11
Nach zwanzig Minuten Fahrt waren sie bereits mitten in den Bergen vor der Stadt, und Lily schaute aus dem Fenster auf Kreosotbüsche, Straucheichen und Felsen. Die Straße war steil und der Himmel so klar, dass es ihr vorkam, als müsse sie nur das Fenster herunterkurbeln, um das strahlende Blau nicht nur sehen, sondern auch einatmen zu können. Im Vergleich zu den Rocky Mountains im Nordosten waren diese Berge zwar recht kümmerlich, doch sie liebte sie dennoch sehr. Bei ihrem Anblick musste sie immer an die alten Cowboys und ihr raues Leben denken.
Rules Vater gehörte ein ziemlich großer Teil dieser Berglandschaft.
Und das war keineswegs Isen Turners einziger Besitz, wie sie dem FBI-Dossier entnommen hatte. Er besaß Weinberge in Napa Valley, zahlreiche Immobilien in San Diego und L.A., Aktien, Obligationen und weitere Ländereien in einer abgelegenen Ecke Kanadas. Das FBI schätzte den Wert seiner Besitztümer auf etwa dreihundert Millionen Dollar, und Rule verwaltete das Ganze.
Aber alles wusste das FBI nicht. Wer Rules Mutter und wie alt sein Vater war entzog sich seiner Kenntnis. Nicht einmal Rules genaues Alter war bekannt.
Lily schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er wäre zwar auch für Mitte zwanzig durchgegangen, doch aufgrund seines Verhaltens wirkte er reifer. Das rührte jedoch vielleicht auch von seiner edlen Abstammung her.
Sie sah ihn kurz an, dann schaute sie wieder aus dem Fenster. Die Landschaft war weitaus interessanter als ein schmollender Werwolf.
Sein Auto jedoch weckte Begehrlichkeiten in ihr. Ein blitzblankes neues Mercedes-Cabrio – silberfarben, dunkle Ledersitze, eingebautes Navigationssystem. Angesichts der schlechten Stimmung hatte sie ihm nicht vorschlagen wollen, das Verdeck zurückzuklappen, und bei geschlossenem Dach konnte man den fantastischen Klang der Stereoanlage auch viel besser genießen … nicht dass es sehr viel zu genießen gab.
Er hatte Dvorˇák gehört, als er sie abgeholt hatte.
Meistens konnte sie klassische Musik ganz gut ertragen, aber nicht diese, nicht Quartette. Vielleicht hätte sie die Zähne zusammenbeißen sollen, bis es vorbei war, aber das hatte sie nicht getan. Sie hatte höflich gefragt, ob er etwas anderes spielen könne. Ebenso höflich hatte er sofort auf einen Oldie-Sender umgeschaltet. Was möglicherweise einem versteckten Seitenhieb auf ihren Musikgeschmack gleichkam, aber das kümmerte sie nicht.
Sie hatte sich bereits bei ihm entschuldigt. Was wollte er denn noch? Und verdammt, wünschte sie sich tatsächlich, er würde wieder mit ihr flirten? So blöd konnte sie doch gar nicht sein!
Möglicherweise schon, gestand sie sich insgeheim ein. Dagegen musste sie etwas tun. Aber warum war er nur die ganze Zeit so … so verflucht höflich? Sie hatte es versucht. Sie hatte wirklich versucht, ein freundliches Gespräch mit ihm zu führen. Erstaunlich, wie erdrückend ein einfaches Ja oder Nein sein konnte. Ihm war es gelungen, sie in aller Höflichkeit zum Schweigen zu bringen.
Er erinnerte sie an ihre Mutter.
Dieser Gedanke war so absurd, dass sie grinsen musste. Sie nahm sich selbst – und ihn – viel zu ernst. Und außerdem machte sie keine Vergnügungsfahrt, sondern ermittelte in einem Mordfall.
Sie hatte sich morgens die Genehmigung des Captains geholt. Er hatte ihr erlaubt, in ihrem Bericht alle für den Fall nicht relevanten Details auszusparen – es gefiel ihm, das FBI im Dunkeln zu lassen. Danach war sie losgefahren, um mit den Nachbarn der Fuentes zu sprechen, und hatte zwei von ihnen zu Hause angetroffen.
Der Mann einen Stock tiefer hatte das Paar überhaupt nicht gekannt und war ihr keine Hilfe gewesen. Aber in Apartment 41C war sie sozusagen auf eine Goldader gestoßen. Erica Jensen war eine junge alleinstehende Frau, die mit Rachel befreundet war. Sie hatte bestätigt, dass Carlos anderen Frauen gern schöne Augen gemacht und dabei auch seine Hände und andere Körperteile ins Spiel gebracht hatte. Er hatte Rachel dazu überredet, sich im Club Hell umzusehen, und war hocherfreut gewesen, als sie das Interesse eines Lupusprinzen geweckt hatte.
„Ganz schön merkwürdig, diese Geschichte“, hatte Erica schulterzuckend erklärt. „Carlos hat immer davon geredet, dass Besitzansprüche total falsch sind, aber ich weiß nicht so recht. Wenn Sie mich fragen, hat es ihm gefallen, dass andere Männer seine Frau haben wollten. Dann fühlte er sich wichtig, weil sie ihm gehörte. Das ist doch auch Besitzdenken! Aber für sie schien es keine Rolle zu spielen.“
„Hat Rachel Ihnen das erzählt, oder haben Sie auch mit Carlos darüber gesprochen?“
„Das meiste weiß ich von Rachel, aber Carlos hat ständig allen Leuten von dieser komischen Kirche erzählt, die er besuchte.“ Erica hatte ein betrübtes Gesicht aufgesetzt. „Das klingt jetzt so, als sei er ein richtiger Unsympath gewesen, aber das stimmt nicht. Er hat hart gearbeitet, und er war die meiste Zeit sehr lieb zu Rachel. Meiner Meinung nach hatte er einfach nur eine Schraube locker, das ist alles. Rachel hat ihn wahnsinnig geliebt. Die Affäre mit Turner … Nun ja, die hat ihr anscheinend auch gefallen. Sie sagte, der Sex sei unglaublich, aber ich glaube, er gab ihr auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Und Carlos liebte sie wegen dieser Affäre umso mehr.“
Alles in allem hatte Ericas Aussage geklungen, als sei Rule Turner ein barmherziger Samariter gewesen, weil er sich mit Rachel Fuentes eingelassen hatte. Diese Ansicht teilte Lily zwar nicht, aber die Lupi hatten tatsächlich andere Sitten. Sie hielten beispielsweise nichts von der Ehe.
Lily warf einen Blick auf den edlen Samariter am Steuer.
Er hatte versäumt zu erwähnen, dass an diesem Tag ein legerer Look angesagt war. Er war wie immer schwarz gekleidet, aber seine Jeans war stellenweise verschlissen und sein T-Shirt alt und ausgeblichen. Er trug Tennisschuhe, keine Strümpfe und eine verspiegelte Sonnenbrille. Und er hatte sich nicht rasiert.
Warum sah er trotzdem so verflixt elegant aus? Lily brach das Schweigen. „Das Clangut gehört Ihrem Vater, nicht wahr?“
„Wenn man so will“, entgegnete er in diesem kühlen, höflichen Ton, den er angeschlagen hatte, seit sie zu ihm ins Auto gestiegen war. „Er verwaltet es treuhänderisch für den Clan.“
„Eine Körperschaft könnte das auch.“
„Darüber wurde bereits häufig diskutiert, seit Lupi Rechtspersonen sein können, aber das Körperschaftsrecht verträgt sich nicht so gut mit unseren Gepflogenheiten.“
„Das glaube ich gern. Aktionäre und Gesellschafter haben Stimmrecht.“
Er schaute kurz in ihre Richtung, dann wieder auf die Straße. „Sie glauben natürlich, dass Clanangehörige keine Rechte haben und sich besser stünden, wenn sie abstimmen und wählen dürften.“
„Stimmt das denn nicht?“
„Nein.“
Nur ein Wort, keine weiteren Erklärungen. Lily ließ sich ihre Verärgerung nicht anmerken. Er war nicht der erste unkooperative Zeuge, mit dem sie zu tun hatte. „Erzählen Sie mir von Ihrem Vater. Werde ich ihn kennenlernen?“
„Er ist ein gerissener alter Bastard. Im wahrsten Sinn des Wortes.“ Nun schwang noch etwas anderes als Höflichkeit in seiner Stimme mit. Spott. „Nach Ihren Maßstäben sind wir doch alle Bastarde.“
„Sie kennen meine Maßstäbe doch gar nicht! Gibt es noch etwas, das ich über die heutige Zeremonie wissen sollte?“
„Nein. Sie wohnen ihr nicht bei.“
Lily begann innerlich vor Wut zu kochen. „Es war also nur Schau, dass Sie mir dieses Versprechen abgenommen haben?“
„Alle Besucher des Clanguts müssen versprechen, nicht über das zu sprechen, was sie sehen und hören. Der Verbündungszeremonie dürfen Sie deshalb nicht beiwohnen, weil ein anderer Clan daran beteiligt ist, dessen Rho keine Außenstehenden dabeihaben will.“
Ein anderer Clan – ein neuer Verbündeter? Die Politik der Lupi hatte, wie die Großmutter gesagt hatte, ihre eigenen Spielregeln, die auch rituelle Kämpfe vorsahen, manchmal mit tödlichem Ausgang. „Welcher denn? Um was geht es denn dabei?“
„Das ist für Ihre Ermittlungen nicht relevant, Detective.“
„Na, prima! Aus ihrem Mund klingt Detective wie eine Beleidigung.“
„Ich tue nur, was Sie wollen. Ich bleibe auf der unpersönlichen Ebene.“
„Tatsächlich?“ Sie sah ihn nachdenklich an, dann schüttelte sie den Kopf. „Das sehe ich anders. Wenn wir keine persönliche Ebene hätten, würden Sie jetzt nicht schmollen.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Schmollen. Das passt natürlich zu dem Bild, das Sie sich von mir gemacht haben. Aber Sie haben selbstverständlich recht.“ Er drosselte das Tempo. „Wir haben eine sehr persönliche Ebene. Ich bin der Letzte, der das bestreitet.“
„Ich meinte damit, dass Sie die Dinge bewusst auf die persönliche Ebene lenken. Oder es jedenfalls versuchen. Was, wie Ihre schlechte Laune beweist, ein großer … Was machen Sie da?“
„Mich wie ein Idiot aufführen höchstwahrscheinlich.“ Er hatte mitten auf der Straße angehalten.
„Sie wollen mir doch jetzt nicht sagen, dass ich aussteigen und zu Fuß weitergehen soll?“
„Das würde mir im Traum nicht einfallen.“ Er warf seine Sonnenbrille auf das Armaturenbrett und löste seinen Sicherheitsgurt.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie ahnte, was er vorhatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Das würde er nicht wagen. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand. Nicht, solange er sich immer noch für den Hauptverdächtigen hielt – und nicht mitten auf der Straße, um Himmels willen! „Direkt vor uns ist eine schlecht einsehbare Kurve. Sie sollten schleunigst weiterfahren, wenn Sie keinen Unfall riskieren wollen.“
„Ich riskiere etwas ganz anderes“, entgegnete er und ergriff ihren linken Arm.
Sie ballte die rechte Hand zur Faust und fuhr sie aus. Er fing sie mühelos ab und ging zum Gegenangriff über – nicht mit den Händen, sondern mit dem Mund.
Er küsste sie.
Sie biss ihn.
Er zog hörbar die Luft ein, aber er ließ nicht von ihr ab. Nein, der Bastard kicherte sogar. Er rieb seine blutigen Lippen an ihren. Langsam. Sanft. Dann fuhr er mit der Zunge über ihre Unterlippe.
Und sie … Sie rührte sich nicht. Es ging nicht. Als hätte er ihr einen Bolzen aus irgendeinem sonderbaren Metall durch den Körper gejagt, saß sie zitternd fest. Ihr ganzes Wesen wurde von einer fremden, unhörbaren Musik zum Vibrieren gebracht.
Er ließ ihre Hand los, um ihren Kopf zu halten, und der Kuss wurde leidenschaftlicher. Und obwohl sie es hätte tun können, stieß sie ihn nicht zurück. Sie berührte ihn. Sein Ohr und die Haare darüber. Seine Schulter, stark und absolut männlich. Er ließ seine Finger über ihren Nacken gleiten, und – Himmel, hilf! – die Musik nahm einen vertrauten Rhythmus an, den pochenden Rhythmus der Begierde. Sie seufzte leise und gab sich dem Kuss hin.
Er reagierte mit einem zufriedenen männlichen Grunzen, legte die Hand auf ihre Brust und liebkoste sie. Sein Mund hörte auf, den ihren zärtlich zu umschmeicheln, und nahm sich, was er wollte.
Auch ihr Verlangen wuchs. Sein T-Shirt war dünn, aber dennoch im Weg. Sie wollte seinen Körper, wollte ihn nackt, damit sie ihn bis ins Kleinste erkunden konnte. Sie wollte ihn erobern – nein, sie musste ihn erobern, jetzt und immer wieder und jeden Teil von ihm …
Lily hörte sich stöhnen. Das brachte sie schlagartig wieder zur Vernunft – auch wenn nicht mehr viel davon übrig war. Sie drehte ruckartig den Kopf zur Seite.
Er beugte sich über ihren Hals und bedeckte ihn mit Küssen.
„Nein … nein, das geht nicht! Wir können nicht …“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme erschreckte sie. Sie schob ihn weg.
Er hob den Kopf und sah sie blind vor Verlangen an. Seine Pupillen waren riesengroß. „Nein, natürlich … nicht so. Ich hätte nicht … Komm her, querida, komm in meine Arme. Komm, du brauchst es genauso sehr, wie ich es brauche“, sagte er und löste ihren Sicherheitsgurt.
Seine Hände zitterten.
Ihre auch. Als sei sie in eiskaltes Wasser gestürzt, jagte ihr ein Schauder nach dem anderen über Rücken und Oberschenkel. „Nicht anfassen!“, stieß sie mühsam hervor. „Lassen Sie mich! Was haben Sie mir angetan?“
„Ich habe dich geküsst. Für den Rest kann ich auch nichts“, sagte er. „Diese Mittelkonsole ist furchtbar im Weg“, fügte er hinzu, aber große Schwierigkeiten schien sie ihm nicht zu bereiten.
Lily ebenso wenig. Sie ließ sich von ihm in den Arm nehmen, völlig verwirrt … und immer noch voller Verlangen.
Er zog sie an sich, so gut es ging, und atmete ebenso schwer wie sie. „Es tut mir leid, nadia. Ich war verärgert, aber dazu hatte ich kein Recht. Du konntest nicht wissen, warum mich deine Worte so in Aufruhr versetzten. Es ist schwierig für dich. Es gibt so viel, das du nicht weißt.“
Sie wusste allerdings, dass das, was sie taten, nicht richtig war. Trotzdem rührte sie sich nicht. „Sie haben mich irgendwie verzaubert! Es muss so sein, auch wenn ich die Magie nicht spüren kann.“
„Das habe ich nicht getan! Du und ich … Du hattest recht, mit normaler Anziehungskraft hat das nichts zu tun. Wir gehören zusammen. Wir haben es uns nicht ausgesucht, und wir können es nicht beeinflussen.“
„Nein!“ Sie zwang sich, von ihm abzurücken. „Man hat immer die Wahl. Sie mag manchmal begrenzt sein durch … durch die Umstände …“ Wie zum Beispiel durch einen Anfall von Begierde nach einem Mann, mit dem sie sich auf keinen Fall einlassen durfte. Nach einem Mann, der überhaupt nicht wusste, was Treue war. Nach einem Mann, der gar kein richtiger Mensch war.
„Man hat seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle“, sagte sie schließlich leise. „Aber man kann selbst entscheiden, ob man ihnen folgt oder nicht.“
„Und ich fürchte, ich weiß, wie du dich entscheidest.“ Er rieb sich seufzend den Nacken. „Lily, das wird so nicht funktionieren. Weder mit Vernunft noch mit Willenskraft lässt sich etwas an der Bindung ändern, die zwischen uns besteht. Das kannst du nicht einfach verdrängen, wie es vielleicht möglich wäre, wenn du dich nur ein bisschen in mich verguckt hättest.“
„Erstaunlich! Wir sind uns ausnahmsweise mal einig. Ich habe mich nicht in Sie verguckt. Ich weiß nicht einmal, ob ich Sie überhaupt mag.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Im Moment bin ich auch nicht gerade begeistert von dir. Du bist störrisch, schwierig, voller Vorurteile …“
„Ich habe überhaupt keine Vorurteile!“
„Dann hast du also keine Schwierigkeiten mit meiner Abstammung?“
„Es sind vor allem Ihre sexuellen Gewohnheiten, die mir missfallen.“
Er grinste sie schief an. „Dann wird es dich ja freuen zu hören, dass sich meine Gewohnheiten durch dich geändert haben. Dauerhaft.“
„Aber sicher – für dumm verkaufen kann ich mich auch selber! Außerdem wäre es mir sehr recht, wenn wir beim Sie blieben!“ Lily blickte stur geradeaus, strich sich das Haar hinter die Ohren und hoffte, dass er ihr nicht ansah, wie durcheinander sie war. Verdammt, sie zitterte immer noch. „Müssen Sie nicht zu Ihrer Zeremonie?“
Er saß einfach nur da und sah sie an.
Sie weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen, aber sie spürte seinen Blick. Und seine Erregung. Ihr Puls wollte sich einfach nicht beruhigen.
Schließlich ließ Rule den Motor an. „Es gibt viele Dinge, die ich Ihnen erklären müsste, aber es hat keinen Sinn, jetzt davon anzufangen. Nicht, wenn Sie mir sowieso nicht glauben wollen. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie bereit sind, mir zuzuhören!“
Den Rest der Fahrt brachten sie schweigend hinter sich.
