Kapitel 9

Drei Schritte vor und zwei zurück

- Ulla Meinecke -

»Ich geh mich nicht waschen«, erklärte Nele. Ausgeschlafen und putzmunter saß sie in ihrem Schlafsack. »Mir ist es viel zu kalt und voll da draußen.«

Schon nach dem Zeltaufbau hatten wir uns sogar die kleine Katzenwäsche gespart, weil sich vor den drei Duschkabinen des Campingplatzes drei Schlangen von Frauen gebildet hatten, die bewaffnet mit Handtüchern und Waschbeuteln nervös anstanden. Meine campenden Kollegen berichteten mir immer von feudalen Duschanlagen, aber wir waren offenbar in einem Zwergenland gelandet, denn die Waschbecken, Toiletten und Geschirrwaschbecken waren alle derartig niedrig, dass sich bei mir Rückenschmerzen einstellten, wenn ich nur aus dem Zelt in Richtung Waschräume linste. Außerdem fallen einem im Regenwetterstress sehr häufig Waschbeutel und Handtuch aus der Hand, vorzugsweise dort, wo die Pfützen am größten sind. Vertrauensvolle Camper setzen da lieber auf den Wettergott und hoffen, dass der Himmel über Tag aufreißt und sich der Stau vor den Becken regelt. Natürlich sind dann die Waschbuden aber auch wieder voll – also ein ewiger Kreislauf, dem man sich nur entziehen kann, wenn man die Hygiene reduziert.

»Haben wir Trockenshampoo dabei?«, erkundigte ich mich zaghaft und fügte vorsichtshalber gleich hinzu: »Das gab es auch schon in den 80ern. In kleinen blauen Dosen mit weißem Deckel. Ich erinnere mich genau!«

Aber an diese hilfreiche Erfindung hatten die Mädels leider nicht gedacht. »Du kannst Kernseife haben und Essig als Spülung«, bot Nele an.

»Oder wir spendieren dir ein Ei«, schlug Renate vor, »das macht die Haare ganz besonders glänzend und geschmeidig.« Damit handelte sie sich gleich kritische Blicke von Nele ein. Wahrscheinlich war ein Ei zu teuer für uns, vor allem wenn man es sich bloß in die Haare schmieren wollte. Aber Neles Sorge war unbegründet, denn an meine Haare kam kein Ei, es sei denn, es war bereits chemisch in einem Shampoo zubereitet. »Dann nimm halt Joghurt«, erklärte Renate pragmatisch und begann auch schon, im Schlafsack zu suchen und zu fummeln. »Der passt sicherlich auch für eine Kur!«

Fips nahm die Bewegungen im Zelt zum Anlass, seinen Kopf neugierig zu heben, und robbte wie ein Maulwurf von seinem Platz zu uns heran. Schmusend legte er sich zu Nele und ließ sich zart die Ohren kraulen. Auch er wirkte nicht gerade so, als ob er in Gassi-Laune wäre.

»Uuuaaahhhh«, stöhnte ich laut und rollte mich von der Seite auf den Rücken. »Es kann doch nicht euer Ernst sein, dass wir hier die ganze Zeit einfach liegen und warten?«

Ich konnte nicht dauerhaft so untätig herumsitzen, also schlug ich den beiden vor, dass ich den Platzwart noch einmal nach Gritli fragte. »Irgendwie muss die doch zu erreichen sein.« Ich suchte nach Socken, und dabei verfing sich ein herumliegender Ohrring an einem Zeh. »Wir leben doch nicht im Mittelalter!« Der Ohrring erinnerte an Keltengräber. Draußen jaulte ein Hund, und auch wenn es unfassbar war, die Vögel sangen trotz des schlechten Wetters und meiner miesen Stimmung weiter. Mühsam schwatzte ich Nele ein paar Franken aus der Reisekasse ab, vielleicht gab es bei der Rezeption ja außer Informationen auch noch ein frisches Brot und eine Schweizer Schokolade für uns. Schokolade kann Seelen kitten, und die Schweizer Schokolade soll da ganz besonders unterstützend sein, weil sie nicht nur Milch von glücklichen Kühen enthält, sondern auch Spuren von Bergen, Seen und Butterblumen. Wenn es hier schon nicht viel gab, Schokolade würde der Kiosk haben. Ich nahm mir darüber hinaus fest vor, dem Platzwart klarzumachen, dass wir nicht zum Spaß im Matsch saßen, sondern mit dem Hundeschmuggel ein gutes Werk vollbracht hatten. Das musste auch dieser Brummbär wissen. Gritli war nicht da, wir waren daher dazu gezwungen, ihren Hund zu hüten, und es konnte ja nicht sein, dass wir dafür auch noch zahlen sollten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte man uns an der Grenze mit dem geschmuggelten Hund erwischt. Das musste doch selbst ein Schweizer Dickschädel kapieren.

