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Roman

Ins Deutsche übertragen von
Antje Görnig

 
 

Inhalt

Widmung

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Liebe Leserin, lieber Leser

Impressum

 

Dieses Buch ist meiner Agentin Eileen Fallon gewidmet, die mit mir durch dick und dünn ging und immer bei der Stange blieb – und am Telefonhörer. Ich wollte nur sagen: „Hi, Eileen – hier ist Eileen. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“

 
 

1

Viel war von seinem Gesicht nicht mehr übrig. Lily blieb auf Abstand und achtete darauf, dass ihre neuen schwarzen Stöckelschuhe nicht mit der Blutlache in Berührung kamen, die an den Rändern bereits eingetrocknet, um die Leiche herum jedoch noch feucht war. In den Jahren bei der Verkehrspolizei hatte sie allerdings schon Schlimmeres gesehen.

Es war jedoch etwas anderes, wenn jemandem solche Verletzungen vorsätzlich zugefügt worden waren.

In der warmen Luft hingen Nebelschwaden, die im Licht der Polizeischeinwerfer sichtbar wurden, und sie spürte den feuchten Dunst im Gesicht. Der Geruch von Blut war deutlich wahrnehmbar. Blitzlichter zuckten durch die Nacht, während der Kollege Fotos vom Tatort machte.

„Hallo Yu! Juhu!“, rief der Officer mit der Kamera, ein etwas zu klein geratener Mann mit Backenhörnchen-Gesicht und rotem, kurz geschnittenem Haar, das wie der Flaum eines Pfirsichs anmutete.

Lily verzog das Gesicht. O’Brien wurde das alte Witzchen einfach nie leid. Wenn sie sich eines Tages im stolzen Alter von hundert Jahren im Pflegeheim über den Weg laufen sollten, dann wäre das Erste, was er zu ihr sagen würde: „Hallo Yu, juhu!“

Natürlich nur, falls sie ihren Mädchennamen in den nächsten zweiundsiebzig Jahren behielt. Doch angesichts des Trauerspiels, das sie augenzwinkernd als ihr Privatleben bezeichnete, war dies sehr wahrscheinlich. „Was ist, kleiner irischer Mann?“

„Sieht aus, als hättest du heute Abend ein heißes Date gehabt.“

„Nein. Mein Kater und ich machen uns immer fürs Abendessen schick. Dirty Harry sieht im Smoking großartig aus.“

O’Brien schnaubte und drehte ab, um den Tatort aus einer anderen Perspektive abzulichten. Lily schenkte ihm keine Beachtung mehr und ignorierte auch den anderen S.O.C.-Beamten, die Schaulustigen hinter dem Maschendrahtzaun und die Uniformierten, die diese in Schach hielten.

Eine Blutlache lockt immer Neugierige scharenweise an – wie ein Marmeladenklecks die Fliegen. Die Leute, die sich an diesem Tatort versammelt hatten, kamen jedoch nicht aus der Nachbarschaft. Die Bewohner dieses Viertels wussten ganz genau, dass Neugier sie unter Umständen teuer zu stehen kam. Sie wussten auch, wie sich eine Schießerei anhörte und wie Drogenhandel aussah. Bei den Menschen, die sich hier den Hals verrenkten, um einen Blick auf die blutige Szene zu erhaschen, handelte es sich vermutlich um Besucher des Nachtclubs am oberen Ende der Straße. Der Club Hell zog eine ganz spezielle Kundschaft an.

Auch der Tote sah nicht so aus, als käme er aus dieser Gegend.

Er lag auf dem Rücken. Zu seinen Füßen befand sich ein platt getretener Kaffeebecher, unter seinem Gesäß ein Fetzen Zeitungspapier und neben ihm eine zerbrochene Bierflasche. Was immer ihm die Kehle herausgerissen und das Gesicht verunstaltet hatte, hatte ein Auge und die rechte Wangenpartie unversehrt gelassen. Das braune Auge starrte entsetzt ins Leere, und der glatte Teint hatte die Farbe des Rattansessels auf der Veranda ihrer Mutter. Markenjeans, stellte sie fest, wie man sie in teuren Kaufhäusern fand. Schwarze Sportschuhe, ebenfalls von einer teuren Marke. Ein rotes Seidenhemd.

Der rechte Ärmel des Hemds war zerfetzt, der Unterarm wies drei tiefe Wunden auf – Abwehrverletzungen. Der Arm war ausgestreckt, die Hand lag mit dem Handteller nach oben, und die Finger waren nach innen gebogen wie bei einem schlafenden Kind.

Die andere Hand lag ungefähr vier Meter von der Leiche entfernt, unmittelbar neben dem Gestell einer Schaukel.

Himmelherrgott noch mal, jemand hatte diesen Kerl mitten auf einem Spielplatz so zugerichtet! Der Gedanke schnürte Lily die Kehle zu, und ihre Schultern zogen sich zusammen. Sie hatte schon viele Tote gesehen, seit sie ins Morddezernat versetzt worden war. Ihr drehte sich längst nicht mehr der Magen um, aber das Bedauern, die Betrübnis über die Vergeudung von Menschenleben war ihr geblieben.

Der Tote war nicht mehr jung genug gewesen, um Spaß am Schaukeln zu haben – Mitte zwanzig vielleicht. Sie schätzte ihn auf etwa eins achtzig bei einem Gewicht von neunzig Kilo. Er hatte Schultern und Arme wie ein Gewichtheber und beeindruckende Schenkel. Er war sehr stark gewesen und vielleicht auch ein wenig draufgängerisch.

Aber seine Kraft hatte ihm an diesem Abend nicht viel genützt. Auch die 22er-Pistole nicht, die er offenbar bei sich gehabt hatte. Sie lag neben der abgetrennten Hand und schien den gekrümmten Fingern in dem Augenblick entglitten zu sein, als das Leben sie verlassen hatte.

„Vorsicht, Detective! Machen Sie sich nicht Ihr hübsches Kleid schmutzig!“

Lily schaute nicht von der Leiche auf. Sie kannte die Stimme, denn der Mann hatte ihr Bericht erstattet, als sie eingetroffen war. „Tatorte werden häufiger von Polizeibeamten mit Fremdspuren kontaminiert als von Zivilisten. Haben Sie einen Grund, mit Ihren großen Füßen hier herumzutrampeln, Phillips?“

„Um Himmels willen, ich bin drei Meter von der Leiche entfernt!“

Nun sah sie ihn an. Officer Larry Phillips war die eine Hälfte des Teams, das zuerst am Tatort gewesen war. Lily hatte bisher noch nicht mit ihm zu tun gehabt, aber sie wusste, zu welcher Sorte er gehörte. Er war über vierzig, tat immer noch Streifendienst und war dementsprechend verbittert. Sie war eine Frau von achtundzwanzig Jahren und bereits Detective.

Er konnte sie nicht leiden. „Ob Sie es glauben oder nicht“, sagte Lily, „es wurde schon in mehr als drei Metern Entfernung von Leichen Beweismaterial gefunden. Was wollen Sie?“

„Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass keiner der hilfsbereiten Bürger hinter dem Zaun etwas gesehen hat. Sie haben im Club gefeiert und ihn gemeinsam verlassen und sahen dann die Streifenwagen mit dem hübschen Blaulicht. Also sind sie hergekommen, um nachzusehen, was los ist.“

„Im Hell, meinen Sie?“

„Dort werden Sie nach dem Mörder suchen müssen. Das Labor wird in diesem Fall keine Hilfe sein.“

„Es gibt ja auch noch andere Beweismittel.“

Er schnaubte. „Ja, vielleicht hat der Täter seine Visitenkarte dagelassen. Oder Sie schließen sich der Meinung meines Partners an. Er glaubt, es sei das Werk eines Straßenköters.“

Lily schaute zu dem Loch in dem Maschendrahtzaun hinüber, das als Zugang zum Tatort diente. Dort stand Phillips’ Partner, ein junger Hispano-Amerikaner, der zusammen mit den anderen Beamten die Menge im Zaum hielt und sich Namen und Adressen notierte. „Ihr Partner ist wohl neu hier?“

„Ja.“ Phillips kramte einen verpackten Zahnstocher aus seiner Tasche, zog ihn aus der Zellophanhülle und klemmte ihn sich zwischen die Lippen. „Ich habe ihm schon erklärt, dass Hunde einem Menschen für gewöhnlich nicht mit einem Happs die Hand abbeißen.“

Phillips war nicht blöd, das musste sie zugeben, nur nervig. Sie nickte. „Ein halbwegs kräftiger Mann kann einen Hund in der Regel abwehren. Aber es gibt kaum Kampfspuren, und dann ist da noch die Pistole …“ Die das Opfer vermutlich bei sich getragen hatte, doch es bestand auch die Möglichkeit, dass eine dritte Person am Tatort gewesen war. Lily schüttelte den Kopf. „Das Biest muss ihn ziemlich schnell erledigt haben.“

„Schnell sind sie, das stimmt. Dem armen Kerl blieb vermutlich nicht mal genug Zeit, um festzustellen, dass seine Hand weg war.“

„Aber er hatte den richtigen Instinkt. Er hat versucht, den Kopf zu senken und so seinen Hals zu schützen. Dabei hat er den Großteil seines Gesichts verloren. Dann hat es ihm die Kehle herausgerissen.“

„Na, na, na. Sie sollen doch nicht ‚es‘ sagen. Wir müssen jetzt ‚er‘ sagen und sie wie Menschen behandeln. Sie genießen jetzt den Schutz des Gesetzes.“

„Ich kenne das Gesetz.“ Lily sah zu Phillips auf. Das musste sie notgedrungen, denn er war ein drahtiger Kerl von gut eins neunzig. Eigentlich musste Lily zu fast jedem aufsehen, doch sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr darüber zu ärgern. „Das hier ist Ihr Revier, Officer. Können Sie den Toten identifizieren?“

„Er ist nicht aus diesem Viertel.“

„Ja, das dachte ich mir. Vielleicht war er auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer – Drogen oder Sex –, oder ihm stand der Sinn nach den etwas legaleren Vergnügungen im Hell. Wenn er dort Stammkunde war, haben Sie ihn vielleicht schon mal hier gesehen.“

Phillips schüttelte den Kopf. Der Zahnstocher schien regelrecht an seiner Unterlippe festzukleben. „Das ist kein Tötungsdelikt im Zusammenhang mit Drogen, und das war auch kein Zuhälter, der einen zahlungsunwilligen Freier bestraft hat. Das ist eigentlich gar kein richtiger Mordfall.“

Drei Jahre zuvor wäre ein solcher Fall noch an die X-Einheit gegangen. Nun war das Morddezernat dafür zuständig. „Die Gerichte sehen das anders.“

„Und wir wissen ja, wie clever unsere gefühlsduseligen Richter sind! Ihretwegen müssen wir die Bestien jetzt wie Menschen behandeln. Die Schweinerei zu Ihren Füßen zeigt ja, was für eine großartige Idee das ist!“

„Ich habe schon schlimmere Dinge gesehen, die Menschen anderen Menschen angetan haben. Und wie dem auch sei, der Tatort darf auf keinen Fall verunreinigt werden!“

„Klar doch, Detective.“ Phillips grinste spöttisch und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er jedoch noch einmal inne und nahm den Zahnstocher aus dem Mund. Als er Lily in die Augen sah, waren Spott und Verärgerung aus seinem Blick verschwunden. „Noch ein Rat von jemandem, der fünfzehn Jahre bei der X-Einheit war: Nennen Sie sie, wie Sie wollen, aber setzen Sie Lupi nicht mit Menschen gleich. Man kann ihnen kaum etwas anhaben, sie sind schneller als wir, sie sind stärker, und wir scheinen ihnen ziemlich gut zu schmecken.“

„Dieser hier hat sich offenbar nicht viel Zeit zum Genießen gelassen.“

Phillips zuckte mit den Schultern. „Er wurde gestört. Und denken Sie immer daran, dass Lupi rechtlich gesehen nur dann Menschen sind, wenn sie auf zwei Beinen herumlaufen. Wenn Sie auf einen Vierbeiner treffen, nehmen Sie ihn nicht fest. Erschießen Sie ihn auf der Stelle!“ Er schnippte seinen Zahnstocher auf den Boden. „Und zielen Sie auf das Gehirn!“

„Ich werde es mir merken. Heben Sie den Zahnstocher auf!“

„Was?“

„Der Zahnstocher! Er hat nichts am Tatort verloren. Heben Sie ihn auf!“

Phillips bückte sich mürrisch, schnappte sich den Zahnstocher und murmelte im Weggehen etwas von „Haare auf den Zähnen“.

„Einen Freund hast du da aber nicht gerade gewonnen“, bemerkte O’Brien fröhlich.

„Ich bin auch ganz unglücklich darüber.“ Lily sah zur Straße. Das Auto, das hinter dem Krankenwagen angehalten hatte, war vom Büro des Coroners.

Sie musste sich beeilen. „Wie es aussieht, wird das Opfer schon bald offiziell für tot erklärt. Bist du mit den Fotos fertig?“

„Willst du es dir noch genauer ansehen?“

Seine Frage klang ganz harmlos und beiläufig, aber es war klar, was er meinte. O’Brien arbeitete schon lange genug mit ihr zusammen, um zu wissen, dass es bei ihr nicht auf das Sehen ankam, doch das sagte er natürlich nicht. Sensitive waren zwar bei der Polizei nicht verboten, aber es konnte durch sie zu Komplikationen kommen. Offiziell praktizierte die Behörde im Umgang mit diesen Dingen eine Politik des stillschweigenden Einverständnisses.

Dabei ging es nicht allein um Vorurteile. Nicht reproduzierbare Erkenntnisse waren vor Gericht als Beweismaterial nicht zulässig, und ein guter Strafverteidiger konnte die Zeugenaussage eines Polizeibeamten in Fetzen reißen, wenn den Ermittlungen auch nur ein Hauch des Übernatürlichen anhaftete.

Aber Cops waren in der Regel pragmatisch. Inoffiziell galt die Devise, dass man tat, was immer nötig war, um einen Übeltäter zu fassen, auch wenn man es unter der Hand tun musste. Und genau aus diesem Grund war Lily nun in diesem Elendsviertel und musste eine Leiche untersuchen, statt auf der Verlobungsparty ihrer Schwester die Annäherungsversuche von Henry Chen abzuwehren. Was wiederum bewies, dass man allem etwas Positives abgewinnen konnte, wenn man nur wollte. Lily sah O’Brien in die Augen und nickte.

„Mach nur“, sagte er und ging, während er an seiner Kamera herumhantierte, ein paar Schritte zur Seite, um sich zwischen sie und die Schaulustigen hinter dem Zaun zu stellen.

Er war zwar nicht stämmig genug, um den Leuten vollständig die Sicht zu versperren, aber er erschwerte es ihnen, genau zu erkennen, was sie tat. Dafür war Lily ihm dankbar. Sie stellte ihren Rucksack ab und kniete sich vor die Leiche, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock nicht zu weit hochrutschte. Dann ergriff sie die Hand des Toten.

Sie war schlaff. Noch keine Totenstarre. Wächserne Haut. Die Hand war blau angelaufen, und das Gesicht hatte eine leicht violette Färbung. Kaum Leichenflecken sichtbar. Alles nur Anhaltspunkte, aber sie deuteten darauf hin, dass der Mann noch nicht lange tot gewesen war, als die Leitstelle um 23:04 Uhr den anonymen Hinweis erhalten hatte.

Er hatte kurz geschnittene, saubere Nägel. Sie waren rechteckig und die Finger im Verhältnis zu den großen Handtellern eher kurz. Teilweise verheilte Kratzer auf den Fingerknöcheln … Er hatte sich offenbar ein paar Tage zuvor geprügelt. Die Nagelbetten waren blass. Keine Ringe an den Fingern.

Und keine Reaktion in ihrem Inneren.

Blut war in die Handfläche gelaufen und zu einem schwärzlich-braunen Fleck getrocknet, der kleine Risse bekam, als sie die Hand etwas drehte, um besser sehen zu können. In dem Blutfleck klebte ein Büschel melierte Haare. Lily fuhr mit den Fingern darüber.

Es war, als ob sie eine Wand berührte und die in ihr gespeicherte Wärme spürte, nachdem die Sonne längst untergegangen war. Oder wie das Gefühl, wenn man eine Bohrmaschine zur Seite legt, die Hände aber immer noch zu vibrieren scheinen.

Aber eigentlich waren es weder Wärme noch Vibration, die sie nun wahrnahm. Lily hatte noch kein Wort gefunden, um das unverkennbare Gefühl zu beschreiben, das sie verspürte, wenn sie etwas anfasste, dem Magie anhaftete.

Einmal hatte sie versucht, es ihrer Schwester zu erklären – Beth, der jüngeren, nicht ihrer perfekten älteren Schwester: Wenn alles, was man tagtäglich berührte, glatt und weich war, dann merkte man sofort, wenn man auf etwas Raues stieß – auch wenn es sich nur ein ganz kleines bisschen rau anfühlte wie an diesem Abend.

Nein, dachte Lily und legte die Hand des Toten vorsichtig ab. Das Labor würde über den Mörder tatsächlich nicht viel in Erfahrung bringen. Nicht mehr, als sie durch die Berührung der Haare erfahren hatte, die in der blutigen Hand des Opfers klebten. Sie erhob sich.

„Und? Hatte der Bestienjäger recht?“, fragte O’Brien. „Verschwende ich nur meine Zeit, wenn ich Proben sammle?“

Lily sah ihn scharf an. „Du wirst ganz vorschriftsmäßig vorgehen!“

Er verdrehte die Augen. „Ja doch! Als müsstest du mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe!“

„Tut mir leid.“ Sie atmete tief durch, um wieder klar denken zu können. „Ja, Phillips hatte recht. Das Opfer ist ein Mensch, aber der Mörder ist ein Werwolf.“

„Ein Lupus, meinst du.“ O’Brien wackelte mit den Augenbrauen. „Dazu haben wir doch ein Memo bekommen. Lupus ist der Singular, Lupi der Plural.“

„Wie auch immer, ein Mörder ist er auf jeden Fall …“ Enerviert von so viel Political Correctness zuckte sie mit den Schultern und warf den Neugierigen hinter dem Zaun einen Blick zu. „Dann werde ich dem Club Hell wohl heute noch einen Besuch abstatten.“

Fünfzehn Minuten später hatte der Assistent des Coroners das Opfer für tot erklärt, und Lily wusste, um wen es sich handelte: Carlos Fuentes, fünfundzwanzig. Die Adresse im Führerschein lautete: 4410 West Thomason, Apartment 33C. Phillips überprüfte die Angaben, und Lily machte sich daran, die hilfsbereiten Mitbürger hinter dem Zaun zu befragen.

Es waren sechs an der Zahl, vier Frauen und zwei Männer. Leder und Piercings schienen derzeit bei beiden Geschlechtern ziemlich angesagt zu sein – und Haut zu zeigen.