Das Clangut bestand aus einem langen, sichelförmigen Stück Land, das stellenweise an öffentliche Liegenschaften grenzte, größtenteils aber an ein Naturschutzgebiet. Laut Karte war das Gut nur über zwei Straßen zu erreichen – über die, die sie gerade befuhren, und über eine Privatstraße, die nach Norden in die kleine Gemeinde Rio Bravo führte. Der Teil des Gutes, den Lily nun vor sich sah, war eingezäunt.
Rule hielt vor dem Tor an. Ein junger Mann in Shorts – mit nichts sonst – wartete bereits davor und öffnete es. Er sah drahtig und sympathisch aus, lief barfuß umher und hatte Sommersprossen – ein richtiger Jimmy-Olsen-Werwolf. An seinem Gürtel hing ein Funkgerät.
Nachdem er das Tor geöffnet hatte, kam er zu ihnen. Rule kurbelte das Fenster herunter. „Sammy.“
„Hallo, Rule! Benedict hat gesagt, du sollst deinen Gast in das Haus des Rho bringen, bevor du auf den Versammlungsplatz gehst.“
Rule warf einen Blick auf Lily. „Sag ihm, du hast es mir ausgerichtet.“
Der junge Mann verzog das Gesicht. „Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Nicht Benedict will sie sehen, sondern der Rho!“ Er spähte neugierig in den Wagen.
Rule stellte ihm Lily jedoch nicht vor. Er trommelte kurz mit den Fingern aufs Lenkrad, dann nickte er. Der junge Mann trat zurück, und sie fuhren durch das Tor.
„Anscheinend“, sagte Rule, „lernen Sie meinen Vater nun doch kennen.“
„Gut.“
„Da spricht die Polizeibeamtin, die einen Mord aufzuklären hat, nehme ich an. Nicht die Frau, mit der ich verbandelt bin.“
Sie wollte ihm sagen, dass sie keineswegs miteinander verbandelt seien, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Noch vor wenigen Minuten hätte sie ihn beinahe verschlungen. Was auch immer sie waren, so ganz „unverbandelt“ waren sie jedenfalls nicht. Also schwieg sie lieber.
Hinter dem Tor führte die Schotterstraße um einen felsigen Bergrücken herum in ein lang gestrecktes Tal, in das ein kleines Dorf eingebettet war. Zwei Hunde – ein Terrier und ein zotteliger Collie-Mischling – rannten neben dem Wagen her, als sie in das Dorf einfuhren.
Hunde hatte Lily dort nicht erwartet. Sie passten für sie irgendwie nicht ins Bild.
Es gab keine klare Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Keine wohlgeordneten Häuserblocks und Zäune. Die einfachen Ziegelstein-, Fachwerk- oder glatt verputzten Häuser sahen aus, als hätte man sie willkürlich im Tal verteilt: Manche standen an der Hauptstraße, doch viele schauten auch zwischen den Kiefern und Eichen an den Berghängen hervor. Auf der Fahrt durch das Dorf kamen sie an einer Tankstelle, einem kleinen Obst- und Gemüsemarkt, einem Café, einer Reinigung und einem Gemischtwarenladen vorbei.
Mehrere Dutzend Dorfbewohner hatten sich auf einem Platz von der Größe eines Footballfeldes versammelt, um den die Straße herumführte. Ob dort die Zeremonie stattfand, der sie nicht beiwohnen durfte? Wie der Wachposten am Tor, waren fast alle Männer lediglich mit Shorts bekleidet. Die Frauen – warum hatte sie nicht damit gerechnet, Frauen anzutreffen? – trugen ebenfalls Shorts, allerdings auch Schuhe und T-Shirts oder rückenfreie Tops. Ein paar von ihnen winkten, andere schauten nur zu ihnen hinüber, als sie vorbeifuhren.
Ein Stück weiter saß ein Mädchen im Teenageralter vor einem kleinen Haus auf der Verandatreppe. Es trug ein hauchdünnes Sommerkleid, trank Limo aus der Dose … und kraulte einen silbergrauen Wolf.
Der Wolf schaute dem Mercedes aufmerksam nach.
Das Haus des Rho lag etwas erhöht am Ende der Straße. Es war ein hell verputztes Gebäude von ansehnlicher Größe mit rotem Ziegeldach – wunderschön, aber sicherlich keine hochherrschaftliche Villa. Einen dreihundert Millionen Dollar schweren Mann hätte sie in diesem Haus nicht vermutet. Als Rule in die Einfahrt fuhr, sah sie einen Mann an der Ecke des Hauses stehen. Er war mittleren Alters und halb nackt wie alle anderen auch.
Die Klinge des Schwertes in seiner Hand war gut einen halben Meter lang. „Grundgütiger! Ist das die Palastwache?“
„So ungefähr.“
Rule brachte den Wagen vor dem Haus zum Stehen. Der Wächter beobachtete sie. Er sah nicht annähernd so freundlich aus wie der am Tor. „Das spricht nicht gerade für Ihre Behauptung, es seien alle zufrieden damit, kein Mitbestimmungsrecht zu haben.“
„Sie sind mit den Verhältnissen nicht vertraut.“
„Sie könnten mich ja informieren.“
„Der Rho hat mir noch nicht gesagt, wie viel ich Ihnen anvertrauen darf.“
„So etwas können Sie nicht selbst entscheiden, ohne ihn vorher zu fragen?“
„Nicht, wenn ich es mit der Polizei zu tun habe.“ Er öffnete die Wagentür.
Sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn aufzuhalten. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen wollte, und sie hatte auch keine Gelegenheit mehr, es zu erfahren. Die Haustür flog auf, und ein kleiner Junge kam herausgerannt. „Papa! Papa!“
Fast im selben Augenblick sprang Rule aus dem Wagen. Er lief bereits auf den Jungen zu, als Lily noch an ihrem Sicherheitsgurt nestelte, und auf seinem Gesicht zeigte sich eine solche Freude, dass sie ganz verlegen wurde. Es kam ihr vor, als sei es nicht recht, dass sie so etwas Privates miterlebte.
Sie stieg langsam aus, als Rule den Jungen in die Arme schloss, ihn hochhob und sich mit ihm im Kreis drehte. Dann setzte er ihn sich so mühelos auf die Schulter, als hätte er nicht mehr Gewicht als eine Feder. Der Junge hatte kurzes, glattes Haar, das eine Spur dunkler war als Rules, ein runderes Kinn und natürlich keinen Bartwuchs, aber ansonsten war er eine Miniaturausgabe seines Vaters.
Vielleicht sahen sie sich aber auch nur in diesem Moment besonders ähnlich, weil sie beide gleichermaßen über das ganze Gesicht strahlten.
„Was machst du eigentlich hier draußen?“, fragte Rule. „Hast du keinen Unterricht?“
„Jetzt ist doch Mittagspause!“, rief der Kleine empört. „Außerdem bin ich mit Rechtschreiben schon fertig, und ich kenne alle Staaten, und Nettie hat gesagt, Mathe machen wir nachher.“ Er verzog das Gesicht. „Aber Mathe macht mir nicht so viel Spaß.“
„Ja, ich weiß. Aber das Dividieren klappt doch jetzt immer besser, und Multiplizieren ist sowieso furzeinfach. Wie viel ist sieben mal sieben?“
„Neunundvierzig! Und furzeinfach sagt man nicht!“
„Sorry, hatte ich vergessen. Ich möchte dir gern jemanden vorstellen, mein Sohn.“
„Ja?“ Der Kleine sah sich suchend um und erblickte Lily. „Ein Mädchen!“, sagte er überrascht.
„Eine Dame“, verbesserte Rule ihn. „Lily, das ist mein Sohn Toby Asteglio. Toby, das ist Lily Yu.“
„Ju? Wie Juhu?“
„Das ist ein chinesischer Name“, erklärte sie. „Und man schreibt ihn mit einem Ypsilon am Anfang.“
„Sprichst du auch Chinesisch?“
„Manchmal, wenn ich bei meiner Großmutter bin.“
„Cool! Mein Freund Manny, der bringt mir Spanisch bei. Seine Eltern sprechen nämlich die ganze Zeit Spanisch, und ich verstehe nie, was sie sagen. Aber jetzt kann ich schon ein bisschen, zum Beispiel bis zwanzig zählen. ¿Como está usted?“
„Muy bien, gracias“, entgegnete Lily. „¿Yusted?“
„Du sprichst ja auch Spanisch! Hast du gehört, Dad!?“ Er tätschelte seinem Vater aufgeregt die Wange. „Sie spricht Spanisch! Vielleicht kann sie mit mir lernen, damit ich nicht alles vergesse, weil ich doch eine ganze Weile hierbleiben muss. Nettie hat gesagt, du bist verrückt, weil du mich quer durch das ganze Land geschleift hast“, sprudelte es aus ihm heraus. „Sie meinte, du sollst dich zusammenreißen. Aber das hätte ich wohl nicht hören sollen.“
„Vermutlich nicht“, entgegnete Rule. „Aber ich reiße mich auf jeden Fall zusammen.“
„Sie meint das nicht böse. Sie sagt das ganz oft. Wenn ich meine Hausaufgaben vergesse, sagt sie auch, ich soll mich zusammenreißen.“
Eine große Frau mit grauem krausem Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, trat aus dem Haus. „Toby, du musst deinen Lunch aufessen, sonst denkt Henry, du brütest irgendeine Krankheit aus!“
„Ich bin nicht krank!“
„Du weißt das, und ich weiß das auch, aber wird Henry uns glauben?“ Die Frau trug eine kurze Hose und einen Sport-BH. Ihre Haut war kupferbraun und ihr Muskeltonus ausgezeichnet, weshalb ihr Alter schwer zu schätzen war. „Hallo Rule! Toby erkennt deinen Wagen schon am Geräusch. Er ist wie elektrisiert vom Tisch aufgesprungen.“
„Es gibt nur Sandwiches“, erklärte Toby seinem Vater. „Aber mit Henrys Brot – das ist lecker.“ An Lily gerichtet fügte er hinzu: „Er backt es selbst. Gammy kauft ihr Brot immer, aber Henrys ist selbst gemacht! Manchmal darf ich ihm dabei helfen.“ Er sah seinen Vater an. „Esst ihr mit mir?“
„Ms. Yu vielleicht, wenn sie mit deinem Großvater gesprochen hat“, entgegnete Rule. „Aber ich kann leider nicht.“
Toby machte ein langes Gesicht. „Ach ja, habe ich vergessen. Du darfst nicht ins Haus. Aber nach dem Ritual …?“
„Ich hole dich nachher ab“, versprach Rule. „Du übst brav das Dividieren, und dann fahren wir zusammen an den Fluss.“ Er nahm den Jungen von seiner Schulter, küsste ihn auf die Stirn, stellte ihn vor sich hin und gab ihm einen Klaps auf den Po. „Und jetzt wird gegessen!“
Toby rührte sich nicht. Sein störrischer Gesichtsausdruck erinnerte Lily an Rule. „Ich würde aber gern mitkommen!“
„Ja, ich weiß. Aber Kinder sind da nicht erlaubt, wie du sehr gut weißt. Und jetzt gehst du deinen Pflichten nach und ich meinen.“
Der Junge stieß einen tiefen Seufzer aus. „Hat mich gefreut, Ms. Yu. Vielleicht können wir später noch ein bisschen Spanisch sprechen.“
„Ja, vielleicht“, entgegnete Lily. Sie war völlig entzückt von dem Kleinen. Und sie hatte Gewissensbisse. Diese Vater-Sohn-Beziehung hatte sie sich ganz anders vorgestellt. „Aber so viel kann ich gar nicht.“
„Umso besser. Ich auch nicht. Bis später!“ Und schon flitzte Toby wie ein geölter Blitz ins Haus.
Lily warf einen Blick auf den Wächter. Die anderen taten so, als sei er gar nicht da, aber sie fand es schwierig, einen Mann mit einem Schwert zu ignorieren. Mit einer Machete, korrigierte sie sich. Die Klinge war doch weniger als einen halben Meter lang. „Ihr Sohn ist ein richtiger Sonnenschein“, sagte sie zu Rule.
„Das finde ich auch.“ Er schaute noch einen Moment zu der Tür, durch die Toby verschwunden war, dann wandte er sich ihr zu. „Ich kann leider nicht mit Ihnen reingehen.“
„Wieso denn das?“
Er schüttelte nur den Kopf und wies auf die große Frau, die auf sie zu warten schien. „Das ist Nettie Two Horses. Ich denke, sie wird Sie zum Rho bringen. Nettie, das ist Detective Lily Yu. Begleitest du sie?“
„Das tue ich.“ Sie streckte die Hand aus, und als Lily sie ergriff, spürte sie außer einem festen, energischen Händedruck das Kribbeln, das auf Magie hindeutete. Auf Naturmagie. So etwas war ihr früher schon einmal begegnet.
„Rule hat etwas vergessen, als er mich vorgestellt hat“, erklärte die Frau. „Ich bin Dr. Two Horses, aber so müssen Sie mich nicht anreden. Das macht hier keiner.“ Sie schenkte Lily ein breites Lächeln. „Dass ich Ärztin bin, sieht man mir vermutlich nicht an.“
„Die meisten Ärzte tragen zu Hause keine weißen Kittel.“
„Und Sie fragen sich, ob das hier mein Zuhause ist. Nun, ich lebe auf dem Clangut, aber nicht in diesem Haus. Ich habe einen Patienten hier.“ Sie verzog das Gesicht. „Einen verdammt schwierigen Patienten.
Rule grinste. „Dann ist er also wach.“
„Und recht gut beieinander in Anbetracht der Umstände. Aber ich will ihn so schnell wie möglich wieder in Schlaf versetzen. Deshalb würde ich Lily gern sofort zu ihm bringen.“
Rule nickte. „Dann bis später!“ Er schenkte Lily einen Blick, den sie nicht zu deuten wusste, und strich ihr über die Wange. „Bleiben Sie sauber!“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Bleiben Sie sauber, Detective, wollten Sie sagen, oder?“
Er grinste und lief mit großen Sätzen davon, statt in seinen Wagen zu steigen, und sein kraftvoller und zugleich lockerer Laufstil war die reinste Augenweide.
„Sieht wunderschön aus, wie er sich bewegt, nicht wahr?“, sagte Nettie. „Aber nicht nur er. Ich kann mich gar nicht satt an ihnen sehen.“
Lily murmelte etwas Unverbindliches. Es war ihr peinlich, beim Anhimmeln ertappt worden zu sein. „Ich wusste nicht, dass Isen Turner krank ist. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“
„Ernst ist es schon, aber er ist nicht krank. Kommen Sie, gehen wir rein. Ich kann Ihnen einiges erklären, aber die meisten Fragen müssen Sie sich für Isen aufsparen.“ Sie ging auf das Haus zu.
Lily warf einen letzten Blick auf den Wächter mit dem überdimensionalen Messer, dann folgte sie ihr. „Ich hatte keine Ahnung, dass Rules Sohn zu Besuch hier ist.“
„Mmm. Sagen Sie, soll ich Sie Detective nennen? Oder Lily?“
Sie wollte also wissen, was es zu bedeuten hatte, dass Rule ihre Wange berührt hatte. Nun, das hätte Lily auch gern gewusst. „Ich bin dienstlich hier, im Zuge meiner Ermittlungen.“
„Das tut mir leid zu hören. Wäre es Ihnen sehr unangenehm, beim Betreten des Hauses die Schuhe auszuziehen? Es ist hier so Sitte.“
„Ganz und gar nicht.“ Aber es war schon ein merkwürdiges Gefühl, dass bei den Lupi das Gleiche galt wie bei ihrer Großmutter.
Gleich nachdem sie über die Schwelle getreten war, blieb Lily stehen und sah sich rasch um, während sie die flachen Schuhe abstreifte, die sie zu ihrem Leinenanzug trug. Der Eingangsflur war groß, gefliest und dank des Oberlichts in der Decke sehr hell. An seinem Ende befand sich eine Verandatür, die offen stand und in einen Innenhof führte. Links und rechts gingen Türen ab, die in ein Esszimmer und einen Korridor führten.
Neben der Haustür stand ein Schuhregal. Ein richtiges Déjà-vu, dachte Lily. Die Bodenfliesen fühlten sich ziemlich kühl unter ihren nackten Füßen an. Ein Hauch von Magie streifte ihre Sohlen, weiche Vibrationen, wie sie sie auch am Tatort gespürt hatte.
Lupusmagie. Die sie bei Rule nicht spürte. Sie sah Nettie an. „Wenn Mr. Turner nicht krank ist, dann ist er wohl verletzt?“
„Das ist richtig. Da Sie Polizeibeamtin sind, sind Sie hoffentlich nicht so zimperlich.“
„Bei der Verkehrspolizei gewöhnt man sich Zimperlichkeit sehr schnell ab.“
„Verstehe. Wahrscheinlich genau wie in der Notaufnahme. Aber jetzt sind Sie Detective?“
„Ja. Beim Morddezernat.“
Nettie zog zwar die Augenbrauen hoch, aber sie stellte nicht die Fragen, mit denen Lily gerechnet hatte, sondern ging ihr voran den Korridor hinunter.
„Wunden heilen bei Lupi besser, wenn sie nicht verbunden werden, und wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, sind sie nicht besonders schamhaft. Isen hat weder Verbände noch Kleider am Leib, und er ist im Moment kein schöner Anblick. Die Haut und ein Teil der Muskulatur über der Bauchverletzung sind bereits nachgewachsen, aber …“
„Moment mal, er hat eine Bauchverletzung und ist nicht im Krankenhaus?“
Nettie blieb stehen und sah sie über die Schulter hinweg an. „Abgesehen davon, dass Lupi Krankenhäuser hassen, hat der Rho gute Gründe, hierzubleiben, und er ist bestens versorgt, obwohl natürlich immer noch die Gefahr eines Kreislaufzusammenbruchs besteht. Deshalb lasse ich ihn so viel wie möglich schlafen.“
„Wann wurde er denn angegriffen, und wie?“
Ein Lächeln huschte über Netties Gesicht. „Sie sind sehr scharfsinnig. Aber sparen Sie sich Ihre Fragen für Isen auf.“
„Na gut. Aber eine habe ich noch an Sie. Was ist das für ein Schlaf, in den Sie ihn versetzen? Sie haben vorhin so etwas erwähnt.“
„Es handelt sich um eine heilende Trance. Sie hilft fast jedem bei der Genesung, aber Lupi profitieren mehr als andere davon, da sie von Natur aus schnell genesen. In diesem Trancezustand ist das Risiko eines Kreislaufzusammenbruchs praktisch gleich null.“ Sie ging auf die Holztür am Ende des Korridors zu.
