei mündlichen Überlieferungen über einen derart großen Zeitraum hinweg so viele Einzelheiten korrekt weitergegeben worden waren. Abgesehen davon war es die Version der Guten, die bis in die Gegenwart erhalten geblieben war. Diesen Umstand hatte er immer so interpretiert, dass seine Seite gewonnen hatte.
Er hatte nur einmal den Gestank dieses Stabes wahrnehmen müssen, um seine Meinung zu ändern.
Vielleicht wusste er ja nicht, wie man die Guten erkannte, überlegte Cullen, während er sorgfältig einen der purpurroten Sorcéri zurechtbog. Aber inzwischen wusste er, wer die Bösen waren.
Er studierte das Muster, das er gefertigt hatte. Es sah gut aus, aber es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob es auch funktionierte. Er ließ unauffällig seine Hand sinken, berührte mit den Fingerspitzen den Boden und begann, seinen Zauber behutsam in das Netz einzufügen.
Zuerst irritierten ihn die Stimmen, die von außen in seinen Glaskasten drangen; sie waren nicht zu unterscheiden. Doch dann erkannte er eine von ihnen – sie war ihm wohlvertraut. Überrascht ließ er die bearbeitete Energielinie los. Sie verschwand in dem Netz.
„… gar nicht zufrieden … Turner ist immer noch … muss erledigt werden.“
Das war ihre Frostigkeit, aber sie war noch zu weit weg, und er konnte nicht alles verstehen. Er überprüfte kurz seinen Zauber. Er schien sich nahtlos in das Netz eingefügt zu haben …
„… auch nicht gerade begeistert, Madonna. Um ihn aus dem Weg zu räumen … euch angeschlossen. Deshalb … heute hergekommen.“
Und das war die Stimme, die er wiedererkannt hatte. Mick Roberts. Rules Bruder.
„Der sieht aber nicht so proper aus wie sonst!“ Das war wieder Mick, und er stand direkt vor dem Glaskasten.
Es war sinnlos, so zu tun, als habe er nichts gehört. Mick wusste es besser. Cullen schwang die Beine von der Matratze, setzte sich auf und wandte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. „Hallo Mick! Was für eine Überraschung, dich hier anzutreffen!“
„Er weiß, dass du da bist!“, sagte sie entsetzt.
„Natürlich weiß er das. Die Ohren habt ihr ihm doch nicht abgeschnitten! Hallo Cullen! Wie ich hörte, versuchst du dich einzuschleimen, um aus deinem Gefängnis herauszukommen.“
„Man tut, was man kann“, entgegnete er leichthin, obwohl ihm unvermittelt schlecht wurde. Er hätte nie für möglich gehalten, dass ihm Verrat derart zusetzen könnte – er war nicht gerade ein Idealist –, doch mit Mick zu sprechen bereitete ihm tatsächlich Übelkeit. „Du scheinst jedenfalls nicht eingesperrt zu sein.“
Mick lachte. „Cullen wie er leibt und lebt! Aber du hast offenbar mehr drauf, als ich dir zugetraut habe. Die Madonna hat mir gesagt, du machst in Zauberei. Schäm dich!“
„Apropos schämen, warum schmeißt du dich überhaupt so an die Madonna ran? Von jemandem wie mir erwartet man nichts anderes, aber du solltest doch mehr Anstand haben als ein niederer clanloser Kerl.“
„Vergleich dich bloß nicht mit mir!“ In Micks Stimme schwang plötzlich Zorn mit, gemischt mit einer ordentlichen Portion Verachtung. „Ich kämpfe für die Rettung meines Clans. Du versuchst nur, deine armselige Haut zu retten.“
„Verzeih mir meine Beschränktheit, aber ich kann dir nicht ganz folgen. Du hast dich mit unserer Erbfeindin verbündet und willst deinen Vater und deinen Bruder aus dem Weg räumen … und das alles zum Wohle des Clans?“
„Du warst schon immer ein Idiot. Der Rho wird uns alle mit seinen politischen Spinnereien vernichten. Er wird zulassen, dass man uns die Herausforderung nimmt, und macht uns zu Imitaten der Menschen, zu billigen Imitationen derer, die nie den Ruf der Dame hörten. Das werde ich nicht zulassen!“
Mick klang nun sehr barsch. Entschlossen. Das erinnerte Cullen an Rule, besser gesagt, an eine kümmerliche, geistig verwirrte Version von Rule. „Tja, jedem das Seine. Äh … aber eines muss ich dich einfach noch fragen, weil ich so furchtbar neugierig bin. Dir ist doch klar, dass sie deine Gedanken lesen kann, oder?“ Das zumindest konnte sie nämlich. Eigentlich war es ihr unmöglich, die Gedanken anderer auch zu beeinflussen, aber ihr Stab hatte große Macht. Allerdings konnte Cullen sich nicht vorstellen, dass sich ein Lupus freiwillig in die Nähe eines solchen Abscheu erregenden Gegenstandes begab.
Mick lachte. „Sie kann weder meine noch die eines anderen Lupus lesen! Du bist wirklich ein Idiot. Die, der die Madonna dient, hat keinen derartigen Zugriff auf uns.“
Den brauchte Sie auch gar nicht. Ihre Priesterin, diese eiskalte Hexe, war mit einer Gabe ausgerüstet – und ihre Fähigkeiten wurden wahrscheinlich durch die Macht der Göttin verstärkt. Jetzt war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt für einen Vortrag über die Unterschiede zwischen Zauberei und Gabe, fand Cullen. „Bist du vorbeigekommen, um mich aufzumuntern? Wie aufmerksam von dir! Mir geht es schon viel besser.“
„Ich wollte mir ansehen, wie du in deinem Käfig hockst. Ich dachte, der Anblick würde mir Freude bereiten – und ich hatte recht.“
Die Madonna ergriff das Wort. Ihre hohe Stimme drang leise, aber ziemlich klar und deutlich durch das dicke Glas. „Mick hat mir einen Vorschlag gemacht. Ich hatte mir eigentlich etwas anderes überlegt, damit du dich beweisen kannst, aber sein Plan gefällt mir noch besser. Er ermöglicht es mir, mich deiner Loyalität zu versichern und zugleich unsere Sache voranzutreiben – und wir müssen auch nicht warten, bis deine Augen wieder nachgewachsen sind.“
„Diese Effizienz begeistert dich, nicht wahr?“, entgegnete Cullen locker, doch sein Puls beschleunigte sich. Er war noch nicht bereit. Er hatte das Netz noch nicht ganz unter Kontrolle. Aber er war nah dran …
„Es hängt alles davon ab, wie flexibel dein Loyalitätssinn ist“, fuhr sie fort. „Wie Mick mir versicherte, ist er äußerst flexibel. Aber du bezeichnest dich als Freund von Rule Turner, nicht wahr?“
„Sicher. Rule ist ein echter Frauenmagnet. Nicht dass ich Probleme hätte, Frauen an Land zu ziehen, aber sie fallen derart über ihn her, dass er sie gar nicht alle bedienen kann. Ich kümmere mich um den Überschuss.“
„Dein Sexualleben interessiert mich nicht“, sagte sie angewidert. Ihm war bereits aufgefallen, dass die reizende Helen es hasste, wenn man das Thema Sex anschnitt. „Bist du bereit, ihn zu uns zu locken?“
Er lächelte. „Was bekomme ich dafür?“
„Aninnas wünscht ihn zu verspeisen. Wenn Sie ihn nicht bekommt, nimmt sie vielleicht auch mit einem Werwolf-Zauberer vorlieb.“
„Du verstehst es wirklich, einen zu motivieren!“
Um elf Uhr dreißig war Rule unterwegs zu Ginger. Mit Lily natürlich. Da er gewonnen hatte, als sie eine Münze geworfen hatten, um zu bestimmen, wer fahren durfte, saßen sie in seinem Wagen.
Croft schaffte inzwischen mehr Informationen über die Kirche der Glaubenstreuen heran. Karonski wollte der Abteilung für Innere Angelegenheiten einen Besuch abstatten, um herauszufinden, was man dort über Mech und Randall erfahren hatte. Lily hatte unbedingt ihr Glück bei Ginger versuchen wollen.
Es wäre praktischer gewesen, wenn Lily zusammen mit Croft ein Team gebildet hätte und Rule mit Karonski, aber das ließ das Band der Gefährten nicht zu. Davon abgesehen hatte Rule ohnehin nicht vor, sie aus den Augen zu lassen. Lily stellte eine Gefahr für die Mörder und den Cop dar, der mit ihnen unter einer Decke steckte, und er wollte nicht das geringste Risiko eingehen.
Sie hatten zuerst nach Cullen gesucht. Er war immer noch nicht zu Hause, und die Nachfrage bei Max hatte lediglich ergeben, dass auch er ihn nicht gesehen oder etwas von ihm gehört hatte. Rule ärgerte sich über sich selbst. Warum machte er sich überhaupt Sorgen? Cullen verschwand manchmal wochenlang, um mit Fragmenten von Zauberformeln herumzuexperimentieren, die er irgendwo aufgestöbert hatte. Er durchforstete ständig alte Manuskripte und Bücher nach solchen Dingen.
„Bist du sicher, dass Seabourne ein Zauberer ist?“, fragte Lily zum dritten Mal. „Und nicht nur jemand mit einer gewissen Gabe, der sich interessant machen will?“
„Lupi haben keine Gaben.“
„Aber Zauberer dürfte es unter euresgleichen eigentlich auch nicht geben.“
Wohl wahr. „Er zaubert mit Kräften, die nicht seinem Inneren entspringen. Er besorgt sie sich von außen. Das ist doch die Definition von Zauberei, nicht wahr?“
„Woher willst du wissen, wo sie ihren Ursprung haben? Du kannst Magie weder sehen noch spüren.“
„Er wurde von seinem Clan verstoßen, weil er die Zauberei nicht aufgeben wollte, was darauf hindeutet, dass er tiefere Beweggründe hat und sich nicht einfach nur interessant machen will. Sie müssen ihn schon für einen echten Zauberer gehalten haben“, fuhr Rule ungeduldig auf. „Und das“, fügte er seufzend hinzu, „ist weit mehr, als ich dir hätte sagen dürfen.“
„Ich werde es nicht weitergeben. Es sei denn …“
„Es sei denn, du musst. Schon klar!“ Er fing an zu bedauern, dass er ihr von Cullen erzählt hatte. Aber als er begriff, welche der Großen Alten hier ihr Unwesen trieb, hatte er das Gefühl gehabt, er müsse Lily und den beiden FBI-Agenten alles sagen, was er wusste.
Cullen hatte die Turbulenzen in den Energieströmen untersucht, aus denen er den Schluss zog, dass das Weltengefüge in Unordnung geraten war. Er hatte eine Verbindung zu den Nokolai gespürt, irgendeine Verschwörung, und war zu Rule gekommen. Und indem er Rule als Fokus für einen komplizierteren Zauber verwendet hatte, hatte er den Plan zur Ermordung des Rho aufgedeckt – etwas zu spät.
Lily fasste ihn am Arm. „Ich werde ihn nicht outen, Rule. Es sei denn, er hat sich auch noch anderer Vergehen als der Ausübung einer verbotenen Kunst schuldig gemacht. Aber ich muss sagen, es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich mit meinem Stillschweigen einen Zauberer schütze.“
„Cullen sagt immer, dass die Zauberei völlig ungerechtfertigt in Verruf geraten ist. Dass sie von sich aus weder gut noch böse ist, genauso wenig wie beispielsweise elektrische Energie.“
„Das habe ich auch immer gedacht. Magie hat keine bestimmte Ausrichtung; es kommt allein darauf an, wie und wozu man sie verwendet. Aber was ich in Thereses Wohnung gespürt habe …“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie eine böse Erinnerung vertreiben.
Als er ihre Hand ergriff, umklammerten ihre Finger sofort die seinen. Das Band tat seine Wirkung, dachte er, und es würde sie auch weiterhin entfalten, wenn Lily es nur zuließ. „Dann erklär mir doch mal, wie sich Magie anfühlt“, sagte er und sah sie neugierig an.
„Sag du mir, wie es sich anfühlt, wenn du dich verwandelst“, entgegnete sie lächelnd.
„Wild. Schmerzhaft. Richtig.“
„Okay, du findest immer viel treffendere Worte als ich. Magie fühlt sich an wie … eine Art Struktur. Körnig wie Sand, glatt wie Glas, oder hölzern, steinig oder wie das Blatt eines Baumes. Wenn ich etwas oder jemanden berühre, dem magische Kräfte innewohnen, dann spüre ich es wie eine zusätzliche Oberflächenstruktur.“
„Und die ist nicht immer gleich?“, fragte er interessiert.
„Nein, nein. Lupusmagie fühlt sich ein bisschen nach Fell an und ein bisschen nach spitzen Zähnen.“
Das ergab Sinn. Auf gewisse Weise. Wenn man sich vorstellen konnte, dass sich etwas pelzig und gleichzeitig fest und spitz anfühlte.
„Deshalb verstehe ich ja auch nicht, was ich in Thereses Wohnung gespürt habe. Solche Strukturen sind weder gut noch böse – sie sind einfach da. Ich kann mir vorstellen, dass es auch Strukturen gibt, die wehtun; wie Glasssplitter oder so etwas. Aber schmerzhaft und böse ist nicht dasselbe.“
„Wenn man das Alter von drei oder vier überschritten hat“, pflichtete er ihr bei und betätigte den Blinker.
„Ich vermute …“ Sie schien erst jetzt zu merken, dass sie seine Hand hielt, und ließ sie rasch los. „Wir sind gerade an Gingers Laden vorbeigefahren!“
Geduld!, sagte er zu sich. „Da war kein Parkplatz frei.“
„Oh. Gut. Ich meine, es ist gut zu wissen, dass du auch nur ein Mensch bist – ach, das war so nicht ganz richtig. Auch nur ein Normalsterblicher, hätte ich sagen sollen. Ich finde nie einen Parkplatz, wenn ich dringend einen brauche.“
Seine Natur – oder vielmehr die Tatsache, dass er kein Mensch war – machte ihr zu schaffen. Er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Rührte ihr Unbehagen vielleicht daher, dass sie ihre eigene Natur mit gemischten Gefühlen betrachtete?
„Was ist das Schwierigste daran, eine Sensitive zu sein?“, fragte er.
„Weder das eine noch das andere zu sein, glaube ich.“
„Ich kann dir nicht recht folgen.“ Er fuhr in eine Parklücke. „Du bist doch eindeutig ein Mensch.“
„Was soll das heißen? Verläuft irgendwo eine Grenze, und die Leute auf der einen Seite sind Menschen – und der Rest ist irgendetwas anderes? Du fühlst dich offenbar jenseits dieser Linie sehr wohl. Ich will einfach nur wissen, wo sie verläuft.“ Lily öffnete die Wagentür und stieg aus.
Warum braucht sie Linien?, fragte er sich und stieg ebenfalls aus. Vielleicht lag es daran, dass sie clanlos war. Er hatte immer gewusst, wer er war und wo er hingehörte.
Doch in gewisser Hinsicht war ihre Familie ihr Clan. Was ihn an etwas erinnerte … Er kam zu ihr auf den Gehsteig. „Wolltest du mich nicht etwas fragen?“
„Das will ich sehr oft, aber jetzt gerade nicht.“
„Du wolltest mich zum Essen einladen.“
„Ach, das!“ Sie sah ihn verärgert an. „Du hast mal wieder beide Seiten gehört, als ich mit meiner Mutter telefoniert habe.“
Er lächelte.
„Also gut. Würdest du mich zu diesem verfluchten Probeessen begleiten?“
„Mit dem größten Vergnügen. Ich hatte schon befürchtet, du würdest überlegen, ob du dich nicht doch von Karonski begleiten lassen willst.“
„Ich hatte es in Erwägung gezogen.“
Ihre unwirsche Art amüsierte ihn. „Wie offiziell ist dieses Essen denn? Ich habe einen Smoking.“
„Wer hätte das gedacht. Aber ein Anzug reicht völlig. Das Essen findet im Restaurant meines Onkels Chan statt. Vielleicht kennst du es ja; es ist das Golden Dragon im Gaslamp Quarter.“
„Da war ich schon mal. Das Schweinefleisch Moo Shoo ist dort ganz ausgezeichnet!“ Er sah sie an. „Du bist nicht gerade begeistert. Ist es dir peinlich, mich mitzunehmen?“
„Nein. Nein, gar nicht. Eigentlich …“, entgegnete sie mit einem kleinen Lächeln, „freue ich mich schon auf die Reaktion meiner Mutter.“
„Also hast du mich eingeladen, um deine Mutter zu ärgern!“
Sie nickte. „So ist es. Mutter pocht immer darauf, dass sie keine Vorurteile hat, aber sie hat natürlich welche. Nicht speziell gegen Lupi, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Du bist kein Chinese.“
Rule lachte. „Nein, bin ich nicht.“
„Es wäre hilfreich, wenn du Chirurg wärst. Oder Rechtsanwalt in einer renommierten Kanzlei. Sie steht auf Männer, die es zu etwas gebracht haben. Und ein Playboy …“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ihr wird gefallen, dass du reich bist.“
„Ich bin nicht reich.“
Sie warf einen skeptischen Blick auf sein Auto.