Die Frau, die sich gerade den Führerschein ansah, den Lily ihr in einer Plastikhülle hinhielt, trug eine lindgrüne Lederhose und ein Top aus zweieinhalb Zentimeter breiten Lederriemen, die sich über ihren Brüsten kreuzten. In ihrem blonden Haar prangten violette Strähnen. Im linken Ohr trug sie sieben Ringe, im rechten drei, im rechten Nasenflügel einen Rubinstecker und im Bauchnabel eine kleine Kreole.

Sie hieß Stacy Farquhar und hatte eine Piepsstimme wie ein kleines Mädchen. „Ich weiß, dass ich ihn schon mal gesehen habe, aber auf Führerscheinfotos sieht keiner so aus wie in Wirklichkeit.“

Ein knochendürrer Mann mit einem schwarzen Leder-Bodysuit schaute ihr über die Schulter. Das dunkelbraune Haar, glänzend und gepflegt, reichte ihm bis über die Schultern. Er trug einen Ohrring im linken Ohr, entweder einen Diamanten oder eine sehr gute Imitation. „Sieht wie Carlos Fuentes aus.“

„Carlos?“, fuhr die andere Frau auf, eine pummelige Weiße mit gefärbtem schwarzem Haar, das zu Dutzenden kleiner Zöpfchen geflochten war. Sie drängte nach vorn und schaute auf den Führerschein in Lilys Hand. „Oh Gott! Er ist es! Armer Carlos!“

„Sie kennen Carlos Fuentes, Madam?“, fragte Lily.

„Wir alle kennen ihn! Das heißt … er kommt gelegentlich in den Club.“ Sie sah die andere Frau beklommen an.

„Ach, um Himmels willen“, fuhr der hagere Mann auf, „das ist doch kein Geheimnis! Sie werden es sowieso herausfinden.“

„Weißt du, was du bist, Theo?“, entgegnete die pummelige Frau. „Du bist eifersüchtig. Total eifersüchtig!“

„Ich und eifersüchtig? Du bist doch diejenige, die …“

„Ich kann einfach nicht glauben, dass du ihn wirklich verpfeifen würdest!“, rief Stacy. „Du weißt doch, was die Cops dann mit ihm machen!“

Die pummelige Frau nickte. „Die haben den Lupi jahrhundertelang das Leben zur Hölle gemacht …“

„… völlig irre … Du hättest Rachel doch am liebsten etwas in ihren Drink getan, um dein Glück auch mal bei ihm zu versuchen!“

„Brutalität bei der Polizei ist kein Mythos. Erst vergangenes Jahr in New Hampshire …“

„… hast ihn doch letzten Dienstag total angeschmachtet. Das war nun wirklich allzu offensichtlich …“

„Bis vor Kurzem wurden sie noch auf offener Straße von den Cops erschossen – wenn du also glaubst, einem Lupus würde ein fairer Prozess gemacht …“

„Aber er wollte gar nichts von dir, nicht wahr?“

„Du bist doch nur neidisch, weil er nicht auf Männer steht!“

„Wer ist er?“, fragte Lily sanft.

Sie verstummten und wechselten schuldbewusste Blicke.

Einer der Männer – Franklin Booth, mittlere Statur, kahl rasierter Kopf, hautfarbene Lederweste über einem schwarzen Hemd und Jeans mit glänzenden Nieten an den Außennähten – warf seine Zigarette weg. „Arme Rachel!“

Lily sah ihn an. „Rachel?“

„Carlos’ Frau.“ Er seufzte. „Sie ist gerade im Club mit …“

„Franklin!“, unterbrach ihn die Pummelige.

„Süße, das nützt doch alles nichts“, sagte er leise. „Theo hat recht. Sie werden es herausfinden. Und eigentlich hat er ja ein Alibi. Ich meine, wir haben ihn doch alle dort gesehen, nicht wahr?“

Erleichtertes Gemurmel erhob sich, und Stacy beteuerte, dass er stundenlang dort gewesen sei. Lily wendete sich noch einmal an Booth. „Rachel Fuentes ist jetzt im Hell?“

„Das war sie jedenfalls, als wir gegangen sind.“

„Und mit wem war sie zusammen?“

Der dürre Mann lachte. „Nun, es gibt nur einen, der die Damenwelt derart in Aufregung versetzt. Und, wie ich zugeben muss, auch einige von uns Männern“, erklärte er und machte eine kleine Verbeugung vor der pummeligen Frau, um ihr in diesem Punkt recht zu geben. „Aber leider sind Lupi chronisch hetero.“

„Hat er vielleicht auch einen Namen?“

„Rule Turner, natürlich. Der Prinz pflegt den Club ab und an mit seiner Anwesenheit zu beehren.“ Der Dürre grinste. „Und kürzlich hat er Rachel mit noch weit mehr beehrt.“

Lily hatte Anweisung, Captain Randall anzurufen, sobald sie sich am Tatort einen ersten Eindruck verschafft hatte. Sie tat es auf dem Weg zum Hell.

Das Geklapper ihrer Absätze auf dem Gehsteig vermittelte ihr ein Gefühl von Einsamkeit, obwohl sie die Geräusche am Tatort noch hören konnte. Es musste an dem sonderbaren Nebel liegen, der völlig untypisch für San Diego war. Er hing in der Luft wie kalter Schweiß. Sie war froh, dass sie keine Brille trug. Sie wünschte nur, sie hätte auch keine Stöckelschuhe an. Falls sie hinter jemandem herrennen musste, waren sie eine Katastrophe.

Aber eigentlich hätte sie an diesem Abend ja auch frei gehabt. Sie tippte die Nummer des Captains in ihr Handy.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann es den letzten offiziell bestätigten Fall eines Mordes an einem Menschen durch einen Lupus gegeben hatte. In San Diego war so etwas jedenfalls nicht mehr vorgekommen, seit die Lupi durch die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts dem Gesetz – seinen Strafen wie auch seinem Schutz – unterstellt waren und nicht mehr erschossen wurden. Man musste kein Hellseher sein, um sich die Schlagzeilen des nächsten Tages auszumalen. Dieser Fall erhitzte alle Gemüter.

Lily war kein Greenhorn mehr, denn sie hatte schon lange bei der Sitte und im Morddezernat gearbeitet, bevor sie zum Detective befördert wurde, doch ihre Marke glänzte noch. Daher wollte sie es mit Gelassenheit ertragen, wenn sie diesen Fall an einen der dienstälteren Kollegen abgeben musste … nachdem sie sich im Hell umgehört hatte.

Randall hatte bereits auf ihren Anruf gewartet. Sie brauchte nicht lange, um ihre Erkenntnisse für ihn zusammenzufassen. „Nach dem Gespräch mit den Schaulustigen habe ich die Spur des Täters verfolgt. Die sichtbaren Hinweise verloren sich am westlichen Ende des Spielplatzes, aber ich bin noch ein Stück weitergekommen.“ Um genau zu sein, hatte sie Schuhe und Strümpfe ausgezogen und mit nackten Füßen die von der Magie hinterlassene Fährte erfühlt. Nun waren ihre Füße zwar schmutzig, aber es hatte geklappt. „Die Spur endete in einer Gasse zwischen Humstead Avenue und North Lee.“

„Weiter konnten Sie ihn nicht verfolgen?“

„Nein, Sir. Ich glaube, hier hat er sich verwandelt, zwischen zwei Müllcontainern.“ Die Spuren der Magie auf dem schmutzigen Asphalt waren sehr deutlich gewesen – ungewohnt, aber unverwechselbar. „In menschlicher Gestalt hinterlässt er nicht dieselben Spuren wie in Wolfsgestalt.“

„Hmmm. Haben Sie die Gasse abgeriegelt?“

„Ja, Sir. Die Leute von der Spurensicherung werden sie sich so schnell wie möglich vornehmen. Ich habe O’Brien die Verantwortung am Tatort übertragen.“

„Was zum Teufel soll das heißen? Wo sind Sie?“

„Vor dem Club Hell“, entgegnete Lily, was ein wenig gemogelt war, denn sie war noch einen halben Block von dem Lokal entfernt. „Die Frau des Opfers soll sich da aufhalten. Ich muss sie informieren. Und ich muss mit Rule Turner sprechen.“

Das schnarrende Geräusch an ihrem Ohr erkannte sie nur deshalb als Kichern, weil es ihr vertraut war. „Sie wollten mir wohl ein Schnippchen schlagen, Yu! Entspannen Sie sich! Ich habe Sie doch nicht aus Jux von der großen Party Ihrer Schwester weggeholt!“

„Dann ist es immer noch mein Fall?“

„Sie haben die Leitung. Es sei denn, Sie meinen, dass Sie nicht damit klarkommen.“

„Nein, Sir, das meine ich nicht. Aber ich habe nicht so viel Erfahrung wie einige andere.“

„Ihre … äh … besonderen Fähigkeiten erweisen sich unter Umständen als nützlich. Und das Letzte, was ich brauche, ist ein voreingenommenes Arschloch, das im Umgang mit dem Nokolaiprinzen einen auf Brutalinski macht. Er hat einen guten Draht zur Presse, und die wird uns ab jetzt permanent im Genick sitzen. Der Fall gehört also Ihnen. Aber wenn Sie nicht auf Anhieb ein Geständnis bekommen, werden Sie Unterstützung brauchen.“

Lily war völlig perplex und stimmte mechanisch zu.

„Sie können Meckle oder Brady haben.“

„Mech. Sergeant Meckle meine ich.“ Beide waren gute Cops, aber Brady war nicht besonders kollegial eingestellt – vor allem nicht gegenüber jungen Beamtinnen. „Sagen Sie ihm, er soll sich bei O’Brien einen Staubsauger und ein paar Bögen Papier abholen. Wenn die Lupi im Club kooperativ sind, überlassen sie mir vielleicht ihre Schuhe fürs Labor. Mech kann ihre Kleider absaugen.“

„Der Mörder hat aber keine Kleider getragen, als er Fuentes die Kehle herausgerissen hat.“

„Richtig, Sir. Mit dem Tatort können wir ihn nicht in Verbindung bringen, aber vielleicht mit der Gasse, in der er sich verwandelt hat. Er muss viel Blut von Fuentes an sich gehabt haben. Und selbst wenn durch die Verwandlung alle Spuren von seinem Körper entfernt wurden, müssten noch ein paar Blutstropfen auf der Straße zu finden sein. Vielleicht sind seine Schuhe damit in Berührung gekommen, nachdem er sich angezogen hat, oder mit irgendetwas anderem aus der Gasse. Vielleicht haften auch ein paar von seinen Haaren an seiner Kleidung – Wolfshaare meine ich.“

„Gute Idee. Ist einen Versuch wert. Ich werde Mech aus dem Bett klingeln und ihn rüberschicken. Und Sie sind bitte sehr vorsichtig im Umgang mit Turner! Rufen Sie mich an, falls es zu einer Festnahme kommen sollte. Ansonsten erwarte ich Sie morgen früh um neun in meinem Büro.“ Ein Klicken, dann das Amtszeichen.

Lily runzelte die Stirn und steckte ihr Handy in die dafür vorgesehene Tasche ihres Rucksacks. Falsche Bescheidenheit war nicht ihre Sache. Sie war ein guter Cop, ein guter Detective – aber sie war nicht der einzige gute Detective im Morddezernat. Die einzige Sensitive zwar, aber der Captain hätte auch von ihren Fähigkeiten profitieren können, ohne ihr die Leitung der Ermittlungen zu übertragen. Sie hatte noch nie so einen großen Fall.

Er dachte offenbar, sie sei der Herausforderung gewachsen, und sie wollte ihm beweisen, dass er recht hatte.

 
 

2

Der Nebel war dichter geworden. Der kleinste Windhauch hätte genügt, um Bewegung in die winzigen Wassertröpfchen zu bringen und den Dunst in Nieselregen zu verwandeln, aber es regte sich kein Lüftchen. Straßenlampen, Ampeln und Neonschilder waren von verschwommenen Lichtkränzen umrahmt.

Wie das Schild, zu dem Lily nun hochsah. Kleine rote Neonteufel tanzten um den Schriftzug „Club Hell“ und stachen mit Mistgabeln auf die Buchstaben ein.

„Echt kitschig“, murmelte sie. Das Schild kündete von einer Fünfzigerjahre-Verruchtheit, die im Vergleich zu den realen Schrecken dieses Viertels ziemlich harmlos wirkte. Wie lange gab es diesen Club eigentlich schon? „Ob das Absicht ist?“

„Wie bitte?“

Lily drehte sich zu dem jungen Mann um, der an sie herangetreten war: Officer Arturo Gonzales, Phillips’ Partner. Er war gut zwölf Zentimeter größer als sie und stämmig, aber fit wie jemand, der frisch vom Militärdienst kommt – und mit der Art von Pausbäckchen ausgestattet, in die ältere Damen gern kneifen. Sie hatte ihn vorgeschickt, damit er bis zu ihrem Eintreffen den Eingang des Clubs im Auge behielt. „Der Clubbesitzer muss einen ziemlich guten Umsatz machen, wenn er sich einen bewachten Parkplatz leisten kann. Waren Sie schon mal drin, Officer?“

„Nein, Madam.“

Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Sie kommen aus dem Süden, wie ich höre.“

„Nein, Madam. Ich bin aus dem Westen von Texas.“

„Klingt ziemlich südlich für mich.“

Er nickte mit ernster Miene. „Ist schon seltsam. Das meinen alle, die nicht aus Texas sind. Aber das ist wohl wie mit den Leuten aus Los Angeles. Sie sagen nie, dass sie von der Westküste oder aus Kalifornien kommen – sie sind einfach aus L.A.“

„Ich denke, das spricht für sich. Was wissen Sie über das Hell?“

Er grinste. „Das ist ein Werwolfschuppen. Da trifft man sie und ihre Groupies.“

„Die abenteuerlustigen Touristen nicht zu vergessen! Die schauen da auch gern mal rein.“ Sie sah ihn nachdenklich an. Aufgrund der sexuellen Gepflogenheiten der Lupi galt der Nachtclub als extrem lasterhaft und verkommen, und das machte ihn natürlich zu einem angesagten, beliebten Lokal. „Texas gehörte zu den Staaten mit Schießbefehl, nicht wahr?“

„Ja, Madam, bis zur Gesetzesänderung.“

„Nun, Kalifornien nicht. Lupi war es erlaubt, sich hier aufzuhalten, solange sie sich registrieren ließen.“ Sie waren die ersten Besucher des Clubs gewesen: registrierte Lupi, denen man Injektionen verabreichte, die die Verwandlung verhinderten und die von den Menschen für ungefährlich gehalten wurden.

„Ihre X-Einheiten haben sie getötet.“

„Nur wenn sie sich dauerhaft der Registrierung widersetzt haben oder wenn ein Gericht entschied, dass sie eindeutig eine Gefahr darstellten.“ Theoretisch zumindest. Das Bundesrecht hatte verlangt, dass alle Lupi registriert wurden – gewaltsam, falls nötig – und die Injektion erhielten. Und der Begriff „gewaltsam“ war ein weites Feld, wenn man es mit Kreaturen zu tun hatte, die sich selbst mit mehreren Ladungen Munition im Leib nicht davon abhalten ließen, jemandem die Kehle herauszureißen.

Die Lupi hatten sich in der Regel heftig gegen die Registrierung gesträubt.

„Ich rede jetzt mit den Leuten da drin“, sagte Lily. „Einige von ihnen werden Lupi sein. Sie sind jetzt Staatsbürger und haben dieselben Rechte wie alle anderen Bürger auch. Kommen Sie damit klar, oder muss ich mir jemand anderen holen?“

Gonzales dachte nach. Lily wusste nicht, ob sie entsetzt sein sollte, weil er so lange für die Entscheidung brauchte, oder eher beeindruckt von seiner Ehrlichkeit. Nach einer Weile nickte er. „Ich denke, es ist unsere Aufgabe, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, und nicht, darüber zu urteilen, ob sie richtig oder falsch sind.“

„Das denke ich auch.“ Lily ging die ersten Stufen hinunter. Der Eingang zum Hell befand sich selbstverständlich unter der Erde. Eine breite Treppe führte durch einen steinernen Schacht bis zum Kellergeschoss des Gebäudes. Das schuf eine nette Kerkeratmosphäre, fand Lily, auch wenn Gonzales in dem kalten blauen Licht aussah wie eine wandelnde Leiche.

Am Fuß der Treppe war eine einfache schwarze Metalltür, durch die Musik nach außen drang. Sie ließ sich mühelos öffnen.

Gerüche, Lärm, Farben – all das schlug Lily geballt entgegen. Buntes Scheinwerferlicht zuckte durch einen riesigen höhlenartigen Raum voller Tische, Leute, Stimmen und Musik. Die hohe Decke verlor sich in der Dunkelheit, die Musik war laut, und es roch nach Rauch.

Von Tabak oder Pot rührte er nicht her, auch nicht von verbranntem Holz oder irgendetwas anderem, das sie kannte. Es war auch eher ein Duft als richtiger Rauch; ein Aroma, das sie nicht einordnen konnte … Vielleicht stellte sich irgendjemand Schwefelgeruch so vor.

Den Song, der gerade zu Ende ging, erkannte Lily erst mit einiger Verspätung und grinste. „Hotel California.“ Das Management achtete offenbar darauf, seinem Motto treu zu bleiben.

„Willkommen in der Hölle!“, dröhnte eine tiefe Bassstimme zu ihrer Linken. „Durch das Portal zu treten hat seinen Preis!“

Sie schaute den kleinen Mann an, der auf einem Barhocker an einem Tisch mit einer altmodischen Registrierkasse saß. Er hatte einen großen Kopf und breite Schultern, und sein Anzug wirkte wie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film, aber das war nicht der Grund, warum Lily ihn so anstarrte. Der Mann war von einer unglaublichen Hässlichkeit, die ebenso faszinierend war wie die atemberaubende Schönheit einiger weniger Menschen.

Seine Nase war lang und dünn und gebogen wie bei der bösen Hexe aus dem Märchen, so als sei sie geschmolzen und mitten im Heruntertropfen wieder erstarrt. Er hatte keine Haare, so gut wie kein Kinn und ganz schmale Lippen, und seine Haut hatte die gräuliche Farbe von Pilzen. Seine Füße waren so groß wie Lilys Hände und baumelten ein gutes Stück über dem Boden.