Siegessicher machte ich mich auf den Weg. Wo ich auch hinsah, entdeckte ich Schilder mit Ge- und Verboten aller Art:

»Es besteht die Pflicht zur Mülltrennung (gelbe Säcke sind beim Platzwart erhältlich). Hunde müssen an der Leine geführt werden. Vom Hund verursachte Verunreinigungen sind umgehend vom Hundehalter zu beseitigen. Innerhalb der Ruhezeiten ist es verboten, Fahrzeuge auf dem Gelände zu bewegen (von 13.00 bis 15.00 und von 21.30 bis 8.00 Uhr)! Im Interesse aller Gäste ist auch laute Unterhaltung in diesen Zeiten zu vermeiden. Eine Beschallung des Geländes aus Fahrzeugen und mittels Musikanlagen ist grundsätzlich untersagt. Zuwiderhandlungen werden mit Entfernung der Lärmquelle vom Campingplatz geahndet.«

Mit einem energischen »Grüezi« betrat ich tapfer die Rezeption und wurde sofort von einer Putzfrau säuerlich darauf hingewiesen, dass es regnete und ich meine Plastikjacke auszuziehen hatte. Da es beim Verhandeln immer gut ist, erst einmal nachzugeben, um später ein Zugeständnis zu entlocken, zog ich folgsam die Jacke aus. Die Neonröhre tauchte den Raum in ihr kränkliches Licht, und unheilvolle dunkle Wolken zogen an den Fensterscheiben vorbei. Aus einem alten Transistorradio, das gut in unser Zelt gepasst hätte, dudelte Volksmusik. Der Herr des Platzes starrte konzentriert auf seinen Computerbildschirm. Er trug ein graues Filzkäppi mit Anstecknadeln, wie sie in Souvenirläden erhältlich sind. Sicher waren eine Gondel und ein Edelweiß dabei. Ein kleines Alphorn stand auf seinem Schreibtisch und diente ihm als Stifthalter.

»Was ist?«, brummte er.

»Es ist so«, begann ich überrascht, dass er mich überhaupt bemerkt hatte, »wir haben hier ein gutes Werk vollbracht, und ich bin mir nicht sicher, ob Sie das zu schätzen wissen.«

Und ohne Punkt und Komma zählte ich ihm auf, was wir bislang erlebt hatten. Ich fing mit dem Weihnachtsfest und meinem Tagebuch an, berichtete von der Geburtstagfeier, von der Reiseroute und von Marco mit dem Blumenkranz, wie Fuchur abends auf der Wiese lag, von dem Schäfer und dem Rotkreuzladen, von Sonja und dem Sigma-Telefon, von Fips, der Grenze, dem Regen und der Niveadose. Atemlos fragte ich dann, ob sich seine Greta wohl endlich gemeldet habe. Um gleich meine Idee ins Spiel zu bringen, und das war das Campieren zu einem vernünftigen Preis – am besten gratis. »Denn«, holte ich noch mal Luft, »schließlich wissen wir ja nicht, wann die Dame endlich kommt.«

Ein kurzer Moment der Stille entstand, nur untermalt von Radiomusik und meinem schweren Atem. Kurz bildete ich mir ein, das Schweigen des Platzwartes würde Zustimmung bedeuten. Das war mir in der Vergangenheit schon öfter passiert, wenn ich mich erklären wollte. Dann stand ich da, redete und machte, und ab einem gewissen Punkt kam ich zu dem Schluss, prima, der Groschen ist gefallen, jetzt ist wohl alles klar, als Reaktion wurde aber nur ein »Spinnst du eigentlich?« rausgeprustet. Wie gewesen, so auch jetzt.