„Das ist doch nur ein Requisit zur Imagepflege.“
„An dem du große Freude hast.“
Er grinste. „Allerdings.“
„Du wirst auch meinen Vater kennenlernen, aber der ist ziemlich locker. Meine Schwester Susan – das ist die, die heiratet – ist einfach perfekt; sie wird kein Problem sein. Meine kleine Schwester Beth wird wahrscheinlich mit dir flirten. Ja … und dann ist da noch Großmutter.“
„Du hast nur eine?“
„Nein, aber Großmutter ist einzigartig. Sie …“ Lily seufzte. „Das kann ich nicht erklären. Man muss sie erleben.“
„Ich freue mich schon darauf.“
„Du hast ja keine Ahnung“, murmelte sie.
Inzwischen hatten sie ihr Ziel erreicht: La Jolie Vie hieß der exklusive Schönheitssalon, der Ginger Harris gehörte. „Lily.“ Rule legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, als sie die Tür öffnen wollte. „Was ist denn los?“
Ihre Augenbrauen drückten höfliches Erstaunen aus. „Du meinst, abgesehen davon, dass ich für den Rest meines Lebens an einen Mann gebunden bin, den ich kaum kenne? Und dass es sich bei dem Täter, den wir suchen, möglicherweise um eine unsterbliche Göttin handelt?“
Er musste unwillkürlich grinsen, weil Lily Sie als Täter bezeichnete. „Um eine Große Alte. Alles andere ist der Ehre zu viel. Du wirst Schwierigkeiten haben, Sie festzunehmen, fürchte ich, da Sie zu dieser Welt keinen Zugang hat.“
„So etwas hast du schon mal gesagt, aber wie kannst du dir da sicher sein? Euer Wissen basiert auf Legenden, die so alt sind, dass man gar nicht sagen kann, wann sie überhaupt entstanden sind.“
„Wenn Sie hier wäre“, entgegnete er grimmig, „müsstest du dir über das Band der Gefährten gar keine Gedanken machen. Dann wäre ich schon tot. Wie die meisten anderen aus meinem Clan und die Mehrheit der Lupi auf dieser Erde. Ganz zu schweigen von den Menschen, die sie als Bedrohung ansieht – den Präsidenten, Kongressabgeordnete, bestimmte Militärs.“
„Okay, jetzt machst du mir allmählich Angst.“
„Gut.“ Doch sie hatte auch vorher schon Angst gehabt. Je näher sie dem Laden gekommen waren, desto mehr Angstgeruch hatte er wahrgenommen. „Du willst mir nicht zufällig sagen, warum es dir so an die Nieren geht, Ginger zu sehen?“
Lily schaute mit verschlossener Miene zur Seite. „Manchmal wäre Gedächtnisschwund ein echter Segen. Willst du dir nicht die Haare schneiden oder die Nägel maniküren lassen, während ich mit ihr rede? Zwischen Haartrocknern und Schlammpackungen wird mich schon niemand überfallen.“
„Danke, meine Nägel sind in Ordnung.“ Er fragte sich, ob sie wusste, dass sie ihn an der Taille gefasst hatte. „Ich werde mich nicht einmischen, Lily.“
Sie sah zu ihm auf, kniff unwirsch die Lippen zusammen und zog ihre Hand fort. „Komm mir nicht so nah! Es macht keinen guten Eindruck, wenn ich an dir rumfummele, während ich eine Vernehmung durchführe.“
22
Ginger hat es weit gebracht, dachte Lily, als sie den Schönheitssalon betrat. Venezianischer Stuck an den Wänden, Schieferfliesen auf dem Boden, ein Kristallleuchter an der Decke und eine Empfangsdame hinter einem antiken Schreibtisch, die wie Julia Roberts in Blond aussah.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau mit einem freundlichen Lächeln. Erstaunlicherweise würdigte sie Rule kaum eines Blickes.
Es hatte seine Nachteile, als sachverständige Beraterin tätig zu sein. Lily wollte schon ihre Marke aus der Tasche ziehen, als es ihr wieder einfiel. „Ich würde gern mit Ms. Harris sprechen. Sie ist bestimmt sehr beschäftigt, aber ich bin eine alte Freundin von ihr.“ Lily lächelte. „Sagen Sie ihr, Lily Yu möchte sie sehen.“
„Eine alte Freundin?“, fragte Rule leise, als die Frau zum Haustelefon griff.
„Später.“
Die Empfangsdame legte nach einem kurzen Gespräch wieder auf und erhob sich. „Kommen Sie bitte mit!“
Lily folgte der eins achtzig großen, modisch gekleideten und mageren Blondine in den eigentlichen Salon, einen schicken großen Raum mit drei Meter hohen Palmen, dem Geruch von Chemikalien, dekorativen Kacheln und vielen Frauen. Mit Unmengen von Frauen. Jede einzelne starrte Rule an, als sie an ihnen vorbeigingen.
Ob die Empfangsdame lesbisch war?
Durch die Tür am anderen Ende des Raumes erreichten sie einen funktionelleren Bereich: einen kleinen, mit Teppich ausgelegten Flur mit Türen, die nach links und rechts abgingen. Lily unternahm den halbherzigen Versuch, sich einzureden, sie habe vor Erleichterung Herzklopfen. Sie war nicht sicher gewesen, ob Ginger sie empfangen würde.
Aber vor Erleichterung bekam man keine feuchten Hände.
Sie blieben vor der Tür zur Linken stehen. Der Julia-Roberts-Klon klopfte kurz an, öffnete die Tür und trat lächelnd zurück.
Gingers Büro war mit teurem Kitsch eingerichtet: eine Neonpalme in einer Ecke, pinkfarbene Plüschsessel für Besucher, ein Schreibtisch aus Chrom und Glas. Ginger saß jedoch nicht an ihrem Schreibtisch, sondern stand am Fenster, als sei sie in die Aussicht vertieft. Sie trug ein kurzes fuchsiafarbenes Stretchtop und eine enge Hüfthose, die ihr Bauchnabelpiercing voll zur Geltung brachte.
Sie drehte sich um, als die Tür ins Schloss fiel – und zog die Augenbrauen hoch. „Rule! Mit dir habe ich nicht gerechnet. Aber da du schon mal hier bist …“ Sie sah Lily an und grinste anzüglich. „Wir könnten einen flotten Dreier machen. Das Zweiersofa ist zu klein, aber man hat ja immer noch den Boden.“
Zu ihrem größten Ärger merkte Lily, dass sie errötete. „Heißt das, du hättest nichts gegen Sex mit einem Mörder? Besser gesagt, mit einem Mann, dem du einen Mord anhängen wolltest?“
„Na, du gehst aber ran!“ Ginger schüttelte den Kopf, und Lily glaubte, in ihren Augen ganz kurz einen Ausdruck von Gekränktheit gesehen zu haben. „Tja, aber du hast mich vermutlich nicht aufgesucht, um mit mir über die alten Zeiten zu plaudern.“
„Richtig. Ich sollte wohl noch erwähnen, dass ich nicht als Cop hier bin. Ich berate das FBI bei seinen Ermittlungen.“
„Das FBI?“ Ginger fuhr sich mit der Hand in ihr kurzes rotes Haar und zupfte es zurecht. „Ist ja Wahnsinn! Sagte ich schon, dass ich bi bin?“ Sie musterte Lily von Kopf bis Fuß und setzte wieder ihr katzenhaftes Lächeln auf. „Hübsche Jacke!“
„Danke. Wer hat dich zu der Lüge verführt, du hättest Turner gestern Abend gesehen?“
„Ich habe nicht gelogen.“ Sie sah Rule an und zuckte mit den Schultern. „Ich wollte dich natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen, Schätzchen.“
„Wie du siehst, waren die Schwierigkeiten auch nur von kurzer Dauer.“ Sein Lächeln war eiskalt. „Ich glaube, wenn man das FBI belügt, bekommt man weit mehr Ärger.“
„Könnte sein, dass ich mich getäuscht habe, aber ich dachte wirklich, du bist es.“ Sie wies auf die Plüschsessel. „Setzen wir uns doch. Kann ich euch etwas anbieten? Wir haben einen guten Chardonnay da, aber ihr könnt auch Zitronenlimonade haben, wenn ihr dienstlich und trocken bleiben wollt.“
Sich auf einen Plausch mit Ginger einzulassen, würde rein gar nichts bringen. Dann plapperte sie nur dummes Zeug, flirtete mit ihnen und verriet ihnen nichts Brauchbares.
Lily ging auf sie zu. „Diese Leute, die du schützt, das sind die wirklichen Mörder. Weißt du, was sie Therese Martin angetan haben? Sie haben ihr die Eingeweide herausgerissen! Sie haben sie furchtbar zugerichtet, und das in ihrer eigenen Wohnung, wo sie sich sicher fühlte.“
Ginger fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Das ist natürlich ganz schrecklich, aber es hat nichts mit mir zu tun. Vielleicht habe ich mich geirrt, was die Person angeht, die ich aus dem Haus kommen sah, vielleicht auch nicht. So oder so, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“
„Was hast du überhaupt dort gemacht? Ich meine, nicht an diesem Abend – da warst du wohl im Club –, sondern am Tag danach, als du die Streifenwagen vor dem Haus gesehen hast und hingegangen bist, um zu sehen, was da los war.“
„Mensch, das klingt schon komisch, so wie du es ausdrückst.“ Ginger legte den Kopf schräg und strich Lily mit den Fingern über die Wange. „Hör mal, Süße, deine Haut ist gut, aber dein Make-up hat nicht den richtigen Farbton. Du siehst viel zu blass aus. Ich könnte ein paar Produkte von unserer Hausmarke für dich zusammenstellen. Die würden dir bestimmt gefallen.“
Lily hatte gar kein Make-up im Gesicht. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Dafür, dass du nicht als Cop hier bist, klingst du aber sehr danach!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber was soll’s. Ich habe es dem anderen Polizisten auch schon erzählt. Ich hatte meine Tasche im Club vergessen, was mir erst aufgefallen ist, als ich das Taxi bezahlen wollte.“ Sie verzog das Gesicht. „Der Fahrer war nicht sehr verständnisvoll, das kann ich euch sagen. Ich musste meine Nachbarn wecken und mir Geld von ihnen leihen, und die waren auch nicht besonders freundlich. Am nächsten Tag bin ich zurück in den Club, um mir meine Tasche zu holen.“
„Warum bist du mit dem Taxi nach Hause gefahren?“
Ginger verdrehte die Augen. „Unter uns gesagt, Süße, habe ich ein kleines Problem mit meinem Führerschein. In letzter Zeit bin ich nur mit dem Taxi unterwegs.“
„Das Hell ist zwei Blocks von Therese Martins Wohnung entfernt. Wie konntest du Turner da deutlich genug erkennen, um ihn zu identifizieren?“
„Wir sind an dem Haus vorbeigefahren, Süße. Ich weiß nicht, ob der Taxifahrer ihn auch gesehen hat, aber meiner Aufmerksamkeit entgeht Rule grundsätzlich nicht.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln.
Lily nickte nachdenklich und fragte sich, ob sie – wer immer sie waren – es so arrangiert hatten, dass ein Mann genau zu dem Zeitpunkt Thereses Haus verlassen hatte, als das Taxi vorbeifuhr. „Eine gute Geschichte, Ginger. Hieb- und stichfest.“
„Geschichte?“ Ginger zog überrascht ihre dünnen Augenbrauen hoch. „Süße, ich denke mir keine Geschichten darüber aus, wo ich hingehe und was ich vorhabe. Das habt ihr getan, du und Sarah!“
Lily blieb fast das Herz stehen. War es meine Schuld?, dachte sie. Hast du mich all die Jahre dafür verantwortlich gemacht? Ich hätte nein sagen können, hätte es Sarah ausreden können … Sie atmete tief durch. „Sehr schön. Treffer. Aber ich bin keine acht mehr, und heute kann ich zurückschlagen. Daran solltest du lieber denken, denn du wirst mich als Freundin brauchen. Du steckst bis zum Hals in der Scheiße, auch wenn du zu blöd bist, es zu merken!“
Ginger funkelte sie wütend an. „Aber, aber! Wir wollen doch nicht unflätig werden!“
„Denk doch mal nach! Wenn du den Mörder gesehen hast, bist du in Gefahr. Und wenn nicht – wenn du aus irgendeinem Grund gelogen hast –, dann ist die Gefahr für dich sogar noch größer.“
„Wie lieb, dass du dir um mich Sorgen machst!“ Ginger senkte die Stimme. „Arme kleine Lily“, säuselte sie. „Sicherheit ist dir sehr wichtig. Aber nach dem, was passiert ist, kann man dir das auch nicht verdenken. Bist du zur Polizei gegangen, weil du dich mit Waffe und in Uniform sicherer fühlst?“
Noch ein Treffer, dachte Lily. Auf Schläge unter die Gürtellinie hatte sich Ginger schon immer verstanden. „Der Punkt ist, Ginger, dass ich weiß, dass du den Mörder nicht gesehen hast. Weil er nämlich gar nicht da war.“
Wieder gingen die dünnen Augenbrauen hoch. „Na, das ist ja ein Ding! Er hat sie getötet, ohne da aufzukreuzen?“
„Ja. Therese wurde nicht von einem Lupus umgebracht. Sie wurde mit Hilfe von Zauberei getötet.“
Plötzlich glomm Angst in Gingers ausdrucksvollen Augen auf, und sie lachte nervös. „Du hast zu viele Schundfilme gesehen!“
„Ich sagte doch, dass ich für das FBI tätig bin. Die haben den Fall jetzt übernommen. Mord mit magischem Hintergrund ist ein Verbrechen, das nach Bundesrecht geahndet wird … und das einzige, das ohne große Umstände mit dem Tode bestraft wird.“
Zunächst schwieg Ginger. Dann zuckte sie verächtlich mit den Schultern und wendete sich ab. „Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit, Schätzchen. Es ist sehr nett, dass du mich so ausführlich über diese faszinierenden Dinge informierst, aber …“
Lily fasste sie am Arm. „Hör mir zu! Sie brauchen dich nicht mehr. Wir wissen, dass Turner es nicht getan hat, also bist du überflüssig. Du glaubst, sie tun dir nichts, solange du den Mund hältst, aber für sie stellt sich die Sache anders dar. Du könntest deine Meinung ja ändern. Solange du lebst, könntest du jederzeit auspacken. Und derjenige, der Therese getötet hat, braucht nur mit den Fingern zu schnippen, damit dein Herz aufhört zu schlagen.“
„Oho.“ Ginger gab sich abgeklärt, aber es gelang ihr nicht so recht. „Du hast aber eine blühende Fantasie!“
Lily sagte nichts und hoffte, dass Gingers Fantasie ihr die Überzeugungsarbeit abnahm.
Ginger schaute weg, spielte an ihrem Ohrring herum und sah sie wieder an. „Und was passiert, wenn ich dir sage, dass mich jemand gebeten hat, das auszusagen? Bekomme ich dann Schwierigkeiten?“
„Ich denke, ich kann dafür sorgen, dass du nicht wegen Behinderung der Justiz angeklagt wirst.“
„Nun.“ Ginger biss sich auf die Lippen und sah sich unsicher um, als brauche sie Bestärkung. Ihr Blick blieb an Rule hängen, der an der Tür stehen geblieben war. „Also gut.“ Sie seufzte schwer. „Es war Cullen. Er hat mich gebeten, das zu sagen.“
„Cullen Seabourne?“
Sie nickte und schob die Unterlippe vor wie ein schmollendes Kind. „Zwischen uns läuft seit einer Weile ab und zu mal was. Wie das so ist mit Lupi. Aber wenn was läuft … oh Mann!“ Ein selbstgefälliges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „In letzter Zeit allerdings nicht mehr so häufig, und ich hatte gehofft, ich könnte das ändern. Ich wusste nicht, was er mit dieser armen Frau vorhatte, aber dass er Rule Scherereien machen wollte, das habe ich mir wohl schon gedacht. Mir war nur nicht klar, welche. Ehrlich nicht!“
„Sie lügt“, sagte Rule und knallte die Wagentür zu.