Sie blinzelte. „Ach, Sie nehmen Eintritt?“

„Zwanzig pro Kopf.“

„Das gilt nicht für mich. Ich bin Detective Yu“, erklärte sie, zog ihre Marke aus der Seitentasche ihres Rucksacks und hielt sie ihm hin. „Und Sie sind …?“

„Nennen Sie mich Max.“ Er beäugte die Marke misstrauisch. „Und was wollen Sie?“

„Ich will mit ein paar Clubgästen reden. Wie ich hörte, sind Rachel Fuentes und Rule Turner hier zu finden.“

„Wen interessiert das schon?“

„Sie sollten lieber mit mir zusammenarbeiten. Sind die beiden hier oder nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Glaube schon.“

„Und seit wann ist Mr. Turner im Club?“

„Warum?“

„Weil ich hier der Cop bin und die Fragen stelle. Waren Sie den ganzen Abend an der Kasse?“

„Seit neun.“

„Wissen Sie, wie lange Turner schon hier ist?“

„Vielleicht.“

Mehr sagte er nicht, sondern starrte sie nur an. Sein Blick war irritierend, so bewegungslos wie bei einem Reptil. Lily kniff die Lippen zusammen. „Vielleicht sollte ich mit dem Besitzer oder dem Manager sprechen.“

„Einen Manager gibt es nicht, und der Besitzer bin ich.“ Er seufzte. „Also gut, seine grandiose Hoheit ist gegen Viertel nach neun, halb zehn gekommen, so um den Dreh. Die Fuentes war schon früher hier.“

Halb zehn. Ungefähr um diese Zeit war Carlos Fuentes ihrer Einschätzung nach getötet worden, aber auf diesem Gebiet war sie keine Expertin. „Wie viele Ausgänge gibt es?“

„Diesen hier und den Notausgang hinten.“ Er seufzte einmal mehr. „Ich hasse Cops.“

„Wen interessiert das schon?“

„Vielleicht sind Sie gar nicht so blöd, wie Sie aussehen“, entgegnete er, doch es klang eher pessimistisch – so als glaube er nicht so recht daran. „Schöne Möpse übrigens. Ich steh auf kleine. Lust auf einen Quickie?“

Lily fiel die Kinnlade herunter, und es juckte ihr in den Fingern, den kleinen Mistkerl zu würgen. „Lust, die nächsten Wochen in einer winzigen Zelle zu verbringen?“

„War doch nur ’ne Frage!“

„Bringen Sie mich zu Rachel Fuentes!“ Popcorn? Roch sie da etwa Popcorn? Das konnte doch wohl nicht wahr sein!

„Sie ist bei Turner.“

„Dann bringen Sie mich zu Turner.“

„Lesen Sie keine Zeitung? Weiß doch jeder, wie der aussieht!“

„Ich habe natürlich schon Fotos von ihm gesehen.“ Der Prinz der Nokolai war eine Art Star, der regelmäßig in Klatschspalten und Zeitschriften auftauchte und mit Schauspielerinnen, Models und ab und zu auch mit Politikern oder Großunternehmern zusammen fotografiert wurde. Er leistete Lobbyarbeit für seine Leute in Sacramento und Washington und feierte Partys mit den Berühmtheiten aus Hollywood. „Aber ich möchte trotzdem, dass Sie ihn mir zeigen. Und Rachel Fuentes.“

„Okay, okay. He, du!“ Er sprang von seinem Hocker und rief einen jungen Kellner mit nacktem Oberkörper zu sich: „Dumpfbacke! Komm rüber, und setz dich an die Kasse!“ Dann schaute er mürrisch zu Lily hoch. „Kommen Sie mit oder was?“, schnauzte er sie an und marschierte los.

Lily folgte ihm durch den überfüllten Raum, und Gonzales heftete sich an ihre Fersen.

Allmählich bekam sie Magenschmerzen. In ein paar Minuten musste sie Rachel Fuentes sagen, dass ihr Mann ermordet worden war. Möglicherweise hatte sich die Frau ein kleines außereheliches Abenteuer genehmigt, aber das musste nicht bedeuten, dass sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes ruhig und gefasst aufnehmen würde. Die Erfahrung hatte Lily gelehrt, dass die Liebe viele Erscheinungsformen hatte – und nicht alle waren nachvollziehbar, geschweige denn ungefährlich.

Wenigstens war die Witwe in diesem Fall nicht tatverdächtig. Unter Umständen war sie eine Helfershelferin, aber wer auch immer Carlos Fuentes getötet hatte, seine Frau war es sicher nicht gewesen. Weibliche Werwölfe gab es nicht.

Lilys kleiner, unwirscher Begleiter war stehen geblieben, um mit ein paar Clubgästen zu reden, die wissen wollten, wann die Varietévorstellung begann. Als er sich wieder in Bewegung setzte, fragte Lily ihn erneut nach seinem Namen. Sie brauchte ihn für ihren Bericht.

„Sie hören wohl schlecht, was? Max.“

„Haben Sie auch einen Nachnamen?“

„Smith.“

Smith? Dieser widerliche Schrumpfkopf hieß Smith?

Gonzales beugte sich zu ihr. „Er sieht wie ein Gnom aus“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Zu groß. Und zu fies. Und seit wann treiben sich Gnome unter Menschen herum?“

„Dann ist er eben ein irrer Gnom, der Steroide nimmt.“

Sie grinste. „Könnte sein, eine Art Psychopath. Aber Gnome dürfen keine Geschäftseigentümer sein.“ Das würde sich jedoch ändern, wenn der Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform durchkam.

Es war ziemlich viel los im Club. Sie schlängelten sich durch ein Labyrinth aus kleinen schwarzen Tischen hindurch, an denen angeregt geplaudert wurde. Das Licht der Scheinwerfer schillerte nun nicht mehr in allen Regenbogenfarben, sondern in einem äußerst unhöllischen Rosarot. Wie Lily mit einem raschen Blick in die Höhe feststellte, waren die Spots an Schienen befestigt, die im Zickzack unter der Decke verliefen.

Auf den meisten Tischen brannten rote Kerzen. Eine runde Bühne, die gerade leer war, befand sich in der Mitte des großen Raumes, und an den Wänden züngelten Neonflammen. Zwei Wendeltreppen führten nach oben, ins Dunkle.

Lily bemerkte viele seltsame Frisuren und Aufsehen erregende Outfits, doch die meisten Gäste sahen aus wie ganz normale Clubhopper. Gonzales’ Uniform zog zahlreiche Blicke auf sich, als sie die Tanzfläche erreichten, die sich gerade zu leeren begann, weil die Musik aufgehört hatte.

Als die Menge sich zerstreute, konnte Lily sehen, wohin Max Smith sie führte. Ganz hinten, in der rechten Ecke und deutlich abgesetzt vom Rest des Raumes, standen drei größere Tische. Fünf Männer saßen dort … und sehr viele Frauen.

Die Männer hatten alle dunkle Haare, vermutlich waren sie Angloamerikaner. Einer von ihnen sah aus, als sei er nackt; die untere Hälfte seines Körpers war allerdings hinter dem Tisch verborgen. Vielleicht gehörte er zu den Kellnern, die alle jung und männlich und vom Nabel aufwärts unbekleidet waren. Die Frauen präsentierten eine bunte Mischung: Lily zählte drei Rothaarige, zwei Afroamerikanerinnen, drei Blondinen und vier Frauen mit braunem oder schwarzem Haar.

Sie hatte gerade die Tanzfläche überquert, als zwei der Frauen sich erhoben. Die kleinere sah nach einer Latina aus, doch vielleicht täuschte der erste Eindruck auch, denn das rosafarbene Licht war schmeichelhaft, aber nicht sehr hell. Das Haar reichte der Frau bis zum Gesäß, und sie hatte große Brüste, die das Oberteil ihres engen roten Kleides zu sprengen drohten. Sie beugte sich über den Mann, der in der Mitte saß und eine der Rothaarigen im Arm hielt, die sich lüstern an ihn schmiegte.

Er hob den Kopf, und Lily erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, bevor die dunkle Mähne der Frau es verdeckte, als sie ihn leidenschaftlich küsste.

Rule Turner. Selbst in dem gedämpften Licht war er leicht zu erkennen.

Lily hatte bereits vermutet, dass es der Mann in der Mitte sein musste, der an diesem Tisch das Sagen hatte. Alle Gesichter waren ihm zugewendet. Die Stühle waren so gestellt, dass auch die anderen ihn sehen konnten. Und er war der Inbegriff von eleganter Lasterhaftigkeit: Er lümmelte locker-lässig auf seinem Stuhl herum, das schwarze Hemd fast bis zum Hosenbund aufgeknöpft, und küsste die eine Frau, während er die andere im Arm hielt.

Lily schürzte verächtlich die Lippen. „Mr. Smith!“, rief sie. Als Max nicht reagierte und einfach weiterging, lief sie rasch hinter ihm her und fasste ihn an der Schulter.

Und zog ihre Hand verblüfft wieder zurück. Sie hatte die Schwingungen sogar durch seinen Anzug gespürt. Manche Gnome, dachte sie, sind offenbar tatsächlich garstige kleine Perverslinge und kein bisschen scheu …

„Was ist?“, fuhr er auf und drehte sich zu ihr um.

„Ist das Rachel Fuentes?“ Sie widerstand dem Drang, sich die kribbelnde Hand zu reiben, und wies mit einem Nicken auf die Frau, die – nachdem sie Turner ausgiebig geküsst hatte – den Tisch zusammen mit ihrer Freundin verließ.

„Ja.“

Lily drehte sich zu Gonzales um. „Behalten Sie die Lady im Auge! Sie geht wahrscheinlich nur zur Toilette, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Wenn sie den Club verlassen will, halten Sie sie fest. Sagen Sie ihr nicht, warum, und beantworten Sie keine Fragen. Bringen Sie sie einfach zu mir!“

Er nickte und verschwand.

„Die Männer an diesen Tischen, sind das alles Lupi?“, fragte sie Max.

„Die sind hier die Attraktion – aber ich lege auch eine ziemlich gute Show hin! Bleiben Sie noch ein bisschen hier, dann werden Sie es selbst sehen.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Ich brauche einen ruhigen Ort, wo ich die Leute befragen kann.“

„Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Kunden belästigen!“

Sie studierte den unfreundlichen kleinen Mann – falls man ihn als solchen bezeichnen konnte. Betrachteten sich männliche Gnome als Männer? „Wollen Sie sich jedes Mal querstellen, wenn ich eine Bitte an Sie habe?“

„Sieht so aus.“ Er drehte sich um und marschierte davon.

Lily folgte ihm und bekam Rule Turner zum ersten Mal aus der Nähe zu sehen.

Ost- und westeuropäische Wurzeln, dachte sie angesichts seiner wohlgeformten Wangenknochen und der markanten, etwas krummen Nase. Tolle Zähne, ergänzte sie, als er über eine Bemerkung des Mannes grinste, der ihm gegenübersaß – und der ein halbwegs von seinen Ponyfransen verdecktes silbriges Zahlentattoo auf der Stirn trug, das verriet, dass er einmal registriert worden war. Und ziemlich schöne Augenbrauen, sagte Lily zu sich. Sie achtete auf Augenbrauen wie andere Leute auf Schultern oder Lippen, und die von Turner waren einzigartig: dunkle Balken, die den Winkel seiner leicht schräg stehenden Wangenknochen widerspiegelten.

Besagte Augenbrauen zog er nun fragend hoch, als er sie näher kommen sah. Dann schaute er ihr in die Augen – und ihr Verstand setzte aus.

Hä?, dachte sie eine Sekunde später. Was war das denn?

„… Zunge wieder eingeholt hast“, sagte Max gerade. „Ich hab hier ’ne Frau für dich. Allerdings behauptet sie von sich, Detective zu sein.“ Er fügte noch etwas in einer Sprache hinzu, die Lily nicht verstand. Einer der Männer lachte.

Vielleicht war ihr Blutzuckerspiegel abgesackt? Aber ihr war nicht schwindelig, und sie drohte auch nicht umzukippen. Sie hatte einfach nur … ein Blackout gehabt.

„Ignorieren Sie Max!“, sagte der barbusige Mann. „Er ist einfach unausstehlich. Aber dafür kann er nichts – es wurde ihm in die Wiege gelegt.“

Lily sah ihn sich genauer an. Er war schlank, hatte zerzaustes zimtfarbenes Haar und das perfekteste Gesicht, das sie je bei einem Mann oder einer Frau gesehen hatte. Ganz zu schweigen von seinem fantastischen Körper … von dem sie eine ganze Menge sehen konnte, obwohl gewisse Einzelheiten unter dem Tisch verborgen waren.

Sie blinzelte irritiert. „Sie sind nackt.“

„Nicht ganz, meine Liebe. String-Tanga. Max soll doch keinen Ärger bekommen.“

Es sagte eine Menge über Turners Präsenz aus, dass ihr die Schönheit dieses fast nackten Adonis erst jetzt aufgefallen war. „Und Ihr Name ist?“

„Cullen. Kommen Sie, setzen Sie sich, Süße!“ Er klopfte auf seine Oberschenkel und schien zu erwarten, dass sie sich auf seinen Schoß plumpsen ließ. „Rule braucht nicht noch mehr Frauen.“

„Aber du, hm?“, gab Turner milde zurück. Seine Stimme klang voll und sonor und ließ Lily an geschmolzene Schokolade denken. Kein Registrierungstattoo, stellte sie fest. „Um gleich zur Sache zu kommen: Ist das ein offizieller Besuch?“

„Ich muss Ihnen einige Fragen stellen, Mr. Turner. Ich bin Detective Yu“, entgegnete Lily und zeigte erneut ihre Marke vor.

Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf. „Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung“, raunte er ihr zu, und es klang ziemlich anzüglich. „Nennen Sie mich Rule.“

Vergiss es!, dachte sie. „Kennen Sie Carlos Fuentes?“

Eine der Frauen lachte auf, tat aber gleich so, als müsse sie husten. Andere grinsten. „Wir sind miteinander bekannt“, sagte Turner ungerührt. „Ich habe mich in letzter Zeit öfter mit seiner Frau Rachel getroffen.“

Was für ein ehrlicher Bursche, dachte Lily. „Leben die beiden getrennt?“

„Nein, sie sind ziemlich glücklich miteinander.“

„Nun, um ‚treffen‘ mal in einem weniger zweideutigen Sinn zu verwenden: Haben Sie Carlos heute Abend schon getroffen?“

„Nein.“ Seine Augenbrauen gingen nach oben, und er blickte in die Runde. „Jemand von euch vielleicht?“ Wie aus dem Gemurmel und Kopfschütteln zu schließen war, hatte niemand Fuentes gesehen. Max ließ sich sogar zu der Feststellung hinreißen, dass Fuentes den ganzen Abend nicht im Club gewesen war.

Turner sah Lily an. „Um was geht es denn überhaupt?“

„Seit wann sind Sie denn schon hier?“

Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Ein Weilchen spiele ich noch mit, aber dann will ich auch ein paar Antworten haben. Ich bin kurz nach neun gekommen.“

„Und seitdem haben Sie den Club nicht mehr verlassen?“

„Ganz richtig. Ich glaube, ich habe genug Zeugen, die das bestätigen können.“

Drei der Frauen meldeten sich gleichzeitig zu Wort. „Moment bitte“, sagte Lily und stellte ihren Rucksack ab, um ihr Notizbuch herauszuholen. „Ich brauche Ihre Namen. Sie zuerst“, sagte sie zu der großen dunkelhäutigen Frau, die am nächsten bei ihr stand.

Die sah sie erschrocken an. „Muss das wirklich sein? Ich will nicht, dass mein Name in der Presse auftaucht.“

„Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Zeitungen drucken, und es muss wirklich sein.“

Die Rothaarige an Turners Seite kicherte. „Komm schon, Bet, du sagst doch immer, es sei dir egal, was dein Mann denkt.“

„Mein Ex-Mann, ab morgen“, entgegnete die Farbige patzig. „Und er kann mir gestohlen bleiben! Seinetwegen mache ich mir keine Sorgen, es geht eher um die Partner der Sozietät. Liberal kann man sie nicht gerade nennen.“

„Alle Anwaltskanzleien sind konservativ. Das liegt in der Natur der Sache.“ Die Rothaarige richtete sich auf. Sie hatte ein faszinierendes Katzengesicht: Von der breiten Stirn lief es zum Kinn spitz zu. Ihr Haar war rappelkurz, und an ihren Ohren baumelte Gold. Sie trug kein Leder, doch sie zeigte in ihrem engen weißen Top jede Menge cremefarbene Haut, an der man erkannte, dass sie eine echte Rote war. „Ich bezeuge gern, dass Rule seit ungefähr zwanzig nach neun hier ist, Detective Yu.“

Dass sie ihren Nachnamen so auffällig betonte, ließ Lily aufhorchen. „Und Ihr Name ist?“

„Ginger.“ Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Ginger Harris.“

Lily erstarrte.

„Du hast mich nicht wiedererkannt, was? Na ja, ist ja auch schon lange her. Unglaublich! Aus dir ist wahrhaftig ein Cop geworden …“ Sie lachte schrill und klirrend. „Und aus mir eine Schlampe!“

Turner sagte irgendetwas zu Ginger, aber Lily konnte es nicht verstehen.

Wie war es nur möglich, dass sie Gingers Augen nicht wiedererkannt hatte? Die Farbe, die Größe, die Form … Sie standen weit auseinander und lagen so tief, dass die Oberlider beinahe verschwanden, aber sie leuchteten bernsteinfarben wie das Glas einer Bierflasche, die man in die Sonne hält. Die Augenbrauen waren ebenso wie die Wimpern kaum zu sehen.

Es war in der Tat sehr lange her. Lily hatte diese Augen seit kurz vor ihrem siebten Geburtstag nicht mehr gesehen … außer in den Albträumen, die sie gelegentlich heimsuchten. Ginger hatte genau die gleichen Augen wie ihre Schwester. „Du trägst Kontaktlinsen“, sagte Lily perplex.

„Nee, nee, Laserchirurgie. Du hast dich kaum verändert, abgesehen davon, dass du ein paar Zentimeter gewachsen bist. Du bist immer noch der süße kleine Tugendbold von früher!“

Lily hätte Ginger gern gefragt, ob ihre Welt nur aus Schlampen und Tugendbolden bestand. Und sie hätte sie gern nach ihren Eltern und ihrem Bruder gefragt. Aber ein Toter war gerade auf dem Weg zur Leichenhalle. Jetzt war sie Detective Yu, nicht Lily. „Ich brauche deine Adresse.“

„Wenn du dich mit mir zum Lunch verabreden willst, Schätzchen, gebe ich dir lieber meine Handynummer. Zu Hause erreicht man mich nur selten.“

„Ich brauche deine Adresse für meinen Bericht.“

Ginger zog eine Schnute. „Alles streng dienstlich, was? Also gut, meine Adresse ist 22129 Thornton, Apartment 133.“

„Und damit haben wir unsere Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren, ausreichend unter Beweis gestellt“, schaltete Turner sich ein. „Jetzt wüsste ich gern, um was es eigentlich geht.“

Lily sah ihm in die Augen. Nichts geschah.