»Sie spinnen wohl – umsonst?«, schleuderte mir der Platzwart sein Unverständnis entgegen. Kleine Speicheltropfen flogen mir um die Ohren, und die Putzfrau sagte nichts. Seine Augen wanderten an mir herauf, herab und blieben angewidert auf dem gestickten Yin-und-Yang-Zeichen auf meinem Shirt hängen. Er baute sich förmlich vor mir auf.

»Aber wir sind doch gezwungen zu warten, wegen dem Hund, der Gritli gehört, oder Greta, oder wie auch immer sie heißt.«

»Wegen des Hundes, heißt das!«, erklärte er mir in plötzlichem Hochdeutsch. Und jetzt fiel mir ein, an wen er mich die ganze Zeit erinnerte. An Emil Steinberger, nur etwas dicker war er, aber er hörte sich genauso an. Grautier – das hat vier Buchstaben und fängt mit einem E an, dann fehlt einer, und dann geht’s mit EL weiter, ich grinste vor mich hin. Urs, wie auf dem Namenskärtchen auf dem Tresen stand, wackelte vor mir hin und her. Endlich konnte ich das Anstecknadel-Alpenglühen auf seinem Käppi deutlicher erkennen. Wie geahnt, vor allem Gondeln, Gämsen und Edelweiß.

»Was heißt hier gezwungen? Ich zwing hier niemanden. Wir sind doch kein Obdachlosenasyl!«

Das hatte Renate schon befürchtet, denn wenn es um ihre Stutz geht, dann haben die Schweizer nicht viel Mitgefühl.

»Und die Greta, die ist krank, die hat angerufen. Entweder ihr zahlt, oder ihr könnt mit eurer Kommune weiterziehen. Ich habe Ihnen einen guten Platz gegeben, zu einem guten Preis, aber den kann ich nicht auf ewig halten. Wenn Sie länger als morgen bleiben, dann berechne ich den regulären Preis, und das Auto zählt dann auch noch mal ganz anders mit.«

»Bis übermorgen«, warf ich nun doch etwas eingeschüchtert ein, weil die Verhandlungen eine Wendung nahmen, die mir gar nicht gut gefiel. »Gestern haben Sie von überübermorgen gesprochen, was ja von heute aus gesehen übermorgen ist und nicht morgen, wie Sie gerade eben sagten. Unsere Abmachung bezog sich …«

»Jetzt hört es aber auf«, fiel er mir laut ins Wort. »Schauen Sie mal raus«, er zeigte wütend auf den Platz. »Das ist ein Scheißwetter, und ich bin um jeden Franken froh. Entweder ihr zahlt, oder ihr haut ab. Da!«, er trommelte außer sich auf die Glasplatte des Tresens, unter der sich eine Landkarte der Region Vierwaldstättersee befand. »Da sind überall noch andere Campingplätze, und eine Gritli gibt’s da sicher auch. Leck mich am Ärmel!«, schimpfte er und ging zurück zu seinem Stuhl. »Will die Alte mit mir feilschen, ja, ich glaub’s ja nicht.« Die Verhandlungen waren für ihn beendet, und er wandte sich wieder seinem Computer zu.

Trr … trr … wo ist jetzt das Messerli – ich habe doch da ein Messerli gehabt, ich habe doch da ein Messerli hier gehabt, hörte ich den Emil in mir schimpfen und ließ die Schokolade liegen, die er zum Kauf anbot. Schöne Bilder waren darauf abgebildet, die vor Sonne, Enzian und Schneegipfeln nur so glänzten. Wir hatten nichts von alledem. Nicht mal gewonnen hatte ich, dabei hatte ich im Verhandlungscoaching für Frauen mit meinen Argumenten so geglänzt. Jetzt, im Urlaub, ging ich vor einem Platzwart rhetorisch in die Knie.

»Erinnert ihr euch noch, wie es damals in Bordeaux so geregnet hat?«, fragte Nele, nachdem ich bei einem Becher Tee von meinen Erlebnissen in der Rezeption berichtet hatte.