„Vielleicht.“ Lily legte ihren Sicherheitsgurt an. „Seabourne ist und bleibt unauffindbar.“ Sie sah Rule an. „Das hast du gut gemacht. Du bist cool geblieben.“
„Das war nicht einfach“, entgegnete er grimmig. „Lily, ich kenne Cullen. Er hat nichts damit zu tun.“
Aber es passte unheimlich gut zusammen. Sie suchten einen Zauberer, und er war der einzige, den Lily kannte. „Seid ihr eng befreundet?“
„Ja. Ich weiß, es sieht nicht gut für ihn aus, aber Ginger ist nicht gerade die verlässlichste Zeugin.“
„Nein, wenn man bedenkt, dass sie schon einmal gelogen hat. Aber was hätte sie davon, ihn zu beschuldigen?“
„Es könnte sein, dass sie sich auf diese Weise schützen will, aber ich tippe auf pure Gehässigkeit.“
„Hmm. Hat sie denn nun tatsächlich ein Verhältnis mit Seabourne?“
„Verhältnis ist zu viel gesagt. Cullen hat keine Beziehungen. Nur Sex.“ Rule fuhr aus der Parklücke auf die Straße. „Jetzt hast du zwar keine gute Meinung von ihm, aber Promiskuität ist ja wohl etwas anderes, als Frauen zu zerfleischen.“
Lily überlegte. „Ginger fällt das Lügen nicht schwer, aber sie hatte wirklich Angst.“
„Du kannst ja auch ziemlich Furcht erregend sein.“
„Wie lange kommt sie schon in den Club? Ist sie eins von deinen Groupies, oder mag sie Lupi im Allgemeinen?“
„Sie steht auf Sex mit Lupi, aber mit mögen hat das nichts zu tun.“ Er schaute kurz zu ihr herüber, dann wieder auf die Straße. „Ich war nicht mit Ginger im Bett.“
„Danach habe ich nicht gefragt.“
„Aber du hast es laut genug gedacht“, entgegnete er trocken. „Sie hat Angst vor uns. Das fand ich immer ziemlich abtörnend.“
Lily stutzte. „Sie sucht eure Gesellschaft, weil sie Angst vor euch hat?“
„Sie steht drauf. Angst erregt sie.“
Das passte in das Bild, das Lily von Ginger hatte. „Ich würde gern … Aber was wollen wir denn hier?“ Rule war auf den Parkplatz eines Restaurants an der Strandpromenade gefahren.
„Essen.“ Er stellte den Motor ab und sah sie an. „Und diesmal werde ich dir ein paar Fragen stellen.“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Ich schon, aber es eilt nicht. Du hast gesagt, du würdest es mir später erzählen. Jetzt ist später.“
„Heute Abend ist auch später.“ Die Begegnung mit Ginger hatte ihr als Ausflug in die Vergangenheit eigentlich gereicht. Mehr musste nicht sein. „Schau, in der Grundschule war ich mit Gingers Schwester befreundet, und damals ist etwas Schlimmes passiert. Aber das ist lange her, und jetzt habe ich zwei Morde aufzuklären.“
„Aber es bedrückt dich. Ich will dir doch nur helfen.“
Lily schaute aus dem Fenster. Jenseits des Parkplatzes war zwischen den Gebäuden ein Stück Meer zu sehen. Tiefblau war es an diesem Tag und glitzerte in der Sonne, die vom wolkenlosen Himmel herabschien. Vor zwanzig Jahren waren Himmel und Meer grau gewesen. Grau und düster.
Ihre innere Stimme drängte sie, es ihm zu sagen. Ihm zu vertrauen.
Aber sie konnte es nicht. Sie löste ihren Sicherheitsgurt. „Ich kann nicht darüber reden. Ich habe noch nie mit jemandem darüber geredet.“
„Noch nie?“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
Lily spürte die Wärme sofort. Die Bindung. Sie schüttelte den Kopf.
„Ist schon gut. Du musst es mir nicht sagen, aber das Band der Gefährten ist nicht nur dem Sex zuträglich, sondern auch anderen Dingen, wenn du es zulässt.“
Lily schaute wieder aus dem Fenster und beobachtete die Möwen am strahlend blauen Himmel. Zuerst hatten alle mit ihr darüber reden wollen – die Cops, ihre Mutter, die Therapeutin. Sie war nicht dazu fähig gewesen. Einzelne Teile hatte sie zwar erzählt, aber noch nie die ganze Geschichte. Noch nie den schlimmsten Teil.
Aber das war schon lange her. Es hatte sie seither niemand mehr danach gefragt.
Vielleicht, so überlegte sie, war sie ja nun dazu in der Lage. Vielleicht hatte sie lange genug geschwiegen.
Sie bückte sich und zog ihre Schuhe aus. „Gehen wir zum Strand!“
Am Wasser war überraschend wenig los. Aber zu dieser Jahreszeit kamen Familien natürlich fast ausschließlich an den Wochenenden her.
„Jetzt brauchen wir nur noch einen Sonnenuntergang“, sagte Lily, „dann ist es wie in der Werbung. Wir geben doch ein perfektes kalifornisches Paar ab – barfuß, Hand in Hand, am Strand. Und du bist ja weiß Gott fotogen genug.“
„In Spots dieser Art lächeln die Leute aber immer.“
„Das ist mir gerade vergangen.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie es konnte oder überhaupt wollte. „Machen wir es kurz.“
„Gut. Du kennst Ginger von früher.“
„Es ist jetzt zwanzig Jahre her. Letzten Monat waren es zwanzig Jahre.“ War es verrückt, auf den Tag genau zu wissen, wie lange es her war? Nein, dachte sie. Traurig vielleicht, aber unabänderlich. „Ihre Schwester war in der Grundschule meine beste Freundin. Ich habe oft bei ihr übernachtet und nach der Schule mit ihr gespielt. Also habe ich auch Ginger oft gesehen.“
„Gefiel sie dir früher besser?“
Lily lächelte bitter. „Nein. Sie war die große Schwester, die natürlich auf uns Kleine herabgesehen hat. Aber damals war Ginger ein braves Mädchen, ob du es glaubst oder nicht. Sarah …“ Ihr stockte der Atem. Es kam nicht oft vor, dass sie diesen Namen laut aussprach. „Sarah war diejenige, die immer Dummheiten gemacht hat.“
„Dass du jemals Dummheiten gemacht hast, kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Ich war ein ziemlicher Tugendbold. Ich habe brav meine Hausaufgaben gemacht, mich nie vorgedrängelt und nicht im Unterricht gequasselt. Aber Sarah hat mich irgendwie lockerer gemacht. Sie hat mich zu allem Möglichen überredet. Einmal haben wir die Schule geschwänzt“, erzählte Lily abgehackt.
Rules Hand lag warm und entspannt um ihre. „Keine große Sache.“
„Sollte man meinen.“ Lily ging eine Weile schweigend weiter, doch das Blut schien plötzlich schneller durch ihren Körper zu pulsieren, als wollte es sie drängen fortzufahren. „Wir konnten unsere Lehrerin nicht leiden, und irgendwie fanden wir es nur vernünftig, sie mit Schwänzen zu bestrafen. Wir hatten alles genau geplant: wie wir uns vor Unterrichtsbeginn wegstehlen wollten, welchen Bus wir nehmen würden und so weiter. Aber das Wetter hatten wir nicht einkalkuliert. Es gab ein schweres Gewitter, und es war kaum jemand am Meer. Zuerst waren wir sauer, aber dann fanden wir es cool. Wir hatten den Strand fast für uns allein.“
„Was ist passiert, Lily?“
„Wir wurden entführt.“
Rule sog hörbar die Luft ein. Seine Finger umklammerten ihre einen Moment lang so fest, dass es schmerzte.
„Er war ein freundlicher Mann.“ Im Grunde war es nur die Schilderung eines Tathergangs, dachte sie. Sie hatte schon unzählige Berichte über genauso üble und noch schlimmere Fälle verfasst. „Er erinnerte mich an den Weihnachtsmann, nur ohne Bart. Er wirkte großväterlich. Er fing einfach an, mit uns zu reden, und hat uns aufgezogen, weil wir die Schule schwänzten. Zuerst habe ich ihm nicht geantwortet. Ich habe Sarah gesagt, dass wir nicht mit Fremden sprechen dürften. Da hat sie ihn nach seinem Namen gefragt, ihn mir vorgestellt und gesagt, dass er nun kein Fremder mehr sei. Sie fand das wahnsinnig clever.“
Lily blieb stehen und schaute zu den Möwen hoch, die ihre Kreise über dem glitzernden Meer zogen. An dieser Stelle geriet sie immer ins Stocken; es war der Punkt, an dem sie nicht weiterkam. Sie spürte einen Druck in der Brust, als stauten sich dort die Worte, und bekam fast keine Luft mehr.
Rule trat hinter sie und begann sanft ihre Arme zu reiben. Auf und ab, auf und ab. Die gleichmäßigen Bewegungen machten sie ruhiger. Es war ein gutes Gefühl. Er stand hinter ihr, ohne sie zu bedrängen, ohne Fragen zu stellen oder sie mit seinem Entsetzen, mit seinen Empfindungen zu konfrontieren. Er war einfach nur da.
Und mit einem Mal strömten die Worte nur so aus ihr heraus. „Er hat uns dazu gebracht, mit ihm zu seinem Auto zu gehen. Er hat nicht versucht, uns dazu zu überreden. Das hätte uns Angst gemacht. Er sagte einfach nur, er brauche jemanden, der ihm hilft, seine Picknicksachen zum Strand zu tragen, und dass wir doch bestimmt hilfsbereite kleine Mädchen seien. Wir gingen mit ihm. Wir dachten nicht an den Kofferraum und dass es gefährlich werden könnte.“ Lily hielt kurz inne.
„Er hat sie geschlagen. Da versuchte ich zu fliehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich auch geschlagen hat, aber irgendwann wurde ich in seinem Kofferraum wach. Mein Kopf schmerzte, und ich hatte mich übergeben. Das merkte ich an dem Geschmack in meinem Mund. Sarah weinte. Bei jeder Kurve stießen wir aneinander, aber wir konnten uns nicht sehen. Es war so dunkel. Es war, als könnte man nicht atmen, als raubte einem die Finsternis die ganze Luft …“ Angesichts der grauenhaften Erinnerungen stockte ihr der Atem.
„Ganz ruhig.“ Rule schlang die Arme um sie. „Ruhig ein- und ausatmen, Lily. Du bist in Sicherheit.“
Da irrte er sich. Es gab keine Sicherheit. Aber seine Arme fühlten sich tröstlich an. Lily lehnte sich an ihn, und nach einer Weile fuhr sie leise fort: „Er ist bis zum Abend durch die Gegend gefahren, dann hat er uns zu seinem Haus gebracht. Sarah war ein hübsches kleines blondes Mädchen in Rosa und Weiß. Das war ihr Unglück. Er hat mich gefesselt; ich sollte wohl später drankommen. Aber ich war dabei. Ich war dabei, als er sie vergewaltigt hat.“
Rule erschauderte.
„Ich glaube nicht, dass er beabsichtigt hatte, sie zu töten. Er sah so überrascht aus.“ Das war mit das Schlimmste gewesen. Die Überraschung in seinem Gesicht, als Sarah aufhörte, sich zu bewegen. Als ihre Beine nicht mehr strampelten und ihre Augen ins Leere starrten. Er hatte sie erwürgt, schien aber keinen Zusammenhang zwischen dem, was er getan hatte, und ihrem Tod herstellen zu können. „Er bekam Angst. Er wollte von mir bestätigt haben, dass es ein Unfall gewesen war, ein Missgeschick, und ich pflichtete ihm in allem bei, was er sagte.“
Rule ließ sein Kinn auf ihren Kopf sinken. Nun hielt er sie fest umschlungen, und es tat gut. Es half ihr. Er sagte kein Wort, und auch das tat gut. Sie blieb eine Weile regungslos stehen und nahm den Trost in sich auf, den er ihr schweigend spendete. „Ich habe Glück gehabt“, sagte sie schließlich. „Damals wusste ich es nicht, aber jemand hatte gesehen, wie er uns in den Kofferraum packte. Eine Joggerin. Sie hatte sich das Kennzeichen gemerkt. Die Polizei hatte schon stundenlang nach dem Wagen gesucht. Sie kamen gerade noch rechtzeitig … um mich zu retten. Für Sarah kam jede Hilfe zu spät.“
Sie schluckte. „Er hat mich nicht vergewaltigt. Der Polizeibeamte, der das Auto entdeckte, meldete es zwar sofort, aber er wartete nicht auf Verstärkung. Er trat die Tür ein. Er ist allein reingekommen, gegen die Vorschriften. Später sagte er, er habe das Gefühl gehabt, nicht länger warten zu dürfen. Er war damals Streifenpolizist, erst ein paar Jahre im Dienst. Er hieß Frederick Randall.“
„Scheiße.“
„Ja.“ Ihre Stimme zitterte, aber sie fasste sich wieder. „Deshalb musste ich zur Dienstaufsicht gehen. Wegen dieser Geschichte konnte ich nicht sicher sein, dass ich ihn unbefangen beurteile. Aber er fühlt sich von mir verraten. Ich habe ihn gekränkt.“
„Du hast gesagt, er sei durch und durch ein Cop. Das bedeutet, dem Job den Vorrang vor allem anderen zu geben. Und genau das hast du getan. Das wird er früher oder später einsehen.“
„Mag sein.“ Sie war nicht so recht davon überzeugt. Vielleicht, weil sie nicht sicher war, ob sie Randall jemals vergeben konnte, dass er ihr misstraut hatte. „Weißt du, Ginger hatte recht. Ich bin zur Polizei gegangen, um mich sicherer zu fühlen. Wenn man am eigenen Leib erfahren hat, was für Monster es gibt, dann will man alles dafür tun, dass diese Monster hinter Gitter kommen. Und um sie zu bekämpfen, will man so viele Mitstreiter auf seiner Seite haben wie nur irgend möglich.
Er war ihr so nah, dass sie hörte, wie er schluckte. „Deshalb wolltest du zum Morddezernat.“
„Ein Mord vernichtet nicht nur ein Leben. Auch im Umfeld des Opfers richtet er verheerende Schäden an … Der Schock hat bei Ginger irgendetwas kaputtgemacht. Mit elf war sie eine Nervensäge, aber viele Mädchen in diesem Alter nerven andere; besonders ihre kleinen Schwestern und deren Freundinnen. Aber sie war längst nicht so verdreht wie heute.“
„Du hast sie gewarnt. Du hast ihr Hilfe angeboten. Mehr konntest du nicht tun.“
Lily sagte nichts. Ein Jogger kam an ihnen vorbei. Trotz der Hundeverbotsschilder lief sein großer schwarzer Labrador fröhlich hechelnd neben ihm her.
„Wie ist das?“, fragte sie leise, während sie den Hund beobachtete. „Ich meine, wie ist es, ein Wolf zu sein? Denkst und fühlst du dann wie ein Wolf?“ Fühlte man sich dann sicher? Weil man wusste, dass man stärker und schneller war und fast alle Wunden heilen konnte, die einem zugefügt wurden?
„Der Wolf ist immer im Menschen, und der Mensch ist immer auch im Wolf. Ich bin in jeder Gestalt ich selbst, auch wenn es nicht ein und dasselbe ist. Bist du noch du selbst, wenn du schläfst? Wenn du träumst?“
„Ich verstehe, was du meinst.“ Sie wandte ihm das Gesicht zu, um seinen Duft einzuatmen. Er beruhigte sie.
Ihre unausgesprochene Frage hatte er damit nicht beantwortet, aber es war auch eine dumme Frage gewesen. Niemand war auf Dauer in Sicherheit. Und nur allzu häufig hatten die Monster, die seinen Leuten Schaden zugefügt hatten, eine Marke getragen. „Ist es ein Problem für dich, dass ich ein Cop bin?“
„Eine Komplikation“, entgegnete er trocken. „Lily?“
„Ja?“
„Was ist mit ihm passiert?“
Es war die einzige Frage, die er dazu stellte. Sie atmete tief durch. Der Druck in ihrer Brust war weg. „Er hat dreizehn Jahre im Todestrakt gesessen. Hat x-mal Berufung eingelegt, aber schließlich wurde er doch hingerichtet.“
„In den Clans regeln wir die Dinge zwar anders, aber in diesem Fall hat euer System letztlich doch funktioniert.“
„Die Möglichkeit, in Berufung zu gehen, hat durchaus ihren Sinn. Polizei und Justiz können auch Fehler machen. Aber er war von seiner Verhaftung an die ganze Zeit eingesperrt. Er konnte sich nicht mehr an kleinen Mädchen vergreifen.“
Rule schwieg. Sie schmiegte sich noch ein bisschen fester an ihn. Es war gar nicht so schlimm gewesen, es ihm zu erzählen. Es war ihr leichter gefallen, als sie gedacht hatte … Vielleicht hatte sie aber auch ihre Bindung dazu gebracht, ihm zu vertrauen.