Idiotin! Hatte sie wirklich gedacht, es würde etwas passieren? Es war der Blutzucker gewesen, sonst nichts. Sie hielt Turners Blick einen Moment lang stand, um zu beweisen, dass sie dazu in der Lage war … und verspürte tief in ihrem Bauch ein Ziehen, ein deutliches Zeichen von aufkeimender Lust. Es war unverkennbar. Und äußerst ärgerlich.

„Es geht um Mord“, sagte sie und hoffte, dass ihre Miene genauso ungerührt war wie seine. „Ich ermittle in einem Mordfall.“

Alle zeigten irgendeine Reaktion, nur Turner nicht. Er bewegte sich keinen Millimeter. Vielmehr schien er rings um sich eine Art Kraftfeld aus Ruhe aufzubauen, und diese Ruhe übertrug sich auf die anderen und ließ sie nacheinander verstummen. Er sagte nur ein Wort: „Wer?“

„Carlos Fuentes.“

„Jesus Maria!“, rief einer der Männer aus. „Oh nein, arme Rachel!“, ertönte es aus der Frauenecke. Und der nackte Adonis wirkte einen winzigen Augenblick lang ausgesprochen erleichtert.

„Seien Sie nett zu Rachel“, sagte Turner unvermittelt, erhob sich und ging ihr um den Tisch herum entgegen.

Lily drehte sich um. Rachel Fuentes kehrte zurück.

Von Weitem hatte Lily nur ihre großen Brüste und ihr herrliches Haar gesehen. Aus der Nähe jedoch … Lily blinzelte überrascht.

Den Klatschspalten zufolge hatte Turner Affären mit den schönsten Frauen des Landes gehabt. Rachel Fuentes gehörte nicht zu ihnen.

Sie war jung, nicht viel älter als zwanzig. Und ihr Haar war in der Tat prachtvoll, ihre Oberweite beeindruckend, aber alles andere an ihr war äußerst durchschnittlich. Sie hatte gut sieben Kilo zu viel drauf, und zwar an den falschen Stellen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Nase lang und der Nasenrücken so hoch, dass es aussah, als stünden ihre Augen zu dicht beieinander. Trotzdem waren diese Augen das Beste an ihrem Gesicht: Sie waren groß, dunkel und strahlend.

Sie sah glücklich aus. „Na, hast du mich vermisst?“, fragte sie, als Turner auf sie zukam, und schlang die Arme um seinen Hals.

„Da ist eine Polizistin, die mit dir sprechen will“, sagte er sanft. „Sie hat schlechte Nachrichten, querida.“

Der glückliche Ausdruck wich aus Rachels Gesicht, die Farbe ebenfalls. Lily trat vor. Es gab keine schonende Methode, um jemandem eine solche Nachricht zu überbringen. „Es tut mir sehr leid, Ms. Fuentes. Ihr Mann wurde heute Abend ermordet.“

„Ermordet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Sie müssen sich irren. Er ist in der Kirche bei der Probe. Er ist Sänger, wissen Sie? Er hat eine wunderschöne Stimme. Er …“ Ihr Gesicht verzog sich. „S-sie müssen sich irren.“

Lily setzte sie so behutsam wie möglich über das Nötigste in Kenntnis: Tatort und Todesart, wie der Tote mit Hilfe des Führerscheins hatte identifiziert werden können und was von seinem Gesicht übrig war.

Und dass er von einem Wolf getötet worden war.

Rachel Fuentes erschauderte. Dann begann sie zu weinen. Lily sah Turner kurz in die Augen. Rachel schien sich der Ironie, dass sie sich von ihrem Lover über den Tod ihres Mannes hinwegtrösten ließ, nicht bewusst zu sein. Rule Turner allerdings schon.

 
 

3

Vier Stunden später war der Club leer. Gäste und Cops waren gegangen. In der Luft hing ein diffuses Bouquet aus allen möglichen Gerüchen, die Rule in seiner menschlichen Gestalt nicht einordnen konnte – Alkohol, Früchte, Rauch, Schweiß, Menschen. Dazu noch dieser verdammte Weihrauch, den Max so liebte und als Schwefelersatz verwendete.

Und sie. Sie war bereits vor einer Stunde gegangen, doch ihr Duft war noch da.

Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Rule seufzte, setzte sich wieder auf seinen Stammplatz und tippte eine Nummer in sein Handy, die er besser kannte als seine eigene. Max und Cullen hatten ihn allein gelassen und tranken etwas an der Bar.

Nach neunmaligem Läuten meldete sich eine verschlafene weibliche Stimme: „Ich hoffe, es ist wichtig!“

„Ich muss mit dem Rho sprechen, Nettie.“

„Ich sage ihm, dass er dich anrufen soll – wenn er wach wird. Er ist jetzt zwar im Normalschlaf, aber den braucht er auch!“

„Du hast mich missverstanden. Ich will nicht mit meinem Vater sprechen. Der Lu Nuncio braucht den Rat seines Rho.“

Sie schwieg einen Moment lang. „Gott, das kannst du wirklich gut! Zu gut für meinen Seelenfrieden! Ich bringe ihm das Telefon. Aber wenn er einen Rückschlag erleidet, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!“

„Ich hoffe, ich habe dann ein Fell, das du mir über die Ohren ziehen kannst.“

Sie murmelte etwas Abfälliges über Lupi, dann hörte er ihre Schritte, dann die Stimme seines ältesten Bruders. Benedict war rechtzeitig von seinem Berg heruntergekommen, um dem Vater das Leben zu retten, und er war geblieben, um über ihn zu wachen.

Einen Augenblick später kam sein Vater ans Telefon. „Ja?“ Isens raue Bassstimme klang trotz seines geschwächten Zustands kräftig. Aber immerhin hatte er ja noch seine beiden Lungenflügel.

„Der Ehemann einer Frau, mit der ich eine Affäre habe, wurde heute Abend getötet. Die Polizei glaubt, es war ein Lupus.“

Es gab eine lange Pause. „Du wurdest nicht verhaftet?“

„Ich zähle natürlich zu den Verdächtigen. Wie jeder andere Lupus auch, der hier im Club war. Aber ich war sehr kooperativ.“ Er warf einen spöttischen Blick auf seine nackten Füße. „Wir mussten uns ausziehen.“

„Was?“

„Sie sind sehr respektvoll mit uns umgegangen.“ Und es hatte Spaß gemacht, den Gesichtsausdruck der hinreißenden Polizistin zu sehen, als er ihrer Aufforderung schneller gefolgt war als gewünscht und direkt vor ihr den Reißverschluss seiner Hose geöffnet hatte. Sie hatte ihn natürlich zur Ordnung gerufen … aber ein Teil von ihr hätte gern anders gehandelt.

Und das hatte ihr nicht gefallen. „Ich wurde zur Männertoilette geführt, wo ich mich auf einen Bogen weißes Papier stellen und ausziehen musste. Ein Sergeant hat meine Klamotten dann gründlich durchsucht.“

„Wonach?“

„Nach Beweismaterial, nehme ich an. Allerdings weiß ich nicht, was sie zu finden gedachten – der Mörder soll doch in Wolfsgestalt gewesen sein. Aber Detective Yu ist nicht dumm. Die Cops müssen etwas in der Hand haben, von dem sie glauben, eine Verbindung zwischen einem von uns und dem Tatort herstellen zu können. Bei dem es sich übrigens um einen Spielplatz hier in der Nähe handelt.“

„Was für einer ist er?“

„Sie.“ Rule nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, und filterte dann das Persönliche heraus. „Sie ist clever. Entschlossen. Wahrscheinlich ehrgeizig. Sie mag mich zwar nicht besonders, aber sie hat mich noch nicht als schuldig abgestempelt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass mein Alibi nicht den Zeitraum abdeckt, in dem Fuentes getötet wurde.“

„Welches Alibi?“

„Ich habe mehrere Zeugen, die bestätigen können, dass ich ab halb zehn im Club war, darunter auch ein paar Menschen, was durchaus hilfreich ist. Aber ab dem späten Nachmittag war ich allein, bis ich dann ausgegangen bin.“

„Zu dumm. Ich kann dir natürlich problemlos Zeugen für diese Zeit besorgen, aber das sind alles Lupi. Cops und Geschworene trauen der Zeugenaussage eines Lupus nicht.“

Rule grinste. „Vielleicht nicht ganz grundlos.“

Isen kicherte. „Ja, vielleicht. Okay, du wirst Folgendes tun: Zuerst findest du heraus, ob der Täter tatsächlich ein Lupus war. Wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht, uns zu Sündenböcken zu machen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe mit einem Reporter gesprochen, der bereit ist, Informationen auszutauschen, aber er hat noch nichts. Aber wenn man bedenkt, was Cullen uns gesagt hat …“

„Was nicht unbedingt stimmen muss!“

„Er hatte recht, was den Angriff auf dich betrifft.“

„Aber seine Warnung kam zu spät, nicht wahr? Wenn er mich von seinen ehrlichen Absichten überzeugen wollte … Beruhige dich, Junge! Ich kann praktisch durchs Telefon riechen, wie sehr du dich aufregst. Ich weiß, er ist dein Freund, und ich ziehe nicht in Zweifel, was er gesagt hat. Aber ich kaufe es ihm auch nicht so ohne Weiteres alles ab. Er ist ein Clanloser.“

„Aber kein Geächteter.“

„Ein Einzelgänger ist per Definition nicht ganz dicht.“

Dem hatte Rule nichts entgegenzusetzen. „Wir wissen, dass etwas im Busch ist.“

„Aber wir wissen nicht, was – und wer dahintersteckt.“ Isen klang erschöpft. „Alles, was wir haben, sind Vermutungen. Ich brauche Fakten. Wahrscheinlich werden die Cops über welche stolpern. Ich muss wissen, was sie in Erfahrung bringen, und du musst zusehen, dass du nicht im Gefängnis landest. Das Einfachste wäre, du würdest die hübsche Polizistin verführen.“

Rule fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Es dauerte einen Moment, bis er wieder Luft bekam, und dann fiel ihm nichts Besseres ein als: „Wie kommst du darauf, dass sie hübsch ist?“

Wieder ein tiefes, raues Kichern. „Vor anderen magst du ja so einiges verbergen können, aber ich bin nicht nur dein Rho, sondern auch dein Vater. Glaubst du, ich merke es nicht, wenn du eine Frau attraktiv findest?“

Isen hatte noch mehr Fragen und Anweisungen, aber Rule war nur halb bei der Sache. Seine andere Hälfte flehte ihn an, Isen zu sagen, dass er Lily Yu nicht aus einem solchen Grund verführen konnte und dass sie … dass sie vielleicht … Aber er wusste es nicht genau. Eine Ahnung war noch kein Beweis.

„Wie dem auch sei“, sagte er schließlich, „es wäre hilfreich, wenn ich ihr von unserem Verdacht erzählen könnte.“

„Du erzählst ihr gar nichts!“, fuhr Isen auf. „Sie würde dir nicht glauben. Es würde dir nur erschweren, ihr Vertrauen zu gewinnen.“

„Du klingst, als hätte Nettie dich doch zu früh aus dem Heilschlaf geholt.“

„Ihr denkt alle, ihr wüsstet mehr über meinen Körper als ich …“, entgegnete Isen. „Ja, verdammt“, sagte er zu Nettie, deren Stimme im Hintergrund zu hören war. „Ich weiß, dass du einen Wisch hast, der bestätigt, dass du Bescheid weißt. Glaubst du, davon lasse ich mich beeindrucken?“

Rule konnte sich gut vorstellen, wie Nettie am Bett ihres Patienten stand und die Arme vor der Brust verschränkte. Er hörte sie sagen, sie wisse sehr viel mehr über Isens Körper als er selbst und dass er froh darüber sein könne, weil er nämlich ein Idiot sei.

„Wir sind doch nur besorgt um dich, weil du deine Grenzen nicht zu kennen scheinst“, versuchte Rule ihn zu besänftigen. Der aufbrausende Ton seines Vaters beunruhigte ihn, denn er war eigentlich kein Querulant. „Abgesehen davon habe ich Angst vor Nettie. Sie hat mich aufs Übelste beschimpft!“

Sein Vater kicherte, wenn auch nur leise. „Du solltest auch Angst vor ihr haben! Was für ein Drachen … Nein, das lässt du bleiben“, sagte Isen, wobei Letzteres an Nettie gerichtet war, nicht an seinen Sohn.

Bei dem nachfolgenden Streit hörte Rule die Argumente beider Seiten. Nettie gewann. Ein paar Minuten später kam sie ans Telefon. „Ich habe ihn wieder in Schlaf versetzt. Und diesmal lasse ich ihn vierundzwanzig Stunden liegen.“

Rule fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Dann ist er ja hinterher völlig daneben. Aber wenn es nötig ist …“

„Rule, du hast seine Verletzungen doch gesehen! Es gibt zwar nichts, was er nicht heilen kann, doch bevor nicht noch mehr nachgewachsen und wieder in Ordnung ist, kann man seinen Zustand noch längst nicht stabil nennen. Aber vielleicht hast du es ja eilig, den Job deines Vaters zu übernehmen …“

Rule knurrte.

„Sei doch nicht so empfindlich! Es ist nun mal eine Tatsache, dass du der rechtmäßige Erbe bist. Wenn der Rho stirbt, übernimmst du seine Nachfolge. Und dann werden sich einige fragen, ob du es darauf angelegt hast.“

„Du wirfst mir nur ein paar knorpelige Brocken hin – viel zum Kauen, wenig Fleisch. Jetzt mal ehrlich: Wie steht es wirklich um ihn?“

„Er macht sich keine Illusionen. Und er ist besorgt. Und älter, als ihm lieb ist. Die Schmerzen sind zu viel für ihn, und er heilt nicht mehr so schnell wie früher. Er will nicht ins Krankenhaus – nein, das musst du mir nicht erklären! Ich verstehe das. Aber wenn er sich nicht von der modernen Technologie unter die Arme greifen lassen will, während seine Verletzungen heilen, dann muss er eben viel Zeit im Heilschlaf verbringen.“

Rule unterdrückte seine Angst. Einfach nur der Sohn seines Vaters zu sein war ihm jetzt nicht erlaubt. „Wenn es sein muss, dann muss es eben sein.“

„Ich hätte ihn gar nicht so früh aus dem Schlaf holen dürfen“, erklärte Nettie. „Aber er hat mich ausgetrickst. Er hatte seine Vitalfunktionen so gut unter Kontrolle, dass … Ach, egal. Mach dir keine Sorgen! Dein Vater wird wieder gesund, und bis es so weit ist, regelt der Rat alles, was so anfällt.“

Verdammt, Rule wünschte, er könnte zu Hause bei seinem Vater sein. Die Regeln untersagten ihm zwar, sich in die Nähe seines Vaters zu begeben, solange er genas, doch das Clangut an sich war ihm eigentlich nicht verboten. Dass er es trotzdem nicht aufsuchen konnte, daran war sein älterer Bruder schuld. Ob Benedict dem Lu Nuncio tatsächlich den Zugang zum Clangut verwehren konnte, war theoretisch anzweifelbar, aber in der Praxis sah es anders aus. In Bezug auf Sicherheitsfragen legte sich niemand mit Benedict an. Es legte sich auch sonst kaum jemand mit Benedict an. Punkt.

Zumindest wusste Rule, dass der Rho in Sicherheit war. Abgesehen von einem Angriff der U.S. Air Force konnte nichts und niemand seinem Vater etwas anhaben, solange Benedict da war. „Gib Toby einen Kuss von mir“, sagte er zu Nettie. „Ich melde mich wieder.“ Er drückte die Trenntaste und schob das Handy in seine Jackentasche.

Dann blieb er eine Weile regungslos sitzen. Er hatte Angst. Um seinen Vater, um seine Leute und um sich selbst. Der Anführer der Nokolai war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt handlungsunfähig gemacht worden.

Aber genau darauf hatten es Isens Angreifer natürlich angelegt. Rule stand auf und ging, angelockt von einem wunderbaren Duft, zur Bar. „Ah, mein Kaffee ist fertig!“

„Ich begreife nicht, wie du so etwas trinken kannst“, sagte Max.

Cullen grinste und schob einen Becher über den Tresen, in dem sich Kaffee aus Rules privatem Kaffeebohnenvorrat befand.

„Alles eine Frage des Geschmacks.“ Er konnte seine Schultern lockern. Er konnte seinen Gesichtsausdruck, seine Stimme und bis zu einem gewissen Grad auch seinen Geruch kontrollieren. Aber er konnte nichts gegen die Nervosität tun, die in ihm aufstieg und die ihn so rappelig machte wie einen Chihuahua auf Koffein. „Der Laden ist wirklich die Hölle, wenn das Licht an ist“, bemerkte er und setzte sich auf einen Barhocker.

Max stellte seinen Becher ab – in dem sich irischer Whiskey und kein Kaffee befand – und hüpfte auf den Hocker neben Rule. „Das ist doch genau der Punkt!“

„Aber das hier ist eher wie die Hölle am Morgen danach. Erinnert mich an den Jahrmarkt, wenn es dunkel wird und Licht und Musik den billigen Kitsch mysteriös und geheimnisvoll erscheinen lassen.“

„Es ist, verdammt noch mal, fünf Uhr in der Frühe – was erwartest du? Und erzähl mir bloß nichts von Jahrmärkten! Das weckt unangenehme Erinnerungen an meine Jahre in der Kuriositätenshow.“

„Du warst mal in einer Kuriositätenshow?“, fragte Cullen, der auf der anderen Seite des Tresens geblieben war. Er war wieder einmal ziemlich unruhig und spielte mit allem herum, was nicht niet- und nagelfest war. „War das vor oder nach dem Krieg?“

„Welchen meinst du? Menschen sind Arschlöcher!“ Max leerte seinen Becher zur Hälfte und rülpste zufrieden. „Jetzt lass doch mal die verdammten Gläser in Ruhe!“

Cullen polierte weiter an dem Glas herum, das er in die Hand genommen hatte. „Ich meine den Zweiten Weltkrieg. Was den angeht, lügst du nämlich immer.“

„Neid.“ Max schüttelte traurig den Kopf. „Daran krankt die junge Generation. Und es mangelt ihr auch an Respekt.“

Cullen stutzte. „Du zählst mich zur jungen Generation?“

„Ihr seid alle jung. Kinder seid ihr, jeder Einzelne von euch, und ihr hetzt die ganze Zeit herum wie verrückt, damit ihr nicht mitbekommt, wie schnell das Leben vorbei ist.“ Max zog ein silbernes Etui aus der Jackentasche, öffnete es und nahm eine der billigen Zigarren heraus, mit denen er gern die Luft verpestete. „Seht euch zum Beispiel mal an, wie ihr die Wahrheit idealisiert – die Wahrheit sagen, die Wahrheit finden …“ Er schnaubte. „Finden! Als würde sie irgendwo herumliegen und nur darauf warten, dass sie jemand aufhebt. Kindisch! Die Leute brauchen Geschichten, nicht die Wahrheit. Was ihr eigentlich wollt, sind Antworten, damit ihr sie euch nicht selbst erarbeiten müsst.“ Er holte sein Feuerzeug aus der Tasche. „Zugegeben, zum Nachdenken braucht man natürlich Zeit.“

„Nicht!“, sagte Rule matt.