„Sie sind eine Art Heilerin, nicht wahr?“
„Meinen Doktor in Schulmedizin habe ich in Boston gemacht, und auf dem Gebiet der schamanischen Heilmethoden wurde ich von meinem Onkel ausgebildet.“
Lily nickte. Schamanische Heilmethoden, das bedeutete Erdmagie und passte zu dem, was sie beim Händeschütteln gespürt hatte. Es überraschte sie allerdings, an diesem Ort eine ausgebildete Schamanin vorzufinden. Naturheiler waren derzeit ziemlich begehrt, besonders bei Hollywood-Stars, aber nicht viele von ihnen verließen die Reservate, und die wenigsten hatten eine klassische medizinische Ausbildung. „Sie praktizieren hier auf dem Clangut?“
„Hier und in Rio Bravo. Ab und zu bin ich auch woanders. Wir sind da“, sagte Nettie, klopfte an und öffnete die Tür.
Ein männliches Muskelpaket von über eins neunzig versperrte ihnen den Weg. Dieser Wächter trug abgeschnittene Jeans und einen Lederriemen über seiner breiten, unbehaarten und höchst beeindruckenden Brust.
Ebenso beeindruckend war die Machete, die er angriffsbereit in der Hand hielt, als wolle er jeden aufspießen, der zur Tür hereinkam.
12
„Benedict“, sagte Nettie Two Horses verärgert. „Aus dem Weg!“
„Sie hat eine Pistole“, stellte der Mann nüchtern fest. „Damit darf sie das Zimmer des Rho nicht betreten.“
„Weg mit der Machete!“, sagte Lily ungeduldig.
Er rührte sich nicht. Seine Augen waren dunkel, seine Haut kupferbraun wie die von Nettie. Sein schwarzes Haar war von ein paar silbergrauen Strähnen durchzogen und sein Gesicht völlig ausdruckslos. An der Hüfte trug er noch ein kleineres Schwert.
„Weg damit!“, wiederholte Lily. „Sonst verhafte ich Sie wegen Bedrohung einer Polizeibeamtin mit einer Waffe.“
Hinter dem Wächter kicherte jemand. „Ich wüsste zu gern, wie Sie das anstellen wollen, aber wir haben leider keine Zeit. Entspann dich, Benedict! Sie darf ihre Pistole behalten.“
Die Stimme, die aus dem Raum kam, war noch dunkler als die des Wächters; als käme sie aus einem tiefen Brunnenschacht. Da trat der Kerl mit der eisernen Miene mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung zurück und steckte seine Machete in die Scheide auf seinem Rücken. Nettie Two Horses betrat den Raum, und Lily folgte ihr.
Mit den Holzbalken unter der Decke und einem mittelalterlich anmutenden Gobelin an einer der waldgrünen Wände wirkte das große Schlafzimmer rustikal und maskulin. In einer Ecke stand ein Cello. Die dunklen, sorgfältig polierten Holzmöbel waren so umgestellt worden, dass in der Mitte des Raumes Platz für ein großes Krankenhausbett war. In diesem Bett lag ein Bär von einem Mann mit einer Infusion im rechten Arm. Er sah Rule überhaupt nicht ähnlich. Er hatte sehr markante Gesichtszüge und eine auffallend römische Nase. Sein Alter war nur schwer zu schätzen. Fünfzig? Sechzig vielleicht? Und er war in der Tat – bis auf eine Augenklappe – vollkommen nackt.
Sein Körper befand sich in einem grauenhaften Zustand.
Die Wunde, die von seiner Wange bis unter die Augenklappe verlief, war dick verkrustet. An den Rändern hatte sich bereits neue rosafarbene Haut gebildet, die von angegrauten, rostbraunen Bartstoppeln durchsetzt war. Die scheußliche Bauchverletzung bestand aus mehreren tiefen Löchern, die sich von der behaarten Brust fast bis zum Genitalbereich erstreckten … der unversehrt zu sein schien. Der Unterleib war sonderbar eingefallen, als sei unter der Haut nicht alles da, das dahingehörte. Lily konnte seinen linken Arm nicht sehen, aber an der rechten Hand hatte er nur noch zwei Finger. Von den anderen waren lediglich kleine rosa Stummel übrig.
„Was sollte das eben?“, fragte sie.
„Sie müssen meinen Sohn entschuldigen“, sagte der Rho der Nokolai. „Er ist für meine Sicherheit verantwortlich und erfüllt seine Pflicht sehr gewissenhaft. Nach unseren Vorschriften darf mir niemand bewaffnet gegenübertreten.“
Sein Sohn? Lily verkniff es sich, Benedict noch einmal genauer anzusehen und mit Rule zu vergleichen, trat an das Bett und sah den Schwerverletzten an. Sie hatte schon häufiger Leute verhört, die sich in einem üblen Zustand befanden, aber die waren in der Regel bekleidet gewesen. Die Situation war … irritierend.
Aber vielleicht war das ja Absicht. „Sie wollten, dass ich herkomme. Ich bin ein Cop. Cops tragen Waffen, und ich denke, Sie sind kein Idiot. Sie hätten die Angelegenheit vor meinem Eintreffen klären können. Warum also diese dramatische Begrüßung? Wollten Sie mich verärgern, damit ich kein Mitleid mit Ihnen habe? Oder wollten Sie mich nur aus dem Konzept bringen?“
Sein sichtbares, tief liegendes Auge blickte amüsiert drein. „Wenn ich Sie hätte verärgern wollen, dann hätte ich mein Ziel wohl erreicht. Wollen Sie sich nicht setzen?“
Es stand kein Stuhl neben dem Bett, und Lily lag bereits ein patziger Kommentar auf der Zunge, aber Benedict hatte offenbar mehr drauf, als nur bedrohlich auszusehen. Er brachte ihr einen Sessel, den er so mühelos herbeitrug wie einen Gartenstuhl aus Plastik, und zog sich wieder auf seinen Posten neben der Tür zurück.
Lily musste sich entscheiden, ob sie ihm den Rücken zukehren oder lieber stehen bleiben wollte. Okay, dachte sie, als sie sich schließlich setzte. Isen Turner spielte also gern Spielchen. Damit konnte sie umgehen. Sie kam schließlich auch mit ihrer Großmutter klar. „Sie wurden angegriffen und beinahe getötet. Wer war das?“
„An einen Angriff erinnere ich mich nicht“, entgegnete er. „Vielleicht hatte ich eine Kopfverletzung und leide dadurch an Gedächtnisschwund. Sie riechen nach meinem Sohn. Nach dem jüngsten.“
„Allmählich bringen Sie mich wirklich auf die Palme.“
Er gab einen erstickten Laut von sich, und die buckelige Haut auf seinem Bauch zitterte. „Ah …“, sagte er kurz darauf. „Das hat wehgetan. Ich kann noch nicht lachen. Nettie, könntest du mal nach Toby sehen? Oder mir einen leckeren Punsch machen?“
„Du hast momentan noch nicht wieder ausreichend Zwölffingerdarm, um einen Punsch verdauen zu können, aber ich verstehe schon. Ich verschwinde, aber was immer du zu sagen hast, sag es schnell. Ich gebe dir fünfzehn Minuten.“
„Dreißig.“
„Fünfzehn, und danach wird wieder geschlafen.“
„Diese Frau versteht nicht zu feilschen“, murmelte er und schaute Nettie Two Horses nach, als sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Lily fand, dass Nettie ihre Sache ziemlich gut machte. Man feilschte nur, wenn man musste. Und sie hatte es offensichtlich nicht nötig, was sehr interessant war. Genauso interessant war allerdings, dass der Rho den klingenbewehrten Benedict nicht hinausschickte. „Eine Viertelstunde ist nicht viel“, sagte sie. „Wir haben beide einiges loszuwerden. Vielleicht sollten wir ohne Umschweife zur Sache kommen.“
„Warum nicht! Sie lassen sich nicht aus der Bahn werfen, obwohl ich mir alle Mühe gebe. Sie riechen nicht mal nach Angst. Können Sie mir das erklären?“
„Ihr Sohn – der hinter mir, mit dem großen Leute-Aufschlitzer in der Hand – sticht nicht zu, ohne dass Sie es ihm befehlen. Und Sie haben mich nicht herbestellt, um mich kaltzumachen.“
Isen Turner zog eine buschige Augenbraue hoch, und plötzlich entdeckte Lily doch eine Ähnlichkeit mit Rule – dieser Gesichtsausdruck kam ihr bekannt vor. „Und doch haben selbst vernunftbegabte Leute Angst vor uns, zumindest anfangs. Mit logischem Denken kann man Angst zwar unterdrücken, aber nicht besiegen.“
„Neugier ist auch gut gegen Angst. Und ich bin sehr neugierig. Zum Beispiel, was Ihre Angreifer angeht. Sie erinnern sich nicht an sie.“ Lily nickte, als leuchte ihr das vollkommen ein. „Aber wenn ich Sie bitten würde, Vermutungen anzustellen, wen würden Sie dann verdächtigen?“
„Nun ja.“ Er schmunzelte. „Ich würde mich fragen, ob die Leidolf daran beteiligt waren. Wie ich hörte, soll drei ihrer Clanangehörigen ein bedauerliches Schicksal ereilt haben, als sie in Wolfsgestalt waren. Sie sind anscheinend in eine Schlägerei geraten.“
„Und die Namen von diesen dreien haben Sie zufällig auch gehört?“
„Leider nicht, aber das ist nicht weiter von Belang. Sie sind tot.“
Und da es kein Verbrechen war, Lupi in Wolfsgestalt zu töten, gab es in dieser Hinsicht auch nichts zu ermitteln. „Ich wüsste zu gern, wer das Oberhaupt des Clans der Leidolf ist.“
„Das kann ich mir denken.“ Er lächelte und schwieg sich aus.
Diesen Trick hatte Lily selbst schon häufig angewendet. Man ließ absichtlich eine Gesprächspause entstehen, und die meisten Leute sahen sich genötigt, sie zu füllen – und dabei rutschte ihnen oft mehr heraus, als sie eigentlich sagen wollten. Lily erwiderte das Lächeln des Rho.
Er kicherte. „Ich mag Sie, Lily Yu. Nicht dass es Sie überhaupt interessiert, aber ich dachte, ich sage es Ihnen. Doch Sie haben recht: Kommen wir schnell zur Sache, bevor meine Aufpasserin zurückkehrt. Ich nehme an, was Sie loswerden wollen, hat mit Ihrem Mordfall zu tun.“
„Ich muss einen Mörder fassen, ja. Und um das zu tun, muss ich offen mit Ihren Leuten reden können. Sie werden mir aber nicht viel sagen, wenn Sie es nicht ausdrücklich erlauben.“
„Ich möchte niemanden von meinem Clan hinter Gittern sehen. Vor allem nicht meinen Thronfolger.“
Lily schüttelte den Kopf. „Ich gehe davon aus, dass Sie mich unterstützen wollen, denn wer immer für den Mord verantwortlich ist, hat versucht, ihn Ihrem Sohn anzuhängen. Dem anderen, nicht dem an der Tür.“ Diese Aussage überraschte Isen Turner. Gut. Denn sie ging ein Risiko ein, indem sie darauf spekulierte, dass das, was sie hier erfuhr, wichtig genug war, um die Herausgabe von gewissen Informationen zu rechtfertigen.
„Ist das Ihre Meinung, oder können Sie das beweisen?“
„Ich habe Beweise. Und mein Instinkt sagt mir, dass der Fall mit den Nokolai zu tun hat. Irgendjemand will Ihnen etwas: Erstens hat jemand versucht, Ihrem Prinzen die Schuld in die Schuhe zu schieben; zweitens haben Sie heute diese Zeremonie. Sie schließen ein neues Bündnis, und ich frage mich, warum. Und drittens war da der Angriff, an den Sie sich nicht erinnern. Jemand scheint Ihre Familie ernsthaft auf dem Kieker zu haben. Und ich will wissen, wer und warum.“
„Ich kann Ihnen nicht sagen, wer“, entgegnete Isen Turner bedächtig. „Aber ich weiß, warum. Die Nokolai befürworten den Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform, und es gibt viele, die fast alles dafür tun würden, dass er nicht durchkommt.“
Das glaubte Lily gern, aber … „Es waren Lupi, die Sie angegriffen haben, und der Mörder von Carlos Fuentes war ebenfalls ein Lupus.“
„Es gibt nicht nur Menschen, die Angst davor haben, was passiert, wenn das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird.“
Der Gesetzentwurf hatte im Wesentlichen zwei Aspekte, überlegte sie. Zum einen wurden Andersblütige offiziell für nichtmenschlich erklärt – was für viele Leute völlig klar war, doch es war eben noch nie in einem Gesetzestext festgehalten worden. Zum anderen wurden manchen von ihnen, zum Beispiel den Lupi, alle Bürgerrechte zugesprochen.
„Weil sie vor dem Gesetz nicht als nichtmenschlich gelten wollen?“, fragte Lily.
Er winkte mit seiner verstümmelten Hand ab. „Menschlich, nichtmenschlich – wer oder was zieht da die Trennlinie? Die Genetik? Wir können mit euch Kinder zeugen, aber wir sind euch nicht gleich. Bezeichnungen und Definitionen spielen keine Rolle. Wir wissen, was wir sind. Nein, die Kurzsichtigen unter uns haben vielmehr Angst vor den Auswirkungen eines solchen Gesetzes auf unsere Kultur, unsere Selbstbestimmung und unsere Sitten.“
„Aber wenn das Gesetz durchkommt, darf auf Lupi nicht mehr geschossen werden, wenn sie in Wolfsgestalt sind. Das ist doch ein Fortschritt. Andererseits können Lupi sich dann auch nicht mehr gegenseitig umbringen.“
„Was eine einschneidendere Veränderung für uns darstellt, als Sie sich vorstellen können. Aber es gibt nicht mehr viel Wildnis, und es wird immer schwieriger, sich in einer übervölkerten, computerisierten Welt verborgen zu halten. Wir müssen uns anpassen, wenn wir überleben wollen. Manche begreifen das nicht. Sie sehen nur, dass die Herausforderung nicht mehr so sein wird wie früher.“
Lily spürte ein Surren an ihrer Hüfte – das nichts mit Magie zu tun hatte, sondern mit ihrem Handy, das sie auf lautlos eingestellt hatte. „Die Herausforderung? Was meinen Sie damit?“, fragte sie, als sie es aus der Tasche holte. Dann sah sie die Nummer auf dem Display. „Einen Moment bitte. Diesen Anruf muss ich annehmen.“
Eine Minute später erhob sie sich mit grimmiger Miene und steckte ihr Handy weg. „Ich muss sofort wieder in die Stadt zurück. Es gab noch einen Mord.“
Rule roch seinen ältesten Bruder, bevor er ihn sehen konnte. Benedicts Geruch deutete jedoch nicht auf irgendetwas Besorgniserregendes hin, und so fuhr Rule mit dem Ritual fort, obwohl er sich fragte, was Benedict dazu veranlasst hatte, den Rho allein zu lassen. Gute Nachrichten waren es wohl nicht.
Doch diese Gedanken beschäftigten nur einen Teil von ihm. Den menschlichen Teil. Der andere war fest in der unmittelbaren Umgebung verankert und nahm die unterschiedlichsten Sinneseindrücke auf: Das Gefühl von Gras und Erde unter seinen Pfoten. Die Geräusche der Leute, die ihn und den Rho der Kyffin umringten – sie bewahrten zwar Ruhe, doch hier und da bewegte sich ein Fuß, und der Wind strich über Körper und Fell. Die Atemzüge derer in seiner unmittelbaren Nähe. Und die Luft selbst, die so erfüllt von Gerüchen war, dass es ihm beim Einatmen vorkam, als sauge er die ganze Welt in sich auf, um dann beim Ausatmen wiederum ein Teil dieser Welt zu werden. Was er sah, war zwar nicht so kontrastreich, und die Farben waren weniger zahlreich und intensiv, doch in Anbetracht der Fülle von Gerüchen waren solche Mängel durchaus zu verschmerzen.
Er wäre am liebsten sofort losgerannt – einfach aus purer Freude am Laufen, doch die Vernunft hielt ihn zurück. Als die Bündnisbedingungen vorgetragen wurden, waren er und Jasper in Menschengestalt gewesen, aber ohne das Unterwerfungsritual war das Abkommen nichtig. Rule wartete regungslos ab, als der Rho der Kyffin auf ihn zukam.
Jasper war ein gut aussehender Wolf, drahtiger und schlanker als Rule, mit graubraunem Fell und gelben Augen, die Rule an Cullens Wolfsgestalt erinnerten. Er war blitzschnell, wie Rule noch von den Raufereien in der Jugend wusste, und mit jeder Faser ein Alpha, wie es sich für einen Rho gehörte. Sich zu unterwerfen fiel ihm nicht leicht.
Doch er neigte bedauerlicherweise dazu, sich völlig im Wolfsein zu verlieren. Deshalb sträubte sich ihm auch das Fell, als er Rule näher kam, und er verströmte einen intensiven Wolfsgeruch. Und dann warf er sich unvermittelt vor ihm auf den Rücken und zeigte ihm seinen Bauch wie ein junger Hund, der gekrault werden will.
Hier und da lachte jemand verstohlen. Absolut enttäuschend, dachte Rule, und senkte den Kopf, um den ihm dargebotenen Bauch zu beschnüffeln. Normalerweise wurde vor der Unterwerfung noch ein bisschen geknurrt und gerangelt, nicht ernsthaft, sondern damit jeder seine Stärke demonstrieren konnte, was der Unterwerfung mehr Gewicht verlieh. Jasper hatte Rule jedoch beschämt gestanden, dass er lieber auf ein solches Scheingefecht verzichten würde, weil er dabei zu leicht die Kontrolle verlieren konnte. Rule verachtete ihn deshalb keineswegs. Ein guter Anführer wusste um seine Schwächen wie um seine Stärken.