Doch im Moment spielte der Grund keine Rolle. Sie fühlte sich … so klar im Kopf. Als sei die Geschichte dadurch, dass sie sie erzählt hatte, fester in der Vergangenheit verankert worden. Lily drehte sich um und sah Rule in die Augen. „Bereit zur Monsterjagd?“
„Wen willst du dir vorknöpfen?“
„Den Most Reverend Patrick Harlowe.“
23
Harlowe war nicht in der Kirche. Lily hatte gehofft, dass wieder der hilfsbereite kleine Mann da war – und sich noch an sie in ihrer Funktion als Detective erinnerte, damit sie sich nicht mit unnötigen Erklärungen aufhalten musste. Aber er war nicht da, und die Sekretärin begegnete ihrem Wunsch, den Kirchenführer zu sprechen, mit äußerster Zurückhaltung. Von ihr erfuhren sie nicht viel.
Ebenso erfolglos versuchten sie es bei Harlowe zu Hause. Lily starrte frustriert die Tür an – spanischer Stil, handgeschnitzt und sehr alt. Sie passte zu der repräsentativen Dreihundert-Quadratmeter-Villa. „Der Reverend wohnt ganz nett, nicht wahr?“
„Die Religion war gut zu ihm“, pflichtete Rule ihr bei. „Und jetzt?“
„Zu den Nachbarn. Dann Mittagessen.“
Zwei von Harlowes Nachbarn waren zu Hause. Ihre Beschreibungen des Mannes passten zu seinem Haus: kultiviert, gehobener Mittelstand, gesellschaftsfähig. Die Frau, mit der sie zuerst sprachen, mochte ihn nicht besonders, obwohl sie es nicht ausdrücklich sagte; das ältere Paar hatte hingegen eine hohe Meinung von ihm.
Sie aßen gerade Tacos mit Meeresfrüchten, als Lilys Handy klingelte. „Yu hier.“
„Lily?“ Das war Gingers Stimme, schrill und angsterfüllt. „Kannst du schnell herkommen? Ich bin zu Hause und ich … Ich glaube, jemand beobachtet mich.“
„Hast du es schon gemeldet?“
„Bei der Polizei, meinst du? Nein! Nein, das kann ich nicht – da gibt es doch Verbindungen! Du weißt, wen ich meine. Du musst sofort kommen!“
„Wir sind gleich da!“
„Beeilt euch!“ Ginger legte auf.
Lily besprach sich rasch mit Rule, griff nach ihrer Handtasche, und dann lief sie auch schon zum Auto.
Gingers Apartment lag auf der anderen Seite der Stadt. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, klingelte Lilys Handy abermals. Diesmal war es Karonski.
„Ich bin auf interessante Verbindungen zwischen der Kirche der Glaubenstreuen und der kleinen Kirche gestoßen, die Sergeant Meckle besucht. Wir fahren jetzt los, um uns mit Harlowe zu unterhalten.“
„Viel Glück! In seiner Kirche und zu Hause habe ich ihn nicht gefunden.“ Schweigen in der Leitung. „Stimmt“, sagte sie und rieb sich den Hals. „Ich hätte es mit Ihnen absprechen sollen. Ich denke immer noch, es ist mein Fall. Tut mir leid. Jetzt sind wir unterwegs zu Ginger Harris.“ Diesmal informierte sie ihn ordnungsgemäß. „Sie glaubt, sie wird beobachtet.“
„Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob Sie nicht auch zu dem Treffen mit Harlowe kommen möchten.“
„Sie haben ihn tatsächlich aufgespürt?“
„Ich habe ihn auf seinem Handy erreicht. Er ist gerade auf der Rückfahrt von L.A. Wir treffen uns in zwanzig Minuten mit ihm in Oceanside.“
„Verdammt!“ Lily wollte furchtbar gern bei diesem Gespräch dabei sein, aber vielleicht war Ginger wirklich in Schwierigkeiten – oder so verängstigt, dass sie noch ein paar Informationen herausrückte. „Ich werde wohl Ihren Bericht lesen müssen.“
Er kicherte. „Ich informiere Sie ausführlich. Ich habe hier an der Rezeption einen Schlüssel für Sie hinterlegt. Wenn Sie vor uns fertig sind, gehen Sie doch ruhig schon hoch, und machen Sie es sich bequem. Bestellen Sie, was Sie wollen, solange Sie sich auf das Kaffeeangebot beschränken.“ Damit legte er auf.
Es war kurz vor fünf, als sie sich wieder von Ginger verabschiedeten. Sie war angetrunken gewesen und hatte sich nicht gerade von ihrer besten Seite gezeigt. Sie hatte sie abwechselnd beschimpft, weil sie sie angeblich in Gefahr gebracht hatten, und angefleht, bei ihr zu bleiben und sie zu beschützen.
Sie hatten keine Anzeichen dafür gefunden, dass sie tatsächlich von jemandem beobachtet wurde.
„Was meinst du?“, fragte Lily, als sie wieder ins Auto stiegen. „War das echt, oder hat sie uns nur etwas vorgespielt?“
„Keine Ahnung. Ginger ist eine gute Lügnerin, aber sie hat nach Angst gerochen. Das war nicht gespielt.“ Rule ließ den Motor an. „Sie hat sich tatsächlich gefürchtet, aber der ominöse Beobachter könnte das Produkt von Schuldgefühlen und übermäßigem Alkoholgenuss sein.“
Lily war besorgt. „Ich wünschte, sie hätte sich mit der Unterbringung in einem geheimen Unterschlupf einverstanden erklärt. Nicht dass ich die Befugnis hätte, das anzuordnen, aber Croft könnte es. Vielleicht sollten wir noch hierbleiben und das Haus im Auge behalten.“
„Wir können sie nicht vor Magie schützen, und wie sie treffend bemerkte, wäre sie auch an keinem noch so geheimen Ort davor sicher.“
„Ja, aber …“ Lily schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Sie konnte allerdings nicht genau sagen, was ihr nicht behagte.
„Willst du nicht Karonski anrufen und nachfragen, ob es sich noch lohnt, zu ihnen zu stoßen?“
Oh ja. Aber … „Falls sie noch im Gespräch sind, wirft es vielleicht ein schlechtes Bild auf mich, wenn wir dort auftauchen. Also werde ich mich einfach wie eine Erwachsene benehmen, die den anderen auch ab und zu mal den Ball überlässt.“
„Und was machen wir beide jetzt?“
„Karonski hat etwas von Kaffee gesagt. Fahren wir zu ihrem Hotel. Mal sehen, ob ich meine Gehirnzellen mit Koffein in Bewegung setzen kann. Ich muss nachdenken.“
Rule fand, dass er in den vergangenen Tagen schon zu viel schlechten Kaffee getrunken hatte. Er machte unterwegs bei einem kleinen Spezialitätengeschäft Halt und kaufte Kaffeebohnen, eine Kaffeemühle und eine französische Presskanne. Lily schien zwischen Belustigung und Verzweiflung zu schwanken, bis er ihr erklärte, dass er auch bei ihr zu Hause anständigen Kaffee trinken wolle. Dann verfiel sie in Schweigen und grübelte ganz offensichtlich darüber nach, wie es nur dazu hatte kommen können, dass ausgerechnet er ihr auferlegt worden war.
Wegen dieses Zwischenstopps und weil der Verkehr immer dichter wurde, waren die beiden anderen dann doch vor ihnen da. Croft und Karonski logierten im zehnten Stock eines Hotels, das auf Suiten für Geschäftsreisende spezialisiert war. Das Wohnzimmer war auf hoteltypische, unpersönliche Art recht nett eingerichtet und verfügte über den üblichen Komfort, einschließlich eines runden Tischs mit vier Stühlen. Eine echte Verbesserung im Vergleich zu den Konferenzmöglichkeiten in Lilys Wohnung, dachte Rule lächelnd. Was die Sauberkeit anging, ließ das Hotel jedoch einiges zu wünschen übrig. Bereits beim Betreten der Suite hatte er einen unerquicklichen Geruch wahrgenommen, den seine menschlichen Begleiter wohl nicht bemerkten. Vielleicht eine tote Maus im Wandschrank.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Lily. „Und was für eine Verbindung gibt es zwischen Mechs Kirche und der Kirche der Glaubenstreuen?“
„Es gibt keine“, entgegnete Karonski mürrisch. „Wir haben uns geirrt.“
Rule trat an den Tisch und packte seine Einkäufe aus. „Wer möchte eine anständige Tasse Kaffee?“
„Ah … danke, ich nicht.“ Karonski hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Er wirkte irgendwie verlegen.
Croft sah ihn missbilligend an. „Was mein Partner gerade nicht aussprechen will, ist, dass wir auf dem Holzweg waren. Die Azá haben mit den Morden nichts zu tun.“
„Was soll das heißen, auf dem Holzweg?“, fuhr Lily auf. „Hat Sie dieser Most Reverend etwa innerhalb von ein paar Minuten davon überzeugen können, dass er eine weiße Weste hat?“
Croft wirkte verärgert. „Wissen Sie, es gibt eben manchmal zufällige Übereinstimmungen. Und wir haben leider voreilige Schlüsse gezogen.“
„Zufällige Übereinstimmungen!“ Lily sah aus, als würde sie am liebsten irgendetwas kaputtschlagen. Crofts Nase zum Beispiel. „Natürlich gibt es da einen Zusammenhang! Und solche Zusammenhänge aufzudecken, darum geht es bei der Polizeiarbeit!“
Croft schüttelte nur den Kopf. „Wir haben das alles ganz falsch interpretiert.“
Rule ergriff das Wort, bevor Lily sich eine Anzeige wegen körperlicher Gewalt gegen einen FBI-Agenten einhandeln konnte. „Harlowe soll doch der Letzte gewesen sein, der mit Fuentes gesprochen hat. Wie hat er sich dazu geäußert?“
„Er hat hundertprozentig kooperiert.“
Rule starrte ihn an. „Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? Nur, dass er kooperiert hat?“
„Sehen Sie.“ Karonski fuhr sich durchs Haar und zerzauste es nur noch mehr. „Wie Martin schon sagte, wir haben voreilige Schlüsse gezogen. Haben es ein bisschen übertrieben. Wir haben keine Beweise dafür, dass Therese Martin durch Zauberei getötet wurde und dass die Kirche der Glaubenstreuen irgendetwas damit zu tun hat. Ein paar alte Legenden, ein ähnlicher Name …“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist im Grunde genommen nicht viel.“
Rule traute seinen Ohren nicht. „Abel“, sagte er leise, „wie viel haben die Ihnen dafür gegeben?“
Karonski sah ihn finster an. „Ich werde so tun, als hätte ich das nicht gehört.“
„Moment, Moment!“, sagte Lily. „Immer mit der Ruhe. Wir wollen uns doch nicht von unseren Gefühlen beeinflussen lassen!“
Erstaunt über ihren plötzlichen Sinneswandel, sah Rule sie an.
Sie wirkte ganz gefasst. Aber sie roch nicht so. Und er hörte, wenn auch gedämpft: Pass auf! Kann sein, dass sie gleich ihre Pistolen ziehen!
Sie hatte sich ihm lautlos mitgeteilt. Ein Trick, auf den Lupi häufig zurückgriffen – doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie davon wusste.
Lily lächelte die beiden Special Agents an. „Rule und ich, wir waren nur überrascht, das ist alles. Ich dachte, wir seien alle auf derselben Seite des Buches, aber anscheinend sind Sie schon bei einem anderen Kapitel angekommen und wollen uns keine Einzelheiten verraten. Habe ich recht?“
„So sieht es aus.“ Croft sah sie bedauernd an.
„Okay. Ich teile zwar Ihre Ansicht nicht, aber Sie sind hier diejenigen mit den Marken. Wenn ich recht verstehe, brauchen Sie mich bei diesem Fall nicht mehr.“
„Wir reisen morgen früh ab. Es gibt hier keinen Fall für uns.“
„Nun.“ Lily zuckte mit den Schultern. „Dann nehmen wir unseren Kaffee und verschwinden. Aber wir gehen im Guten auseinander, nicht wahr?“ Sie streckte die Hand aus – und jetzt kapierte Rule endlich. Er kam unauffällig etwas näher. Und hielt sich bereit.
„Natürlich.“ Offensichtlich erleichtert, erhob sich Croft und schüttelte ihr die Hand.
Rule hörte, wie ihr der Atem stockte.
„Karonski?“ Sie drehte sich um und reichte auch ihm die Hand. „Keine Ressentiments?“
Karonski wirkte eher verwirrt als erleichtert. „Sie müssen doch nicht …“ Er schüttelte den Kopf und sah ihre Hand an, dann ergriff er sie schließlich und drückte sie kurz. „Sorry, ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte.“
Lily zog ihre Hand zurück und hielt sie etwas von ihrem Körper weg. Dann sah sie Rule an, um sich zu vergewissern, dass er bereit war. Er nickte. Sie trat einen Schritt zurück, damit sie etwas mehr Abstand zu den beiden Agents hatte.
Dann sagte sie: „Sie sind verzaubert worden, alle beide!“
„Was?“ Karonski fing an zu lachen. „Guter Witz!“
„Es ist das gleiche Gefühl! Ich bekomme von Ihnen das gleiche unangenehme Gefühl wie von der Magie, mit der Therese Martin getötet wurde.“
„Unmöglich!“, entgegnete Karonski. „Auf meine Schutzbanne kann ich mich verlassen. So kann man Martin und mich gar nicht manipulieren!“
„Überlegen Sie doch mal! Was war Ihre Meinung, bevor Sie mit diesem Mann gesprochen haben? Vergleichen Sie das mit dem, was Sie jetzt denken.“
Croft runzelte die Stirn.
Karonski sah sie irritiert an. „Ich habe meine Meinung geändert.“
„Abel“, sagte Rule, „Sie haben den Tatort selbst untersucht. Warum sagen Sie jetzt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass der Mord mit Hilfe von Magie begangen wurde?“
„Weil …“ Karonski verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Weil das, was ich mit meinen besonderen Fähigkeiten feststelle, nicht als Beweis zulässig ist, außer in bestimmten, äußerst seltenen und genau definierten Fällen.“
„Aber Sie haben doch eindeutig festgestellt, dass diese Frau mit Hilfe von Zauberei getötet wurde, nicht wahr?“
„Definitiv! Die Spuren waren sehr deutlich und rührten ganz ohne Frage von Magie her und …“ Er verstummte. „Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte.“
Lily sah Rule an. „Vielleicht eine Art Beeinflussungszauber? Was weißt du über solche Zauber?“
„Nicht viel.“
Karonski ergriff das Wort. „Die sind in der Regel ziemlich schwach, selbst wenn sie von jemandem mit der Gabe des Charismas … Nanu, das ist komisch! Mir fällt gerade ein, als ich Harlowe sah, habe ich gedacht, dass es mich nicht überraschen würde, wenn er diese Gabe hätte.“
„Wir waren viel zu lange weg“, sagte Croft plötzlich. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn. „Wir waren um halb vier dort. Um halb sechs sind wir hierher zurückgekommen. Aber ich erinnere mich nicht mehr an alles, was dazwischen war. Was haben wir die ganze Zeit gemacht?“
„Scheiße“, sagte Karonski. „Du hast recht. Wir haben etwa zehn Minuten mit ihm gesprochen, und dann … Ich weiß es auch nicht mehr. War vielleicht sonst noch jemand dort?“ Er sah Croft fragend an. „Ist jemand hereingekommen, während wir mit Harlowe gesprochen haben?“
„Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht.“ Croft sah Lily an. „Es stimmt. Jemand hat in unseren Köpfen herumgepfuscht. Auf uns ist kein Verlass mehr.“
Was machte man mit zwei Special Agents, die den Verstand verloren hatten – oder zumindest einen Teil davon?
Lily versuchte, das Ausmaß der Manipulation durch eine Befragung festzustellen. Die beiden Agenten wären nur zu gerne auf sie eingegangen, aber es stellte sich schon bald heraus, dass sie nicht gegen das ankamen, was man ihnen angetan hatte.
Zwanzig Minuten später legte Rule resigniert eine Hand auf Lilys Schulter. „Ich glaube, wir hören lieber auf. Wenn wir sie weiter bearbeiten, richten wir vielleicht bleibende Schäden in ihren Köpfen an.“
Croft saß am Tisch und stierte auf seine Hände. Er war bleich vor Anstrengung. Karonski murmelte unentwegt vor sich hin und betete sich eine ganze Litanei von Gründen vor, warum er seinem Verstand nicht mehr trauen konnte. Jedes Mal, wenn er ins Stocken kam, kehrte er jedoch zu den Gedanken zurück, die man ihm einprogrammiert hatte.