Max hielt inne und betrachtete ihn eine Weile. Dann legte er das Feuerzeug weg. „Ist was mit deinem Vater?“

„Der Rho heilt seine Verletzungen aus. Sorry, ich wollte nicht, dass du denkst, es sei etwas nicht in Ordnung.“ Rule verzog das Gesicht. „Noch etwas, besser gesagt.“

„Du bist ja total durcheinander“, stellte Cullen überrascht fest.

Rule überlegte einen Moment, was er sagen sollte. Max und Cullen waren seine Freunde. Und zurzeit waren sie auch seine Kollegen, sozusagen. Aber sie waren keine Nokolai. „Keiner von uns hat erwartet, dass sie so früh zuschlagen. Und ich habe nicht damit gerechnet, dass es so persönlich werden würde.“ Er dachte an Rachel, an ihre roten, verquollenen Augen, in denen nichts anderes zu lesen gewesen war als tiefe Trauer. „Das war ein Fehler.“

„Sich im Nachhinein Vorwürfe zu machen ist die sinnloseste Form von Schuldgefühlen“, bemerkte Cullen. „Das bringt ja nun überhaupt nichts.“

„Was du nicht sagst.“ Rule ging nicht weiter darauf ein und wurde förmlich. „Der Rho spricht dir im Namen der Nokolai seinen Dank aus und bietet dir für einen Mondzyklus die Unterstützung und den Schutz des Clans an.“

„Ich danke dem Rho“, sagte Cullen locker, doch seine Finger legten sich fest um das Glas, das er gerade poliert hatte. „Der gerissene alte Hund! Es überrascht mich, dass er mir kein Geld anbietet.“

„Der Rho hat große Achtung vor Geld – und weiß, was man damit kaufen kann und was nicht. Das Angebot sollte keine Beleidigung sein, Cullen.“

Cullen zuckte mit den Schultern und stellte das Glas in das Regal über seinem Kopf. „Mag sein. Es würde mich schon reizen, für einen Monat auf das Clangut zu ziehen und ihn so richtig auf die Palme zu bringen.“

„Du brauchst einen Bodyguard“, sagte Max unvermittelt. „Dass sie Isen auf dem Kieker hatten, wussten wir. Warum sollten sie nicht auch versuchen, dich aus dem Verkehr zu ziehen?“

„Wenn sie das wollen, dann war der Mord an Carlos ein fragwürdiges Mittel zum Zweck. Abgesehen davon …“, Rule hielt inne und runzelte die Stirn, „… passt das alles nicht zusammen. Warum sollten sie das Risiko einer polizeilichen Ermittlung eingehen?“

Max zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sind sie sich ihrer Sache total sicher.“

„Nicht ohne Grund.“ Nun begann Cullen, die Weinflaschen nach seinen eigenen Vorstellungen zu sortieren. „Sie haben doch die volle Punktzahl erreicht!“

„Nicht einmal die Hälfte! Sie wollten Isen töten, und es ist ihnen nicht gelungen. Jetzt haben sie versucht, Rule hinter Schloss und Riegel zu bringen, aber das haben sie ziemlich schlampig aufgezogen“, meinte Max. „Lass das!“, schnauzte er, als Cullen die nächste Flasche aus dem Regal zog. „Mein Barkeeper findet ja nichts wieder!“

„Ihr geht davon aus, dass wir ihre Ziele kennen“, sagte Rule nachdenklich. „Isen ist nicht tot, aber sie haben ihn für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Vielleicht ist ihnen das ebenso dienlich. Und wir wissen nicht, warum Fuentes getötet wurde – oder ob es mir gelingt, dem Gefängnis zu entgehen.“

„Du wanderst nicht in den Knast“, sagte Max bestimmt.

„Hör doch auf, den Optimisten zu spielen!“, fuhr Cullen auf. „Das passt gar nicht zu dir. Rule hat recht. Unsere Gegner sind raffiniert, und wir können es uns nicht leisten, sie zu unterschätzen.“

Max schnaubte. „Hast du in deiner Kristallkugel Mission Impossible gesehen? Raffiniert ist nur ein anderes Wort für kompliziert. Im echten Leben ist es so: Je ausgeklügelter ein Plan, desto wahrscheinlicher ist es, dass er in die Hose geht.“

„Aber nur manchmal.“ Cullen nahm sich Max’ Feuerzeug, schnippte es an und blickte nachdenklich in die Flamme. „Es geht das Gerücht um, dass in Texas eine Todesfee gesichtet wurde.“

„Das ist also dein Problem? Vorzeichen und Omen?“ Max fing an zu gackern. „Der große böse Werwolf macht sich in die Hose, weil irgendein Idiot Sumpfgase für eine Todesfee gehalten hat? Noch dazu in Texas!“ Letzteres fand er offenbar besonders witzig, denn er schlug sich auf die Schenkel und fiel beinahe vor Lachen von seinem Barhocker.

Cullen gab keinen Ton von sich, aber seine Gesichtsmuskeln spannten sich, und seine Pupillen zogen sich zusammen – und die Feuerzeugflamme schoss plötzlich einen halben Meter in die Höhe, genau in Max’ Richtung.

„He!“ Nun plumpste Max tatsächlich von seinem Hocker und landete auf dem Hosenboden. „Bist du verrückt? Willst du, dass die Rauchmelder losgehen? Oder willst du gleich die ganze Bude abfackeln? Ich habe wirklich keine Lust darauf, der Feuerwehr und der Versicherung zu erklären, dass mein irrer Werwolffreund Schwierigkeiten mit der Zornbewältigung hat!“ Er erhob sich murrend und rieb sich die Hüfte.

„Cullen“, sagte Rule nur.

Der Jüngere sah ihn an. Nach einem kurzen Moment waren seine Augen wieder normal, und die Feuerzeugflamme verlosch.

„Ich lache nicht darüber“, sagte Rule. „Worauf willst du hinaus?“

„Ich habe die Würfel befragt, als die Cops weg waren.“

Max verdrehte die Augen. „Teenykram!“

Rule wusste nur wenig über Wahrsagerei, aber jeder experimentierte irgendwann mal mit Würfeln – in der Regel, wie Max gesagt hatte, als Teenager, wenn die Verlockung, etwas Verbotenes zu tun, groß war und der Verstand noch klein. Die Ergebnisse waren im besten Fall unzuverlässig. Das hatte er jedenfalls immer gedacht.

Aber wenn ein Zauberer der Andersblütigen diese Methode praktizierte? Rule zog die Augenbrauen hoch. „Und?“

„Ich habe um Informationen über deinen Feind gebeten. Und bekommen habe ich … das hier.“ Cullen zog eine Handvoll Würfel aus der Tasche und warf sie auf den Tresen.

Schlangenaugen. Alle sechs Würfel hatten nur einen Punkt auf jeder Seite.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann flüsterte Max: „Jesus Maria!“

Rule bekam einen ganz trockenen Mund. „Ich vermute mal, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass du das selbst herbeigeführt hast, oder? Vielleicht versehentlich?“

„Genauso wahrscheinlich, als wenn du dich beim nächsten Vollmond in ein kleines Kätzchen verwandelst.“

„War es vielleicht das Werk eines anderen Zauberers?“

Cullen schürzte die Lippen. „Glaube ich nicht.“

„Ein Feenwesen könnte es getan haben“, sagte Max. „Keine Ahnung, aus welchem Grund, aber wer weiß schon, warum Feen dieses oder jenes tun!“

„Vielleicht sollten wir das Nächstliegende in Betracht ziehen.“ Cullen sah Rule an.

„Ja.“ Rule atmete tief durch. „Vielleicht ist einer von den Großen Alten erwacht und mischt hier kräftig mit.“

 
 

4

Die niedrigen Decken und gewundenen Rampen der Tiefgarage unter dem Polizeipräsidium gaben Lily immer das Gefühl, durch die Eingeweide eines riesigen Betonmonsters zu kurven. Ihr Handy klingelte, als sie mit ihrem alten Toyota durch die schier endlosen Schleifen nach unten fuhr.

Sie warf einen Blick auf das Display und verzog das Gesicht, nahm den Anruf aber trotzdem entgegen. „Hallo Mutter. Ich bin etwas in Eile. Ich muss um neun im Büro des Captains sein.“

„Im Büro des Captains? Sitzt du etwa in der Patsche?“

Wie konnte ihre Mutter nur so etwas denken? Es war ja schließlich nicht so, als hätte Lily ihr früher ständig Ärger bereitet. Ganz im Gegenteil. „Es ist ein Briefing. Das ist eine Art Besprechung, verstehst du? Menschen mit richtigen Jobs haben so etwas gelegentlich.“

Totenstille am anderen Ende der Leitung. Lily schnaufte. Ihre Mutter hatte eine Art zu schweigen, die weitaus vorwurfsvoller war als wüste Beschimpfungen. „Tut mir leid. Ich habe schlecht geschlafen.“

„Es dauert nur einen Moment. Du bist gestern Abend verschwunden, ohne mir einen verbindlichen Termin für die Anprobe zu nennen.“

„Ich bin gerade in der Tiefgarage und habe meinen Kalender nicht zur Hand.“

„Dann ruf mich an, sobald du ihn zur Hand hast! Wirklich, Lily, die Freundin meiner Cousine ist eine viel beschäftigte Frau, und sie hat uns einen großzügigen Rabatt gewährt. Ein bisschen Höflichkeit wäre da schon angebracht. Du hast bereits einen Termin verschwitzt, und dein Brautjungfernkleid muss unbedingt geändert werden, vor allem das Oberteil. Du sahst schrecklich darin aus.“

Lily hätte ihrer Mutter gern gesagt, dass sie in einem kotzgrünen Kleid einfach nicht gut aussehen konnte, ganz egal, was die Schneiderin daran änderte, aber sie hatte schon genug andere Schwierigkeiten. „Ich checke meinen Kalender und schicke dir eine E-Mail, okay? Das ist für mich einfacher als Telefonieren.“

Ihre Mutter schätzte E-Mails nicht besonders, aber sie akzeptierte den Kompromiss widerwillig und hob zu einer ausführlichen Beschreibung der jüngsten Katastrophe bei den Hochzeitsvorbereitungen an. Lilys ältere Schwester sollte unbedingt im großen Stil heiraten, und alles musste perfekt sein.

Lily fuhr inzwischen auf ihren Parkplatz ganz unten in der Tiefgarage. In Gedanken war sie noch bei ihrem Bericht, den sie fertiggestellt hatte, bevor sie von zu Hause losgefahren war. „Mm-hmm“, machte sie, als sie sich ihren Rucksack schnappte und die Wagentür schloss. Und da wurde ihr erst bewusst, was ihre Mutter gerade gesagt hatte.

Die Speisekarte für das Probedinner musste offenbar geändert werden. Die Schwester des Bräutigams war allergisch gegen Ingwer.

„Lily? Was ist?“

Anscheinend hatte sie irgendeinen Laut von sich gegeben. „Als du von Ingwer gesprochen hast, ist mir wieder eingefallen, dass ich Ginger Harris gestern getroffen habe.“

Ihre Mutter stieß einen typisch chinesischen Schrei aus, ein kurzes „Eh!“, das ein untrügliches Zeichen für das Ausmaß ihrer Erschütterung war. Normalerweise klang Julia Yu genauso kalifornisch wie die Beach Boys. „Ginger Harris? Wieso hast du dich mit ihr getroffen? Was ist passiert?“

„Ich habe mich nicht mit ihr getroffen, sie ist mir zufällig im Zusammenhang mit einem Fall begegnet. Weißt du, was mit ihrer Familie ist? Wo sind sie hingezogen?“

„Das gefällt mir ganz und gar nicht! Ich dachte, du hättest das alles hinter dir gelassen.“

„Habe ich auch.“ Abgesehen von den Albträumen, aber die waren nur noch selten. „Ich muss das für meine Untersuchung wissen, Mutter.“

„Ich erinnere mich nicht, wohin sie gezogen sind. Aber … ich könnte Doris Beaton vielleicht danach fragen.“ Das Angebot kam etwas zögernd. „Ich glaube, sie hat noch Kontakt zu ihnen.“

„Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das tun würdest.“ Lily ging zum Aufzug und drückte auf den Knopf.

„Ich verstehe nicht, warum du unbedingt etwas über sie in Erfahrung bringen willst.“

„Das kann ich dir jetzt auch noch nicht so genau sagen. Die Polizeiarbeit wäre sehr viel einfacher, wenn wir im Voraus wüssten, welche Hinweise wichtig sind.“ War es eine Vorahnung, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte, oder die Vergangenheit? Lily schüttelte sich und versuchte, das Gefühl loszuwerden. „Aber danke, dass du Mrs. Beaton fragen willst. Ich weiß, wie sehr dir dieses Thema zu schaffen macht.“

„Es geht nicht um mich. Ich mache mir Sorgen um dich!

„Ich weiß. Mir geht es gut.“ Lily hatte jedoch immer das Gefühl gehabt, es sei ebenso sehr um ihre Mutter gegangen wie um sie. Aus diesem einen Vorfall hatten sich so viele Fäden entsponnen … und sosehr sie auch an ihnen zog, herumschnippelte oder sie zu entwirren versuchte, die Knoten blieben. „Der Aufzug ist da. Ich muss Schluss machen.“

Julia erinnerte sie noch einmal daran, in ihren Kalender zu schauen, und verabschiedete sich. Lily steckte ihr Handy in den Rucksack und betrat den kleinen Stahlkasten.

Es war eine Erleichterung für sie, sich wieder auf den Fall konzentrieren zu können, auf die Fakten und Möglichkeiten. Fäden – genau das hatte sie in der Hand: ein wirres Knäuel aus Fäden und nur wenige harte Fakten, die ihr zeigten, wo sie ziehen musste. Sie hatte zahlreiche Aussagen, aber außer wahren Anteilen enthielten diese garantiert auch Lügen und alle möglichen Ausflüchte, Auslassungen und natürlich ganz banale Fehler.

Der genaue Zeitpunkt des Todes war in diesem Fall wahrscheinlich ein entscheidender Faktor. Vielleicht bekam sie schon bald erste Ergebnisse aus dem Labor. Viel konnten die Kollegen vermutlich nicht sagen, aber sie müssten zumindest bestätigen können, dass der Mörder ein Andersblütiger war.

In der Wissenschaft konnte man sich darauf verlassen, dass die Dinge ganz sicher immer nach einem bestimmten Muster verliefen. Wasser kochte stets bei 100 °C, ganz egal, wer es aufsetzte. Wenn man Kaliumnitrat, Schwefel und Holzkohle im richtigen Verhältnis mischte, erhielt man immer Schwarzpulver und nicht etwa Goldstaub oder Backpulver.

Aber Magie war unberechenbar. Eigen und kapriziös. Die Zellen und Körperflüssigkeiten der Andersblütigen – die von Natur aus magische Wesen waren – lieferten nicht bei jedem Test dieselben Resultate. Daher war es zwar möglich, die Spuren zu identifizieren, die die Magie hinterließ, aber auf die Laborergebnisse war kein Verlass.

Der Aufzug blieb quietschend im ersten Stock stehen, und zwei Personen stiegen ein. Lily schaute auf ihre Uhr. Vielleicht hätte sie doch lieber die Treppe nehmen sollen.

Wenn die Tiefgarage das Gedärm des Monsters war, dann waren die Aufzüge der Blutkreislauf. Was bedeutete, dass das Gebäude sich häufig aufgrund von Kreislaufversagen im Schockzustand befand, denn die Aufzüge waren notorisch langsam und klapprig. Nach einer halben Ewigkeit kam Lily endlich im dritten Stock an. Sie warf abermals einen Blick auf die Uhr, als sie die Tür zum Morddezernat öffnete. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch schnell einen Schluck Kaffee trinken.

„Hallo Lauren!“, begrüßte sie die stämmige Blondine am ersten Schreibtisch. Drei der fünf Arbeitsplätze im Büro waren besetzt. Mechs nicht. „Ist Mech da?“

„Sehe ich wie eine Empfangsdame aus?“ Lauren schaute auf ihren Computermonitor und tippte unbeirrt weiter. „Warum hält mich hier jeder für eine gottverdammte Sekretärin?“

„Das liegt an deiner charmanten Art. Da fühlt sich gleich jeder willkommen und gut aufgehoben.“ Mech war bestimmt schon da. Er musste doch wissen, dass sie mit ihm sprechen wollte, bevor sie Randall aufsuchte. Sie ging zielstrebig auf die große Kaffeekanne zu.

Sean Brady schaute grinsend von der Akte auf, in der er gelesen hatte, und heulte wie ein Wolf.

„Verdammt noch mal!“, schimpfte die Frau an dem Schreibtisch neben ihm. „Lass das gefälligst bleiben! Dich wird niemand, aber auch wirklich niemand, für einen Lupus halten!“

T.J. streckte den Kopf aus seinem Büro. „Hat jemand mein … Oh, hallo Lily!“ Er grinste und sah Brady vielsagend an.

T.J. war Polizist geworden, als Gott noch ein junger Hüpfer war, und fast ebenso lange war er schon Detective. Er hatte Haare wie der Weihnachtsmann, eine Brille mit Goldrand, ein Gesicht mit mehr Falten als ein Basset und einen grauenhaften Humor. Lily nahm sich vor, ihren Platz sicherheitshalber nach Furzkissen und ähnlichen Scherzartikeln abzusuchen.

„Hat jemand Mech gesehen?“, fragte sie. Die Kaffeekanne war fast leer. Das war sie eigentlich immer. Sie hatten im Kollegenkreis vereinbart, dass derjenige, der sich den letzten Schluck eingoss, die nächste Kanne kochte, und so versuchte jeder, ein paar Tropfen übrig zu lassen. Lily schüttete den kleinen Rest der dunklen Brühe in eine Tasse, auf der stand: „UFOs gibt es wirklich – die Air Force ist eine Täuschung.“

„Du richtest wahrhaftig noch das Wort an uns armselige Wichte?“, fragte Brady. „Müssen wir voll Demut das lockengekränzte Haupt neigen, bevor wir das Wort an dich richten?“

Lily verdrehte die Augen. „Der Himmel steh uns bei! Brady hat wieder einen Blick in sein poetisches Wortschatzkästlein geworfen.“

„Ich dachte nur. Du verkehrst doch jetzt mit seiner königlichen Hoheit, dem Prinzen.“ Er heulte abermals.