Außer dem intensiven Wolfsgeruch und Jaspers Eigengeruch machte er einen Hauch von Angst aus, jedoch nicht den grässlichen Gestank von Schuldgefühlen.
Nachdem er die Unterwerfung angenommen hatte, trat Rule zurück, und das Ritual war vollbracht. Indem er Jasper nicht in den Bauch gebissen hatte, hatte er klargestellt, dass der Rho der Kyffin nicht an dem Angriff auf seinen Vater beteiligt gewesen war, und damit war in den Augen der Clans Jaspers Ehre wiederhergestellt. Im Gegenzug ordneten sich die Kyffin für ein Jahr und einen Tag den Nokolai unter.
Im Anschluss an eine solche Zeremonie verwandelten sich in der Regel zahlreiche Angehörige beider Clans – meist waren es die jüngeren – und nutzten die Gelegenheit zu einem geselligen Beisammensein. Rule hatte eigentlich seine Wolfsgestalt beibehalten und als Aufpasser darauf achten wollen, dass das Spiel nicht zu rau wurde, doch er folgte der Fährte seines Bruders und entdeckte ihn außerhalb des Zuschauerkreises an der Stelle, wo er seine Kleider abgelegt hatte.
Als Benedict ihn erblickte, machte er die kleine kreisende Handbewegung, die „Verwandeln!“ bedeutete.
Schweren Herzens öffnete sich Rule, ließ die Wildheit aus seinem Körper heraus und nahm wieder seine menschliche Gestalt an. Auf dem Boden des Ritualplatzes ging das ganz einfach und fast schmerzlos vonstatten. Innerhalb von Sekunden stand er nackt in Menschengestalt da und musste sich – von den Augen einmal abgesehen – wieder mit seiner eingeschränkten Sinneswahrnehmung begnügen.
Jasper war aufgesprungen, legte den Kopf schräg und sah Rule fragend an.
„Tut mir leid. Benedict braucht mich, aber bitte – erfreut euch der Gastfreundschaft der Nokolai, in welcher Gestalt es euch beliebt.“ Rule sah sich suchend um, winkte eines der älteren Ratsmitglieder heran und machte dieselbe Handbewegung wie Benedict zuvor. Der Mann sah ihn zwar erstaunt an, verwandelte sich aber gehorsam. Seth musste als vierbeiniger Aufpasser fungieren – eine Notwendigkeit wie auch eine Geste der Höflichkeit. Er konnte die jüngeren Nokolai im Zaum halten. Sie waren es gewöhnt, ihm zu gehorchen.
Jasper schaute stumm von Rule zu Seth, dann zu Benedict und wieder zu Rule. Mit einem kurzen Nicken setzte er sich und wartete auf Seth. Rule eilte auf Benedict zu.
„Was ist?“, rief er und fing die Kleider auf, die sein Bruder ihm zuwarf.
„Deine Polizistin muss sofort wieder in die Stadt.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über Benedicts ausdrucksloses Gesicht. „Sie war gar nicht erfreut, als sie hörte, dass sie warten muss, bis du fertig bist.“
Rule zog seine Jeans an. „Was ist denn passiert?“
„Sie wurde angerufen. Es gab noch einen Mord.“
Rule schloss fluchend den Reißverschluss und schlüpfte in seine Schuhe. „Wer? Wo?“
„Das hat sie nicht gesagt, aber ich habe es natürlich gehört. Dessen ist sie sich gar nicht bewusst, glaube ich. Therese Martin, 1012 Humstead Avenue, Apartment 12.“
„Eine Frau?“, fragte Rule ungläubig. „Ermordet von einem Lupus?“
„Das vermuten die Cops. Kennst du sie?“
„Ich weiß nicht …“ Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor. „Die Straße ist doch in der Nähe des Clubs. Vielleicht bin ich ihr schon mal begegnet. Was für eine elende Scheiße!“ Er hatte mit Toby an den Fluss fahren wollen. Er hatte es fest eingeplant. Und Toby hatte sich natürlich darauf gefreut. Dass er so plötzlich wieder wegfahren musste, würde eine herbe Enttäuschung für ihn sein.
Aber es ging nicht anders. Er trabte los, und Benedict schloss sich ihm an. Die Leute auf dem Platz – Zwei- wie auch Vierbeiner – wichen zur Seite und schauten ihnen überrascht und neugierig nach.
„Und Toby?“, fragte Rule nur.
„Vater hat gesagt, er will es ihm erklären. Er will sich von Nettie erst in Schlaf versetzen lassen, wenn er mit ihm gesprochen hat. Deine Aufgabe ist es, deiner Auserwählten einiges zu erklären.“
Dazu gab es nichts zu sagen, und so schwieg Rule. Die Wahrheit war Lily garantiert nicht so leicht beizubringen.
„Isen hat ihr dargelegt, wie der Gesetzentwurf, der Angriff auf ihn und der Mord zusammenhängen, den sie untersucht – nachdem sie ihm zu verstehen gab, dass du nicht mehr tatverdächtig bist. Sie hat Beweise dafür.“
„Was?“ Rule hätte erleichtert sein sollen, doch seine erste Reaktion war Wut. Sie hatte es seinem Vater gesagt, nicht ihm! Eine Sekunde später war ihm bereits klar, warum, aber davon ging es ihm auch nicht besser. Sie hatte es ihm nicht gesagt, weil sie eine Mauer zwischen ihnen beiden haben wollte – je höher, desto besser.
Die gute Nachricht war allerdings, dass Isen das Redeverbot gegenüber der Polizei aufgehoben hatte, indem er mit Lily über die Verschwörung gesprochen hatte. Nun konnte Rule selbst entscheiden, was und wie viel er ihr sagte.
„War das mit den Beweisen vielleicht gelogen?“, fragte Benedict.
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht, aber woher soll ich das wissen? Ich versuche, sie zu durchschauen, aber noch kenne ich sie nicht gut genug.“
„Nein, natürlich nicht.“ Benedict schwieg ein paar Schritte lang, dann sagte er: „Vater mag sie.“
Das hob Rules Stimmung ein wenig. Er hatte selbstverständlich gewusst, warum der Vater nach Lily geschickt hatte. Benedict hatte ihm von ihr erzählt, und er hatte seine Auserwählte kennenlernen wollen. Und als Rho musste er sich natürlich ein Urteil über die Frau bilden, die – obwohl sie noch nichts davon wusste – schon bald zu seinem Clan gehören würde.
Das hoffte Rule jedenfalls inständig.
Lily wartete mit Toby am Wagen. Entweder trug sie Anzüge wirklich gern oder sie fand sie praktisch, weil sich ihr Schulterholster gut darunter verstecken ließ. Diesmal hatte sie einen schwarzen an – vielleicht als Seitenhieb auf seine begrenzte Farbpalette. Sie hatte ihr Haar zu einem französischen Zopf geflochten, und er sah den weichen Schwung ihres Kinns und ihrer Wangen und den ernsten Ausdruck in ihrem Gesicht schon von Weitem.
Das Verlangen in seinem Inneren wurde so groß, dass sich ihm der Magen zusammenzog. Sein Penis begann sich zu regen. Wenn er bei ihr ankam, würde Lily ihm ansehen können, wie sehr er sich freute, sie zu sehen.
Sie hörte Toby aufmerksam zu, der munter auf sie einredete. Rule verlangsamte seine Schritte, und während er auf die beiden zuging, schnappte er ein paar Worte auf. Er musste unwillkürlich lächeln, und seine Anspannung legte sich ein wenig. Obwohl Lily bestimmt schon sehr ungeduldig war, machte sie Toby die Freude, sich mit ihm auf Spanisch zu „unterhalten“.
In diesem Augenblick kam Mick aus der Haustür, und sein Lächeln schwand.
„Rule!“, ermahnte ihn Benedict barsch.
„Ich weiß, ich weiß.“ Rule blieb seufzend stehen. „Selbstbeherrschung. Gerade eben auf dem Versammlungsplatz ist es mir nicht schwergefallen.“
„Du magst Jasper ja auch.“
Und das war die traurige Wahrheit. Er mochte Jasper, und Mick mochte er derzeit nicht besonders. „Du hast ihm das mit Lily doch wohl nicht gesagt?“
„Ich habe es nur Isen gesagt. Und ich nehme an, er hat es Nettie erzählt.“
„Wahrscheinlich. Aber sie wird es nicht weitertragen.“ So wie der Wind stand, hätte Mick Rule schon längst riechen müssen, doch er schaute nicht in seine Richtung, als er zu Lily und Toby ging. Er machte Lily ein Kompliment über ihre Haare, und als sie ihn mit ihrem typischen Cop-Blick bedachte, fing er an zu lachen.
Rule wusste um seine Wirkung auf Frauen. Sie waren schon immer scharf auf ihn gewesen, und es war ihm eine große Freude, sie zu beglücken. Doch diese Art von Glück basierte auf sinnlicher Erregung, wobei der Berühmtheitsfaktor für manche Frauen noch ein zusätzlicher Kick war. Mick übte nicht diese beinahe magische Anziehungskraft auf Frauen aus, aber sie mochten ihn. Sie hatten Spaß an seinen Scherzen, an seiner humorvollen Art.
In der Jugend träumt man davon, von jeder Frau begehrt zu werden, die einem begegnet, dachte Rule. Er war inzwischen längst erwachsen. Er würde lieber gemocht werden. Er wollte … nein, er sehnte sich danach, dass Lily ihn mochte, und er hatte Angst, dass sie Mick lieber mochte als ihn.
Und das war einfach erbärmlich. Er zwang sich, besonnen zu bleiben. „Wenn der Rho das nächste Mal wach ist, lass ihn wissen, dass ich die Tatsache, dass er über die Verschwörung gesprochen hat, als Erlaubnis nehme, ebenfalls darüber zu sprechen.“
„Das werde ich tun.“ Benedict streckte die Hand aus. „Und zu gegebener Zeit werde ich deine Auserwählte willkommen heißen.“
„Ich danke dir.“ Er umfasste Benedicts Unterarm. Er hatte nicht daran gezweifelt, dass seine Familie Lily akzeptieren würde, doch zwischen akzeptieren und freundlicher Aufnahme bestand ein großer Unterschied.
Benedict erwiderte Rules Geste, dann lief er zum Haus. Rule ging langsam hinterher und achtete darauf, keine aggressiven Signale auszusenden. Es passte ihm zwar nicht, dass Mick mit Lily flirtete, aber zu einem Wettbewerb im Weitpinkeln wollte er es nicht kommen lassen. Nicht, wenn Toby dabei war.
Von Lily ganz zu schweigen. „Sie hätten sich nicht zu beeilen brauchen“, sagte sie frostig, als er auf sie zukam. „Mick sagte, er kann mich hinbringen.“
„Ich fahre mit Ihnen zurück.“ Rule hob Toby hoch und genoss noch einmal das Gefühl, ihn in den Armen zu halten.
„Nicht nötig.“ Sie schaute kurz in seine Richtung, dann wieder zur Seite.
„Ich fürchte, doch.“
„Ich will nicht, dass du fährst“, schaltete Toby sich ein. „Erst kommst du ihretwegen früher vom Ritualplatz zurück, und jetzt willst du weg – das gefällt mir nicht. Onkel Mick soll Lily mitnehmen.“
Rule sah seinem Sohn tief in die Augen. „Unseren Ausflug zum Fluss müssen wir leider verschieben. Das ist wirklich schade.“
Toby nickte zögernd.
„Und du verstehst genauso wenig wie Lily, warum. Aber dein Großvater bleibt noch ein bisschen wach und verschiebt seinen Heilschlaf, um es dir zu erklären.“
„Du musst wirklich weg?“
Rule nickte.
Toby schob die Unterlippe vor. Eine Erklärung war in seinen Augen kein Ausgleich für das, was ihm entging. Er seufzte schwer und fing an zu zappeln, weil er heruntergelassen werden wollte. Jedes Mal, wenn Rule ihn sah, ließ er sich weniger gern in die Arme nehmen – eine notwendige, unaufhaltsame Entwicklung, die für Rule dennoch betrüblich war. Widerstrebend setzte er ihn ab.
„Ich muss jetzt mit Großvater reden, damit er schnell schlafen und sich erholen kann. Er ist in einem schlimmen Zustand“, sagte Toby zu Lily. „Hast du ihn gesehen? Aber das wächst alles wieder nach. Bald ist er wieder gesund.“
„Ganz bestimmt. Dafür wird Ms. Two Horses schon sorgen.“
„Ja, Nettie bringt so gut wie alles wieder in Ordnung. Bis bald, Lily!“
„Hasta la vista“, entgegnete sie. „Das bedeutet ‚Auf Wiedersehen‘, aber ich finde, es klingt viel besser.“
„Ja.“ Toby sah Rule ernst an. „Hasta la vista. Rufst du mich heute Abend an?“
Rule strich Toby über den Kopf. „Natürlich.“ Er rief ihn jeden Abend an, aber Toby musste sich dessen stets aufs Neue vergewissern. Nicht zum ersten Mal verfluchte Rule die Mutter, die nicht mit der Natur ihres Sohnes klargekommen war. Eine derartige Zurückweisung hinterließ Risse in der Seele eines Kindes, die auch ein Vater niemals ganz kitten konnte.
Wer wüsste das besser als er? Aber zumindest hatte er ein richtiges Zuhause gehabt, das Clangut. „Mathe üben!“, rief er Toby in Erinnerung, der eine Grimasse schnitt und dann weniger ungestüm als sonst ins Haus lief.
„Er ist enttäuscht“, sagte Mick und schaute dem Kleinen nach. „Ich weiß, ich bin nur ein schlechter Ersatz, aber ich könnte mit ihm an den Fluss fahren. Ich muss erst heute Abend wieder zurück.“
„Danke.“ Mick war schon immer verrückt nach Toby gewesen. Aber Rule bezweifelte ja auch nicht, dass er im Grunde herzensgut war. Und welcher Lupus hatte keine Freude an Kindern?
„Aber ich hätte auch gern eine Erklärung.“ Micks Gesichtsausdruck unterschied sich nicht sehr von Tobys, fand Rule – störrisch, mit einem Anflug von Kränkung. „Ich wüsste gern, warum du mir die hübsche Polizeibeamtin hier nicht anvertrauen willst.“
„Du liebe Güte, Mick, das hat doch nichts mit dir zu tun!“
„Und du willst es mir nicht erklären?“
„Jetzt nicht. Und ehrlich gesagt bin ich auch nur Lily eine Erklärung schuldig, nicht dir.“
Mick sah ihn durchdringend an, dann zuckte er mit den Schultern. „Dann fahrt ihr am besten schnell los, damit Lily auf Verbrecherjagd gehen kann. Wenigstens können sie dir diesmal nichts anhängen. Ein Cop kann dein Alibi bestätigen.“
Lily schüttelte den Kopf. „Ich kenne den genauen Todeszeitpunkt noch nicht, also wissen wir auch nicht, wer ein Alibi hat und wer nicht. Aber ich muss jetzt wirklich los.“
„Dann sage ich ebenfalls hasta la vista“, entgegnete Mick mit einem strahlenden Lächeln. „Wir haben uns sicherlich nicht zum letzten Mal gesehen. So ungnädig ist die dame gewiss nicht.“
„Hasta la vista, Mick. Rule – können wir dann?“
Rule ärgerte es zwar, dass ihre Stimme anders klang, wenn sie mit Mick sprach, doch das allein war nicht ausschlaggebend für sein Verhalten. Auch nicht Micks Flirterei. Schließlich war es nur höflich, eine Frau wissen zu lassen, dass man sie schätzte.
Nein, ausschlaggebend war vielmehr die Art, wie Lily ständig an ihm vorbeisah: Sie tat so, als könne sie es verhindern, die Anziehungskraft zu spüren, wenn sie ihm nicht in die Augen schaute. Und deshalb kam er ihr so nah, dass ihr Duft ihn umfing, auch wenn ihm ansonsten nur Ablehnung entgegenschlug. Der Sprung, den sein Herz machte, mahnte ihn zur Eile.
„Ja, wir können“, sagte er. „Aber zuerst …“ Er beugte sich vor, um sie zu küssen.
Er hatte einen Faustschlag erwartet. Er hatte bereits beschlossen, sie treffen zu lassen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, mit dem Hintern im Dreck zu landen.
Mick wieherte vor Lachen. Rule sah verblüfft zu Lily hoch. Sie hatte ihn blitzschnell mit einem sauberen Beinwurf zu Boden gestreckt, bevor sein Mund den ihren überhaupt berührt hatte.
„Fragen, nicht einfach machen!“ Sie öffnete die Wagentür. „Und die Erklärung“, sagte sie beim Einsteigen, „können Sie mir auf dem Rückweg geben.“ Dann knallte sie die Tür zu.
13
Starker Auftritt, dachte Lily spöttisch, als sie den Sicherheitsgurt anlegte. Sie hatte überreagiert … aber sein dummes Gesicht war ihr eine Genugtuung gewesen.
Das befriedigende Gefühl verflog jedoch allzu rasch, und sie fühlte sich unsicher und zittrig wie damals bei der Massenkarambolage von fünf Fahrzeugen, als sie – noch neu im Job – die Erste am Unfallort gewesen war. Damals hatten ihre inneren Organe allerdings guten Grund gehabt, sich bibbernd zusammenzuziehen und in Wackelpudding zu verwandeln. Aber jetzt …
Sie hatte ihn aus Angst zu Boden geworfen. Nicht, weil sie seinen Kuss nicht gewollt hatte, sondern weil sie ihn gewollt hatte. Sehr sogar.
Lily atmete tief durch. Sie kam sich vor wie ein Fahrzeug, dessen heulender Motor auf volle Touren gebracht wurde, sich aber im Leerlauf befand. Als erreiche sie einen gefährlichen Drehzahlbereich und müsse entweder den Motor ausschalten oder einen Gang einlegen und losbrettern.