„Sie brauchen ärztliche Hilfe“, sagte Lily. „Oder zumindest irgendeine Art von Hilfe. Ich weiß jedenfalls nicht mehr weiter. Wenn wir sie dazu bringen könnten, ihren Boss anzurufen, dann könnte er …“
Croft sah auf. „Brooks meinen Sie? Den habe ich schon angerufen. Er weiß, dass wir aussteigen.“
„Okay.“ Lily nickte. „Das ist gut. Wissen Sie, Sie sehen ein bisschen blass aus. Vielleicht sollten Sie sich ein wenig hinlegen.“
„Ich …“ Croft rieb sich die Stirn. „Haben wir gesoffen, oder was? Ich kann überhaupt nicht klar denken.“
„Wir steigen nicht aus“, sagte Karonski unvermittelt. „Aber ausschalten müsste man uns für eine Weile. Stellen Sie uns irgendwie ruhig!“
„Das lässt sich arrangieren“, sagte Rule.
Karonski sah ihm in die Augen. „Dann tun Sie es! Tun Sie es, solange ich noch weiß, warum.“
Rule zog sein Handy aus der Tasche. „Lily, sprich mit ihnen über irgendein Thema, das nichts mit dem Fall zu tun hat. Karonski ist ein großer Basketballfan.“
Karonski fiel es wahrhaftig nicht schwer, sich über Basketball zu unterhalten. Croft hatte jedoch überhaupt kein Interesse daran. Er war in einem schlechteren Zustand als sein Kollege, und sein Kurzzeitgedächtnis war ziemlich lädiert. Man musste die beiden mit irgendetwas beschäftigen, das sie geistig vollkommen in Anspruch nahm, und so spielten sie Poker, nachdem Rule sein Telefonat beendet hatte.
Croft war ein gewiefter Pokerspieler. Was immer man mit ihm angestellt hatte, sein strategisches Denkvermögen war davon nicht betroffen – solange er nicht versuchte, über den Fall nachzudenken. Er wirkte zwar nach wie vor mitgenommen, doch je mehr er sich auf das Spiel konzentrierte, desto entspannter wurde er. Bis endlich Hilfe eintraf, hatte er Lily dreißig Dollar abgeknöpft und Rule und Karonski sogar noch mehr.
„Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut“, sagte Nettie Two Horses, als sie hereinkam. „Wo sind meine Patienten?“
„Hier sind sie!“, rief Lily. Sie hoffte auch, dass sie wussten, was sie taten.
Nettie war in Begleitung zweier kräftiger junger Männer gekommen. Einen von ihnen kannte Lily; es war der rothaarige Lupus, der bei ihrem Besuch des Clanguts am Tor gestanden hatte. Die beiden sahen Rule kurz an, dann postierten sie sich links und rechts des Tischs.
Croft war aufgestanden, als sie hereingekommen waren. Er sah aus, als wollte er Ärger machen. „Was läuft hier?“
„Sie haben sich nicht gut gefühlt, wissen Sie noch?“, sagte Lily. „Das ist Dr. Two Horses. Sie wird Sie untersuchen.“
„Mir geht es wieder besser. Ich brauche keinen Arzt.“
Nettie stellte ihre Tasche auf den Tisch. „Ich will Sie mir sicherheitshalber ansehen, da ich schon mal hier bin.“
Croft rückte dichter an Karonski heran. „Lieber nicht.“
„Ist schon gut, Martin“, sagte Karonski. „Wir haben sie gebeten zu kommen.“
„Daran erinnere ich mich nicht.“ Crofts Stirn glänzte. Die Anspannung war wieder da.
„Tja, wir haben eben ein kleines Problem mit unserem Gedächtnis. Deshalb sind sie ja gekommen.“
„Ich weiß nicht …“ Croft sah sich nervös um. Nettie und Lily, die am Tisch standen, standen ihm am nächsten. Rule kam auf ihn zu. Auch die beiden jungen Männer näherten sich ihm langsam. „Bevor die aufgetaucht sind, ging es uns doch noch gut!“
Er griff nach seiner Pistole.
„Martin, nein!“, rief Karonski und schlug ihm auf den Arm – und die anderen drei Männer traten blitzschnell in Aktion.
Zwei Sekunden später hatte Lily ihre Waffe gezogen, aber die brauchte sie nicht mehr. Einer der beiden jungen Lupi griff Croft unter die Achseln, der benommen in sich zusammengesackt war. Lily glaubte, dass der andere ihm eins übergezogen hatte, aber es war alles viel zu schnell gegangen …
„Alles so weit in Ordnung?“, fragte Nettie Two Horses. Sie hatte sich mit bewundernswerter Schnelligkeit auf den Boden fallen lassen.
„So ziemlich“, entgegnete Rule. Er stand neben Karonski. „Sind Sie okay, Abel?“
„Nein.“ Karonski war kreidebleich und zitterte. „Nein, zum Teufel! Ich gehe auf dem Zahnfleisch … Kann mich nicht erinnern, warum wir Sie das tun lassen. Wenn ich versuche nachzudenken, kann ich keinen klaren Gedanken fassen, verdammt!“
„Sie kommen als Erster dran“, sagte Nettie, stand auf und nahm eine Spritze aus ihrer Tasche. „Keine Sorge – Ihrem Partner geht es gut. Sammy hat ihn nicht zu fest geschlagen. Sammy, du kannst jetzt die Koffer reinholen. Und Lily, tun Sie die Waffe weg!“
Lily schaute auf die Pistole in ihrer Hand, zuckte mit den Schultern und steckte sie ins Holster. Der Rotschopf verließ die Suite und kehrte kurz darauf mit einem großen leeren Koffer zurück. Dann holte er den zweiten herein.
Sie verfrachteten die beiden Agenten in die Koffer. Sammy und der andere junge Mann trugen sie so lässig nach draußen, dass man denken konnte, sie seien leer – und genau das sollte auch jeder glauben, der sie beim Verlassen des Hotels sah. Sobald sie den Lieferwagen erreicht hatten, mit dem sie gekommen waren, konnten sie die beiden wieder aus den unbequemen Transportmitteln befreien.
Lily begann, die Papiere und Order einzupacken, die auf dem Tisch lagen. „Deine Männer sind erschreckend versiert darin, Leute unbemerkt aus Hotelzimmern zu schaffen.“
„Sie sehen fern“, sagte Rule. „Ich nehme an, wir lassen nichts für diejenigen hier, die bald nachschauen werden, warum Karonski und Croft nicht nach Hause zurückgekehrt sind.“
„Wir nehmen die Unterlagen vorübergehend in Verwahrung. Kümmerst du dich bitte um den Laptop?“
Rule kam ihr zu Hilfe. „Werden wir jemandem von dieser Sache erzählen?“
„Wenn wir irgendwann gefragt werden, ja. Aber nicht jetzt. Ich möchte die nächsten vierundzwanzig Stunden nur ungern hinter Gittern verbringen. Wir wissen, dass mindestens ein Beamter vom SDPD zu den Bösen gehört, also bleibt die Polizei erst mal außen vor. Und die örtlichen FBI-Leute müssten uns wohl in Gewahrsam nehmen und zur Klärung der Angelegenheit jemanden von der MCD rufen.“
„Ich habe noch ein paar Fragen, bevor ich gehe“, sagte Nettie. „Lily, Sie sind doch eine Sensitive?“
Sie sah Rule kurz an. „Ja.“
„Können Sie mir sagen, wie sich der Zauber anfühlt, der auf die beiden wirkt?“
„Ganz schrecklich. Rau und kratzig und zugleich ekelig matschig. Wie … als würde man in frische Scheiße mit Glassplittern drin greifen. Können Sie ihnen helfen?“
„Ich weiß es nicht. Ich kann sie weiter ruhigstellen, aber ich muss mehr über den Zauber wissen, bevor ich versuchen kann, ihn zu entfernen.“
„Ich habe ihn gerochen“, sagte Rule leise.
„Was?“ Lily drehte sich zu ihm um. „Das hast du mir gar nicht gesagt.“
„Zuerst wusste ich nicht, was ich da roch. Es war nur ganz schwach wahrnehmbar und mir unbekannt. Tja, und später hatte ich keine Gelegenheit mehr, es dir zu sagen. Leider funktioniert die lautlose Kommunikation bei uns offenbar nur in einer Richtung.“
„Das war übrigens ziemlich merkwürdig“, sagte Lily. „Praktisch, aber merkwürdig. Auf diese Weise hast du deinen Männern auch gesagt, was sie tun sollen, nicht wahr?“
Er nickte.
„Wie roch denn nun der Zauber?“
„Nach Verwesung.“
Nettie sah ihn scharf an.
„Ja, ich weiß. Todesmagie soll denselben Geruch haben.“
24
Sie verließen das Hotel in der Abenddämmerung. Alles sah grau aus, als seien sämtliche Farben verblasst. Doch nach und nach öffneten die Häuser gelbe Augen, die in die hereinbrechende Nacht schauten, und die Beleuchtung des Armaturenbretts wirkte im düsteren Inneren von Rules Wagen beinahe grell. Lily rieb sich die Schläfen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
„Eines verstehe ich nicht“, sagte Rule, als er losfuhr. „Warum hat Harlowe das überhaupt getan? Es war doch ziemlich riskant. Er müsste doch inzwischen wissen, dass du sensitiv bist.“
Lily runzelte die Stirn. Darauf war sie noch gar nicht gekommen. „Vielleicht gibt es in seinem Verein Kommunikationsschwierigkeiten, und er weiß es nicht. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihm nicht klar war, dass ich es spüren würde. Ich … nun ja, ich bin viel sensitiver als die meisten.“
„Davon verstehe ich nicht viel“, räumte Rule ein.
„Die meisten Sensitiven nehmen Sekundärmagie nur wahr, wenn sie sehr stark ist. Wenn sie dir die Hand schütteln, erkennen sie zwar, dass du ein Lupus bist, aber die magischen Spuren, die zahlreiche Lupi auf den Böden im Haus deines Vaters hinterlassen haben, würden sie nicht wahrnehmen.“
„Die hast du gespürt?“
Sie nickte. „Harlowe mag auch gedacht haben, dass mir niemand glaubt, falls ich den Zauber erkenne. Ich bin vom Dienst suspendiert worden und damit unglaubwürdig. Croft und Karonski waren die Einzigen, die mir geglaubt hätten – und sie wurden erfolgreich behandelt.“
„Ein unangenehmer Gedanke, wenn man sich überlegt, dass wir bestimmt Besuch von jemandem bekommen, der nach ihnen sucht.“
„Wir müssen einfach hoffen, dass der MCD Hexen zur Verfügung stehen, die bestätigen können, dass ein Zauber auf den beiden lastet. Ein ganzer Hexenzirkel wäre am besten. Eine allein kann nicht so viel Macht beschwören und keine komplizierteren Zauber auf die Beine stellen.“
„Einen Zauberer werden sie wohl nicht haben“, entgegnete Rule. „Immerhin ist Zauberei gesetzlich verboten. Verdammt, ich wünschte, wir könnten Cullen finden.“
„Das wünschte ich auch.“ Jedoch vermutlich nicht aus denselben Gründen wie Rule. „Äh … ich möchte ja nicht unwissend erscheinen, aber warum ist ein Zauberer besser als ein Hexenzirkel? Ein erstklassiger Zirkel kann sehr viel Macht beschwören.“
„Wie Cullen mir erklärte, können Zauberer Magie sehen. Dadurch sind sie im Gegensatz zu Schamanen und Hexen in der Lage, direkt mit den betreffenden Energien zu arbeiten. Ich glaube, ein Zauberer würde den Zauber auf Anhieb erkennen, der auf Karonski und Croft lastet – was bestimmt eine große Hilfe bei seiner Beseitigung wäre.“
„Das wäre natürlich großartig“, stimmte Lily ihm zu. Falls sie dem betreffenden Zauberer vertrauen konnten. Rule hatte großes Vertrauen in seinen Freund. Sie nicht.
„Mir fällt noch ein Grund ein, warum Harlowe das Risiko eingegangen sein könnte, Karonski und Croft zu manipulieren“, sagte Rule langsam.
„Welcher?“
„Sie haben für die allernächste Zukunft einen ganz großen Coup geplant, und es war wichtiger, die FBI-Agenten aus dem Weg zu räumen, als Harlowes Tarnung aufrechtzuerhalten.“
Lily lief es kalt über den Rücken. Ein großer Coup? Sie wollte am liebsten gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.
Sie verfielen in Schweigen. Allmählich kam das nächtliche Antlitz der Stadt zum Vorschein, deren Straßen und Wohntürme mit Lichtern erleuchtet waren, wie der Hals einer Dame, der in der Pracht seiner Juwelen strahlte.
Lag es an der zunehmenden Dunkelheit, dass sie sich Rules Gegenwart auf einmal so bewusst war? Nicht, dass sie ihn vorher nicht wahrgenommen hätte: Sie hatte den ganzen Tag seine Nähe gespürt und stets gewusst, wo er war, ohne sich nach ihm umsehen zu müssen. Aber das Gefühl hatte sich verändert. Nun spürte sie ein Kribbeln auf der Haut, und im Bauch wurde ihr ganz warm. Sie konnte fast seinen Atem auf sich spüren, als beuge sie sich zu ihm hinüber, obwohl sie regungslos dasaß.
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt nicht, verdammt! Keine Gefühlsduseleien! Sie brauchte einen klaren Verstand. Sie hatte etwas übersehen. Etwas sehr Wichtiges.
Und plötzlich hatte sie es. „Mist! Ginger.“
„Glaubst du, sie haben mit ihr dasselbe gemacht wie mit Karonski und Croft?“
Lily schüttelte den Kopf. „Sie hat doch mein Gesicht berührt, als sie mir ihr Make-up andrehen wollte, und ich habe nichts gespürt. Nein, mir ist gerade klar geworden, dass sie uns in die Irre geführt hat. Sie hat mich davon abgehalten, zu dem Treffen mit Harlowe zu fahren. Sie wollten mich nicht dabeihaben. Da ich immun gegen Magie bin, wäre ich ihnen auf die Schliche gekommen.“
Rule sah in den Rückspiegel und bog unvermittelt über zwei Fahrspuren nach links auf die Gegenfahrbahn ab.
Lily klammerte sich Halt suchend ans Armaturenbrett. „Was zum …“
„Sie haben sie schon zweimal benutzt“, sagte er grimmig. „Einmal, um mir den Mord anzuhängen, und dann, um dich von dem Treffen mit Harlowe fernzuhalten. Aber wir wissen Bescheid. Und damit ist Ginger jetzt nur noch eine Belastung für sie.“
Fünfzehn Minuten später standen sie erneut bei Ginger vor der Tür. Doch sie öffnete nicht. „Was meinst du?“, sagte Rule und griff nach dem Türknauf. „Ich glaube, sie hat nicht abgeschlossen.“
„Warte!“ Lily hielt ihn mit beiden Händen am Arm fest, hätte ihn jedoch nicht hindern können, wenn er sie nicht gelassen hätte. „Einbrechen macht so viel Lärm, dass die Nachbarn neugierig werden, und es hilft ihr sowieso nicht. Falls sie umgebracht wurde, ist sie so oder so tot. Wenn sie da ist und nur die Tür nicht aufgemacht hat, hetzt sie dir die Polizei auf den Hals. Glaub nicht, dass sie das nicht tun würde!“
Rule nickte. „Du hast recht. Vielleicht hat sie vergessen, die Hintertür abzuschließen.“
„Das habe ich nicht …“ Zu spät. Die Tür zum Treppenhaus fiel bereits hinter ihm ins Schloss.
Um Gingers Wohnung „durch die Hintertür“ zu betreten, musste man über den Balkon – im vierten Stock. Kein Hindernis für Rule, wie Lily annahm. Sie fluchte leise über dusselige, sture, arrogante Werwölfe, zog ihre Waffe und wartete ab.
Sieben schweißtreibende Minuten später ging die Wohnungstür auf. „Sie ist nicht hier“, sagte Rule. Wie sich herausstellte, fehlten auch einige Kleidungsstücke. „Entweder hat sie in größter Eile gepackt und ist abgehauen, oder die wollen, dass wir genau das glauben“, sagte Lily, als sie wieder ins Auto stiegen.