»Das war furchtbar. Der Regen wollte überhaupt nicht mehr aufhören«, sagte ich düster.

»Meine Güte, waren das Schlammlawinen, die wir in das Zelt schleppten«, spazierte nun auch Renate in der Vergangenheit herum, und als hätten Fips die Gedanken von Dreck und Schlamm motiviert, sprang er mit einem Mal nach draußen und wälzte sich genüsslich jaulend in einer Wasserpfütze. »Es war der blanke Horror.«

Wir schwiegen eine Weile, und jede hing ihren eigenen Erinnerungen an die guten alten Zeiten nach. Der Sekundenzeiger kroch nur so dahin. Ich spürte den Zeltkoller wieder in mir hochsteigen. Das war kein Urlaub, das war eine Strafkolonie.

»Hört mal!«, forderte ich Renate und Nele auf, und wir lauschten gemeinsam nach draußen. »Totenstille!«

Auf dem Zeltplatz war es mucksmäuschenstill, kein fröhliches Lachen, kein Zeichen von Leben, nur die Musik des Regens und das Geräusch des Windes, der die hohen Pappeln zauste. Ich vernahm Schritte im Schlamm und gequältes Stöhnen aus anderen Zelten, weil es einfach zum Kotzen ist, in einem Zelt zu liegen und nur darauf zu warten, dass endlich die Sonne wieder scheint. Irgendwann reichte es mir, denn herumzugammeln und in Gedanken ganz woanders zu sein würde unsere Probleme nicht lösen.

»Also Mädels, was machen wir mit Fips, wenn Gritli nicht auftaucht? Wir brauchen einen Plan«, sagte ich entschlossen. Ich legte die Bücher zur Seite, die Nele mir hingeschoben hatte, und nahm einen alternativen Schneidersitz ein. An meinem rechten Ohr hörte ich die Friedenstaube turteln. »Wir sollten nicht einfach abwarten, nicht nur reagieren, sondern agieren«, schob ich nach. Und: »Möglicherweise sitzen und warten wir im falschen Luzern, das könnte ich überprüfen.«

Nele blickte sofort auf. Mit dem »falschen Luzern«, hatte ich ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Innerlich zerrissen schielte sie zum Auto hin, weil dort zwar der Atlas war, sie aber den beschwerlichen Weg durch den Matsch nicht auf sich nehmen wollte.

»O.k.«, raffte sich Renate auf. »Ich habe euch noch nicht von dem Müllmann erzählt, oder?« Sie drehte sich eine Zigarette. Nele und ich schauten sie verwundert an, und ich wollte sie schon auffordern, doch bitte beim Thema zu bleiben, als Renate fortfuhr: »Da war so ein Müllmann heute Morgen, als ich zum Klohaus gegangen bin, und wir haben kurz geplaudert. Er hat mir erzählt, dass hier schon mal jemand einen Hund für eine Gritli abgeben wollte. Er konnte sich aber nicht erinnern, ob diese Greta gemeint war oder nicht.«

»Was?«, erschrak Nele. Sie blickte mich entgeistert an. Ich zuckte mit den Achseln und hob die Hände über den Kopf, was so viel hieß wie: Ich war damit so und so noch nie einverstanden. »Kann es sein, dass wir uns in Sonja getäuscht haben?« Nele heulte fast. »Sie war doch so nett. Eine echte Schwester. Vielleicht ist es doch nicht Tee, sondern Haschisch, was sie raucht. Vielleicht war Gritli nichts anderes als eine Halluzination.«

»Du meinst, Sonja war im Drogenrausch?«, spitzte ich die Befürchtungen noch ein bisschen zu.

»Also, Drogenrausch ist ja wohl ein bisschen überzogen«, wies mich Renate zurecht. »Vielleicht war sie ein wenig …«

»… stoned?«

Was auch nichts anderes als bekifft oder breit bedeutete. Dass man im Zustand drogenbedingter Breite allerlei wahrnimmt oder sieht, war ein Phänomen, das wir aus längst vergangenen Lagerfeuernächten kannten. Dann etwa, wenn unser Freund Zappa, der nach Frank Zappa benannt worden war, Kartoffeln zum Rösten ins Feuer warf und sich bald darauf vor Lachen bog, weil sich die Krumbeeren im Feuer angeblich in lustige Farben und zu Fratzen veränderten, während The dark side of the moon aus irgendeinem Autolautsprecher lausig plärrte. Die von uns, die damals noch mehr zugedröhnt waren, lagen mit Zappa im Gras und starrten in den Himmel, weil dort fliegende Hunde und tanzende Katzen unterwegs zu sein schienen.