Die Fahrertür ging auf. Er stieg ein.
Sie blickte stur geradeaus. „Ich hoffe, Sie erwarten keine Entschuldigung von mir.“
„Keineswegs.“ Er ließ den Motor an und wendete rasch den Wagen. „Ich bin verblüfft und nicht verärgert. Es ist schon sehr lange her, dass mich jemand derart überrascht hat. Und ich habe auch nicht vor, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Nicht für den Kuss, den ich nicht bekommen habe. Es tut mir allerdings leid, dass ich Sie habe warten lassen.“
Lily dachte an den Kuss, den er ihr auf der Hinfahrt geraubt hatte, und rutschte unruhig hin und her. „Falls Sie mir jetzt erklären wollen, dass Sie nach irgendeinem merkwürdigen Lupusbrauch …“
„Nicht so, wie Sie denken. Aber Sie werden meine Erklärung zweifellos merkwürdig finden. Und sie wird Ihnen nicht gefallen.“ Er sprach abgehackt; als müsse er sich jedes Wort mühsam abringen.
Sie war noch nie so aufgewühlt in der Nähe eines Mannes gewesen. So unruhig. Sie schaltete diesen Gedanken sofort ab und brachte sich wieder auf Kurs. „Das ist jetzt erst mal unwichtig. Kennen Sie eine Frau namens Therese Martin?“
„Jetzt wechseln Sie das Thema.“
„Ich wusste nicht, dass Sie hier derjenige sind, der die Themen bestimmt.“
Er gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Verzweiflung und Belustigung lag. „Also gut. Der Name sagt mir nichts. Ist sie das Mordopfer?“
Lily sah ihn scharf an. „Wie kommen Sie darauf?“
„Benedict hat gehört, was Ihr Gesprächspartner gesagt hat, als Sie telefoniert haben.“
„Das ist …“ Unmöglich, wollte sie sagen. „Können Sie das auch?“
„Ich habe nicht ein so gutes Gehör wie er.“
„Was keine Antwort auf meine Frage ist.“
„Die Eitelkeit gebietet es mir, wenigstens ein bisschen geheimnisvoll zu bleiben.“ Er wurde ernst. „Falls ein Lupus sie getötet hat …“
„Falls?“
„Wir üben gegen Frauen keine Gewalt aus. Ich sage nicht, dass es völlig ausgeschlossen ist, aber einen Lupus, der eine Frau tötet … den würden wir als geistesgestört bezeichnen.“
Lily runzelte die Stirn und versuchte, sich an die Lupus-Morde zu erinnern, von denen sie gelesen hatte. Waren tatsächlich keine Frauen unter den Opfern?
„Meiner Meinung nach ist der Mord an Fuentes Bestandteil einer größeren Verschwörung gegen die Nokolai“, sagte Rule. „Mein Vater hat mit Ihnen darüber gesprochen.“
„Er deutete so etwas an. Und ich habe noch viele Fragen dazu.“
„Verständlicherweise. Aber dieser neue Mordfall, der passt nicht ins Bild. Ich hatte nichts mit Therese Martin. Ich kannte sie nicht einmal.“
Er hatte allerdings irgendwann einmal mit ihr gesprochen und sie „mit Respekt behandelt“. „Sie war Prostituierte. Hatte einen Stammplatz auf der Proctor.“ Und um die hundert Puppen, alle mit blondem Haar. Gab es vielleicht eine Mutter oder Schwester, die diese Puppen nun haben wollte? „Sie war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Letzte, die Carlos Fuentes lebend gesehen hat – bis auf den Mörder natürlich. Durch ihre Aussage konnte die Todeszeit so weit eingegrenzt werden, dass Sie aus dem Schneider sind.“
„Scheiße.“
„Sie sagen es.“ O’Brien war am Tatort, und Mech war bei ihm. Lily wusste, dass die beiden gute Arbeit machten, aber sie musste selbst hin. Sie musste den Ort mit eigenen Augen sehen und ein Gefühl für den Tathergang bekommen. Sie musste die Dinge anfassen, solange die magischen Spuren noch wahrnehmbar waren.
Schade, dass sie nicht so einen guten Geruchssinn wie … Moment mal! „Könnten Sie den Mörder vielleicht am Geruch erkennen? Wenn ich Ihnen die Leiche zeige, könnten Sie dann sagen, wer es getan hat?“
Rule war überrascht. „In dieser Gestalt wahrscheinlich nicht“, sagte er nach einer Weile.
„Sie müssten sich verwandeln.“
„Ja. Ich kann nichts garantieren, aber es könnte klappen.“
Wie viel Ärger würde sie bekommen, wenn Sie ihm Zugang zu der Leiche gewährte? Jede Menge, dachte sie wütend. Weil er ein Lupus war. Wäre er ein Mensch, würde es niemanden kümmern, wenn sie ihn nun, da er nicht mehr tatverdächtig war, als Sachverständigen um seine Einschätzung bat. Und das war einfach falsch. Jemand hatte Thereses Leben ein Ende gesetzt und den hartnäckigen Funken ausgetreten, der das Mädchen dazu gebracht hatte, sich mit blonden Puppen zu umgeben. Es war Lilys Aufgabe, herauszufinden, wer.
Scheiß auf die Torpedos, volle Kraft voraus!, dachte sie. Ich komme keinen Schritt weiter, wenn ich auf Sicherheit spiele und nichts riskiere.
„Also gut. Brauchen Sie … äh … Zurückgezogenheit, wenn Sie sich verwandeln?“
„Ich hätte gern den Erdboden unter meinen Füßen, wenn möglich. Und ein bisschen Zurückgezogenheit wäre vielleicht nicht schlecht, damit Ihre Kollegen nicht durchdrehen. Lily …“
„Was?“ Sie hatten das Tal hinter sich gelassen und fuhren auf das Tor zu. Der rothaarige Wachposten öffnete es für sie. „Sie sollen natürlich nicht vor dem Haus der Presse in die Hände fallen, aber in die Wohnung selbst kann ich Sie nicht bringen. Abgesehen von der Gefahr der Verunreinigung des Tatorts mit Fremdspuren würde es dem Strafverteidiger viel zu viel Spaß machen, sich abstruse Geschichten dazu auszudenken. Wir machen es so: Die Leute des Coroners werden bereit zum Abtransport der Leiche sein, wenn wir am Tatort eintreffen. Wenn ich mir alles angesehen habe, lasse ich sie ins Treppenhaus bringen, und da können Sie dann aktiv werden.“
„Wenn es sein muss, kann ich mich auch dort verwandeln. Sie weichen mir aus.“
„Wissen Sie, ich glaube wirklich nicht, dass Sie hier die Themen bestimmen. Waren Sie gestern Abend im Club Hell?“
Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Ich hatte Freunde zum Essen da. Sie sind gegen halb neun gegangen. Den Rest des Abends habe ich allein zu Hause verbracht. Warum? Ich dachte, ich scheide als Verdächtiger aus.“
„Eins und eins macht drei“, sagte sie geistesabwesend. Irgendetwas stimmte an dem zweiten Mord nicht, aber sie konnte nicht sagen, was es war. „Jemand könnte Sie beobachtet und gesehen haben, dass Sie allein waren. Wer wusste, dass Sie an dem Abend, als Fuentes ermordet wurde, in den Club kommen würden?“
Er zuckte mit den Schultern. „Alle möglichen Leute. Ich habe mich da jeden Donnerstag mit Rachel getroffen.“
„Immer zur gleichen Zeit?“
„Nein, das war unterschiedlich.“
„Haben Sie außer Rachel noch jemandem gesagt, wann Sie in den Club kommen würden?“
„Was spielt das für eine Rolle?“
„Tun Sie mir den Gefallen, und beantworten Sie meine Frage.“
„Na gut. Ich habe Max gesagt, wann ich komme. Und ich vermute, er hat es Cullen gesagt. Aber wer weiß, wem gegenüber Rachel es erwähnt hat? Theoretisch können es eine Menge Leute gewusst haben.“
„Wohl wahr.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe. Wenn sie nur wüsste, wie der Mörder Fuentes auf den Spielplatz gelockt hatte … Fuentes’ Hauptinteressen schienen Frauen und die Kirche der Glaubenstreuen gewesen zu sein. Der Spielplatz war wohl kaum ein geeigneter Ort für ein romantisches Stelldichein. „Haben Sie schon mal von der Kirche der Glaubenstreuen gehört? Azá nennen sich diese Leute auch.“
„Danach haben Sie mich schon mal gefragt. Der Name sagt mir nichts. Lily, ich muss Ihnen etwas sagen. Es ist wichtig.“
„Das ist der Mord auch. Lassen Sie mich kurz nachdenken. Mir ist da gerade eben ein Gedanke gekommen.“ Sie überlegte fieberhaft. „Okay, Arbeitshypothese: Gehen wir davon aus, dass Fuentes getötet wurde, weil Ihnen jemand etwas anhängen wollte. Natürlich musste die Tat zu einer Zeit verübt werden, für die Sie kein Alibi haben, was eine knifflige Sache war. Und die Tat musste an dem Abend begangen werden, an dem Sie üblicherweise ausgehen, damit wir dummen Cops gar nicht anders konnten, als Sie zu verdächtigen. Der Täter weiß, dass es ohne Zeugenaussagen schwer ist, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Jeder, der Krimis liest oder im Fernsehen anschaut, weiß das. Also brauchte der Täter ein Zeitfenster; einen Zeitraum, in dem wir nichts über Fuentes’ Verbleib wissen.“
„So weit kann ich Ihnen folgen. Und wie hat er dieses Zeitfenster geschaffen?“
„Vielleicht hat er es geschaffen, vielleicht hat es sich ergeben. Wie dem auch sei, seine Hauptsorge waren eventuelle Zeugen. Er wählte den Spielplatz, weil er in der Nähe des Clubs ist und sich dort abends in der Regel niemand mehr herumtreibt. Wenn er schlau war, hat er sich vor Fuentes dort eingefunden, um sich zu vergewissern, dass außer ihm niemand da ist. Aber Therese hat nirgendwo jemanden gesehen, weder auf der Straße noch auf dem Spielplatz. Sie hat kurz vor zehn mit Fuentes gesprochen und niemanden in seiner Nähe beobachtet.“
„Wenn er in Wolfsgestalt war, dann war es ihm ein Leichtes, sich zu verstecken.“
„Mag sein, aber warum hat er dann trotzdem an seinem Plan festgehalten und Fuentes getötet? Wenn er da war, hat er Therese mit Fuentes reden sehen und wusste, dass es eine Zeugin für Fuentes’ Eintreffen auf dem Spielplatz gibt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Okay, dann ist er eben nicht vor Fuentes angekommen und hat Therese nicht gesehen. Und als er davon erfahren hat, dass sie am Spielplatz war …“ Rule verstummte unvermittelt.
„Ja.“ Lily hatte vor Übelkeit einen Kloß im Hals. Sie schluckte. „Das ist die Frage, nicht wahr? Wie hat er davon erfahren?“
„Vielleicht hat sie anderen gegenüber erwähnt, dass sie Fuentes gesehen hat.“
„Sie hat geschworen, dass sie es nicht getan hat, und ich habe sie gewarnt. Ich habe ihr gesagt, sie soll mit niemandem darüber reden. Vielleicht hat sie es trotzdem getan. Oder jemand hat uns gesehen, als wir sie aufgesucht haben. Aber selbst wenn, konnte derjenige nicht wissen, was sie uns gesagt hat. Vielleicht hat der Mörder Panik bekommen – aber warum?“ Ihr wurde immer schlechter. „Er hatte keinen Grund zu der Befürchtung, dass Therese ihn identifiziert haben könnte. Er hat doch gar nicht gewusst, wie viel sie uns gesagt hat. Es sei denn …“
„Ein Cop hätte es ihm gesteckt“, beendete Rule den Satz für sie.
Lily hatte plötzlich ein unangenehmes Vakuum im Bauch. Ihr Mund war staubtrocken. Denk es zu Ende!, ermahnte sie sich. Wer hatte von Therese gewusst? Phillips natürlich … aber wenn er Dreck am Stecken hatte, dann hätte er sie nicht von Thereses Aussage in Kenntnis gesetzt.
Wer noch? Wem hatte sie davon erzählt, und wer hatte den Bericht über Therese gelesen?
Mech. Captain Randall. Der Chief. Die beiden Special Agents.
Gott! Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Der Captain war es doch bestimmt nicht gewesen. Und Mech? Das glaubte sie zwar nicht, aber er war bereits am Tatort. Und die beiden FBI-Agenten konnten auch jederzeit dort auftauchen. Niemand würde sich etwas dabei denken.
„Wie schnell fährt dieser Flitzer?“, fragte sie.
„Hundertneunzig.“
„Dann geben Sie Gas!“
Rule nahm sie beim Wort. Allerdings fuhr er nicht mit Höchstgeschwindigkeit, denn selbst bei seinem Reaktionsvermögen waren ihm durch die physikalischen Gesetze und die kurvenreiche Bergstraße Grenzen gesetzt. Aber er ging ziemlich dicht an diese Grenzen heran.
Es war fantastisch.
„Es macht Ihnen Spaß“, stellte Lily fest.
„Schuldig im Sinne der Anklage.“ Er sah sie nicht an. Bei dieser Geschwindigkeit wäre das nicht sehr klug gewesen. „Sie sehen nicht aus, als müssten Sie sich übergeben“, bemerkte er.
„Noch nicht.“
Sie klang jedoch eher angespannt als verängstigt.
„Vielleicht macht es Ihnen ja auch Spaß, wenigstens ein bisschen.“
„Glauben Sie mir, das tut es nicht.“ Sie hielt inne. „Sie müssen mir etwas erklären. Sie haben zwei Brüder, von denen zumindest einer älter als Sie ist, aber trotzdem sind Sie der Nachfolger Ihres Vaters. Wie kommt das?“
„Bei uns gilt nicht das Erbfolgeprinzip des Erstgeborenen.“
„Wie wird dann die Nachfolge bestimmt?“
Rule zögerte. Er hatte beschlossen, Lily noch nicht zu sagen, was es bedeutete, auserwählt zu sein. Sie hatte eben erst einen Nackenschlag einstecken müssen, und er konnte sich gut vorstellen, wie ihr zumute war. Die Erkenntnis, dass ein korrupter Cop in den Mordfall verwickelt sein könnte, war genauso schrecklich wie die, dass es einen Verräter unter den Nokolai gab. Aber sie musste mehr über den Clan erfahren. „Das kommt auf die Bräuche an, die von Clan zu Clan unterschiedlich sind, aber im Grunde ist der Lu Nuncio …“
„Was bedeutet das eigentlich?“
„Rechtmäßiger Nachfolger. Der Lu Nuncio zeichnet sich durch sein Blut, seinen Kampfgeist und seine Fruchtbarkeit aus.“
„Sie haben ein Kind“, sagte sie.
„Ja, Benedict auch, aber er hat keinen Sohn.“
„Aber …“ Lily verstummte nachdenklich, dann sagte sie: „Okay, ich glaube, ich war auf dem Holzweg. Lupi sind männlich, und deshalb dachte ich, es gebe auch nur männliche Nachkommen. Dann sind also einige der Frauen, die ich auf dem Clangut gesehen habe, Blutsverwandte von Clanangehörigen?“
„Und nicht bloß unsere Sexsklavinnen, meinen Sie?“
„Eigentlich“, entgegnete sie trocken, „hatte ich eher an Haussklavinnen gedacht. Männer neigen im Allgemeinen dazu, ihre Frauen als billige Putz- und Arbeitskräfte zu missbrauchen.“
„Ich glaube, alle, die Sie heute auf dem Clangut gesehen haben, gehören zum Clan.“ Rule musste das Tempo drosseln, als sie die Auffahrt zur 67 erreichten. Er sah Lily kurz an. „Haben Sie gedacht, wir würden unsere weiblichen Nachkommen gleich nach der Geburt ertränken? Unsere Töchter und Schwestern sind natürlich auch Nokolai, obwohl sie keine Lupi sind.“
„Ich habe doch schon zugegeben, dass ich falsche Vorstellungen hatte. Ich arbeite daran! Was ist mit den Müttern, Tanten und Großmüttern? Gehören sie auch zum Clan?“
„Das ist nur selten der Fall.“ Wie selten und warum, das konnte er ihr nicht sagen. Noch nicht.
„Hmm.“
Da der Verkehr so weit außerhalb der Stadt noch nicht sehr dicht war, beschleunigte Rule noch in der Kurve wieder das Tempo.
„He!“, rief Lily und hielt sich am Armaturenbrett fest, als sie zur Seite geschleudert wurde. „Es ist doch keine Gefahr im Verzug!“
„Ich liebe es, wenn Sie in Ihrem Cop-Jargon reden“, murmelte er und gab ordentlich Gas. „Gehen Sie öfter auf Verfolgungsjagd?“
„Nein. Und das hier tun wir nicht, damit Sie Ihre Fantasien ausleben können.“
„Meine neuen Fantasien. Als Kind habe ich nie Polizei gespielt. Das waren für uns die Bösen.“
„Die Zeiten ändern sich. Ich … he!“ Sie klammerte sich abermals am Armaturenbrett fest.
Rule überholte im Zickzackkurs ein paar Sattelschlepper, die mit höchstens achtzig die Schnellstraße entlangbummelten. „Sie wollten doch, dass ich Gas gebe.“
„Denken Sie bitte daran, dass ich keine Selbstheilungskräfte habe wie Sie! Sie könnten mich wenigstens von meinen Todesvisionen ablenken, indem Sie mir das mit dem Blut und dem Kampfgeist erklären.“
Er grinste. „Das mit dem Blut bedeutet nur, dass ich die richtige Abstammung habe. Und Kampfgeist ist genau das, was Sie sich darunter vorstellen.“
„Sie haben gegen Ihre Brüder gekämpft?“
„Ich habe gegen Mick und zwei andere gekämpft, die meine Tauglichkeit in Frage gestellt haben.“
Der erste Kampf war weitgehend Formsache gewesen, weil der Nachfolger des Rho nur anerkannt wurde, wenn er sich im rituellen Gefecht bewiesen hatte. Der zweite war todernst gewesen. Doch es war der Kampf mit Mick, der Rule noch eine ganze Weile den Schlaf geraubt hatte. Nicht die Herausforderung an sich – sie war angesichts des Naturells seines Bruders praktisch unvermeidlich gewesen. Auch Micks Versuch, ihn zu töten, statt ihn nur zu besiegen, war verzeihlich. Bei einigen war der Wolfsanteil eben stärker als bei anderen.