„Ist Polizeiarbeit immer so frustrierend?“
„Es könnte schlimmer sein. Wir haben zumindest ein paar Hinweise. Wollen wir uns unterwegs eine Pizza holen? Das Mittagessen ist schon ziemlich lange her.“
„Wenn wir zu mir fahren würden statt zu dir, könnte ich etwas Vernünftiges kochen.“
„Du kochst?“, fragte sie erstaunt.
„Ich esse, also koche ich. Und ziemlich gut sogar. Wie kannst du nur nicht kochen!“
„Es gibt doch Essen zum Mitnehmen. Und mein Onkel hat ein Restaurant.“ Sie dachte über sein Angebot nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich muss Harry reinlassen. Und davon abgesehen: Bis jetzt hat die Presse mich noch nicht mit dir in Verbindung gebracht, aber es braucht nur einer von diesen Wichtigtuern vor deinem Haus herumzulungern, dann sieht es anders aus.“
„Also zu dir.“
Lily verfiel in Schweigen und ging die Liste der Verdächtigen durch, von denen ein paar ganz sicher Dreck am Stecken hatten, während hinter anderen Namen ein großes dickes Fragezeichen stand.
Ginger. Der Most Reverend Patrick Harlowe. Mech. Captain Randall. Cullen Seabourne, obwohl Rule ihn für unschuldig hielt. Jemand vom Clan der Nokolai, der mit dem Angriff auf Rules Vater zu tun hatte und vielleicht der Lupus war, der Carlos Fuentes getötet hatte – vielleicht aber auch nicht …
„Weißt du, was fehlt?“, fragte sie unvermittelt. „Ein Motiv. Es sind eine Menge Leute involviert. Kann es denn wirklich sein, dass sie alle wegen der Bürgerrechtsreform durchdrehen? Es gibt viele Möglichkeiten, wie man verhindern kann, dass ein Gesetzentwurf durchkommt, ohne dass man deshalb zum Mörder werden muss.“
„Die Große Alte, die die Azá anbeten, denkt nicht wie ein Mensch.“
„Und Lupi vermutlich auch nicht. Aber es sind überwiegend Menschen, mit denen wir es zu tun haben; Menschen, die entweder Ihre Befehle ausführen oder sich das alles selbst ausgedacht haben. Moderne Menschen der westlichen Welt. Warum? Was haben sie davon?“
„Ich verstehe, was du meinst, aber Fanatismus kann man überall begegnen.“
„Du meinst also, es ist religiöser Eifer? Es macht mehr Spaß, Ungläubige zu töten, als einfach nur ein neues Gesetz zu verhindern, das einem nicht passt?“
„Fanatiker sehen das so.“
„Aber sie setzen so viel aufs Spiel. Die Kirche der Glaubenstreuen steckt bei uns zwar noch in den Anfängen, aber nach den Informationen des FBI ist der Mitgliederzulauf ziemlich gut. Und sie bekommen viele Spenden. Sie präsentieren sich im Mainstream-Look, als wollten sie sich langfristig hier niederlassen. Denk doch mal an Harlowes Haus. Geld und Stellung sind ihm wichtig. Warum sollte er das alles aufs Spiel setzen?“
„Vielleicht hat er keine andere Wahl. Wir haben gesehen, was sie den FBI-Agenten angetan haben, die sich für geschützt hielten.“ Rule bog in die Straße ein, in der Lily wohnte. „Ich will ja nicht behaupten, dass jeder, der in die Sache involviert ist, unter einem Nötigungszauber steht, aber vielleicht wurden auch ein paar von den Bösen auf eine Art und Weise beeinflusst, gegen die sie machtlos waren.“
„Mech“, sagte Lily verblüfft. „Oder Randall, oder wer immer … Das ist möglich. Durch die Kleidung kann ich Magie in der Regel nicht spüren, und ich laufe ja auch nicht ständig durchs Büro und fasse die Kollegen an. Aber Nötigungszauber sollen eine sehr begrenzte Wirkung haben. Der Betroffene wird lediglich zu einer bestimmten Tat gezwungen, und es muss schnell gehen, sonst verliert der Zauber seine Wirkung.“
„Das ist eben das Schwierige, wenn man es mit einem von den Großen Alten zu tun hat. Wir wissen nicht, was möglich ist und was nicht.“
„Und wenn es gar kein Zauber ist? Es gibt angeborene Gaben, mit Hilfe derer man andere beeinflussen kann. Karonski sagte doch, Harlowe habe die Gabe des Charismas.“
„Hmm.“ Rule dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. „Ein Charisma, das durch Ihre Macht intensiviert wird, verhilft zwar zu einer ungeahnten Überzeugungskraft, aber es kann keine Erinnerungen löschen. Croft und Karonski haben über eine Stunde verloren.“
„Drogen können so etwas bewirken. Aber warum mussten sie ihnen die Erinnerung an diese Stunde überhaupt nehmen?“ Lily grübelte noch über diese Frage nach, als Rule vor dem Haus anhielt. Verdammt, sie übersah schon wieder irgendetwas! „Aber zumindest sagt uns die verlorene Stunde, dass das, was sie mit den beiden angestellt haben, eine Weile dauert. Es geht offensichtlich nicht so schnell.“
„Oder sie haben die beiden eine Stunde lang ausgequetscht, um alles in Erfahrung zu bringen, was sie über den Fall wissen.“
„Diese Version trägt nicht gerade zur Besserung meiner Laune bei!“
Als sie ausstiegen, wurden sie bereits von einem verärgerten Kater erwartet. Harry ging mit zuckendem Schwanz vor ihnen die Treppe hoch und wies sie lautstark zurecht, weil sie ihn hatten warten lassen. „Er greift dich nicht mehr an“, stellte Lily fest, als sie die Wohnungstür aufschloss.
„Harry und ich, wir verstehen uns jetzt. Er wird meine Anwesenheit in deinem Bett dulden, solange ich anerkenne, dass auch er das Recht hat, sich dort aufzuhalten.“
Lily öffnete die Tür und knipste die Stehlampe neben ihrem Sessel an. Harry flitzte sofort in die Küche, wo das Schälchen stand, das Rule morgens mit Trockenfutter gefüllt hatte. „So wie du das sagst, klingt es anrüchig. Als ginge ich mit zwei Kerlen gleichzeitig ins Bett.“
„Das kannst du haben.“
„Was?“ Sie fuhr ruckartig herum. Seine Miene war so verschlossen wie die Tür hinter ihm. „Falls du mir einen flotten Dreier vorschlagen willst, vergiss es!“, sagte sie säuerlich.
„Ich will nur sagen, dass du nicht an mich gebunden bist. In sexueller Hinsicht. Wenn du mit jemand anderem ins Bett gehen willst, kannst du es tun.“
Sie kehrte ihm den Rücken zu und stellte Crofts Aktentasche auf den Tisch. „Vielleicht ist das ja nach euren Maßstäben ein höfliches Angebot. Auf meiner Ekeligkeitsskala steht es allerdings ganz weit oben. Und ich gestatte dir eine solche Freizügigkeit ganz gewiss nicht.“
„Das musst du auch nicht. Ich werde nie wieder mit einer anderen Frau zusammen sein.“
Sie erstarrte. „Lupi glauben doch nicht an Treue.“
„Das hat mit glauben nichts zu tun. Du bist meine Auserwählte.“
Langsam drehte sie sich wieder zu ihm um. Sie fühlte sich so angespannt, dass sie befürchtete, bei einer plötzlichen Bewegung könnte etwas in ihr zerspringen. „Du meinst, du kannst mit keiner anderen Frau zusammen sein? Es ist nicht möglich?“
Er verzog das Gesicht. „Rein physisch wäre es schon möglich. Aber ein Lupus in einer Verbindung mit einer Gefährtin würde so etwas als schmutzig und obszön empfinden, als Verstoß. Wie Vergewaltigung oder Inzest.“
Lily merkte, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, und lockerte sie. Ihre Handflächen waren feucht. „Und was ist mit der menschlichen Hälfte des Paares?“
„Die Frau ist der Mensch, der sie ist. Sie lebt nach ihrer Natur und ihrer Überzeugung.“
„Du meinst, ich könnte untreu sein und du nicht?“
„So würde ich es nicht ausdrücken, aber im Prinzip ja.“
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. „Warum sagst du mir das?“
Er antwortete nicht sofort. In dem gedämpften Licht war seine Miene nur schwer zu deuten, und er stand vollkommen regungslos da. Schließlich sagte er: „Du hast mir etwas sehr Persönliches anvertraut. Ich wollte dir auch ein Geschenk machen.“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Er zeigte ihr, wo er verwundbar war, aber das konnte sie nicht verstehen. Was fürchtete – oder hoffte – er? „Was würdest du empfinden, wenn ich mir einen anderen Lover nähme?“
„Ich … es würde mir nicht gefallen.“
Sie machte noch einen Schritt. „Rule, was ist der Unterschied zwischen dem Band der Gefährten und Liebe? Abgesehen davon, dass uns das Band bestimmt wurde, meine ich.“
„Ich weiß es nicht. Lupi verlieben sich nicht. Ich … ich weiß nicht, ob du die Bindung genauso empfindest wie ich.“
Ein letzter Schritt, und sie stand vor ihm und schaute zu seinem schönen, exotischen Gesicht mit den ausdrucksvollen Augenbrauen, den markanten Zügen und den dunklen Augen auf … „Wie empfindest du sie denn?“
Er grinste sie schief an und berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. „Als reines Glück. Und zugleich als qualvoll.“
Ihr stockte der Atem. „Das klingt für Menschenohren ziemlich nach Liebe.“
„Ist das wahr?“ Er ließ seine Fingerknöchel über ihre Wange und ihren Hals gleiten und hinterließ eine kribbelnde Spur auf ihrer Haut. „Für mich ist Liebe das, was ich für meine Brüder empfinde, für meinen Vater und meinen Sohn.“
„Für deine Mutter nicht?“, fragte sie leise.
Er schüttelte den Kopf. „Das ist eine andere Geschichte. Du und ich, wir kennen uns noch gar nicht gut genug, um uns zu lieben, nicht wahr? Ich hoffe …“ Er verstummte. „Es wäre gut, wenn wir Freunde werden könnten.“
Lily schluckte. „Ja, das wäre gut.“ Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. Keinen leidenschaftlichen, wie sie es sich den ganzen Tag immer wieder vorgestellt hatte, sondern einen sehr zärtlichen. Einen Kuss, der von Hoffnung kündete.
Fast zögernd antworteten seine Lippen den ihren.
Langsam entspannte sie sich, schmiegte sich an ihn und umfing sein Gesicht mit den Händen, während der Kuss feuriger wurde. Sein Kinn war stoppelig, sein Körper muskulös und kantig. Sein Mund schmeckte nach der Leidenschaft der vergangenen Nacht, nach den Enthüllungen des Tages, nach Kaffee und Mann. Aber es war seine Haut, die sie über die Maßen faszinierte. Wie sie sich anfühlte, ihre Wärme … Allein das köstliche Gefühl, seinen Hals zu berühren, verschlug ihr den Atem.
Seine Hände ruhten auf ihren Schultern. Sie bewegten sich nicht; sie drängten weder noch verführten sie, obwohl sein Herz ebenso schnell schlug wie ihres. Er ließ sie das Tempo bestimmen.
Sie fuhr mit den Händen an seinen Seiten entlang. Der Mann stand auf Seide. Und als sie spürte, wie das Hemd unter ihren Fingern über seine Haut glitt, stellte sie fest, dass sie auch darauf stand. Er war so schlank, dass sie seine Rippen unter den Muskeln fühlen konnte, und so groß, dass sie mit der Nase nicht an seine Halskuhle heranreichte.
Er war zu groß für sie, wenn er stand. Im Bett hatte er genau die richtige Größe.
„Darf ich dich so sehr wollen?“, flüsterte sie ihm zu. „Ich müsste eigentlich arbeiten. Ich muss …“ Irgendetwas. Es gab doch bestimmt etwas, das sie dringend erledigen musste, statt ihn zu liebkosen.
„Nadia.“ Seine Stimme war tief und leise, und sie spürte seinen warmen Atem an ihrer Wange. „Du darfst mich haben, wann und wo und wie du willst. Die Arbeit läuft dir nicht davon.“
Durfte sie sich ein bisschen Zeit für sich nehmen? War das richtig? Sie rückte etwas von ihm ab und sah ihm in die Augen. Ja, befand sie. Und sie durfte ihm ruhig auch etwas Zeit schenken.
Sie ergriff seine Hand. „Wenn das so ist, dann will ich dich langsam. Ganz langsam.“
Sie schalteten das Licht im Schlafzimmer nicht ein. Im Halbdunkel zogen sie sich gegenseitig aus und hielten nur inne, um sich zu küssen und zu streicheln.
Rule schlug die Decke zurück und zog Lily aufs Bett. Haut streifte Haut, während ihre Lippen sachte miteinander verschmolzen. Die Begierde wuchs, und die langsamen Bewegungen machten sie noch köstlicher. Sie spielten miteinander, aber das Spiel war ernst: leichte Berührungen, tiefe Atemzüge, wachsende Anspannung und immer schneller klopfende Herzen.
Er grub seine Finger in ihr Haar, als er sich nach einem innigen Kuss von ihr löste. „Von deinem Atem wird mir schwindelig.“
Ja, genauso war es – auch ihr wurde bei jedem Atemzug schwindelig, als falle sie, als stürze sie auf einen fixen leuchtenden zentralen Punkt zu. Sie rieb ihre Wange an seiner, dann drängte sie ihn, sich auf den Rücken zu legen. Eine Weile sah sie ihn einfach nur an, diesen eleganten Körper. Schlank und kraftvoll. Lange Beine, breite Schultern. Sein Penis hart und bereit. Sein Blick fragend. Er wartete darauf, dass sie ihm sagte, was sie wollte. Was sie brauchte.
„Jetzt?“, raunte sie ihm zu, und er lächelte.
Sie schwang sich auf ihn und half ihm mit der Hand, in sie einzudringen, während sie sich sinken ließ. Er umklammerte ihre Hüfte und begann, sich zu bewegen – adagio, nicht fortissimo. Sie hielt sich an seinen Schultern fest und passte sich seinen Bewegungen an.
Durch den beinahe quälend langsamen Rhythmus nahm sie jede einzelne Empfindung ganz deutlich wahr. Sie labte sich daran und achtete sehr genau auf die Bewegungen seiner Muskeln unter der Haut und sein Mienenspiel. Sie kam dem leuchtenden Punkt immer näher und sträubte sich dagegen, ihn zu erreichen. Zwang sich dazubleiben, um das köstliche Gefühl des Ausgefülltseins und die Reibung zu genießen und in seine Augen zu schauen, die sie beobachteten, während die Anstrengung, die es ihn kostete, das Vergnügen zu verlängern, tiefe Furchen in sein Gesicht grub.
Der Höhepunkt war, als sie ihn schließlich erreichten, eine Überraschung. Sie bäumte sich schreiend auf – und kam noch einmal. Und noch einmal. Sie hörte Rule etwas rufen und spürte, wie er seinen Samen in sie hineinschoss. Ihr wurde weiß vor Augen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf seiner Brust und hatte Tränen in den Augen. Und spürte, dass sie sich verändert hatte. Grundsätzlich und für immer.
Er streichelte ihr den Rücken. „Du zitterst.“
„Reizüberflutung“, murmelte sie. Was die seltsamsten Fantasien auslösen konnte … Denn was sie fühlte, war sicher nur die Reaktion eines überstrapazierten Nervensystems. Niemand konnte sich von einem Augenblick zum anderen radikal ändern. Sie war immer noch sie selbst.
Doch sie hörte nicht auf zu zittern, als sie sich aufstützte, um Rule anzusehen. „Was ist denn nur? Stimmt etwas nicht?“
Er schüttelte verwundert den Kopf. „Du bist sagenhaft!“
Hatte er es auch gespürt? Hör auf damit, sagte sie zu sich. Es war nichts passiert – abgesehen von fantastischem Sex. „Du auch. Und nachdem wir uns jetzt ausgetobt haben, sollten wir …“
Als plötzlich etwas Schweres auf das Bett plumpste, fuhren sie beide auf. Lily sah über ihre Schulter und blickte in zwei leuchtend gelbe Augen.
„Den Kater füttern?“, schlug Rule vor.
„Richtig. Und dann sollten wir uns wieder an die Arbeit machen.“
Doch sie bekamen an diesem Abend nicht mehr viel geschafft. Sie gingen gerade die Papiere in Crofts Aktentasche und die neueren Dateien auf dem Laptop durch, den sie aus dem Hotelzimmer mitgenommen hatten, als Nettie anrief. Sie hatte ihre Patienten inzwischen in ihrem Gästezimmer untergebracht, wo sie unter Bewachung standen und immer noch schliefen. Sie würde eine ganze Weile brauchen, um herauszufinden, was man mit ihnen angestellt hatte – falls sie es überhaupt schaffte.