„Kann ihm mal jemand einen Maulkorb anlegen?“ Lily ging auf die Ecke zu, die sie als ihr Büro zu bezeichnen pflegte. Es war nur eine Nische am Ende des Hauptbüros ohne den Luxus einer Tür oder eines Fensters. Aber immerhin hatte sie einen Platz für sich, der Raum bot für ihren Schreibtisch, ein paar Aktenschränke, einen zusätzlichen Besucherstuhl, einen ums Überleben kämpfenden Philodendron und einen Efeu, der sich anschickte, mit seinen Ranken die Welt zu erobern.

„Weißt du was, Brady?“, sagte Lauren. „Ich glaube, du hast gar keine Locken!“

„Meinst du? Ich kann ja mal nachsehen …“

„Untersteh dich! Wenn du das machst, verhafte ich dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses!“

„Mech bewacht übrigens deinen Schreibtisch“, sagte T.J., als Lily an ihm vorbeikam.

Sie blieb stehen. „Deine Augen funkeln so verdächtig, T.J., und das gefällt mir gar nicht.“

Er schüttelte den Kopf. „So jung und schon so zynisch.“ Dann lächelte er. „Ich hoffe, dir gefällt unser kleines Präsent.“

Oje! Lily war auf der Hut, als sie sich ihrer Büroecke näherte. Was hatten die anderen nur wieder ausgeheckt? Wenn Mech da war, müsste sie eigentlich vor Streichen sicher sein. Mech war der komplette Gegensatz zu Brady und T.J.; er war beinahe schon zu ernst. Er würde sie warnen, wenn sie ihren Stuhl so präpariert hatten, dass er unter ihr zusammenkrachte.

Was für eine Art „Präsent“ hatten sie also für sie vorbereitet?

Sie bog um die Ecke und fand es heraus.

„Detective Yu“, sagte Rule Turner und erhob sich höflich von dem ramponierten Besucherstuhl. „Ihre Kollegen haben mir versichert, dass es in Ordnung ist, wenn ich hier auf Sie warte.“ Sein Lächeln war ein wenig verschmitzt und sehr charmant. „Ich glaube, man hat sich einen kleinen Scherz erlaubt.“

„Äh“, machte Lily nicht eben pfiffig. Er trug wieder Schwarz – ein schwarzes Hemd mit offenem Kragen, ein schwarzes Jackett und eine schwarze Hose. Äußerst Hollywood! Das Jackett sah aus, als habe es so viel gekostet, wie ihr Auto wert war. „Ich fürchte auch. Aber auf meine Kosten.“ Sie seufzte. „Polizeihumor hat viel mit Kindergartenhumor gemein, außer dass er nicht jugendfrei ist.“

„Der Chief hat ihn hergeschickt“, sagte Mech. Er saß auf Lilys Schreibtisch und bemühte sich, einen entspannten Eindruck zu machen.

Mech war zehn Jahre älter als Lily, knapp fünfzehn Zentimeter größer und vierzig Kilo schwerer, aber jedes Gramm, das er am Leib hatte, war Muskelmasse. Er war ein ruhiger, besonnener Mann mit Hiobsgeduld, einer Haut von der Farbe ihres heiß geliebten Karamell-Milchkaffees und einer ziemlich puritanischen Ader.

Das mit der Entspannung gelang ihm nicht so gut. „Er … äh, seine Hoheit möchte uns bei den Ermittlungen unterstützen.“

Turner schüttelte den Kopf. „Ich bin keine Hoheit. Die Presse bezeichnet mich zwar immer als Prinz, aber die wollen ja auch ihre Zeitungen und Magazine verkaufen.“

„Ist mir auch schon aufgefallen.“ Lily stellte ihren Rucksack auf den Schreibtisch. „Danke, Mech. Du kannst T.J. sagen, er steht auf meiner Liste. Und Brady auch.“

Mech zögerte, als wisse er nicht genau, ob er sie mit Turner allein lassen konnte. Sie sah ihn eindringlich an, als sie ihren Rucksack öffnete. Er nickte widerstrebend und ging.

Lily holte ihren Laptop hervor. „Wir wissen zwar die tatkräftige Unterstützung der Bürger zu schätzen, aber es wird problematisch, wenn ein Tatverdächtiger bei den Ermittlungen helfen will.“

Turner zog die Augenbrauen hoch. „Sie sind ja ziemlich direkt.“

„Aber immer höflich. Chief Delgado hat Sie also zu mir geschickt?“

„Das hat er. Ich habe ihn heute Morgen angerufen und meine Hilfe angeboten. Wenn Sie einen Lupus fangen wollen, müssen Sie über uns Bescheid wissen, und ich bezweifle, dass das der Fall ist. Das soll keine Kritik sein. Es sind einfach nur sehr wenige brauchbare Informationen verfügbar.“

„Sie meinen, in Hexensabbat hat man uns nicht die Wahrheit gesagt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Und als Nächstes offenbaren Sie mir, dass Charlie Chan eigentlich kein Chinese war.“

Er kicherte. „Okay, schon verstanden. Er wurde von einem westlichen Schauspieler gespielt, nicht wahr?“

„Von Sydney Toler, unter anderem.“ Lily hätte niemals zugegeben, dass sie eine heimliche Schwäche für die alten Charlie-Chan-Filme hatte, die nur so strotzten vor Klischees und Stereotypen. Aber sie waren so viel besser als James Bond oder Bruce Lee. Chan kam ohne Technik und Kung Fu aus und besiegte die Bösen allein mit Grips. „Es könnte schwierig für mich werden, Ihre Informationen zu überprüfen.“

„Und Sie haben natürlich nicht die Absicht, mir einfach zu vertrauen. Aber ich habe großes Interesse daran, dass dieser Fall schnell gelöst wird. Ich möchte, dass nur ein Lupus für den Mord verantwortlich gemacht wird, und nicht alle. Und ich möchte nicht dieser eine sein. Ich habe es nicht getan, aber Sie brauchen Beweise, um mir zu glauben.“

Lily nippte an ihrem kalten Kaffee und studierte Turner. Es war an sich nicht ungewöhnlich, dass ein Anführer der Lupi mit der Polizei kooperieren wollte. Wenn ein Werwolf sein Unwesen in der Stadt trieb und nicht gefasst werden konnte, hatte das unter Umständen schlimme Konsequenzen für alle Lupi. Bei derartigen Vorfällen neigten die Menschen zur Panik. Außerdem sollte im Kongress bald über den Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform abgestimmt werden, und es konnte sein, dass sich die Öffentlichkeit wegen des aktuellen Mordfalls gegen diesen Gesetzentwurf aussprach.

Doch wenn Lupi mit der Polizei kooperierten, hatte man nicht unbedingt Geständnisse oder hieb- und stichfeste Beweise zu erwarten. Einmal hatten sie eine Leiche vor einer Polizeiwache abgelegt, zusammen mit einem Zettel, auf dem stand, man habe das Problem aus der Welt geschafft.

Lily stellte ihre Tasse ab. „Gestern haben Sie gesagt, Sie wüssten nicht, wer Carlos Fuentes getötet hat.“

„Das weiß ich auch nicht.“

„Selbstjustiz wird von mir in keiner Form geduldet. Mord ist Mord.“

„Eine bewundernswerte Einstellung. Das Gesetz nennt es natürlich nur Mord, wenn wir in Menschengestalt getötet werden.“ Er winkte ab. Seine Hände waren elegant, und er hatte lange Finger, wie ein Pianist. Es war kaum vorstellbar, dass sich diese Hände in Wolfspfoten verwandeln konnten. „Aber Sie haben mich missverstanden. Ich biete Ihnen nicht an, den Mörder für Sie zu finden, sondern vielmehr, Sie über die Kultur und Lebensgewohnheiten der Lupi zu informieren.“

Wenn er es ehrlich meinte, war das ein Spitzenangebot. Was Aufrichtigkeit und Entgegenkommen betraf, standen die Lupi in der Regel auf einer Stufe mit der Mafia und dem CIA. „Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten“, sagte Lily, nahm das Druckerkabel zur Hand und schloss es an ihren Laptop an, „aber ich werde im Büro des Captains erwartet“, sagte sie und schaute auf ihre Uhr. „Verdammt! In zwei Minuten. Wenn Sie vielleicht in dem anderen Raum warten möchten? Sergeant Meckle holt Ihnen einen Kaffee.“

Er verzog das Gesicht. „Meinen Sie das Gebräu in Ihrer Tasse?“

Sie lächelte. „Zu stark für Sie?“

„Das Zeug verabreichen Sie den Verdächtigen, um sie mürbe zu machen, nicht wahr?“

„Funktioniert nur bei Schlappschwänzen.“

Er schüttelte den Kopf. „Jetzt habe ich ein echtes Problem. Sie haben bereits meine große Schwäche entdeckt. Was Kaffee angeht, bin ich ein ziemlicher Snob.“

Es war nicht das, was er sagte, sondern vielmehr die Art, wie er es sagte. Lily musste lachen. „Lassen Sie sich von niemandem einreden, Bescheidenheit sei Ihre größte Zier. Das wäre übertrieben!“

„Man kann nicht jede erstrebenswerte Eigenschaft besitzen.“ Er lächelte und musterte sie – zu kurz, als dass es beleidigend gewesen wäre, aber die Anerkennung in seinem Blick war offensichtlich. „Ich habe das Gefühl, dass Sie auch nicht gerade die Bescheidenheit in Person sind, Detective.“

„Meine Großmutter behauptet, dass Bescheidenheit nur das öffentliche Gesicht des Neids ist.“ Warum um Himmels willen sprach sie mit diesem Mann über ihre Großmutter?

Das leise Kribbeln in ihrem Bauch war möglicherweise ein Hinweis. Vermutlich hatte auch Turner registriert, wie sie auf ihn reagierte. Verdammt! Er war es gewöhnt, bei diesen Mann-Frau-Spielchen als Sieger hervorzugehen. Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind gut, das muss man Ihnen lassen. Aber ich spiele nicht mit.“

„Und Sie sind sehr direkt. Das gefällt mir.“ Er kam lächelnd näher und streifte ihre Haarspitzen mit den Fingern. „Ihr Haar duftet nach Orangen.“

Sie sah ihn durchdringend an und ignorierte die freudige Erregung in ihrem Inneren. „Sie fangen an, mich zu verärgern.“

„Sie möchten lieber auf der unpersönlichen Ebene bleiben.“ Er nickte und nahm seine Hand fort. „Durchaus vernünftig, aus Ihrer Sicht. Aber Sie sollten wissen, dass es mir nur selten gelingt, einer Frau gegenüber unpersönlich zu bleiben, die ich attraktiv finde.“

„Anscheinend noch eine erstrebenswerte Eigenschaft, die Sie nicht besitzen. Aber Kopf hoch, es ist nie zu spät! Fangen Sie doch gleich an, daran zu arbeiten!“

Er grinste. „Ich habe um halb elf eine Verabredung, und Sie kommen zu spät zu Ihrer Besprechung. Arbeiten Sie auch samstags, Detective?“

„Sieht so aus. Warum?“

„Wollen wir uns nicht morgen zum Lunch treffen? Rein geschäftlich natürlich. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Irgendwo an einem öffentlichen Ort, damit ich gezwungen bin, mich anständig zu benehmen.“

An einem öffentlichen Ort hatte Lily ihn am vergangenen Abend erlebt, und er hatte sich nicht anständig benommen … Aber was machte es schon, wenn sie ihm nicht trauen konnte! Auf sich selbst konnte sie sich hundertprozentig verlassen. „Einverstanden. Kennen Sie das Bishop’s, in der Achten?“

„Ich werde es finden.“ Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht, als er ihr die Hand reichte. „Um ein Uhr?“

„Okay.“ Vielleicht war die Geste als Herausforderung gemeint, aber sie hatte ihre Gründe, ihm trotzdem die Hand zu schütteln: hauptsächlich, weil sie ein Gefühl für die Magie bekommen wollte, die ihm innewohnte. Seine Hand schloss sich warm und fest um ihre.

Plötzlich fühlte sie sich ganz leer. Ihr Atem wurde flacher, dann wurde ihr schwindelig, als mangle es ihr an Sauerstoff. Die Muskeln an der Innenseite ihrer Schenkel zitterten, und sie starrte seinen Mund an – die schönen weißen Zähne und die Lippen, die leicht geöffnet waren wie ihre. Es waren weiche Lippen. Sie wollte sie berühren.

Dann wurde ihr Blick wie magisch von seinen dunklen Augen angezogen. Sie sah die goldenen Sprenkel darin und die großen Pupillen. Sie sah die dichten Wimpern. Und sie sah die Überraschung in seinem Blick.

Er ließ ihre Hand fallen. Sie starrten sich einen Moment lang an. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Seine Nasenflügel blähten sich, sein Atem ging schneller.

Grundgütiger, was sollte sie sagen? Wie kam sie aus dieser Situation nur wieder heraus?

Er brach das Schweigen. „Ich werde mich nicht anständig benehmen“, sagte er grimmig, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

 
 

5

Der Korridor, der zum Büro des Captains führte, war beige – beige Wände, beige Holztäfelung, beiger Teppich. Keine Fenster. Mit immer noch klopfendem Herzen, ihrem Bericht in der Hand und wirren Gedanken im Kopf ging Lily nun diesen beigefarbenen Tunnel hinunter.

Die Unterhaltungsliteratur war voll von Geschichten über die angebliche sexuelle Anziehungskraft der Lupi und ihre Gabe, ihnen wehrlos ausgelieferte Frauen im Sturm zu erobern. Die meisten Experten hielten das für einen Mythos. Das Ruchlose, Böse hatte schon immer eine gewisse Faszination auf die Menschen ausgeübt, und das Geheimnisvolle besaß seinen ganz eigenen Zauber.

Bis vor wenigen Minuten war Lily noch mit den Experten einer Meinung gewesen.

Aber jetzt …

Nun, was immer zwischen ihr und Turner geschehen war, hätte nicht geschehen dürfen. Das stand außer Frage. Und vor allem war es eigentlich gar nicht möglich. Selbst wenn Lupi irgendeine geheimnisvolle Macht besaßen, müsste sie immun dagegen sein. Die Magie streifte sie üblicherweise nur und kribbelte auf ihrer Haut, aber sie drang weder in ihr Inneres vor noch hatte sie irgendeine besondere Wirkung auf sie.

Dennoch: Was geschehen war, hatte nichts mit normaler Anziehungskraft zu tun – es war zu plötzlich gekommen, mit viel zu großer Intensität. Und er hatte so überrascht ausgesehen. Als sei auch er nicht auf so etwas vorbereitet gewesen …

Lily schüttelte den Kopf, um ihre Verwirrung loszuwerden. All das war nicht so wichtig wie das, was nicht passiert war. Sie hatte einem Lupus-Prinzen die Hand geschüttelt – und trotzdem nicht das typische Kribbeln der Magie gespürt. Und dafür hatte sie absolut keine Erklärung.

Sie klopfte an und öffnete die Tür zum Büro des Captains.

„Schön, dass Sie es einrichten konnten zu kommen, Detective“, sagte Captain Randall trocken.

Lily stutzte und blieb im Türrahmen stehen. Es waren drei Männer im Raum, nicht nur einer.

Frederick Randall saß an seinem Schreibtisch. Der Captain war ein kleiner Mann mit Glatze jenseits der sechzig, dessen Physiognomie sich in der unteren Hälfte seines faltigen Gesichtes zusammenzudrängen schien. Er sah wie ein echter Bürokrat aus – wohlgenährt und nicht allzu pfiffig. Doch dieser Eindruck täuschte.

Die beiden anderen Männer, die ihm gegenübersaßen, trugen Anzüge und hatten von Berufs wegen ernste Mienen.

Sieh an, dachte Lily, das FBI. „Ja, Sir. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“

„Das sind die Special Agents Karonski und Croft vom FBI. Sie interessieren sich für den Fall Fuentes.“

Das hatte Lily sich schon gedacht. Sie grüßte die Männer mit einem sehr zurückhaltenden Nicken, denn sie wusste nicht, ob Randall sie über ihre besonderen Fähigkeiten aufgeklärt hatte.

Die Vertreter des FBI machten Anstalten, sich zu erheben. Randall winkte ab. „Bleiben Sie bitte sitzen!“

Er hatte zwar das Hauptbüro, aber es war weder besonders groß noch luxuriös. Der einzige freie Stuhl war aus Holz und stand rechts vom Schreibtisch des Captains, sodass Lily seitlich von ihm und den beiden Männern Platz nehmen musste.

Der Mann, der ihr am nächsten saß, hatte schöne Zähne, eine noch dunklere Haut als Mech, ein freundliches Lächeln und eine ziemlich hohe Stirn.

„Ich bin Martin Croft“, sagte er. „Wie ich Ihrem Captain bereits erklärt habe, wollen wir Ihnen den Fall nicht entziehen …“

„Obwohl wir es könnten.“ Der andere Mann lächelte nicht.

„Karonski“, stellte er sich Lily vor.

Der Captain schnaubte. „Das müssen Sie mir erst mal beweisen!“

„Mord mit magischem Hintergrund ist eine Straftat, die in unsere Zuständigkeit fällt.“

Lily bemühte sich, höflich zu bleiben. „Äh … mit magischem Hintergrund? Fuentes wurde mit Hilfe von Zähnen getötet, nicht mit einem Todeszauber.“

„Dem Captain zufolge wurde er von einem magischen Wesen getötet“, entgegnete Karonski. „Das bedeutet Mord mit magischem Hintergrund.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. Der Captain reagierte direkter: „Blödsinn! Selbst wenn Sie die Geschworenen davon überzeugen können, dass ein Mord, der von einem Andersblütigen begangen wurde, ein Mord mit magischem Hintergrund ist, würde der Richter eine Verurteilung ablehnen.“

„Vielleicht.“ Karonski musterte Lily abschätzig. „Sie ist jung.“

„Nicht so jung, wie sie aussieht, und sie ist absolut qualifiziert. Außerdem hat sie Verbindungen zu … äh … zur übernatürlichen Gemeinschaft, was sich als höchst nützlich erweisen könnte. Ist das Ihr Bericht, den Sie da in der Hand haben, Yu?“

Er hatte es ihnen also nicht gesagt. Eigentlich hatte sie das auch nicht erwartet. „Ja, Sir.“ Lily beugte sich vor und gab ihm ihren Bericht.

„Es gibt hier offenbar Unstimmigkeiten“, bemerkte Croft trocken. „Da dies seit der Entscheidung des Obersten Bundesgerichts der erste Mord ist, der angeblich von einem Lupus in Wolfsgestalt begangen wurde …“

„Der erste?“, fragte Lily überrascht. „Im ganzen Land?“

„Der erste, bei dem die Identität des Täters nicht geklärt ist“, präzisierte Croft. „Es gab einen Mord in Connecticut, aber der Fall wurde … äh … sozusagen von der Gemeinschaft der Lupi gelöst.“

Er meinte damit, dass der Mörder von seinen eigenen Leuten getötet worden war. Lily erinnerte sich gut an den Fall. Man hatte seine Leiche – in Wolfsgestalt – zusammen mit einem unterschriebenen Geständnis draußen vor dem Gerichtsgebäude abgelegt.