Was jedoch immer noch an Rule nagte, war der Verdacht, dass auch Micks menschliche Hälfte zum Töten bereit gewesen war.
„Aber nicht gegen Benedict?“, hakte Lily nach. „Ihr ältester Bruder hat Sie nicht herausgefordert?“
„Benedict hat die Entscheidung unseres Vaters befürwortet.“ Hätte er das nicht getan, wäre Rule jetzt nicht Lu Nuncio. Benedict hätte er nicht besiegen können.
Sie schüttelte den Kopf. „Eine ordentliche Wahl ist besser.“
„Für euch Menschen vielleicht schon. Wir sind keine Demokraten, aber wir sind auch nicht unterwürfig genug für eine unumschränkte Alleinherrschaft. Unsere Tradition gibt uns Möglichkeiten zur Kontrolle der Machtbefugnis des Rho an die Hand, und der Rest ist durch die Herausforderung geregelt.“
„Ihr Vater hat auch etwas von einer Herausforderung gesagt, bevor wir unterbrochen wurden. Was habe ich mir darunter vorzustellen?“
„Herausforderungen gibt es häufig, sowohl innerhalb eines Clans als auch clanübergreifend, besonders unter den heißblütigen Jungen. Im Grunde handelt es sich um Duelle, die nicht mit Schwertern oder Pistolen ausgetragen werden, sondern mit den Zähnen. Wenn wir allerdings von der Herausforderung sprechen, meinen wir damit, dass ein Clanangehöriger seinen Rho herausfordert.“
„Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste.“
„Es gibt bestimmte Situationen, in denen der Rho selbst kämpfen muss. Normalerweise vertritt aber der Lu Nuncio den Rho, wenn er herausgefordert wird.“
„Also Sie.“
Er nickte.
„Und diese Kämpfe … können auch einen tödlichen Ausgang haben?“
„Unter Umständen. Aber keine Sorge, Detective. Wir kämpfen in Wolfsgestalt, also ist rechtlich nichts dagegen einzuwenden.“
„Das war selbstverständlich meine einzige Sorge. Wenn Sie … Rule, um Himmels willen, passen Sie doch auf!“
„Das tue ich“, entgegnete er ungerührt und überholte den Tanklastzug, dessen zu große Nähe ihr Angst eingejagt hatte. Dabei schnitt er ihn vielleicht ein bisschen, aber der Datsun auf der anderen Fahrspur ließ ihm kaum eine andere Wahl.
Lily fluchte leise vor sich hin. Als Rule sie ansah, war seine Fahrfreude dahin. „Sie sind ja ganz blass! Ich muss wohl doch langsamer fahren.“
„Ab hundertvierzig mutiere ich zu einer Weißen. Kümmern Sie sich nicht darum!“
Er lachte auf und schaute noch einmal in ihre Richtung. Sie runzelte die Stirn und dachte offensichtlich über das nach, was er ihr gerade erklärt hatte.
„Solche Herausforderungen sind nicht mehr zulässig, wenn der Gesetzentwurf durchkommt“, sagte sie.
„Mein Vater meint, dass nur die Kämpfe auf Leben und Tod davon betroffen sind. Auseinandersetzungen, die nur kleinere Verletzungen zur Folge haben, werden einfach nicht gemeldet.“
„Und Sie? Was meinen Sie?“
„Der Lu Nuncio äußert seine Meinung grundsätzlich nicht. Das wäre, als würde ein Armeegeneral öffentlich zu den Entscheidungen seines Oberbefehlshabers Stellung nehmen.“
„Äußern Sie denn Ihrem Vater gegenüber Ihre Meinung?“
„Meinem Vater gegenüber schon, aber nicht dem Rho.“
„Schwierig, wenn es sich um ein und dieselbe Person handelt.“
„Er lässt mich immer wissen, mit wem ich es gerade zu tun habe.“ Sie hatten inzwischen die Stadtgrenze erreicht, und im stetig dichter werdenden Verkehr kamen sie nicht mehr so schnell voran. Rule gab sein Bestes. „Wir müssten in fünfzehn bis zwanzig Minuten am Tatort sein.“
„Gut. Was halten Sie von der Verschwörungstheorie Ihres Vaters? Er glaubt offenbar, das Ja der Nokolai zur Bürgerrechtsreform sei so entscheidend, dass ihn jemand töten würde, um das neue Gesetz zu verhindern.“
„Ohne das Engagement der Nokolai unterstützen die anderen Clans den Gesetzentwurf vermutlich nicht.“
„Aber so groß ist der politische Einfluss der Clans nun auch wieder nicht.“
„Mmm. Nicht alle Lupi gehen so offen mit ihrer Abstammung um wie ich.“
Lily zog die Augenbrauen hoch. „Wollen Sie damit sagen, Lupi haben Leute in hohen Positionen? Leute mit einem kleinen pelzigen Geheimnis?“
Er lächelte.
„Das mit der geheimnisvollen Aura wird allmählich langweilig“, bemerkte sie. „Sie glauben also, dass es Einfluss auf den Lauf der Dinge in Washington haben könnte, wenn jemand Sie und Ihren Vater außer Gefecht setzt?“
„Es ging offensichtlich nicht nur darum, mich aus dem Weg zu schaffen. Man wollte, dass ich festgenommen und eingesperrt werde. Wenn das Aushängeschild der Lupi, wie Sie es so schön nannten, des Mordes überführt wird, unterstützt die Öffentlichkeit dann noch ein Gesetz, das uns zu vollwertigen Staatsbürgern macht?“
„Staatsbürger bringen sich bedauerlicherweise die ganze Zeit gegenseitig um. Aber ich verstehe, was Sie meinen.“
Danach schwieg Lily, und das war gut so. Er musste sich auf das Fahren konzentrieren. Doch selbst der dichte Verkehr verlangte ihm nicht seine ganze Aufmerksamkeit ab.
Sie hatte Rule zu ihm gesagt.
Nur eine Nebensächlichkeit, aber sie hatte ihn noch nie beim Vornamen genannt. Er war ihr in der Aufregung herausgerutscht – was den Verdacht nahelegte, dass sie ihn auch in Gedanken so nannte. Ihr Verhältnis wurde persönlicher, und diese Vorstellung wärmte ihm das Herz. Auch was die Ermittlungen anging, wurde sie immer offener ihm gegenüber. Sie ließ ihn an ihren Überlegungen teilhaben.
Beispielsweise an der, dass vielleicht ein korrupter Cop seine Finger im Spiel hatte. Jemand, den sie kannte, mit dem sie arbeitete und dem sie vertraute. Jemand, der das Gesetz mit Füßen trat, das sie achtete und wahrte – weil er Geld dafür bekam oder wegen irgendeines kranken Ideals, das Mord als Mittel zum Zweck rechtfertigte.
Ein korrupter Cop konnte Beweise manipulieren oder verschwinden lassen. Kein erfreulicher Gedanke, fand Rule, denn schließlich war er derjenige, dem man etwas anhängen wollte. Aber wenn es einen Cop gab, der ihm feindlich gesinnt war, so gab es auch einen anderen, der auf seiner Seite stand – oder wenigstens auf der Seite der Gerechtigkeit.
Wie würde Lily reagieren, wenn er ihr die Wahrheit über sie und ihn offenbarte?
Er hätte nie gedacht, dass ihm das passieren würde. Eigentlich hatte er es auch nie gewollt, nicht einmal in seinen Jugendjahren. Aber er hatte erlebt, wie es bei Benedict gewesen war, und Nettie hatte ihn darauf vorbereitet, also wusste er um die Gefahren. Und auserwählt zu werden kam nur höchst selten vor … Er hatte sich sicher gefühlt. Aber er hatte immer gewusst, dass die Möglichkeit dazu bestand, und man hatte ihn gelehrt, was es bedeutete. Lily wusste nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gab.
Sie würde es nicht gut aufnehmen.
Er hätte gern mehr Zeit gehabt, um ihr den Hof zu machen, damit sie ihn besser kennenlernen und Vertrauen zu ihm fassen konnte. Aber sein Körper verlangte mit einer Beharrlichkeit nach ihr, die keinen Aufschub duldete. Sie dachte, sie könne selbst entscheiden, ob sie ihren Gefühlen folgte oder nicht, aber er wusste es besser. Und er wusste, dass er ihr die Wahrheit sagen musste, bevor sie sich körperlich näher kamen.
So brachte man es den jungen Lupi bei: Wenn die dame dich mit einer Auserwählten segnet, sei ehrlich zu ihr, und erkläre ihr alles! Und sei geduldig! „Es liegt dann in deiner Verantwortung“, hatte Nettie ihm einmal gesagt, „es ihr so leicht wie möglich zu machen. Aber kehre die Probleme nicht unter den Teppich. Wenn sie jung und idealistisch ist, romantisiert sie die Sache möglicherweise und sieht darin die perfekte Verbindung, das Einswerden zweier Seelen.“ Sie hatte abschätzig geschnaubt. „Das darfst du nicht zulassen.“
Während Rule langsam hinter einem Bus herfuhr, der den ganzen Verkehr aufhielt, sah er Lily an. Sie war in der Tat jung und hatte sehr hohe Ideale. Doch sie würde die Situation nicht romantisieren. Er rechnete vielmehr damit, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen ihr Schicksal wehren würde – und gegen ihn –, und nur die dame wusste, wie viel Schaden sie sich und ihm damit zufügte.
Heute Abend, nahm er sich vor, heute Abend werde ich es ihr sagen.
14
Auf der Straße vor dem Haus, in dem sich Thereses Wohnung befand, standen jede Menge Autos: zwei Streifenwagen, der Rettungswagen und das Auto des Coroners, Mechs blaue Limousine und O’Briens alter Chevy. Lily ließ sich von Rule an der Ecke absetzen.
„Ich sorge dafür, dass man Sie ins Haus lässt“, sagte sie beim Aussteigen.
„In Ordnung. Ich parke vor dem Club. Max’ Ruf hält die hiesigen Unternehmer davon ab, seinen Parkplatz als Ersatzteillager zu missbrauchen.“
Sein Ton war leicht, doch seine Miene grimmig. Lily war ebenfalls angespannt. Sie musste sich zwar nicht mehr übergeben, wenn es an einem Tatort Unerfreuliches zu sehen gab, aber ihrem Magen ging es trotzdem nicht gut. Es war immer viel schlimmer, wenn sie das Opfer gekannt hatte, auch wenn es nur flüchtig gewesen war. „Kommen Sie mit der Situation klar?“, fragte sie unvermittelt.
„Ich weiß durchaus, wie Tote aussehen. Gehen Sie! Tun Sie Ihre Pflicht!“
Sie nickte, schloss die Autotür und ging die Straße hinunter.
Den Uniformierten, der an der Haustür postiert war, kannte sie; es war der Neue aus Westtexas. Sie nickte ihm zu. „Gonzales, nicht wahr? Detective Yu. Ist Sergeant Meckle da drin?“
„Ja, Madam. Er hat eine Zeugin aufgetrieben und benutzt das Büro der Verwaltung für die Befragung. Es ist gleich hinter der Treppe.“
„Wie ich hörte, wurde sie kurz vor zwölf aufgefunden. Wer hat sie denn gefunden?“
„Ein Jugendlicher namens Abel Martinez. Vierzehn Jahre alt. Ihr Sergeant hat seine Aussage aufgenommen und ihn zu seiner Mutter gebracht. Sie wohnt in Nummer zehn, auf derselben Etage. Der Vater ist nicht hier ansässig. Zwei Schwestern, beide jünger.“
„Nummer zehn ist direkt neben Nummer zwölf“, sagte Lily. Daran erinnerte sie sich noch von ihrem Besuch bei Therese. „Die Wände sind dünn. Hat niemand etwas gehört?“
„Das weiß ich nicht, Madam. Phillips hat mit ein paar Leuten gesprochen, bevor Sergeant Meckle kam und übernahm, aber ich habe die ganze Zeit hier an der Tür Wache geschoben.“
„Ist schon jemand vom FBI aufgetaucht? Es gibt zwei Agenten, die sich für den Fall interessieren.“
„Nein, Madam.“
Sie kniff die Lippen zusammen. Damit waren Croft und Karonski zwar noch nicht aus dem Schneider, aber es sah ganz so aus, als müsse sie Mech und den Captain genauer unter die Lupe nehmen.
Oh Gott, lass es nicht den Captain sein!, dachte sie. „Gleich kommt noch jemand, den ich als sachverständigen Berater hinzuziehen will. Rule Turner. Lassen Sie ihn in den Flur. Da soll er auf mich warten. Er darf nicht die Treppe hoch. Nur in den Flur!“
Gonzales zog die Augenbrauen hoch, nickte aber. Lily ging zur Treppe. Auf halbem Weg nach oben stieg ihr der säuerliche Geruch von Erbrochenem in die Nase. Wahrscheinlich Abel Martinez’ Beitrag, dachte sie. Sie musste dafür sorgen, dass ein Sozialarbeiter mit ihm sprach.
Phillips stand an der Tür zu Apartment 12 und sprach mit den Leuten vom Rettungsdienst. In der Wohnung war das Brummen eines Staubsaugers zu hören. „Na, wenn das mal keine Gewohnheit wird, dass wir uns hier in der Gegend treffen!“, nölte er.
„Ich könnte gut drauf verzichten. Sie waren wieder als Erster am Tatort. Schildern Sie mir, was passiert ist.“
„Um zwölf Uhr sieben bin ich von der Leitstelle angefunkt worden und habe mir den Tatort von der Wohnungstür aus angesehen. Sie war ohne jeden Zweifel tot, also habe ich sofort Meldung gemacht. Während ich gewartet habe, sprach ich mit dem Jungen, der sie gefunden hat. Abel war heute nicht in der Schule, weil er Magenprobleme hatte, aber nach einer wundersam schnellen Genesung wollte er draußen ein bisschen Basketball spielen. Als er die Wohnung verließ, stellte er fest, das die Tür zu Nummer zwölf offen stand. Er sagte, er sei reingegangen, um nach dem Rechten zu sehen.“ Phillips zuckte mit den Schultern. „Hat wahrscheinlich gedacht, er könne was mitgehen lassen. Der Ärmste! Er konnte ja nicht ahnen, was er finden würde.“
„O’Brien ist in der Wohnung?“
„Ja. Hören Sie, Detective, was der verdammte Werwolf ihr angetan hat, das hat sie wahrhaftig nicht verdient. Ich möchte nur wissen, wie er von ihr erfahren hat.“
„Ich auch.“ Es würde heftig werden. Lily roch das Blut und noch Übleres bereits von der Tür aus. Sie öffnete ihre Tasche und holte Latexhandschuhe und Plastiküberzieher für die Schuhe heraus. „Bauchverletzung?“
„Dem Geruch nach zu urteilen, ja“, entgegnete einer der Sanitäter. „Habe sie mir noch nicht angesehen.“
„Bauchverletzung“, bestätigte Phillips. „Unter anderem. Der Bastard hat sie regelrecht auseinandergenommen.“
Nachdem Lily die Handschuhe übergestreift hatte, drückte sie die Tür, die nur einen Spalt offen stand, weiter auf.
Therese lag auf dem Sofa. Das einmal blau gewesen war.
„Füße eintüten!“, rief O’Brien. Er kauerte mit dem Rücken zur Tür vor der Leiche. Eine Kollegin von der Spurensicherung kroch auf allen vieren mit einem Handstaubsauger durch die Kochnische.
„Habe ich schon!“
„Oh, Yu. Hallo Yu! Juhu!“ Er warf einen Blick über die Schulter.
Seine Begrüßung war noch unwitziger als sonst, aber das lag vielleicht daran, dass er in diesem Moment nicht sehr inspiriert war.
In der Tat: Der Bastard hatte sie regelrecht auseinandergenommen. Sie musste schon eine ganze Weile tot sein; um die zehn, zwölf Stunden. Das meiste Blut war getrocknet … aber es gab jede Menge davon.
Sie lag auf dem Rücken, mit zwei Kissen unter dem Kopf, der etwas nach links gedreht war. Die Kehle war ihr aufgerissen worden. Ein Arm hing an der Sofalehne herunter, die Finger berührten den Boden. Auch ein Teil ihrer Eingeweide hing auf den Boden herab. Sie sahen aus wie Hamburger-Hackfleisch, das längere Zeit unverpackt im Kühlschrank gelegen hatte: braun und vertrocknet an der Oberfläche, aber darunter schimmerten noch feuchte rote Stellen. Er hatte sie mehrfach in den Bauch gebissen und dabei unter anderem ihr Gedärm aufgerissen.
Von dem unerträglichen Geruch drehte sich ihr zwar der Magen um, aber was Lily wirklich zusetzte, war die Puppe. Therese hielt eine Babypuppe im Arm, und das Haar der Puppe war nicht mehr blond.