Insofern konnten Fips und Gritli schon die Ausgeburt eines zu heftig inhalierten Joints gewesen sein. Dass alles jedoch mehrfach passiert sein sollte, machte das Ganze systemverdächtig.

»Ich finde, dass wir einfach abwarten sollten. Ich vertraue Sonja, solange nichts gegen sie spricht«, entschied Nele und zündete ein Sandelholz-Räucherstäbchen an, dem die Gabe zugeschrieben wurde, Energien zu klären.

»Die zwei Nächte sind ja auch schon bezahlt, und es regnet sowieso, da können wir auch noch hierbleiben«, pflichtete Renate ihr bei. Ich hielt die Luft an. Wie konnten die beiden nur so gelassen bleiben? Nur zu gerne hätte ich recherchiert, was es mit Sonja und ihren Hunden auf sich hatte. Aber ich konnte ja nicht, ohne Internet.

»Wie? Hier weiter in diesem Morast hocken? Mit Dauerwurst, Ölsardinen aus der Büchse und Knäckebrot?« Und als weiteren Belag Langeweile und Tage, die sich hinzogen wie Kochkäse.

»Solange es nicht reinregnet!« Nele ignorierte mich und atmete tiefgläubig den Sandelholzgeruch ein.

»Und was machen wir mit Fips, wenn es diese Gritli nicht gibt?«, versuchte ich auf der sachlichen Ebene weiterzukommen.

Fips hob den Kopf, grunzte kurz. Wenn es diese Gritli nicht gab, dann standen uns weitere Grenzübergänge bevor, mit einem Fips, der nicht in den Rucksack wollte.

Noch ehe ich weiterfragen konnte, stieß eine Windböe in das Zelt, und wir hörten, wie unsere Nachbarn trotz des Regens nach draußen sprangen, um Stangen und Seile festzuzurren.

»Oijeujeu!«, riefen auch wir und hielten unsere Planen von innen fest, aber wir hatten Glück. So klein unser Boot auf diesem wilden Rasen auch war, es hielt uns aus und beschützte uns, so gut es ging.

»Wie war das eigentlich damals, mit diesem Italiener?«, fragte Nele mit einem Mal total unvermittelt. Sorgfältig zog sie dabei den Reißverschluss am Eingang zu. »Na, der Italiener von damals, du weißt schon …!«

»Weiß nicht, was du meinst«, antwortete Renate und schloss die Augen träge wie eine alte Katze. Ich versuchte zwischenzeitlich, mir ein wenig mehr Platz zu verschaffen.

»Also, ich weiß noch, wie du von dem geschwärmt hast«, hangelte sich Nele weiter, denn wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann gibt sie so schnell nicht auf. »Sang er nicht sogar in einer Band? In so einer Folkband … wie hieß die noch mal …?«

»Bevano Est«, antwortete Renate tonlos und kniff ihre Augen ein wenig fester zusammen, damit Nele bloß nicht weiterbohrte.

»Tja nun«, signalisierte mir Nele enttäuscht. Sie bekam dabei einen Gesichtsausdruck, wie ich ihn das letzte Mal bei einer Schamanin beim Ostermarsch 1982 beobachtet hatte.

Auf Facebook hatte ich weit über hundertfünfzig Freunde, und nun war ich mit meinen zwei besten unterwegs und spürte mehr und mehr, dass es eins ist, von Freundschaft zu sprechen, und ein anderes, sie wirklich zu leben, so ohne Twitter, Clouds und Skype und Apps. Die virtuelle Welt war einfacher als die hier auf dem Campingplatz. Alles war möglich, wenn man im Netz spazieren ging.