„Und bei der Sache letztes Jahr in Texas hat das Gericht auf Notwehr befunden.“

Croft sah sie an. „Ja. Ein interessanter Fall, rechtlich gesehen.“

Sie nickte. Der betreffende Lupus war in Menschengestalt gewesen, als er von einer zwölfköpfigen Bande überfallen wurde. Er hatte sich verwandelt. Drei Bandenmitglieder hatten überlebt. „Die Amerikanische Bürgerrechtsunion hat sich sehr für den Angeklagten engagiert.“

„Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Rechtsprechung. Zum ersten Mal hatte ein Gericht befunden, dass auch ein Lupus in Wolfsgestalt das Recht auf Selbstverteidigung hat. Mit Einschränkung natürlich, wenn man sich die Formulierung des Urteils genau ansieht.“

Die Verteidigung hatte argumentiert, dass die Verwandlung unter den gegebenen Umständen mit dem Loslassen eines abgerichteten Wachhundes vergleichbar war. Dass die Verwandlung dem Schutz der menschlichen Gestalt des Angeklagten gedient hatte, in der es ihm gesetzlich erlaubt war, sich zu wehren. Das Berufungsgericht hatte dem zugestimmt, aber … „Die Richter waren sich unschlüssig, wann eine ausreichende Bedrohung vorliegt, um eine Verwandlung zu rechtfertigen. Also ist es zwar ein Präzedenzfall, aber kein eindeutiger.“

Croft lächelte. „Allmählich verstehe ich, warum der Captain Ihnen den Fall übertragen hat. Mir begegnen nur selten Polizisten, die sich in meinem Fach so gut auskennen. Ach … ich glaube, Captain Randall hat es Ihnen noch nicht gesagt, aber wir sind von der MCD.“

Von der Magical Crimes Division. Nun, das ergab natürlich Sinn, aber trotzdem konnte sich das FBI den Fall nicht einfach so unter den Nagel reißen. Doch die Special Agents erhoben ja auch nicht offiziell Anspruch darauf, nicht wahr? Sie gaben dem Captain lediglich zu verstehen, dass sie ihm Schwierigkeiten machen konnten, wenn er nicht mit ihnen zusammenarbeitete.

Aber inwiefern sollte er das tun? Was wollten sie? Lily schaute Randall an, der das Wort ergriff, ohne von ihrem Bericht aufzusehen. „Die Herren bekommen ab sofort Kopien Ihrer Berichte, nachdem ich sie gesehen habe. Fassen Sie doch kurz die wichtigsten Punkte für sie zusammen.“

„Nicht nötig, Captain“, sagte Croft. „Wir lesen uns den Bericht später durch. Mit den Informationen, die wir bereits von Ihnen bekommen haben, und dem, was in den Zeitungen steht, haben wir das Wichtigste beisammen, denke ich. Bis auf eines: Ich muss wissen, Detective, wie sicher Sie sich sind, dass der Mord von einem Lupus begangen wurde.“

„Wenn Sie Beweise wollen, müssen Sie sich an das Büro des Coroners wenden. Aber ich bin mir ziemlich sicher.“ Warum sie so sicher war, konnte sie ihnen nicht sagen, und es wäre ohnehin nicht als Beweis vor Gericht zulässig. Aber es gab noch jede Menge andere Hinweise.

Lily rekonstruierte den Tathergang, beschrieb die Wunden und Blutspritzer und berichtete von der abgetrennten Hand. „Einer der Beamten, die als Erste am Tatort waren, war früher bei der X-Einheit. Fünfzehn Jahre lang. Für ihn ist der Täter ein Werwolf.“

„Ein Lupus“, korrigierte Croft sie automatisch. „Der Mord weist Übereinstimmungen mit einem Lupusangriff auf.“

Karonski runzelte die Stirn. „Es muss aber nicht zwingend einer gewesen sein. Es kommt doch hin und wieder vor, dass jemand seine Tat so aussehen lässt, als habe sie ein Lupus begangen. Die meisten Versuche in dieser Richtung sind reichlich plump“, erwiderte er. „Dieser wäre es allerdings nicht.“

Lily musterte ihn: mittlere Größe, schlecht sitzender Anzug, Figur wie eine Tonne. Er war etwas jünger als Croft und trug im Unterschied zu diesem einen Ehering. „Es gibt mit Sicherheit Speichel des Mörders in den Wunden. Der DNA-Vergleich bringt wahrscheinlich kein Ergebnis, aber das Labor kann auf jeden Fall sagen, ob der Speichel von einem Andersblütigen stammt. Jemand, der clever genug ist, um solche Wunden nachzuahmen – die ich übrigens für echt halte –, würde das wissen.“

„Die Magie kann einiges zuwege bringen.“

Lily horchte auf. „Glauben Sie wirklich? Ich meine … Ich nehme mal an, dass man solche Wunden irgendwie fingieren kann, aber ist es möglich, mit Hilfe von Magie die ungewöhnlichen Eigenschaften der Körperflüssigkeiten eines Lupus nachzuahmen?“

„Keine Ahnung“, entgegnete Karonski finster. „Was meinen Sie?“

Eine beunruhigende Vorstellung. Die Anwendung von Magie zu einem solchen Zweck war natürlich gesetzwidrig – aber das war Mord auch. „Sollte so etwas möglich sein, würde es sich tatsächlich um einen Mord mit magischem Hintergrund handeln. Sind Sie aus diesem Grund hier?“

Croft zuckte mit den Schultern. „Zum Teil. Wir müssen natürlich den Sachverhalt klären. Und man macht sich natürlich Sorgen um die politischen Auswirkungen.“

Lily runzelte die Stirn. „Sie spielen auf den Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform an?“ Dem Kongress war es beinahe gelungen, sich vor der Verantwortung zu drücken und den Entwurf schon im entsprechenden Ausschuss abbügeln zu lassen, aber nun drängten die Befürworter auf Abstimmung.

„Politik!“, fuhr Randall auf und legte Lilys Bericht zur Seite. „Gott sei Dank ist das nicht mein Job. Wenn Sie von magischer Manipulation reden, dann meinen Sie Zauberei, nicht wahr?“

Richtig, dachte Lily, mit Hexerei konnte man die grundlegende Beschaffenheit von Dingen nicht ändern. Aber wenn Zauberei im Spiel wäre, dann würde sie es erkennen … oder etwa nicht?

„Das ist eine Möglichkeit“, entgegnete Croft ungerührt.

„Es ist eine ausgestorbene Kunst“, erwiderte der Captain ungeduldig. „Sicher, ab und zu stoßen wir noch auf einen Amateur, der glaubt, ein Fragment des Codex Arcanum gefunden zu haben. Aber seit der sogenannten Säuberung gibt es niemanden mehr, der transformierende Magie praktiziert.“

„Wobei es sich um ein europäisches Phänomen handelte“, warf Croft ein. „Es gibt afrikanische Zauberer, und Gerüchten zufolge gibt es auch welche, die der kommunistischen Großen Säuberung in den Sechzigern entkommen konnten.“

Randall zuckte mit den Schultern. „Gerüchte gibt es immer, und was Afrika angeht: Da geht es eher um Hexerei als um echte Zauberei. Das habe ich jedenfalls gelesen. Sind Sie anderer Meinung?“

Croft und Karonski sahen sich in stillschweigendem Einvernehmen an, wie man es nur von langjährigen Geschäftspartnern und Eheleuten kennt. Croft ergriff das Wort. „Wir sagen doch gar nicht, dass Sie Ihre Laborergebnisse anzweifeln sollen.“

„Gut, denn das habe ich auch nicht vor. Ich dachte, Sie seien als Hokuspokus-Experten gekommen und nicht als Korrespondenten vom Rational Inquirer.“

Croft war verärgert. „Die einzigen wahren Experten in Sachen Magie sind die Praktizierenden selbst. Abel und ich können Sie aber bei der Ermittlungsarbeit beraten, und wir wissen ein paar Dinge über Lupi, die nicht überall bekannt sind. Wir haben es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Präzedenzfall zu tun. Wir glauben, dass unsere Erfahrung Ihnen nützlich sein könnte.“

Au weia. Lilys Mundwinkel zuckten.

Captain Randall sah sie strafend an. „Stimmt etwas nicht, Yu?“

Ihr Sinn für Humor würde sie noch in ernste Schwierigkeiten bringen. „Wenn ich es recht verstehe, bieten die Herren sich uns als sachverständige Berater an.“

„So ist es.“ Croft lächelte sie an.

Er hatte wirklich ein nettes Lächeln. „Das … äh … fand ich komisch, weil Rule Turner mir gerade dasselbe Angebot gemacht hat. Wir haben ein Treffen vereinbart. Er will mich über die Kultur der Lupi aufklären.“

„Rule Turner?“, fuhr Croft auf. „Der Thronfolger der Nokolai?“

Wer sonst?, dachte Lily. Gab es vielleicht noch jemanden, der so hieß? „Ja.“

Croft und Karonski wechselten abermals bedeutungsvolle Blicke.

„Aber Turner ist doch ein Tatverdächtiger“, sagte Captain Randall.

„Ja, Sir. Es macht sich in der Regel bezahlt, die Verdächtigen erzählen zu lassen, so viel sie wollen.“

Karonski wirkte verärgert – aber eigentlich sah er immer so aus. „Turner hat Fuentes nicht getötet!“

Lily beschloss, nur ihre Augenbrauen sprechen zu lassen.

„Sie müssen ihn natürlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt für tatverdächtig halten“, räumte Croft ein. „Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass er schuldig ist. Erstens sind Lupi weder besitzergreifend noch eifersüchtig, was ihre Sexualpartner angeht, also scheidet das als Motiv aus; zweitens hätten Sie die Leiche niemals gefunden, wenn er Fuentes getötet hätte.“

„Sie kennen ihn?“

„Wir haben ein dickes Dossier über ihn, das Sie vielleicht einsehen möchten.“

„Das wäre hilfreich. Danke.“

„Sie sollten es sich anschauen, bevor Sie mit ihm reden.“ Karonski beugte sich zu Lily vor, als wolle er sie packen und dazu zwingen. „Sie müssen doch wissen, mit wem sie es zu tun haben!“

Randall sah ihn mit unverhohlener Abneigung an. „Am besten lassen Sie uns das Dossier da und machen für später einen Briefing-Termin mit Detective Yu aus. Jetzt muss ich nämlich erst mal mit ihr über ihre anderen Fälle sprechen.“

Die Abfuhr schmeckte ihnen ganz und gar nicht, aber den FBI-Agenten blieb nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. Lily fragte sich, was der Grund für Randalls Feindseligkeit war, die über das übliche Zuständigkeitsgerangel hinauszugehen schien.

Ob er mit einem der beiden Männer bei einem alten Fall aneinandergeraten war? Aber vielleicht ging ihm Karonski auch einfach nur auf die Nerven. Der Mann war anstrengend.

Die beiden erhoben sich. Croft holte einen dicken Ordner aus seiner ledernen Aktentasche. „Das sind Kopien. Die können Sie behalten.“

Lily stand höflich auf, um den Ordner entgegenzunehmen. „Danke. Ich fürchte, ich werde bis in den Nachmittag hinein beschäftigt sein. Ist fünfzehn Uhr okay?“

„Einverstanden. Wir treffen uns hier“, entgegnete Croft.

Lily schüttelte ihm die Hand, und als sie Karonski die Hand reichte, erlebte sie die zweite große Überraschung dieses Tages. Diesmal wurde sie zwar nicht in sexuelle Trance versetzt, doch was sie spürte, gab ihr dennoch Rätsel auf.

Ein Hexer. Karonski war ein praktizierender Hexer.

Die Tür fiel hinter den beiden Männern ins Schloss. „Also, wie sieht es mit Ihren anderen Fällen aus?“, fragte Randall und riss sie aus ihren Gedanken. „Sind Sie so weit, einige davon abzuschließen?“

„Den Fall Meyers. Valencia auch, denke ich. Bei zwei anderen warte ich noch auf die Laborergebnisse. Der Rest sind ungeklärte Fälle, die so ziemlich auf Eis liegen.“

„Behalten Sie die. Die lenken Sie nicht ab. Und die anderen geben Sie weiter. Geben Sie Lauren den Fall Meyers. Sie will Detective werden, also muss sie Erfahrungen sammeln – und dann hat sie noch einen Grund mehr zum Jammern“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns.

„Aber …“ Aber das waren doch ihre Fälle!

Randall lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und faltete die Hände über seinem Bauchansatz, der niemals größer oder kleiner wurde. „Sie sind ehrgeizig. Das ist nichts Schlechtes. Aber Sie arbeiten hier in einem Team. Sie haben gute Leistungen vorzuweisen. Es schadet Ihnen nicht, wenn jemand anderer die Lorbeeren dafür einheimst, dass er ein paar von Ihren Fällen abschließt. Sie ernten jede Menge Ruhm, wenn Sie den Mörder von Fuentes schnappen, und ich möchte, dass Sie sich darauf konzentrieren. Verstanden?“

„Ja, Sir.“ Aber er irrte sich. Sie wollte die Fälle nicht behalten, um an Ansehen zu gewinnen. Sicher, sie wollte Anerkennung für ihre Arbeit, aber … das war nicht der Hauptgrund. Im Fall Meyers wollte sie diejenige sein, die dem Widerling die Handschellen anlegte, der seine Ex-Frau umgebracht hatte. Die anderen Fälle wollte sie einfach bis zum Ende verfolgen. Sie wollte sie selbst lösen.

„Gut. Wie gehen Sie weiter vor? Was macht Mech?“

„Wie Sie meinem Bericht entnehmen konnten, haben zwei der fünf Lupi im Hell ein Alibi. Mech überprüft das gerade, dann spricht er mit dem Chef und den Kollegen von Fuentes. Die von der Streife befragen bereits die Anwohner in der Nähe des Tatorts, und ich stehe mit ihnen in Kontakt. Heute Nachmittag werde ich mit der Witwe sprechen. Gestern Abend war sie zu mitgenommen, als dass ich vernünftig mit ihr hätte reden können. Ich habe auch vor, mit ihren Nachbarn zu sprechen. Und mit Turners Nachbarn. Bei dieser Sache spielt der genaue zeitliche Ablauf eine wichtige Rolle.“

Der Captain nickte. „Falls Turner wirklich schuldig ist, sollten Sie dafür sorgen, dass er sich nicht mit einem gefälschten Alibi aus der Affäre ziehen kann. Je genauer Sie den Tagesablauf von Fuentes und Turner rekonstruieren können, desto besser.“

„Ja, Sir. Ich will auch zu der Kirche fahren, in der Fuentes angeblich zur Chorprobe war. Kirche der Glaubenstreuen heißt sie.“

Randall zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, Sir, klingt schon ein bisschen komisch. Eher nach einer Sekte. Sie verehren irgendeine Göttin und nennen sich Azá.“

„Die Azá – von denen habe ich schon gehört. Die haben oben in L.A. einen Tempel oder so etwas. Es gab dort vor einiger Zeit Ärger mit einer Fundamentalistengruppe, aber ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten.“

Lily nickte und nahm sich vor, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.

„Und was machen Sie heute Vormittag noch?“

„Ich nutze meine Verbindungen zur übernatürlichen Gemeinschaft“, entgegnete Lily, ohne eine Miene zu verziehen.

Ein verschmitztes Funkeln lag in Randalls Augen. „Tun Sie das, Detective!“ Er nahm ihren Bericht, stauchte die Blätter mit der Unterkante auf die Tischplatte, bis sie ordentlich übereinanderlagen, und signalisierte damit, dass das Gespräch beendet war. „Die Reporter werden an Ihnen kleben wie die Schmeißfliegen. Schicken Sie sie nach oben. Geben Sie selbst keine Interviews!“

„Das … hatte ich nicht vor.“

„Gut. Ihr Bericht ist nicht sehr lang“, sagte er. „Aber unter den gegebenen Umständen ist das in Ordnung. Denken Sie daran, dass Ihre Berichte alle in Kopie ans FBI gehen.“

Wollte er damit sagen, dass Sie nicht alles hineinschreiben sollte? Aber sie hatte in ihren Berichten noch nie ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten erwähnt. Sie sprach das Thema auch nie direkt an. Genauso wenig wie er. Was meinte er also?

Irgendetwas war hier los. Sie wusste nur nicht, was. „Ja, Sir. Sagen Sie, gibt es vielleicht etwas, das ich über die beiden Agents wissen sollte?“

„Sie sind süchtig nach Ruhm. Besonders Croft. Der geht alles mit wilder Entschlossenheit an. Er wird immer wieder versuchen, Sie auszuquetschen. Lassen Sie das nicht zu“, entgegnete Randall. „Hier, bitte“, sagte er dann und reichte ihr ein Formular. „Sie müssen spezielle Munition und Fixierhilfen anfordern. Die Bleistiftspitzer von oben bestehen darauf, dass ich das absegne – alles ziemlich teuer, wegen des hohen Silberanteils. Und jetzt gehen Sie, und retten Sie Laurens Tag!“ Mit einer Handbewegung entließ er sie.

Lily betrachtete stirnrunzelnd den Ordner, den sie gerade zugeklappt hatte. Es stand viel Interessantes in dem Dossier, das ihr die Männer von der MCD überlassen hatten, aber eine Sache beschäftigte sie ganz besonders.

Rule Turner hatte ein Kind. Einen achtjährigen Sohn. Das Sorgerecht hatte zwar die Mutter, aber sie war Reporterin und ständig unterwegs. Sie hatte den Jungen bereits vor Jahren in die Obhut ihrer Mutter gegeben.

So etwas war in diesen Zeiten nicht ungewöhnlich. Die Mutter war zu beschäftigt, um Mutter zu sein, und der Vater hatte auch etwas Besseres zu tun. Hollywood-Partys besuchen und im Club Hell herumhängen zum Beispiel.

Sich darüber aufzuregen war albern, sagte Lily sich, stand auf und öffnete ihren großen Aktenschrank. Was ging es sie an, wenn Turner sich nicht um seinen Sohn kümmerte? Dann war er eben ein Mistkerl, aber er war längst nicht der einzige Mann mit Defiziten auf diesem Gebiet. Eine gewisse Verantwortung hatte er immerhin übernommen: Er zahlte Unterhalt, und der Junge verbrachte jeden Sommer in der Enklave der Nokolai, wo er seinen Vater vermutlich hin und wieder zu sehen bekam.

Aber das genügte nicht.