Lily betrat vorsichtig den Raum. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und schaute stirnrunzelnd auf den beigen Teppich. „Hier ist ja gar kein Blut.“
„Das liegt wohl daran, dass sie auf dem Sofa umgebracht wurde, nicht da vorn.“
„Aber so, wie er sie zugerichtet hat, muss er doch voller Blut gewesen sein. Es hätte von ihm heruntertropfen müssen, als er sich vom Sofa entfernt hat.“
O’Brien sah sie nachdenklich über die Schulter an. „Du hast recht. Verdammt, ich werde alt. Das hätte mir auch auffallen müssen. Er hat hinterher sauber gemacht. Mona hat etwas Blut an der Spüle in der Kochnische gefunden. Aber er hätte auf dem Weg dahin Spuren hinterlassen müssen.“ Er runzelte ratlos die Stirn. „Vielleicht bleibt Blut nicht an ihnen kleben, wenn sie sich verwandeln.“
„Warum hat er sich dann gewaschen?“ Sie trat näher. Keine Abwehrverletzungen an dem Arm, der über der Lehne hing. Anscheinend hatte er ihr zuerst in die Kehle gebissen, was erklären würde, warum niemand Schreie oder Kampfgeräusche gehört hatte. „Was hast du da?“
O’Brien zog mit der Pinzette etwas aus dem blutdurchweichten Teppich. „Haare. Von einem Wolf, würde ich sagen, aber das lassen wir im Labor überprüfen. Ein paar kleben auch an ihrer Hand, aber die meisten sind auf dem Boden. Sie hat ihm offenbar ein Büschel ausgerissen.“
Lily sah ihn skeptisch an. „Sie hat ihm ein Fellbüschel ausgerissen, während er ihr die Kehle herausgerissen hat?“
O’Brien zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihn reingelassen. Keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen oder einen Kampf, also war er vermutlich ein Kunde von ihr. Vielleicht hat sie ihn gekrault, während sie sich in Stimmung gebracht haben. Man hört doch immer wieder, dass es Frauen gibt, die es mit ihnen treiben wollen, wenn sie in Wolfsgestalt sind. Vielleicht stehen manche Wölfe ja auch darauf.“
„Sie hat nicht gearbeitet.“
„Wieso?“
„Von ihrem T-Shirt ist zwar nicht mehr viel übrig, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie es auch getragen hat, als ich mit ihr gesprochen habe. Das sind ihre Freizeitklamotten, kein Arbeitsoutfit.“
„Also war er kein Kunde, sondern ein Freund.“
„Möglich.“ Lily ging näher an das Sofa heran. Der blutdurchweichte Teppich schmatzte unter ihren Schuhen. „Was klebt denn da an ihrer Seite? Papier?“ Sie legte den Kopf schräg. „Sieht aus wie ein Stück von einer Anzeige. Könnte aus einem Hochglanzmagazin sein.“
„Bingo! Sie war ein Cosmo-Girl.“ O’Brien grinste flüchtig. „Den Rest davon habe ich schon eingetütet.“
„Sie hat also auf dem Sofa gelegen und die Cosmo gelesen und dabei ihren Wolfsfreund gekrault. Der plötzlich auf die Idee kam, ihr die Kehle und die Eingeweide herauszureißen – eigentlich so gut wie alles, bis auf ihr Gesicht. Ohne sich mit Blut zu beschmieren.“
„Sieh mich nicht so an! Meine Aufgabe ist es, Sachen am Tatort zu finden, sie ins Labor zu bringen und einen Bericht darüber zu verfassen. Du bist diejenige, die sich einen Reim darauf machen muss.“
Und das konnte sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. „Sieht nicht nach Messerstichen aus.“
„Überlegst du, ob jemand versucht hat, einen Wolfsangriff zu fingieren?“ O’Brien legte die Pinzette weg und verschloss sorgfältig die Beweismitteltüte. „Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich. Die Haut ist zerfetzt; Messerstiche sehen anders aus.“
„Aber warum hat er weitergemacht, nachdem er sie getötet hatte? Das war bei Fuentes nicht der Fall.“
„Fuentes wurde im Freien getötet. Hier in der Wohnung hatte der Mörder seine Ruhe und konnte ungestört tun, was er wollte.“
Lily schüttelte den Kopf. „Das sieht doch nach Hass aus. Er wollte sie nicht nur töten, er wollte sie in Fetzen reißen. Arme, Beine und Gesicht hat er allerdings unversehrt gelassen.“
„Vielleicht ist er ein Frauenhasser.“
Rule hatte gesagt, dass ein Lupus, der eine Frau tötete, als geistesgestört galt. Hatten sie es mit so etwas zu tun? Gab es vielleicht gar keine große Verschwörung, sondern nur einen einzelnen durchgeknallten Lupus? Der sich für seinen zweiten Mord zufällig ihre Zeugin ausgesucht hatte?
Lily sah sich um. Die Kollegin von der Spurensicherung war in dem winzigen Badezimmer verschwunden, und sie war mit O’Brien allein. „Ich muss mal kurz etwas überprüfen.“
„Okay.“ O’Brien erhob sich. „Ich beschrifte das hier schnell.“
Während er demonstrativ in die andere Richtung schaute, zog Lily einen Handschuh aus, atmete rasch durch den Mund ein, hielt die Luft an und berührte Thereses Schulter.
Die magischen Schwingungen schossen ihren Arm hoch. Sie zog sofort die Hand zurück, weil sie so intensiv waren – und weil sie noch etwas anderes gespürt hatte. Etwas Irritierendes, das sie nicht einzuordnen wusste. Sie biss sich auf die Lippen. Vielleicht lag es nur daran, dass diese Schwingungen stärker waren als alles, was sie jemals an Lupus-Magie gespürt hatte, doch irgendetwas war sonderbar. Sie musste es noch einmal versuchen, und das widerstrebte ihr merkwürdigerweise sehr.
Sie ging in die Knie und legte ihre Hand auf eine Stelle an Thereses Hüfte, wo das Blut trocken und die Haut intakt war. Und da war es wieder, dieses kratzige, unangenehme Gefühl, als griffe sie in Brennnesseln. Sie zwang sich, dem Gefühl aufmerksam nachzugehen, obwohl sie sich am liebsten sofort abgewendet hätte, körperlich wie geistig.
Was sie spürte, war nur ein vager Hauch von Lupus … und darunter lag etwas anderes. Etwas Intensives, Verstörendes, das sich falsch anfühlte.
Sie atmete erschaudernd aus und schüttelte die Hand, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben. Was war das? Magische Energie war an sich neutral; eine Kraft wie elektrischer Strom oder Feuer. Es gab unterschiedliche Ausprägungen, und man konnte Gutes oder Böses damit tun, aber Lily nahm nie die dahinterstehende Absicht oder so etwas wie eine moralisch-sittliche Ladung wahr, wenn sie Magie spürte. Sie registrierte nur die Energie selbst.
Zumindest war es bisher immer so gewesen.
Fühlte sich so das Böse an?
Sie erhob sich, zog ihren Handschuh wieder an und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie beunruhigt sie war. „Dann lasse ich sie jetzt wegbringen.“
„Habe nichts dagegen.“ O’Brien sah von seinen Beweismitteltüten auf und kniff die Augen zusammen. „Alles in Ordnung?“
Lily schüttelte den Kopf, nicht als Antwort, sondern um die Frage zurückzuweisen. „Unten wartet jemand, der sie sich ansehen soll“, sagte sie und ging zur Tür. Sie war gespannt, was Rule mit Hilfe seines Geruchssinns feststellen würde. Ob es sich irgendwie mit dem deckte, was sie gespürt hatte?
Sie gab den Leuten vom Rettungsdienst Bescheid, dass sie die Leiche holen konnten, und sah Phillips an. „Mitkommen“, sagte sie nur und ging die Treppe hinunter.
Sie musste darauf achten, dass Rule Abstand zu der Leiche hielt, wenn er sich verwandelt hatte, damit keine Haare von ihm auf ihr landeten. Nicht etwa, dass das Labor die verschiedenen Lupushaare auseinanderhalten konnte – die Magie machte vernünftige Testergebnisse in der Regel unmöglich –, aber ihre Vorgehensweise war höchst unkonventionell. Wenn der Strafverteidiger „Verunreinigung mit Fremdspuren“ schrie, musste sie in der Lage sein, diese Behauptung zu entkräften.
Was bedeutete, dass sie Zeugen brauchte, mindestens zwei. Phillips war Nummer eins. Als ehemaliges Mitglied der X-Einheit machte er sich sehr gut im Zeugenstand. Ihm konnte die Verteidigung wahrhaftig nicht vorwerfen, zu lupifreundlich zu sein. Und Nummer zwei …
„Heiliger Strohsack, was will der …“ Das war Mechs Stimme. „Zurück! Alle zurücktreten! Du da! Stehen bleiben! Keine Bewegung, oder ich schieße!“
Ihr erster Impuls war, sofort die Treppe hinunterzustürmen, doch sie wusste es besser: Wenn man in eine solche Situation hineinplatzte, hatte man gute Chancen, umgebracht zu werden oder zumindest einem Kollegen die Schusslinie zu verstellen.
Da sie nicht sehen konnte, was im Eingang los war, zog sie ihre Pistole und schlich auf Zehenspitzen bis zum Treppenabsatz. Phillips zog ebenfalls seine Waffe und folgte ihr.
„Ich dachte, ich werde erwartet.“
Rules Stimme. Lilys Herz schlug noch schneller. Sie ließ die Pistole sinken, lief rasch die letzten Stufen hinunter und um die Ecke in den Korridor – und sah Rule mit erhobenen Händen im Türrahmen stehen. Er schaute jemanden zu ihrer Rechten an.
Mech. Der mit seiner Glock auf ihn zielte. Der Uniformierte an der Tür hatte seine Pistole ebenfalls auf ihn gerichtet; er stand links hinter ihm. Und hinter Mech … Ginger Harris? Was zum Teufel machte die denn hier?
Lily steckte ihre Waffe wieder weg. Phillips hielt seine Waffe weiterhin auf ihn gerichtet. „Ich habe Ihnen doch gesagt, ich erwarte Turner“, sagte sie zu Gonzales.
„Ich habe ihn ja auch reingelassen. Aber als Ihr Sergeant seine Waffe zog, wollte ich ihm Rückendeckung geben.“ Gonzales war verwirrt. Die beiden anderen Cops, darunter sein Partner, hatten ihre Waffen immer noch im Anschlag, aber die leitende Beamtin nicht.
Lily drehte sich um. „Sergeant Meckle? Gibt es einen Grund dafür? Hat Turner jemanden bedroht?“
„Ich habe einen Haftbefehl gegen ihn.“ Mechs Augen funkelten. „So gut wie, jedenfalls. Er ist unterwegs. Der Spezialtransporter auch.“
„Sie haben einen Haftbefehl angefordert?“ Sie war fassungslos. „Bevor ich überhaupt am Tatort war, haben Sie einen Haftbefehl angefordert?“
„Sie waren nicht erreichbar.“ Mech ließ Rule nicht aus den Augen.
„Ich hatte mein Handy dabei. Ich hatte mein verdammtes Handy dabei!“
„Sie waren mit ihm unterwegs.“
„Na und?“ Sie baute sich vor ihrem Kollegen auf. „Waffe weg! Stecken Sie sofort Ihre Waffe weg!“
Er trat einen Schritt zur Seite, um Rule im Blick zu behalten. „Man hätte Ihnen nie die Leitung übertragen dürfen, aber dafür können Sie nichts. Doch Sie werden zur Verantwortung gezogen, wenn er uns durch die Lappen geht!“
Phillips schaltete sich ein. „Wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie aus der Schusslinie gehen, Detective. Sehen Sie sich seine Augen an!“
Lily drehte sich um.
Rule hatte sich nicht bewegt. Seine Miene war entspannt, ausdruckslos. Aber seine Augen waren schwarz, komplett schwarz, nur in den Winkeln waren noch kleine weiße Dreiecke zu sehen … wie bei einem Tier. Sie schluckte. „Alles in Ordnung?“
„Ich habe mich völlig unter Kontrolle.“ Seine sanfte Stimme passte nicht zu diesen Wolfsaugen. „Aber es wäre ganz gut, wenn Ihre Leute die Pistolen wegstecken könnten. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich mit der Waffe bedroht, aber ich werde mich nicht verwandeln. Das will er ja nur. Aber es regt mich auf“, erklärte er, und seine Stimme kam einem tiefen Knurren gleich. „Es regt mich auf, wenn jemand auf mich zielt.“
Bevor sie ihren Befehl wiederholen konnte, steckte Phillips seine Pistole ins Holster. Kurz darauf tat Gonzales es ihm nach.
„Was soll das denn?“, rief Mech. „Hören Sie etwa auf so einen?“
Phillips sah ihn kühl an. „Ich sage es Ihnen nur ungern, aber dieser Flur ist zu klein. Da nützen uns Schusswaffen nicht viel. Er ist uns zu nah. Wenn er uns wirklich fertigmachen will, dann sind wir eine leichte Beute.“
„Ich habe Spezialmunition geladen. Eine Kugel ins Gehirn …“
„Vielleicht schaffen Sie es, ihn außer Gefecht zu setzen, wenn Sie ihn mit dem ersten Schuss erwischen, vielleicht aber auch nicht. Sie reagieren alle unterschiedlich, und er ist ihr Prinz, also nehme ich mal an, er gehört zu den Harten. Ich würde ihn lieber nicht nervös machen.“
Lily sah Mech an, ohne etwas zu sagen. Sie sah ihn nur an.
Er ließ langsam die Hände sinken. Und noch langsamer steckte er schließlich seine Waffe weg. „Sie machen einen Fehler“, sagte er. „Einen großen Fehler.“
„Den habe ich längst gemacht. Mein Gott!“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie konnte ich den Captain nur darum bitten, dass er Sie mir zuteilt! Diese Sache wird ein Nachspiel haben.“ Sie sah Phillips an. „Und Sie haben auf ihn gezielt, obwohl Ihnen klar war, dass Sie ihm zu nah waren?“
Er seufzte. „Sie wissen doch, wie das ist. Man sieht, wie jemand seine Pistole zieht, und dann zieht man seine automatisch auch.“
Nein, dachte Lily. Er hatte es getan, um Rule ein Angriffsziel mehr zu geben – und seinen Kollegen damit eine größere Überlebenschance. Lily mochte Phillips nicht unbedingt, aber sie begann allmählich, ihn zu respektieren.
Mit einem Mal fühlte sie sich ganz zittrig: Das hätte ein hässliches Blutbad werden können. Adrenalinüberschuss, sagte sie zu sich. Einfach ignorieren!
Als sie sich kurz umsah, stellte sie fest, dass Ginger wieder verschwunden war. Gonzales hatte eine besorgte Miene aufgesetzt, Mech eine störrische und Rule … Seine Augen waren zwar noch nicht wieder normal, aber auf dem besten Weg dahin. Er lächelte sie schief an, als wolle er sie beruhigen.
Dabei war er derjenige, dem eine Festnahme wegen Mordes drohte – wegen eines Mordes, von dem sie wusste, dass er ihn nicht begangen hatte. Lily ging wütend auf Mech los. „Und jetzt erklären Sie mir bitte, Sergeant, warum Sie sich nicht an die Vorschriften gehalten haben und beinahe für einen Haufen Leichen gesorgt hätten! Oder ist das Ihre übliche Vorgehensweise bei der Vernehmung von Verdächtigen? Sie richten prophylaktisch die Waffe auf sie, ganz egal, wer sich in der Schusslinie befindet?“
„Das normale Verfahren ist bei denen da völlig aussichtslos. Ich konnte nicht das Risiko eingehen, dass er uns entkommt.“
„Ach ja? Und läuft er jetzt vielleicht weg, wenn keiner die Waffe mehr auf ihn richtet?“
Mechs Blick wanderte unstet von einem zum anderen. „Ich … vielleicht habe ich die Situation falsch eingeschätzt.“
„Tatsächlich?“ Lily sah ihn voller Verachtung an. „Nun, Sie haben sich noch mehr Fehler geleistet. Zum Beispiel, dass Sie einen Haftbefehl beantragt haben, ohne mit der Leiterin der Ermittlungen Rücksprache zu halten.“
„Ich habe mit dem Captain gesprochen, Madam.“ Aus dem angehängten „Madam“ sprach unverhohlener Sarkasmus.
„Tatsächlich? Dann haben Sie ihm bestimmt auch gesagt, dass ich nichts davon weiß, dass Sie den bösen Buben im Alleingang den Garaus machen wollen.“
„Ja, Madam.“ Nun schwang Genugtuung in seiner Stimme. „Das habe ich, allerdings mit anderen Worten. Er hat mir zugestimmt, dass die Beweislage die Beantragung eines Haftbefehls rechtfertigt.“
Und er hatte sie nicht informiert? Lily lief es kalt über den Rücken. War es also der Captain? War Randall derjenige, der dafür gesorgt hatte, dass Therese Martin sterben musste? Oder waren sie alle beide an der Sache beteiligt?
Allmählich werde ich wirklich paranoid, sagte sie zu sich. Das konnte passieren, wenn man sich zu viel mit Verschwörungen beschäftigte. „Sie werden mich als Leiterin der Ermittlungen auf der Stelle über die Beweislage in Kenntnis setzen. Erklären Sie mir vor allem, warum Turner die Zeugin töten sollte, die ihn entlastet!“
„Er hat sie dafür bezahlt. Ich habe einen Einzahlungsbeleg, der beweist, dass sie gleich nach dem Gespräch mit Ihnen zehntausend in bar auf ihr Konto eingezahlt hat. Danach muss sie ihm gedroht haben oder zu gierig geworden sein. Auf irgendeine Weise ist sie auf jeden Fall zu einer Belastung für ihn geworden. Ich habe auch eine Zeugin, die ihn zur Tatzeit hier am Tatort gesehen hat. Motiv und Gelegenheit hätten wir also. Und was das Tatmittel angeht – er ist ein Lupus. Er ist selbst das Mittel.“
„Sie waren ja unglaublich emsig. Und Glück hatten Sie offenbar auch noch, wenn man bedenkt, dass die Tote erst vor anderthalb Stunden gefunden wurde. Handelt es sich bei Ihrer Zeugin zufällig um Ginger Harris?“
Mech schaute in Rules Richtung, dann wieder zu Lily. „Ich müsste mal nach ihr sehen.“
„Tun Sie das.“
„Ich werde den Haftbefehl vollstrecken, sobald er mir vorliegt.“
„Davon bin ich überzeugt.“ Sie wandte sich angewidert ab. Es handelte sich eindeutig um ein abgekartetes Spiel, und Mech war daran beteiligt. Entweder war er korrupt oder er war so von Vorurteilen zerfressen, dass es auf das Gleiche hinauslief.