Immerhin stießen sie noch auf die Verbindung, die Karonski am Telefon erwähnt hatte: Die Ältesten von Mechs Kirche, bei der es sich um eine fundamentalistische christliche Konfessionsgemeinschaft handelte, hatten der Kirche der Glaubenstreuen in aller Stille einen stattlichen Geldbetrag gespendet.
„Merkwürdige Bundesgenossen“, murmelte Rule.
„Könnte man meinen. Aber sie haben beide dasselbe Ziel.“ Lily zeigte ihm einen Computerausdruck.
Anscheinend waren beide Glaubensgemeinschaften felsenfest von der Notwendigkeit überzeugt, „die Reinheit der menschlichen Rasse“ schützen und bewahren zu müssen. Beide waren gegen den Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform und sprachen vom Verfall von Anstand und Kultur. Zwar definierten sie „Anstand“ sehr unterschiedlich, aber sie stimmten darin überein, dass Lupi Kreaturen des Teufels waren, die nicht mit Bürgerrechten ausgestattet, sondern ausgerottet werden sollten.
Lily schüttelte den Kopf. „Wie kann sich ein Afroamerikaner vor dem Hintergrund des Unrechts, das seinem Volk angetan wurde, auf so einen Schwachsinn einlassen?“
„Wie kann sich überhaupt jemand auf solch einen Schwachsinn einlassen? Durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse ist man doch nicht automatisch frei von Fanatismus.“
„Und die Lupi?“
„Wir ganz bestimmt nicht.“ Rule verzog das Gesicht. „Nicht alle Geschichten über die Brutalität der Lupi sind frei erfunden. Es hat Lupi gegeben, die Jagd auf Menschen gemacht haben. Bei manchen Leuten – Lupi wie Menschen – reicht die Ehre eben nur bis zu der Linie, die sie zwischen sich und den anderen gezogen haben. Was den anderen angetan wird, zählt nicht.“
Es war schon spät, als sie zu Bett gingen. Rule war müde, jedoch nicht so müde, dass er nicht Gefallen an einer kleinen Nummer gefunden hätte, doch Lily war mit den Gedanken woanders, und ihre Körpersprache gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie keinen Sex brauchte, sondern Schlaf.
Aber sie kuschelte sich an ihn, und das war auch gut. Mit ihr in den Armen einzuschlafen …
Weniger gut war allerdings, von ihrem Stöhnen geweckt zu werden und den Geruch von Angstschweiß in der Nase zu haben. „Lily?“
Er tastete in der Dunkelheit nach ihr, rief abermals ihren Namen und fasste sie an der Schulter. „Wach auf, Liebling.“
Er hörte, wie ihr der Atem stockte. Sie wurde ganz starr, dann erschauderte sie. „O Gott!“
Er rutschte dichter an sie heran und flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um und vergrub sich regelrecht in ihm.
Sie zitterte. Er schloss sie in die Arme und hielt sie ganz fest, hielt sie einfach nur fest, bis das Zittern aufhörte. „Ein Albtraum?“
Sie nickte. „Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gehabt. Das kommt … von der Entführung. Ich hätte wohl damit rechnen müssen, dass er mich wieder heimsucht, nachdem ich Ginger gesehen habe.“
Er strich ihr übers Haar. „Möchtest du aufstehen? Wenn ich schlecht geträumt habe, kann ich nicht so schnell wieder einschlafen.“
Sie richtete sich auf, um ihn anzusehen. Es war gerade so viel Licht im Raum, dass er ihr zögerndes Lächeln erkennen konnte. „Werwölfe haben Albträume? Was quält dich denn manchmal?“
„Ach, das Übliche. Feuer, Hass, verloren oder bedroht zu sein; jemanden zu verlieren, den ich liebe. Eingesperrt zu sein … gefangen.“
Das Beben, das durch ihren Körper ging, war die Antwort auf die Frage, die er nicht gestellt hatte.
Rule machte heiße Schokolade. Das war in seiner Kindheit Netties Allheilmittel gewesen, und gelegentlich fand er immer noch Trost darin. Sie kuschelten sich zusammen in Lilys Relaxsessel und redeten nur wenig, damit Lily Gelegenheit hatte, sich wieder zu erden.
Und Rule fragte sich mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, ob der Albtraum tatsächlich durch die Begegnung mit Ginger ausgelöst worden war – oder durch ihn. Denn Lilys innere Dämonen hatten allesamt mit der Angst zu tun, zu etwas gezwungen zu werden und gefangen zu sein … und genau so empfand sie das Band der Gefährten. Sie fühlte sich zu der Beziehung genötigt. Sie fühlte sich gefangen für den Rest ihres Lebens.
25
Lily wusste zuerst nicht, wo sie war, als sie aufwachte. Sie war nicht in ihrem Bett … Sie stutzte, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Rule und sie lagen eng umschlungen auf ihrem Relaxsessel.
Sie drehte vorsichtig den Kopf, um ihn anzusehen. Er schlief noch. Sein Kinn war stoppelig, der Kopf war leicht nach hinten gebogen und der Mund leicht geöffnet. Nun sah er weitaus weniger elegant aus als der Mann, den sie im Club Hell kennengelernt hatte.
Viel realer.
Und er gehörte ihr. In guten und in schlechten Tagen … Nicht, dass Lupi an die Ehe glaubten, aber dieses Band der Gefährten war eigentlich nichts anderes als eine Ehe, die kein Gericht der Welt scheiden konnte.
Früher einmal war ein solcher Ehebund allerdings auch eine ziemlich dauerhafte Angelegenheit gewesen. Noch wenige Generationen zuvor hatten Frauen sich häufig damit abfinden müssen, mit einem Mann verheiratet zu werden, den sie kaum oder gar nicht kannten, und ihr ganzes Leben an seiner Seite verbringen zu müssen. Lily musste nur zwei Generationen zurückblicken. Großmutter hatte ihren Mann überhaupt nicht gekannt, der in der Hochzeitsnacht auf sie wartete. Angesichts dieser Tatsache war das, was ihr nun widerfahren war, zwar nicht gut und richtig, aber wie hieß es so schön: shit happens.
Und wenn genau das passierte, war es Lilys Aufgabe, sauber zu machen und für Ordnung zu sorgen. Polizeiarbeit ließ sich in vielerlei Hinsicht mit Hausarbeit vergleichen, fand sie. Eine meist undankbare Tätigkeit, die nie ein Ende nahm und von anderen nur dann wahrgenommen wurde, wenn Wollmäuse oder Kriminelle außer Kontrolle gerieten.
Aber das war genau das, was sie immer hatte tun wollen.
Das Telefon klingelte. Sie richtete sich vorsichtig auf, aber Rule war bereits wach geworden. „Ich spüre meine linke Hand nicht mehr“, murmelte er.
„Entschuldige.“ Sie hatte auf seinem Arm gelegen. Sie stand auf und sah sich suchend um. Wo war ihr Handy? In ihrer Handtasche … doch es klingelte gar nicht, stellte sie fest, als sie es hervorkramte.
„Ich glaube, es ist meins.“ Rule erhob sich und schüttelte stirnrunzelnd den linken Arm.
Als er ins Schlafzimmer ging, wo seine Jacke und sein Handy lagen, grinste Lily. Dass einem Werwolf die Hand einschlief, fand sie witzig. Witzig und irgendwie süß.
Einen Augenblick später war er wieder da – und hellwach. „Das war Max. Er sagte, Cullen habe mir eine wichtige Nachricht im Club hinterlassen. Er will, dass ich sofort komme und sie mir ansehe.“
Lily starrte die Botschaft an, die über der Bar an der Wand prangte: „Rule, glaub mir nicht! Komm nicht! Und sag das hier niemandem!“
Die Buchstaben rauchten noch. Daneben befand sich eine grobe Kartenskizze – zumindest hielt Lily das Gekritzel für eine solche.
„Das ist Cullens Handschrift“, stellte Rule fest.
„Brennt er dir öfter mal eine Nachricht in die Wand?“
Rule fand das nicht lustig. „Nein.“
Max saß auf der Bar und sah Lily finster an. „Ich weiß, sie hat klasse Titten, aber musstest du sie unbedingt mitbringen?“
Schon seit sie den Club betreten hatten, meckerte er über Lilys Anwesenheit, und nun reichte es ihr. „Sind alle Gnome unausstehliche kleine Perverslinge, oder gilt das nur für Sie?“
„Was zum Teufel soll das heißen? Nur weil ich ein bisschen zu klein geraten bin, können Sie …“
„Spar dir das, Max!“ Rule wendete sich von der schwelenden Schrift an der Wand ab. „Sie ist eine Sensitive.“
Max riss seine kleinen Schielaugen auf, so weit es ging. „Im Ernst?“
„Setz doch einfach eine Anzeige in die Zeitung!“, fuhr Lily auf. „Dann musst du es nicht jedem einzeln erzählen.“
„Max wird dich genauso wenig outen wie du ihn. Nicht wahr, Max?“
„Das solltest du eigentlich wissen! Wenn du fragen musst, ob du jemandem vertrauen kannst, dann vertraust du ihm nicht!“
„Ich vertraue dir. Und ich vertraue auch Lily.“
„Ja?“ Max seufzte schwer. „Na ja, du bist jung. Und was sagt dir diese Sachbeschädigung hier in meinem Lokal jetzt?“
„Nicht viel. Er schreibt, ich soll nicht kommen, aber er hat eine Karte gezeichnet. Dieses umgedrehte V muss ein Berg sein, und SD steht wohl für San Diego, aber der Rest …“
„Diese Krakel dort, das könnte Wasser sein.“ Lily trat näher. „Und das ist eine Fünf, nicht wahr? Fünf Kilometer vielleicht. Am besten zeichne ich das mal ab.“
„Mach dir keine Mühe, Puppe. Das habe ich schon getan.“ Max reichte ihr ein Blatt Papier.
Sie zog die Augenbrauen hoch. Er hatte die Kartenskizze nicht nur grob abgezeichnet, sondern mit blauer Tinte eine exakte Kopie angefertigt.
„Er steckt in Schwierigkeiten“, sagte Rule.
Max schnaubte. „Wahrscheinlich hat er wieder mal einen neuen Zauber getestet. Und dafür hat er sich meine Wand ausgesucht, der Idiot! Ich muss dringend ein paar Takte mit ihm reden, wenn er endlich wieder hier aufkreuzt.“
Max wirkte auf Lily wie ein Vater, dessen Sohn etwas ausgefressen hatte – äußerlich war er stinksauer und innerlich höchst besorgt. „Sie glauben auch, dass er in Schwierigkeiten ist?“
Seine lange, krumme Nase bebte. „Bei so einem Blödmann wie ihm kann man nie wissen!“
„Frühstück!“, sagte Rule unvermittelt. „Max, ich weiß, dass du Pilze dahast. Wenn du noch ein paar Eier findest, würden wir sehr gern etwas essen. Wir brauchen dringend Kraftfutter und Kaffee … und dann müssen wir miteinander sprechen.“
Sie waren in Max’ Wohnung über dem Club gegangen, die vollgestopft war mit allen möglichen Kitsch- und Kunstobjekten. Auf einem Beistelltisch drängten sich beispielsweise eine wunderschöne viktorianische Lampe, eine Hula-Hula-Tänzerin aus Plastik, drei obskure Steine, eine billige Bonbonschale in Form eines Schädels, sechs Taschenbücher und eine kleine, aber perfekte Nachbildung von Michelangelos David aus Stein.
Max sah, wie Lily die kleine Statue bewunderte, und grinste. „Der gute Mike hat mein Werk kopiert, aber was soll’s! Er hat gute Arbeit geleistet. Soll er ruhig die Lorbeeren dafür einheimsen!“
Sie schüttelte den Kopf und folgte Rule in die Küche.
Unten im Club hatten sie sich gestritten. Rule hatte vorgeschlagen, Max alles zu sagen. Lily fand zwar auch, dass sie Hilfe brauchten, aber ein lüsterner Gnom von zweifelhafter Gesinnung war nicht unbedingt ihre erste Wahl.
„Max bewohnt diese Erde schon ziemlich lange“, hatte Rule erwidert. „Er hat viele Dinge selbst erlebt, die für uns Mythen oder Geschichte sind, und er kann nicht von unseren Feinden manipuliert werden.“
„Du hast sehr viel Vertrauen zu deinen Freunden“, hatte sie unverbindlich geantwortet.
Er war verärgert gewesen. „Bringen die euch heutzutage eigentlich gar nichts über Andersblütige bei? Gnome kann man weder mit Magie noch mit einer Gabe beeinflussen. Dazu sind sie einfach zu störrisch. Max hat keine Ideale, denen er sich verpflichtet fühlt, aber er würde eher ersticken, als Verrat an einem Freund zu begehen.“
Er hatte sie schließlich überzeugt. Und so setzten sie Max bei einem köstlichen Pilzomelette – Rule konnte wirklich gut kochen! – ins Bild.
Als Rule die von den Azá Angebetete erwähnte, natürlich ohne den Namen auszusprechen, unterbrach ihn Max.
„Sie? Wer ist Sie? Sprich bitte nicht in Rätseln!“
Statt zu antworten, bat Rule um Papier und Stift. Dann malte er etwas auf, das wie eine Art Logo aussah: ein Ei, das lang gestreckt, wie verzerrt aussah, mit einem schrägen Strich hindurch. Max fluchte. In verschiedenen Sprachen und länger, als Lily jemals jemanden fluchen gehört hatte.
Als er endlich fertig war, wischte er sich die Stirn und sagte: „Erzählt mir den Rest!“
Er meldete sich erst wieder zu Wort, als Lily beschrieben hatte, was mit den beiden Special Agents passiert war. Dann stellte er eine ganze Reihe sehr präziser Fragen. Schließlich nickte er. „Okay. Erstens: Eure FBI-Agenten wurden nicht verzaubert. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand durch einen Zauber beeinflusst wird oder mit Hilfe einer Gabe, was anscheinend heutzutage niemand …“
„Die Schmährede auf unsere degenerierte Gegenwart kannst du überspringen“, unterbrach ihn Rule. „Woran erkennt man denn den Unterschied?“
Max blickte finster drein. „Also, Zauberei ist etwas anderes als Hexenkunst. Wenn man direkt mit magischer Energie arbeitet, muss man sie formen, und das Muster, nach dem man sie formt, muss man erst einmal verinnerlichen. Mit einer Gabe wird man hingegen geboren; sie gehört zu einem wie die eigenen Füße. Man muss nicht verstehen, woraus Füße bestehen und wie sie funktionieren, um laufen zu können. Was ein Grund dafür ist, dass Zauberer so verdammt selbstverliebt sind. Sie meinen, sie wüssten viel mehr als jeder andere – aber das spielt jetzt keine Rolle. Der Punkt ist, es kommen unterschiedliche Ergebnisse dabei heraus. Eure beiden Agenten hatten Gedanken, von denen sie nicht loskommen konnten; sie befanden sich in einer Endlosschleife. Jemand hat ihnen diese Gedanken in den Kopf gepackt und sie mit einer ordentlichen Portion Magie dort fixiert.“
„Man kann also jemandem mit Magie Gedanken in den Kopf pflanzen?“, fragte Lily.