Lily schüttelte ungehalten den Kopf. Reine Zeitverschwendung! Sie hatte Besseres zu tun, als sich mit Turners Fehlern auseinanderzusetzen. Sie musste die Akten aller Fälle heraussuchen, die in absehbarer Zeit gelöst werden konnten, und sie an die Kollegen verteilen. Und sie musste unbedingt in ihren Kalender schauen. Irgendwie und irgendwann musste sie Zeit für diese Anprobe finden.

Aber während sie die Akten aus dem Schrank nahm, dachte sie weder an die Hochzeit ihrer Schwester noch daran, wie Lauren im Fall Meyers vorgehen würde. Sie grübelte vielmehr darüber nach, ob sie gerade gelinkt worden war.

Die Vorstellung behagte ihr ganz und gar nicht. Sie tippte nachdenklich mit dem Finger auf die Akte, die sie gerade aus der Schublade gezogen hatte. Sie hatte immer gedacht, Captain Randall sei ein fairer Mensch und ein guter Cop. Verdammt, sie vertraute ihm. Das lag natürlich zum Teil an den Geschehnissen der Vergangenheit. Er war damals noch Streifenpolizist gewesen und sehr freundlich und sie acht Jahre alt und traumatisiert. Aber auch später, im Erwachsenenleben, hatte er sich ihren Respekt verdient.

Dennoch, ihre Großmutter betonte stets, dass es außer Tod und Steuern noch eine dritte Unvermeidbarkeit im Leben gab: das Ränkespiel. Zwei Personen können gegeneinander kämpfen, Karten spielen oder zusammen schlafen, sagte sie immer, aber wenn drei beteiligt sind, dann fängt einer unweigerlich mit Winkelzügen an.

Wenn dieser Fall zu einem Desaster wurde, hatte sie einen dicken Minuspunkt in ihrer Akte … sowie eine Handvoll ungelöster Fälle. Und erst recht keine neuen Erfolge.

Lilys Finger trommelte schneller. Hatte sie Randall vielleicht deshalb nicht über Karonski in Kenntnis gesetzt? Sie informierte ihn zwar nicht jedes Mal, wenn sie auf jemanden mit einer Gabe oder einen Andersblütigen stieß, aber wenn ein FBI-Agent ein praktizierender Hexer war, dann würde der Captain es wissen wollen.

Sie mochte es ihm aber nicht sagen. Aus einem schwer bestimmbaren Instinkt heraus, oder ging es um verletzte Gefühle?

Der Captain hatte sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, indem er seiner unerfahrensten Kriminalbeamtin einen so großen Fall übertragen hatte. Doch er betrieb vermutlich auf diese Weise Schadensbegrenzung. Wenn sie den Fall löste, standen alle gut da. Wenn sie ihn vermasselte oder sich die ganze Sache zu lange hinzog und jemand den Medienhaien zum Fraß vorgeworfen werden musste … Lily konnte nachvollziehen, dass der Captain lieber das Risiko einging, einen Neuling zu verlieren als einen altgedienten Kollegen. Der Verlust eines weiblichen Detective war wohl leichter zu verschmerzen – noch dazu, wenn es sich um eine Chinesin handelte …

Aber vielleicht war sie ja auch nur paranoid.

Sie schnitt eine Grimasse und befasste sich erst einmal mit dem kleinsten Problem auf ihrer Liste: Sie schlug ihren Kalender auf. Nach kurzer Überprüfung bestätigte sich ihr Verdacht; sie hatte einfach keine Zeit für die Anprobe. Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als ein Mittagessen dafür ausfallen zu lassen – was vermutlich im Laufe der Ermittlungen noch öfter vorkommen würde.

Aber nicht morgen, dachte sie, denn da war sie mit Rule Turner zum Lunch verabredet. Heute würde sie unterwegs etwas essen, bevor sie sich ihre „Verbindungen zur übernatürlichen Gemeinschaft“ zunutze machte.

Sie wandte sich ihrem Computer zu und schickte ihrer Mutter rasch eine E-Mail. Dann griff sie zum Telefon und rief ihre Großmutter an.

Vor zwölf Jahren hatte ihre Großmutter die Familie in Bestürzung versetzt, als sie aus dem chinesischen Viertel ausgezogen war, wo sie gelebt hatte, seit sie als Kriegsbraut in die Vereinigten Staaten gekommen war. Ihr Haus stand auf einem fünf Morgen umfassenden Grundstück, das sie von einer größeren Fläche zurückbehalten hatte, die sie vor über vierzig Jahren erwarb, als sie noch nicht zum städtischen Einzugsgebiet gehörte. Sie hatte es genau nach ihren Wünschen bauen lassen, und sie hatte bar bezahlt.

Das Haus vertrug sich nicht mit seiner Umgebung. Es war ein quadratisches Gebäude aus Stein mit einem massiven Giebeldach, das besser ins schneereiche Nordchina gepasst hätte als in den warmen Süden Kaliforniens. Die Fenster waren hoch oben angebrachte horizontale Schlitze, wodurch das Haus aussah wie eine Festung mit einem pompösen Hut darauf. Es gab keine Auffahrt. Lilys Großmutter hatte nichts für Auffahrten übrig. Sie war auch nicht gerade verrückt nach Autos, obwohl sie eins besaß. Ihre alternde Großcousine, die bei ihr wohnte, durfte es ab und zu fahren.

Lily parkte am Straßenrand, ging den geschwungenen Kiesweg zu der knallroten Haustür hoch, die von zwei zähnefletschenden Steinlöwen flankiert war, und drückte auf die Klingel.

„Lily. Wie schön, dich zu sehen!“ Das Alter hatte Li Qins kantiges Gesicht etwas weicher und ihren jetzt knochigen Körper androgyner werden lassen. Das einzig wahre Schöne an ihr war die Stimme – leise und sanft und glockenhell. „Komm doch bitte herein! Deine Großmutter ist im Garten.“

„Danke. Du siehst gut aus.“ Die dezente, höfliche Art der Älteren gab Lily immer das Gefühl, plump und tollpatschig zu sein – so als könne sie das zarte Pflänzchen versehentlich mit einem schnell dahingesagten Wort verletzen. Was natürlich Unsinn war. Die Frau lebte mit ihrer Großmutter zusammen. Sie musste ziemlich zäh sein, sonst hätte sie bereits vor Jahren das Handtuch geworfen.

„Vielen Dank. Mir geht es auch gut.“ Li Qin trat zur Seite. Lily schlüpfte aus ihren Schuhen und betrat ein kleines Stückchen China … die Version ihrer Großmutter.

Der Eingangsflur war klein und fast unmöbliert. Ein aus Stein gemeißelter Minibrunnen plätscherte auf einem glänzenden schwarzen Tisch, und daneben stand ein einfaches Holzregal mit Straßenschuhen und einer stattlichen Pantoffelsammlung. Lily wählte ein türkisfarbenes Paar und folgte Li Qin.

Sie durchquerten einen Raum, den Lily und ihre Cousinen „Trophäenkammer“ nannten, denn er beherbergte Großmutters Sammlungen: Jade, Keramik, Lack. Neues und Altes war bunt durcheinandergemischt. Ein halbes Dutzend Stücke hatte Museumsqualität, und manche waren einfach nur kurios. Großmutter hatte einen unberechenbaren Geschmack.

Die Tür zum Garten stand offen. Als Lily über die Schwelle trat, verließ sie China wieder und sah sich einer wilden Mischung aus Mittelmeer und Tropen gegenüber. Der quadratische Hof war mit Platten ausgelegt, in deren Mitte eine runde Grasfläche ausgespart war. In den vier Ecken wuchsen Bleistiftsträucher und Hibiskus, blühender Lavendel und üppiger Bambus, und Santa-Barbara-Gänseblümchen scharten sich um ein kleines Orangenbäumchen.

Genau in der Mitte des Hofes saß eine kleine Frau an einem runden Tisch. In ihrem Gesicht zeigten sich Spuren des Alters, aber ihr Körper war gelenkig: Sie saß im Schneidersitz. Das schwarze Haar mit den auffälligen weißen Strähnen an den Seiten war zu einem strengen Knoten zusammengenommen. Sie trug eine maßgeschneiderte schwarze Hose und eine kragenlose rote Bluse, beide aus Seide, und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

Lily ging auf sie zu. „Großmutter“, sagte sie vorwurfsvoll, als sie sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die weiche gepuderte Wange zu hauchen, „der Lavendel blüht ja!“

„Ich liebe den Duft.“ Die Großmutter antwortete ihr auf Chinesisch, was einer klaren Rüge gleichkam.

Widerstrebend wechselte Lily ins Chinesische. Sie konnte die Sprache besser verstehen als sprechen. „Das ist doch die völlig falsche Jahreszeit! Was glaubst du, wie kraftraubend das für die Pflanze ist!“

Die nachgezogenen Augenbrauen der Großmutter gingen nach oben. „Du bist gekommen, um mich um einen Gefallen zu bitten?“, fragte sie, doch sie bot ihrer Enkelin keinen Platz an. Ein denkbar schlechter Start – und trotzdem lachte Lily, denn sie empfand eine überwältigende Zuneigung für die alte Dame. „Wo ai ni, Dzu-mu.“

Die Alte tätschelte ihr die Wange. „Ich habe dich auch lieb. Obwohl ich nicht weiß, warum. Du bist ein freches Gör, und du hast einen grauenhaften Akzent.“ Sie wies mit ihrer kleinen Hand hoheitsvoll neben sich. „Setz dich! Li Qin bringt gleich den Tee.“

Was bedeutete, dass sie nicht sofort zur Sache kommen würden. Lily setzte sich und schaffte es tatsächlich, nicht ungeduldig herumzuzappeln. In den folgenden zwanzig Minuten tranken sie Oolong aus hauchzarten kleinen Porzellantassen ohne Henkel und sprachen über DIE HOCHZEIT – inzwischen erschien das Wort stets in Großbuchstaben vor Lilys geistigem Auge – und die kalifornische Politik, an der die Großmutter großes Vergnügen hatte. Genau wie an Baseball.

Sie war ein großer Padres-Fan. Der Verein stolperte zwar von einer glanzlosen Saison in die nächste, aber Großmutters Begeisterung war ungebrochen. Nachdem sie sich über diverse Spieler ausgelassen hatte, sagte sie: „Ich habe ein Mannschaftshoroskop erstellen lassen. Das wird ihre beste Saison werden, wenn sie sich keine Verletzungen zuziehen.“

„Das wäre ja mal was ganz Neues! Letztes Jahr waren – wie viele? – fünf Spieler draußen!“

„Das ist doch nicht normal, so viele Verletzungen!“ Die Großmutter grübelte einen Augenblick darüber nach. „Ich werde dem Manager ein gutes Fluchbrecher-Unternehmen empfehlen.“ Sie sah Lily listig an. „Ich habe gehört, Changs Betrieb sucht eine Sensitive. Sie zahlen ziemlich gut.“

„Jetzt fängst du auch noch davon an!“

Die Großmutter kicherte. „Deiner Mutter würde es gefallen. Aber ich glaube, mir nicht.“

Lily hatte nie für eines der privaten Unternehmen arbeiten wollen, die Sensitive beschäftigten – und explizit in dieser Funktion auch nicht für die Regierung. Man hatte Sensitive – und einige, die sich nur dafür ausgaben – jahrhundertelang eingesetzt, um Andersartige aufzuspüren. Während der sogenannten Säuberung war es am schlimmsten gewesen, aber es setzte sich bis in die Gegenwart fort. Es gab immer noch so viele Vorurteile, und man beschäftigte Sensitive nach wie vor gern, um Leute zu „outen“, die guten Grund hatten, ihre Gabe oder Abstammung geheimzuhalten.

„Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich genau darüber mit dir reden wollte. Über meine sensitiven Fähigkeiten, meine ich. Und über Lupi.“

„Ich habe es in der Zeitung gelesen. Du bist mit diesem Mord beschäftigt, nicht wahr?“ Die Großmutter wechselte ins Englische, das sie hervorragend beherrschte. Allerdings hatte sie einen ebenso grausamen Akzent wie Lily im Chinesischen. „Mit dem Fall, meine ich. Du arbeitest an dem Fall, nicht wahr?“

„Ich leite die Ermittlungen. Und ich muss mehr über Lupi wissen.“

Die Großmutter tippte mit einem ihrer langen lackierten Fingernägel an ihre Tasse. „Das ist der Gefallen, um den du mich bitten willst? Ich soll dir etwas über Lupi erzählen?“

Lily wählte ihre Worte mit Bedacht. Bestimmte Dinge sprach man nicht direkt an. „Ein bisschen weiß ich natürlich schon. Aber es gibt so viele Geschichten. Du musst mir helfen, Mythos und Wahrheit zu trennen. Lupi leben in Familien oder Clans zusammen …“

„Eh! Ich weiß nicht viel über diese Clans. Lupi sind ein verschlossenes Volk.“

„Ja, aber … du kannst mir helfen zu verstehen, was sie können und wo ihre Schwächen liegen. Sie sind schnell. Das weiß ich. Aber wie schnell? Ich habe einen Bericht gelesen, in dem stand, dass sie in Wolfsgestalt hundertsechzig Kilometer in der Stunde laufen können.“

Die Großmutter fing an zu lachen. „Das sagen die Experten? Geparden sind vielleicht so schnell, aber Wölfe doch nicht!“

„Aber sie sind keine gewöhnlichen Wölfe.“

„Nein, aber Geparden sind sie auch nicht.“ Der Großmutter tränten beinahe die Augen vor Lachen, und sie betupfte sie vorsichtig mit dem Finger.

„Sie sind allerdings – und das weißt du ja selbst! – sehr reaktionsschnell. Zweimal so schnell wie ein Mensch? Dreimal so schnell? Ich weiß es nicht genau und will mich jetzt nicht festlegen, aber auf jeden Fall sind sie sehr viel schneller als Menschen“, erklärte sie. „Wenn sie wollen“, fügte sie immer noch sehr erheitert hinzu. „Sie laufen ja nicht die ganze Zeit zum Endspurt bereit herum.“

Zweimal so schnell wie ein Mensch würde schon genügen, dachte Lily. „Und welches sind ihre Schwächen?“

„Sie können kleine, geschlossene Räume nicht ertragen. Sie in eine Zelle zu sperren wäre keine gute Idee. Da können sie regelrecht verrückt werden.“

Ein ganzes Volk mit Klaustrophobie? „Ihnen wachsen Körperteile wieder nach, nicht wahr? Deshalb wurden die registrierten Lupi auf der Stirn tätowiert. Als man ihnen die Nummern anfangs auf die Hände tätowiert hat, haben die Lupi sie sich einfach abgehackt, um neue nachwachsen zu lassen.“

Die Großmutter zuckte mit den Schultern. „Manchmal haben die Experten tatsächlich recht.“

„Was hat es mit den Geschichten über ihre … äh … Verführungskräfte auf sich? Ist an dem Gerücht etwas dran, dass sie Frauen regelrecht verzaubern können?“

Die Großmutter schnaubte. „Sie sind große Verführer, aber das hat nichts mit Zauberei zu tun. Es sei denn, man nennt es Zauberei, wenn ein Mann weiß, was eine Frau möchte.“ Dieser Gedanke schien sie zu amüsieren. „Nun, vielleicht ist es das ja auch. Macht dir etwa ein Lupus den Hof, mein Kind?“

„Ich treffe mich heute mit einem, wegen des Falls.“ Lily runzelte die Stirn und strich sich das Haar hinter die Ohren. Sie hatte auch eigentlich nicht geglaubt, dass sie verzaubert worden war … aber was war nun wirklich geschehen? „Kann ein Lupus irgendwie seine magischen Kräfte verlieren? Durch einen Fluch vielleicht oder eine Art magischen Unfall? Kann ein Lupus ohne Magie überhaupt ein Lupus sein?“

„Was?“ Die Großmutter richtete sich auf und sah sie so streng an wie eine Katze, der man das falsche Futter vorgesetzt hat. „Das musst du mir genauer erklären!“

„Ich habe ihm die Hand geschüttelt. Dem Prinzen der Nokolai. Als ich ihm die Hand gab, habe ich nichts gespürt.“ Das war so natürlich nicht ganz richtig. Lily errötete. „Keine Magie, meine ich. Und ich möchte wissen, warum. Wenn meine Fähigkeiten nachlassen …“

„Das solltest du eigentlich besser wissen! Du kannst einen Arm verlieren oder ein Bein, aber was du bist, kannst du nicht verlieren.“

„Aber was war denn dann los?“, rief Lily verdrossen. „Er ist doch der Thronfolger, die Nummer zwei in der Rangfolge seines Clans. Er muss ein Lupus sein, aber ich habe keine Magie gespürt! Ich will wissen, warum das so ist. Ich muss wissen, ob es an ihm liegt oder an mir. Wenn ich es richtig deute, kann er sich nicht verwandeln, also kann er auch nicht der Mörder sein. Das kann ich zwar niemandem erklären oder beweisen, aber es ist ein Anfang. Falls ich recht habe. Ich muss …“

„Schluss jetzt! Du bist ja völlig überdreht. Sei still! Ich muss nachdenken.“

Lily bezwang ihre Unruhe nur mit Mühe. Die Großmutter tippte wieder mit dem Fingernagel gegen das feine Porzellan ihrer Tasse – ping, ping, ping. Sie saß völlig regungslos und sehr aufrecht da. Ihr Blick war abwesend, und sie kniff nachdenklich ihre schmalen Lippen zusammen. Auf einmal sah ihr Gesicht viel älter aus.

Die Großmutter verstand natürlich sehr gut, worum es ging und was es bedeuten konnte. Deshalb hatte Lily sie ja auch aufgesucht. Lupi hatten angeborene magische Kräfte, genau wie Lily die angeborene Fähigkeit hatte, diese zu erspüren. Wenn einem das eine entrissen werden konnte, befürchtete sie, dann vielleicht auch das andere. Und vielleicht sogar noch mehr.

„Es war gut, dass du zu mir gekommen bist“, sagte die Großmutter nach einer Weile – nun wieder auf Chinesisch – und nickte energisch. „Aber ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Ich werde … mich bei jemandem erkundigen.“

„Bei wem?“, fragte Lily überrascht. „Wer kennt sich …“

„Frag nicht“, sagte die Großmutter bestimmt. „Es fällt mir nicht leicht, aber … er ist mir noch etwas schuldig. Seit langer Zeit. Seit sehr langer Zeit.“

Lily schossen beunruhigende Gedanken durch den Kopf. Sie beugte sich vor und ergriff die Hand ihrer Großmutter. Die magischen Schwingungen gingen knisternd von der faltigen Haut auf ihre über. „Bring dich nicht in Gefahr!“

Die Alte verzog ihre dünnen Lippen zu einem Lächeln, und ihr Blick wurde milder. „Ich habe dich sehr lieb, das ist wahr. Aber ich tue es nicht für dich. Nicht nur für dich. Und jetzt“, sagte sie und lehnte sich zurück, „erzähle ich dir, was ich sonst noch über Lupi weiß.“