Über den Kocher hatte Nele vom Zelt aus eine Plane gespannt. Die Plane war aus einer alten Aldi-Tüte gebastelt. Solch eine Tüte hätten wir früher ganz sicher nicht benutzt. Der Geruch von angedickter Tomatensoße mit Nudeln und Hackfleischbällchen à la »Sprechen wir nicht drüber« lockte Renate aus dem Schlaf. Sie robbte zum Eingang, leckte sich den Mund und ließ dann ihren Löffel in die heiße Pampe tauchen.

»Das sieht aber lecker aus«, rief unser Nachbar uns zu, und ich war mir sicher, dass er damit Renates Ausschnitt meinte und nicht unser Essen.

»Ups«, machte Renate und zog den Ausschnitt kokett hoch. Die leichte Röte auf ihren Wangen konnte sie nicht verbergen. Sie lachte verschämt, und der Motorradfahrer ließ wie zum Gruß Rauchringe aus seiner Pfeife steigen. Fips sprang auf und lief hinüber zum Pfeifenmann, der ihm freundlich das feuchte Fell kraulte. Auch Nele schaute gespannt in seine Richtung, und ich fühlte mich plötzlich irgendwie überflüssig.

»Und was macht ihr hier im Regen?«, setzte er seine Unterhaltungsversuche fort.

»Wir machen Urlaub«, flötete Renate, und Nele lächelte versonnen.

»Das riecht zwar gut, was ihr da kocht, aber bei dem Wetter … wir könnten zusammen essen gehen!« Wieder tanzten Rauchringe auf.

»Nein, nein, wir kochen selbst«, erklärte Nele und streute Trockenkräuter in die Soße. Renate lachte gurrend auf.

Mit einem Mal hatte ich genug. Genug von Renates Geflirte und von Neles Sparzwang und dem Hund und all den Männern, die immer nur Renate wollten und nie mich.

Ich kroch ins Zelt, holte den Zwanzigeuroschein aus der Schachtel und stopfte ihn wütend in meinen Brustbeutel. Energisch warf ich meine Schuhe vor das Zelt und zog sie an. »Ich hau jetzt ab, und zwar nach Luzern. Macht ihr doch, was ihr wollt«, verkündete ich den anderen entschlossen.

»Ja aber …«, stotterte Renate, und unser Nachbar ließ verzagt seine Pfeife sinken. »Was hat die denn auf einmal?«, fragte er Renate.

»Ich bin allergisch gegen Pfeifenrauch«, fauchte ich ihn an. »Und auch gegen lauwarmes Geschwätz.«

»Nimmst du Fuchur mit?«, fragte Nele besorgt. Es klang so, als wäre das Auto ein zweiter Hund.

»Natürlich nehme ich Fuchur mit. Wie soll ich denn sonst nach Luzern kommen?«, gab ich gereizt zurück, obwohl ich gar nicht wusste, wie ich das Auto ohne Hilfe aus dem Schlammfeld kriegen sollte. Bestimmt musste es jemand hinten anschieben, während ich am Steuer saß und Gas gab.

»Viel Spaß«, rief mir Renate nach. O ja, den würde ich haben, und von meinen zwanzig Euro, liebe Renate, kriegst du mal genau gar keinen Rappen ab! Ich setzte mich ins Auto. Fips geriet völlig außer sich und sprang laut kläffend um den Wagen herum, weil noch nie eine von uns alleine und schon gar nicht ohne ihn weggefahren war. Beim Rangieren musste ich aufpassen, dass ich ihn nicht erwischte. Nele rief nach ihm und fuchtelte mit den Händen, während Renate supercool aus dem Zelt hing und ihre selbstgedrehte Zigarette schmauchte. Mit aufheulendem Motor und unter eifrigem Kurbeln am Steuerrad schaffte ich es schließlich, Fuchur von der Stelle zu bewegen. Die Räder ließen Schlammfontänen aufspritzen.