„Ja, wenn man ein Meister ist.“ Max schnaubte. „Aber in dieser Welt gibt es keinen, ebenso wenig in einer der nahe gelegenen Welten, ganz egal, was seine Hochnäsigkeit im Feenreich denkt.“
Lily stutzte. Sprach er etwa vom König der Feen? „Könnte diese … äh … Göttin oder was auch immer jemanden zu einem Meister machen?“
„Nein, nein. Sie würde es tun, wenn Sie könnte, aber auf diese Welt hat Sie keinen direkten Zugriff. Hier kann Sie nur mit Hilfe Ihrer Werkzeuge etwas ausrichten – mit Hilfe von Leuten, die hier geboren sind. Sie kann nicht einfach jemandem die Formel und die Gesten für einen Zauber übermitteln, und dann klappt es. Wenn ich dir einen Stein und einen Meißel gebe, würdest du ja auch nicht automatisch eine Büste von Rule zustande bringen. Aber Sie kann natürlich jemanden mit Ihrer Macht stärken.“
Er lehnte sich auf seinem Barhocker zurück, der eine Lehne und eine Fußstütze hatte, und faltete die Hände vor dem Bauch. „Also, es funktioniert folgendermaßen: Die neuen Gedanken müssen natürlich zu den alten passen. Wenn man jemandem, der ganz vernarrt in süße kleine Vögelchen ist, einen Haufen Vogelhasser-Gedanken einpflanzt, wird derjenige wohl eher verrückt, als dass er das tut, was man von ihm verlangt. Also dringt ein Telepath in den Kopf von jemandem ein und …“
„Ein Telepath?“ Rule zog die Augenbrauen hoch. „Aber Telepathen werden doch von ihrer Gabe in den Wahnsinn getrieben, nicht wahr?“
„Ja, wenn sie keine Katzen sind. Und? Glaubst du etwa, du hättest es hier mit jemandem zu tun, der bei Verstand ist?“
Wenn sie keine Katzen sind? Lily dachte immer noch über Max’ erstaunliche Worte nach, als Rule sagte: „Dann haben wir also zwei Widersacher? Einen Telepathen und einen Zauberer? Oder reden wir von einer Person, die beide Fähigkeiten in sich vereint?“
„Du hörst mir überhaupt nicht zu, was? Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass ein Zauberer in die Sache involviert ist!“
„Moment mal“, warf Lily ein. „Ich habe die Magie gespürt, mit der Therese Martin getötet wurde.“
„Ja, aber du hast von der Materie genauso wenig Ahnung wie die meisten anderen heutzutage. Was du gespürt hast, war Energie – und zwar Energie, die durch Todesmagie erzeugt wird. Was das amerikanische Gesetz als Zauberei bezeichnet. Aber dieses Gesetz wurde von Ignoranten verfasst. Man darf Zauberkräfte nicht mit magischer Energie verwechseln. Ein Zauberer könnte diese pure Energie zum Zweck einer Metzelei einsetzen, aber das könnte auch jeder andere, wenn er ein Werkzeug zur Verfügung hätte, das genug Macht gespeichert hat.“
„Okay“, sagte Rule, „wie dem auch sei. Wir haben es auf jeden Fall mit einem irren Telepathen zu tun, der Todesmagie praktiziert und Zugang zu sehr viel Macht hat.“
„Und außerdem steht diese Person unter Ihrer Fuchtel, und Sie will deinen Tod oder dich auf andere Art aus dem Verkehr ziehen. Also wäre es das Beste, wenn du das Land verlässt.“
„Du weißt, dass das nicht möglich ist.“
Max seufzte. „Natürlich. Ich wusste, dass man nicht mit deiner Vernunft rechnen kann. Die zweite Möglichkeit ist sie.“ Er nickte in Lilys Richtung.
Ruhe sah ihn grimmig an. „Was willst du damit sagen?“
„Lass die Puppe die Angelegenheit klären! Niemand kann sie verzaubern, niemand kann in ihren Kopf – Sensitive sind immun, und fertig. Sie ist die Einzige, die etwas erreichen kann. Jeder andere ginge dabei mit fliegenden Fahnen unter.“
Lily stellte noch einige Fragen, bevor sie gingen, aber viel hatte Max ihnen nicht mehr zu bieten – außer ein paar Vermutungen und Achselzucken. Rule schwieg, bis sie ins Auto eingestiegen waren. „Es war eine verdammt blöde Idee, mit Max zu sprechen!“, sagte er und knallte die Wagentür zu. „Lass dir von ihm bloß keine Flausen in den Kopf setzen!“
Lily schnallte sich an. „Zum Beispiel?“
„Du wirst auf keinen Fall allein Jagd auf Harlowe machen!“
„Das kann ich doch auch gar nicht! Du musst sowieso immer in meiner Nähe sein.“ Wie weit sie sich voneinander entfernen konnten, wussten sie nicht. Sie hatten es noch nicht ausprobiert. „Glaubst du, Harlowe ist der Telepath?“, fragte sie nachdenklich. „Ich bin mir da nicht so sicher.“
„Wer denn sonst?“ Rule fuhr mit quietschenden Reifen los.
Er war wirklich äußerst missgestimmt. „Also, wenn wir Max’ Meinung als Arbeitshypothese nehmen, dann ist dieser Telepath total verrückt. Gestern haben wir mit mehreren Leuten gesprochen, die Harlowe kennen, und keiner hat etwas Derartiges angedeutet.“
„Man sieht es jemandem nicht unbedingt an, wenn er verrückt ist.“
„Stimmt“, pflichtete Lily ihm bei. Rule hatte Angst um sie. Deshalb war er so aufgebracht. Das fand sie irritierend. Es war ein seltsames Gefühl.
Doch es war ja nun nicht so, als hätte es nie jemanden gekümmert, wenn sie sich in Gefahr brachte. Ihre Angehörigen machten sich Sorgen um sie, auch wenn sie darauf achtete, ihnen die wirklich schlimmen Dinge vorzuenthalten. Ihnen missfiel ihr Beruf gerade wegen des Risikos, das er mit sich brachte. Warum rief Rules Reaktion ein solch befremdliches Gefühl in ihr wach?
„Lily“, sagte Rule nach einer Weile. Er klang wieder gefasster. „Du solltest ihn dir wirklich nicht allein vorknöpfen.“
„Er muss verhört werden, und Unterstützung mitzunehmen bringt nichts, wenn Harlowe – oder wer auch immer – den Leuten im Kopf herumpfuschen kann.“ Schlagartig wurde ihr klar, warum Rules Reaktion sie aus dem Konzept gebracht hatte: Es gefiel ihr, ihm wichtig zu sein, doch der Gedanke, dass es das Band der Gefährten war, das ihn so empfinden ließ, machte sie gleichzeitig misstrauisch. Es manipulierte seine Gefühle, genau wie der hypothetische Telepath den Verstand der beiden FBI-Agenten manipuliert hatte.
„Wenn er dir nicht im Kopf herumpfuschen kann, wird er dich möglicherweise töten wollen“, sagte Rule mit gepresster Stimme.
„Was glaubst du eigentlich, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe? Meinst du, ich hätte mich auf Teegesellschaften vergnügt? Ich habe jede Menge Leute festgenommen, die sich sehr über eine Gelegenheit, mich zu töten, gefreut hätten. Aber sie haben sie nicht bekommen!“
„Verdammt, Lily, du kannst ihn doch gar nicht festnehmen. Du hast keine Marke.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben sowieso noch nicht genug Beweise für eine Festnahme. Ich wünschte, ich hätte das Angebot des FBI angenommen. Abgesehen von den Formalitäten mit der Verhaftung sind wir zwei einfach nicht genug.“
„Mir stehen ungefähr zweitausend Clanangehörige zur Verfügung. Wie viele brauchst du?“
Lily machte große Augen. „Einfach so? Ich dachte, dein Vater hätte die alleinige Weisungsbefugnis.“
„Das stimmt auch. Aber wenn der Lu Nuncio jemandem sagt, dass er dringend gebraucht wird, dann kommt derjenige auch“, erklärte Rule. „Oder diejenige“, fügte er hinzu. „Manche unserer Schwestern und Töchter heiraten außerhalb des Clans, aber viele bleiben auch bei uns.“
Lily musste unwillkürlich grinsen. „Verstehe. Du bist wie Großmutter: Sie hat eigentlich nichts zu sagen, aber wenn sie ruft, dann springen wir.“
„Ich freue mich wirklich darauf, deine Großmutter kennenzulernen!“
„Freu dich nicht zu früh.“ Lily fühlte sich wieder etwas besser. „Wir müssen herausfinden, was Seabournes Karte darstellt, auch wenn wir nicht genau wissen, warum er sie dir übermittelt hat. Außerdem müssen wir die Finanzen noch zu Ende überprüfen. Die der Kirche hat Croft schon abgehakt, aber wir sollten uns auch Harlowe selbst genauer ansehen. Ein paar geschulte Polizeikräfte wären nicht schlecht, aber so etwas hast du wohl nicht.“
Er schwieg eine Weile. „Crystal und ich können uns darum kümmern, wenn du uns sagst, wonach wir suchen sollen.“
Lily zog die Augenbrauen hoch. „Crystal?“
„Meine Assistentin. Du hast sie noch nicht kennengelernt. Die Karte stellt mich vor ein Rätsel, aber Walker kennt die Naturschutzgebiete hier in der Gegend wie seine Westentasche. Vielleicht erkennt er einzelne Details der Karte. Polizeikräfte habe ich leider keine für dich, aber ich kann ein paar Wachleute besorgen. Das hätte ich schon viel früher tun sollen.“
„Wenn du Bodyguards meinst …“
„Meine ich. Ist dir eigentlich klar, dass Harlowe und Konsorten, wenn Max recht hat, über alles Bescheid wissen, was Croft und Karonski wussten? Also auch über das Band der Gefährten. Du bist die Einzige, die immun gegen ihre Manipulationen ist. Und du bist der Schlüssel zur Kontrolle über mich. Da stellt sich eigentlich nur noch die Frage, ob sie versuchen werden, dich zu kidnappen, oder ob sie dich kurzerhand umlegen.“
Sie fuhren zu Rules Apartment, denn das von Lily war einfach zu klein. Er erledigte unterwegs einige Anrufe, und es würden schon bald ein paar Nokolai zu ihnen stoßen.
Rule wohnte im zehnten Stock eines Hochhauses. Ziemlich merkwürdig, dachte Lily, als sie auf den Aufzug warteten. „Warum entschließt sich jemand mit Klaustrophobie dazu, jeden Tag mit dem Aufzug rauf und runter zu fahren?“
„Ich habe keine Phobie! Und das Gebäude gehört den Nokolai. Es ist einfach praktisch für mich, hier zu wohnen.“
Aufgepasst, dachte Lily, man darf ihn nicht klaustrophobisch nennen, nur weil er Angst vor kleinen Räumen hat. Alles klar.
Der Aufzug kam, und sie gingen hinein, Lily mit Crofts Aktentasche, Rule mit Karonskis Laptop. Sie schmiegte sich behutsam an ihn – nur für den Fall, dass der große, starke Werwolf sich doch nicht so wohl fühlte, wie er behauptete.
Er drückte den Knopf für den zehnten Stock, steckte eine Hand in die Hosentasche und sagte: „Und außerdem ist der Aufzug sehr schnell.“
Sie lächelte.
„Was ist mit dir?“, fragte er leise. „Hast du keine Probleme mit engen Räumen?“
„In der Regel nicht. Ich gehe nur nicht in die Sauna.“ Im Kofferraum war es kochend heiß gewesen.
„Als ich hier eingezogen bin, dachte ich, es würde mich desensibilisieren, wenn ich jeden Tag mit dem Aufzug fahre.“
„Und? Hat es geholfen?“
Er grinste. „Nicht besonders.“
Als die Aufzugtür sich öffnete, betraten sie einen kleinen Flur. Es gab nur zwei Wohnungen auf dieser Etage, stellte Lily fest – die demzufolge ziemlich groß sein mussten. Die Tür zu Rules Apartment lag am westlichen Ende des Flurs. „Ich mache Kaffee“, sagte er, als er aufschloss.
„Warum überrascht mich das nicht?“ Sie folgte ihm, als er eintrat, schloss die Tür und drehte sich um. „Wo soll ich …“ Sie staunte nicht schlecht. Die Wohnung war großzügig geschnitten und offen gestaltet, und fast die gesamte Westseite war verglast. Das Panoramafenster bot eine grandiose Aussicht aufs Meer.
„Das ist der andere Grund, warum ich hier wohne“, sagte Rule. Anscheinend war sein Verlangen nach Kaffee noch nicht allzu stark, denn er blieb neben ihr stehen.
„Das muss eine der besten Aussichten in der ganzen Stadt sein!“
„Das glaube ich auch.“
Sie riss ihren Blick vom Meer und den Wolkenkratzern los und sah sich in der Wohnung um. Ihr Blick fiel auf eine lange, elegante Couch, die mit wunderschönem hellem Leder bezogen war – und fast unter Zeitungen, Zeitschriften und Büchern erstickte. Der Esstisch war aus edlem dunklem Holz. Jedenfalls das, was von ihm zu sehen war. Wo sie auch hinschaute, überall erblickte sie schöne Dinge. Und Unordnung.
„Hier ist es nicht so ordentlich wie bei dir.“
Sie sah ihn an. Lag etwa ein Anflug von Röte auf seinen Wangen? „Wer hätte das gedacht? Du bist ein Messie!“
Er runzelte die Stirn. „So schlimm ist es ja nun nicht.“
„Hier herrscht ein ziemliches Durcheinander.“ Sie drehte sich zu ihm um, schlang die Arme um seine Taille und legte lächelnd den Kopf an seine Schulter. „Aber das ist okay. Unter dem Durcheinander verbirgt sich ein herrlicher Ort zum Wohnen.“
Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Seine muskulösen Arme waren hart vor Anspannung, als er sie an sich zog. Er räusperte sich. „Was meinst du? Ob Harry sich hier wohlfühlen würde? Es gibt jede Menge Platz.“
Oh Schreck! Er sprach eigentlich gar nicht von Harry. Lily schluckte. „Ich weiß nicht. Von hier kann er nicht nach draußen. Er war sehr lange sein eigener Herr. Ich bin nicht sicher, ob er sich daran gewöhnen könnte, die ganze Zeit eingesperrt zu sein.“
Rule sagte nichts, doch sein Körper blieb angespannt. War er enttäuscht? Verletzt? Lily legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, und schaute in seine dunklen, ernsten Augen, die ihren Blick suchten. „Wir können es ja eine Zeit lang ausprobieren“, sagte sie. „Mal sehen, wie es läuft.“
„Gute Idee.“ Er strich ihr mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss auf den Mund; keinen flüchtigen, sondern einen, der Lust auf mehr machte. „Möchtest du jetzt einen Kaffee?“
Lily lachte etwas unsicher. „Klar, warum nicht? Äh … hast du etwas dagegen, wenn ich ein bisschen Platz auf dem Tisch schaffe?“
„Die Stapel sind geordnet, auch wenn es nicht so aussieht. Schieb sie ans andere Ende, aber bring nichts durcheinander.“
Sie sah, was er meinte, als sie begann, die Papierberge zu verrücken. Es handelte sich nicht, wie sie angenommen hatte, um ein heilloses Chaos aus Werbepost und Spendenaufrufen, sondern um Quartalsberichte, Korrespondenz und andere Geschäftspapiere, die fein säuberlich voneinander getrennt waren. „Ich glaube, du brauchst ein Büro“, sagte sie, setzte sich und öffnete Crofts Aktentasche.
„Ich habe eins, aber ich arbeite lieber hier.“ Er stellte ihr eine Tasse hin und setzte sich zu ihr. „Ich habe nämlich eine richtige Arbeit, weißt du?“, bemerkte er trocken. „Ich verwalte den Immobilienbesitz und die Kapitalanlagen des Clans.“
„Du regelst das alles?“
„Natürlich nicht allein“, entgegnete Rule amüsiert. „Ich habe eine ausgezeichnete Assistentin, die ich dir schon bald vorstellen werde. Und zwei Sekretärinnen und Verwalter für die einzelnen Immobilien. Wir beschäftigen ein ziemlich teures Buchhaltungsbüro und haben eine Anwaltskanzlei, die für uns arbeitet.“
„Und wo sind deine Mitarbeiter?“
„Sie gehören zum Clan, also leben und arbeiten sie auf dem Clangut. Die letzten Tage waren nicht gerade normal. In der Regel verbringe ich die Hälfte meiner Zeit dort.“
Okay, das ergab natürlich Sinn. Und es unterstrich wieder einmal, wie wenig sie eigentlich über Rule wusste. Aber egal, sagte sie zu sich, das konnte warten. Das musste warten. „Hier ist das Material über Harlowe“, sagte sie und nahm einen Hefter aus der Aktentasche. „Wir haben seine Sozialversicherungsnummer, die Nummer seines Girokontos und so weiter. Kannst du damit etwas anfangen?“
„Bestimmt. Wonach soll ich suchen?“
„Nach seinen Verbindungen, nach Ungereimtheiten und Besitztümern. Hat er zum Beispiel ein Haus oder ein Büro in Oceanside, wo er sich mit Croft und Karonski getroffen hat? Oder irgendwo dort in der Nähe? Dafür, dass er tatsächlich gestern aus L.A. zurückgekommen ist, haben wir keine Beweise.“
„Es wird eine Weile dauern. Was wirst du in der Zeit machen?“
„Einen Freund anrufen und ihn um einen Gefallen bitten. Dann fahre ich mit dem Aufzug nach unten und gehe vielleicht ein bisschen spazieren.“ Sie sah ihm in die Augen. „Wir müssen es wissen, Rule. Wir müssen herausfinden, wie weit wir uns voneinander entfernen können.“
Er atmete tief durch. „Natürlich. Und ich muss über meine Angst hinwegkommen, dass dir etwas passiert, wenn ich dich aus den Augen lasse. Aber warte, bis meine Leute da sind. Wenn du dich zu weit entfernst und umkippst, wäre es schön, wenn jemand dabei ist, der dich auffangen kann.“