Und der Captain? War auch er korrupt? Wie sollte sie weitermachen, wenn sie dem Captain nicht mehr vertrauen konnte?
Sie drehte sich langsam um, weil sie das Gefühl hatte, mit Blicken durchbohrt zu werden. Rule stand genau da, wo er die ganze Zeit gestanden hatte, regungslos wie ein Raubtier, und beobachtete sie. Als sie sich in die Augen sahen, machte ihr Herz einen Sprung. Sogar hier, in dieser Situation, fühlte sie sich von ihm angezogen, als hätte er sie am Haken.
Einen kurzen Augenblick lang hasste sie ihn.
Aber das spielt überhaupt keine Rolle, dachte sie und schaute weg, als vor dem Haus der Stahlkasten auf Rädern vorfuhr, den sie Spezialtransporter nannten. Für die Ermittlungen spielte es nicht die geringste Rolle, ob sie Rule hasste oder mit ihm ins Bett stieg. Denn der Fall würde ihr schon bald entzogen werden.
Therese Martin war mit Hilfe von Magie getötet worden, nicht von einem Werwolf. Und Morde mit magischem Hintergrund fielen in die Zuständigkeit des Bundes. Diesen Fall musste sie wohl oder übel dem FBI überlassen.
15
„Was soll das heißen, wir werden es ihnen nicht sagen?“
Randall faltete die Hände auf dem Schreibtisch. „Was haben wir denn? Ihr Gefühl. Was kein Beweis ist. Und in Ihren Bericht können Sie das auch nicht schreiben.“
„Dann müssen wir sie wohl über meine Fähigkeiten aufklären“, sagte Lily steif. „Das gefällt mir zwar nicht, aber es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Wir sind nicht dazu verpflichtet, denen irgendetwas zu geben, das nicht in Ihren Berichten steht. Eine derart subjektive Information schon gar nicht. Moment!“ Er hob eine Hand. „Sie sind von der Richtigkeit Ihrer … äh … Eindrücke überzeugt. Aber Sie sagten selbst, mit Zauberei haben Sie bisher keine Erfahrung. Sie wissen also überhaupt nicht, was Sie da genau gespürt haben.“
„Aber es ist doch nur allzu offensichtlich!“, erwiderte sie. „Auch wenn man die subjektiven Informationen außer Acht lässt! Die ganze Sache war fingiert. Es gab nur Blutspuren in unmittelbarer Nähe der Leiche und an der Spüle, damit wir denken, er habe sich gewaschen. Der Einzahlungsbeleg, den Mech gefunden hat – da gibt es nicht die geringste Verbindung zu Turner. Jeder hätte ihr das Geld geben können. Und dann die Wolfshaare! Sie hätte ihm so ein Büschel gar nicht ausreißen können. Es wurde mit Absicht dort hingetan.“
„Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?“ Er war eindeutig verärgert. „Mech meinte, Sie seien befangen, völlig hingerissen von diesem Lupusprinzen. Ich wollte ihm nicht glauben, aber …“
„Mech ist voreingenommen! Er hasst Lupi. Das war mir gar nicht bewusst, aber am Tatort war es ihm deutlich anzumerken.“
Randall schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Und Sie verdächtigen lieber einen Kollegen als einen Werwolf! Sie gehen von einer Verschwörung aus und unterstellen obendrein jemandem von unserer Behörde, daran beteiligt zu sein. Und Sie stellen die These auf, dass dieser Mord aus der Ferne begangen wurde, mit Hilfe von Zauberei, aber das ist schlichtweg unmöglich!“
„Es hat schon solche Fälle gegeben. Früher …“
„Vor dieser Säuberung! Das war vor vierhundert Jahren!“ Er beugte sich vor. „Damit das klar ist: Ich werde nicht zulassen, dass zwei profilierungssüchtige FBI-Agenten in dieser Behörde auf Hexenjagd gehen! Denn genau das würde passieren. Sie würden aus jedem Einzelnen einen Verdächtigen machen – sogar aus mir. Aber so weit können Sie mit Ihrem verschwörungsgebeutelten Hirn wohl nicht denken?“
„Doch, Sir, durchaus“, entgegnete sie hölzern. „Aber obwohl es auch einer der FBI-Agenten gewesen sein könnte, ist es doch wahrscheinlicher, dass ein Kollege Thereses Mörder einen Tipp gegeben hat.“
Randall kniff die Lippen zusammen. „Raus mit Ihnen!“
„Sir …“
„Raus!“ Er sah sie wütend an. „Ich ziehe Sie nicht von dem Fall ab, aber ich bin dicht davor. Verschwinden Sie, und sehen Sie zu, dass Sie wieder einen klaren Kopf bekommen!“
Lily ging noch kurz in ihr Büro, um das FBI-Dossier und ein paar Berichte in ihre Tasche zu packen, dann eilte sie zum Aufzug.
„Nicht so schnell!“, rief Brady ihr hinterher. „Was ist das für eine Geschichte mit dir und Mech?“
Sie ging einfach weiter. „Mein Bericht ist in der Akte. Wenn du wissen willst, was los war, dann lies ihn.“
Brady sah sie missbilligend an. „Warum machst du ihm denn nur so einen Ärger? Er ist nicht fremdgegangen. Mech doch nicht!“
T.J. schüttelte den Kopf. „Hast du bei allem immer nur Sex im Kopf? Versuch mal, an etwas anderes zu denken, Mann! Auch wenn es dir schwerfällt. Lily …“
Sie blieb stehen und sah ihn an.
„Pass auf dich auf, ja?“
Lily lächelte matt. „Bis dann!“
Wenigstens hasst T. J. mich nicht, dachte sie, als sie ihre Tasche auf den Rücksitz ihres Autos warf. Noch nicht. Wenn sie allerdings ihren Weg fortsetzte, gegen den Befehl des Captains … Aber Captain Randall irrte sich einfach.
Entweder das oder er war korrupt. Das fiel ihr zwar schwer zu glauben, aber eindeutig von der Hand zu weisen war es auch nicht. Er hatte seine Gründe für das, was er getan hatte – keine guten ihrer Meinung nach. Aber nachvollziehbare.
Sie fuhr rückwärts aus der Parklücke, riss das Lenkrad herum, schaltete und gab Gas, dass die Reifen quietschten. In einem Punkt hatte der Captain recht. Sie brauchte dringend einen klaren Kopf.
Eine Viertelstunde später knallte sie die Autotür zu, ging den Weg zum Haus ihrer Großmutter hoch und drückte auf die Klingel.
„Lily!“ Li Qin lächelte. „Wie schön, dich wiederzusehen. Bitte komm doch herein!“
Lily schüttelte den Kopf. „Heute nicht, vielen Dank. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich da bin und eine Weile im Garten arbeite.“
„Natürlich“, sagte Li Qin, als käme Lily häufig mitten an einem Werktag vorbei, um Unkraut zu jäten. „Darf ich dir vielleicht eine kleine Erfrischung bringen? Einen Tee oder lieber etwas Kaltes?“
„Später vielleicht. Ich bin gerade etwas ungesellig.“ Sie schaffte es noch, sich höflich zu verabschieden, und dann rannte sie auch schon über den Plattenweg hinter das Haus, wo der Geräteschuppen stand.
Fünf Minuten später war sie bereits auf der westlichen Seite des Hauses mit den einheimischen Gewächsen beschäftigt und hackte unerwünschte Eindringlinge aus. In dem Halbschatten unter den schaukelnden Ästen der großen Blaueiche fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Ein kräftiger Westwind fegte durch den Garten. Lily kniete auf der Erde, und es war ihr völlig egal, was sie ihrer teuren Leinenhose damit antat. Sie rammte den Handspaten in den trockenen Boden, lockerte die Wurzeln unter einem Grasbüschel und riss es aus.
Vor zwanzig Jahren, als Sarah Harris umgekommen war, hatte die Großmutter sie zu einem Beet in ihrem Garten geführt und ihr den Auftrag erteilt, es komplett zu entkrauten. Damals hatte sie so viel Angst und Hass in sich gehabt. Die Therapie hatte nicht viel genützt. Wie sollte ein Therapeut einem Kind helfen, das nicht reden wollte?
Die Erde und die Sonne und das Unkraut hatten geschafft, was Worte nicht vermochten. Lily hatte gehackt und gerupft und gehackt und gerupft. Irgendwann war alles Unkraut weg, und sie hatte gesät und gepflanzt. Eines Tages hatte es in ihrem Beet geblüht. Und sie hatte gelernt, dass das Leben weitergeht. Die einen lebten, die anderen starben, aber das Leben ging weiter.
Lily hatte danach noch viele weitere Beete angelegt. Gartenplanung machte Spaß. Pflanzarbeiten waren äußerst befriedigend, und dabei zuzusehen, wie ein Garten zum Leben erwachte, erfüllte sie so sehr wie nichts anderes. Aber manchmal musste sie einfach hacken und rupfen und hacken und rupfen.
Captain Randall hatte behauptet, er habe sie nicht informiert, weil sie mit Rule unterwegs gewesen war. Er habe Angst gehabt, dass sie Rule ungewollt einen Wink geben und damit sich selbst und die geplante Festnahme gefährden könnte. Mech hatte es ihr sagen sollen, sobald sie am Tatort erschienen war, aber er war mit seiner Zeugin beschäftigt gewesen. Mit Ginger Harris.
Die gelogen haben musste. Aber warum?
Lily schüttelte den Kopf. Mit dieser Frage würde sie sich später beschäftigen.
Randalls Befürchtungen wären weniger beleidigend gewesen, dachte sie und rammte den Handspaten wieder in die Erde, wenn er gewusst hätte, dass Lupi hören konnten, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde, wenn man in ihrer Nähe telefonierte. Aber das wusste er nicht. Er hatte befürchtet, dass Rule ihre Angst riechen würde. Er hatte ihr nicht zugetraut, dass sie einen plötzlichen Anfall von Nervosität überspielen konnte.
Oder er hatte gelogen.
Kann sein, dass ich in Rules Nähe wirklich Angst habe, dachte Lily und riss eine besonders hartnäckige Sterndistel aus. Aber nicht aus dem Grund, den der Captain vermutete. Rule hatte Therese nicht getötet – obwohl sie bis dahin noch niemanden davon hatte überzeugen können. Ihr Wort genügte natürlich nicht.
Der Captain hatte Mech eine disziplinarische Verwarnung erteilt, allerdings nicht wegen der voreiligen Beantragung des Haftbefehls, sondern weil er die Festnahme nicht korrekt durchgeführt hatte.
Die meisten Polizeibeamten hatten keine Erfahrung mit der Festnahme von Lupi. In Kalifornien waren sie nicht verhaftet worden. Sie waren von den X-Einheiten gejagt und dann eingefangen oder getötet worden. Aber alle waren über die korrekte Vorgehensweise bei der Festnahme eines Lupus informiert worden, und Mech hatte sich nicht an die Vorschriften gehalten. Die Geschichte hätte mit dem Tod mehrerer Beamter enden können.
Stattdessen hatte sie damit geendet, dass Rule in Handschellen abgeführt worden war.
Lily brannten die Augen. Vor Wut? Oder kamen ihr die Tränen? Man hatte ihn in einen Käfig eingesperrt wie ein wildes Tier – anders konnte man es nicht sagen. Städte von der Größe San Diegos verfügten über separate Einrichtungen für Andersblütige. Es war zu gefährlich, sie mit gewöhnlichen Häftlingen zusammenzulegen, und es waren besondere Vorkehrungen nötig, damit sie nicht ausbrechen konnten.
Rule war nun in eine von den zweimal zwei Meter großen Stahlboxen eingesperrt, die für Lupi und andere seltenere übernatürliche Wesen vorgesehen waren. Ihre Großmutter hatte gesagt, Lupi seien klaustrophobisch und dass sie durchdrehten, wenn man sie einsperrte. Und diese Zellen waren so verdammt klein …
Lily erschauderte und stach das nächste Grasbüschel aus. Sie wusste, was für ein Horror es war, auf engstem Raum gefangen zu sein.
Kein Richter würde einen Lupus gegen Kaution freilassen, der des Mordes angeklagt war. Rule musste in dem Metallkäfig hocken, bis sie beweisen konnte, dass jemand anderer Therese getötet hatte.
Und das würde sie beweisen. Irgendwie.
Also dann, dachte sie, richtete sich auf und betrachtete ihr Schlachtfeld, das mit Gras- und Unkrautleichen übersät war. Genug gebrütet! Jetzt zurück zu den Tatsachen und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Sie musste sich darüber klar werden, was in dieser Situation das Richtige war und was auf dem Spiel stand. Und dann musste sie eine Entscheidung treffen.
Sie begann vorsichtiger zu graben. Zwischen den Gauklerblumen hatten sich diverse Unkräuter angesiedelt. Sie lockerte den Boden und rupfte einen Sämling nach dem anderen aus.
Tatsache war, Captain Randall wollte dem FBI nicht sagen, dass der Mord einen magischen Hintergrund hatte. Dafür gab es drei mögliche Erklärungen. Erstens: Er glaubte ihr ganz einfach nicht. Vielleicht dachte er, sie habe gelogen, oder er dachte, sie irre sich. Vielleicht fiel es ihm auch schwer, an etwas zu glauben, das er selbst nicht wahrnehmen konnte.
Das war sehr gut möglich, überlegte sie und nahm sich als Nächstes den Boden um die Bärentraube vor. Die Leute wussten, dass Werwölfe, Gnome und ihresgleichen magische Kräfte hatten, aber trotzdem hielten manche an Behauptungen wie der fest, dass Wicca nur eine Religion sei und nichts mit Magie zu tun habe. Genau wie diejenigen, die immer noch glaubten, die Erde sei eine Scheibe, verschlossen sie sich der Realität und leugneten, was sie sich nicht erklären konnten.
Der Captain beharrte darauf, dass es keine Zauberei mehr gab. Dieser Meinung waren zwar auch einige Experten, aber Randalls Ansicht schien eher im Emotionalen als im Rationalen begründet zu sein. Vielleicht wollte er so viel Magie einfach nicht wahrhaben.
Okay. Möglichkeit Nummer zwei: Randall wusste, dass sie recht hatte, aber er wollte nicht, dass sich seine Abteilung ein blaues Auge einfing, und war bereit, Mech zu decken.
Diese Vorstellung gefiel ihr nicht. Sie kannte den Captain, und ein solches Verhalten passte nicht zu ihm, aber möglich war es trotzdem. Randall war ehrgeizig. Er konnte Croft und Karonski nicht leiden; er wollte den Fall nicht an sie abgeben, und vor allem wollte er nicht, dass jemand Beweise dafür fand, dass einer seiner Beamten korrupt war.
Nun, das wollte sie auch nicht. Lily knöpfte sich das Unkraut vor, das unter den Blättern des Busches versteckt war. Aber jemanden zu decken kam gar nicht in Frage.
Möglichkeit drei: Randall war selbst korrupt. Er wusste, dass sie in Bezug auf den Mord recht hatte, und er wusste auch, wer Therese umgebracht hatte und warum. Und wenn das tatsächlich stimmte, dann war sie in Gefahr. Er würde sie diskreditieren müssen … oder töten.
Was auch für Mech galt, falls er der Korrupte in der Runde war.
Ihr trat vor Entsetzen der kalte Schweiß auf die Stirn. Nicht, weil ihr Gefahr drohte, sondern weil diese Gefahr von einem anderen Cop ausging.
Sie hatte es als Frau nicht immer leicht in diesem Job gehabt. Dass sie klein, zierlich und chinesischer Abstammung war, hatte ihr auch nicht gerade geholfen. Aber sie hatte sich durchgeboxt und behauptet. Sie gehörte jetzt dazu.
Doch der Preis für das Dazugehören war gerade gestiegen. Wenn sie dabeibleiben wollte, musste sie sich an die Regeln halten – an die geschriebenen und die ungeschriebenen.
War sie nicht immer gut im Befolgen von Regeln gewesen? Doch diesmal, dachte sie, als sie die nächste Sterndistel ausstach, lief es darauf hinaus, dass sie sich nicht an alle Regeln halten konnte. Sie wusste, dass Therese mit Hilfe von Magie getötet worden war und man den Falschen eingesperrt hatte. Aber sie konnte ihr Wissen nicht an das FBI weitergeben, und am besten verlor sie auch anderweitig kein Wort darüber. Um den Fall zu behalten, musste sie so tun, als gäbe es keinen Verräter in den eigenen Reihen. Sie musste so tun, als folge sie der vom Captain vorgegebenen Linie.
Das war das Vernünftigste, oder? Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie konnte mehr für Rule tun, wenn sie blieb, wo sie war, und nicht im Alleingang einen Kreuzzug im Namen der Wahrheit und der Gerechtigkeit startete. Wie weit konnte sie schon kommen, wenn sie die Macht des Gesetzes nicht auf ihrer Seite hatte?
Und wie weit würde sie kommen, wenn ihr die Macht des Gesetzes in den Rücken fiel?
Wenigstens einer der Männer, die geschworen hatten, das Gesetz zu achten und zu wahren, war dabei, es zu untergraben. Mech, Captain Randall, die FBI-Agenten Croft, Karonski. Sie kannte ihren Feind noch nicht – aber er kannte sie.
Rule war in einer Box eingepfercht – wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte. Der ihm von einem Cop angehängt worden war.
Lily erhob sich. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht, und sie schaute in die Richtung, aus der er kam. Im Westen, draußen über dem Meer, türmten sich dicke Wolken auf. Vielleicht regnete es schon bald. Die Natur konnte es gebrauchen.
Langsam zog sie ihre Gartenhandschuhe aus. Eigentlich räumte sie nach dem Jäten immer alles weg, aber nun warf sie nur einen Blick auf das Durcheinander und kümmerte sich nicht weiter darum. Sollte doch der Wind Ordnung schaffen!
Sie ging rasch zu ihrem Wagen. Ihr Handy lag im Handschuhfach. Sie musste telefonieren. Und dann zurück ins Büro.