Als ich endlich festen Asphalt unter den Rädern hatte, drehte ich das Radio laut. Ich hatte Glück, es lief gerade Van Halens Jump. Echter Hörgenuss klang sicher anders, denn einer der Lautsprecher knatterte eher aufgeregt, als dass er den Song wirklich übertrug. Es war mir egal, ich ignorierte alles und schob den Rest beiseite. »Jump!«, sang ich laut mit und hopste auf meinem Sitz dazu auf und ab. Ich hatte eine Kerbe in den Urlaub reingehauen, indem ich abgehauen war. Das war einerseits gut und andererseits ein schreckliches Gefühl. Jump!, forderte mich Van Halen wieder auf, und ich tat, was das Lied mir befahl, auch wenn ich mir beinahe den Kopf anrumste. Ich fühlte ich mich so großartig, doch kaum dass »My friend juhuhump« verklungen war, großartig beschissen. Immer wieder tauchten Bilder von Renate und Nele auf, wie sie im Zelt saßen, dem Regen zuhörten und darüber sprachen, warum ich so bockig war, was ich gegen Pfeifenraucher hätte und dass ich es noch bereuen würde, alleine losgezogen zu sein. In meinen Gedanken vermieteten die beiden bereits meinen frei gewordenen Schlafplatz an den Pfeifenraucher.

Aber ich drehte nicht um. Unweit des Sees erkannte ich im Nebel die hölzerne Brücke von Luzern. Jede Art von Ablenkung war mir jetzt willkommen. Ich lenkte Fuchur, so gut es ging, um ein paar Ecken und suchte Straßen, die mich zu der Brücke führten. Fuchurs Reifen waren nicht die besten, und ich schlitterte mit dem Wagen hin und her. Dann endlich, eine Haltebucht. Ich wirbelte mit der Pistolenschaltung wild herum, kurbelte, und Fuchur fand endlich einen Platz.

Unschlüssig verließ ich den Wagen und suchte nach einer Tafel, die mir die Geschichte der Brücke erklären würde. Der Regen lief mir in die Augen, als wie aus dem Nichts eine Fußgängerin neben mir auftauchte.

Sie war etwa so alt wie ich, hatte blonde lange Haare und hielt einen pinkfarbenen Schirm in der Hand.

»Möchten Sie mit unter den Schirm kommen?«, bot sie mir an.

Ich nickte etwas verunsichert und fragte mich, warum sie mich ansprach.

Sie musterte mich von oben bis unten. »Sie sehen lustig aus«, sagte sie dann. »So wie ich in meiner Jugend ausgesehen habe. Ist das ein selbstgenähter Rock?« Ich grinste breit. »Und dieses T-Shirt, da haben Sie doch Löcher reingeschnitten?« Ich nickte. Ja, so war das damals. Um die Sachen noch ein wenig bunter zu machen, schnitten wir kleine Löcher in die Oberteile und nähten sie mit bunten Garnen wieder zu, so dass aus den Löchern bunte Blumen wurden.

Die Dame stellte sich mir als Margret vor. Sie fragte, warum ich so rumliefe und was mich nach Luzern verschlagen habe. »Ach«, staunte sie zu Fuchur hin, »so einen R4 hab ich auch einmal besessen. Später fuhr ich dann einen Käfer.«

Ja, einen Käfer hatte auch ich einmal gefahren, mit metallicblauer Farbe, der Knut geheißen hatte. Aber das wollte Margret, wie sie sich vorstellte, alles gar nicht wissen.

»Wissen Sie«, sagte sie, »das imponiert mir, dass Sie so reisen. Ich hätte dazu nicht den Mut. Man träumt sich immer wieder zurück in die Jugend, aber sie noch mal erleben, das will doch keiner. Obwohl Ihr Outfit natürlich total modisch ist.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf meinen lilafarbenen Button mit Frauenzeichen und Faust. »Das ist doch superretro. Na, und dann das Palästinensertuch! Das passt besonders gut zum Sticker!« Margret lachte laut.

Das wäre wohl der Zeitpunkt gewesen, um zu gehen, aber ich wusste nicht, wohin. Margret lud mich zu einem Kaffee ein und bot mir ihr Handy an, falls ich meinen Freundinnen schnell Bescheid geben müsste.

»Nehmen Sie ruhig, ich hab ’ne Flat.«

Ich hab ’ne Flat! Ich hab ’ne Flat! Wie liebte ich diesen kurzen Satz. Es klang nach Freiheit und allen Telefonnetzen, die es gibt. Dass ich auf einem 80er-Jahre-Trip war, hatte Margret fix kapiert, und sie wollte mehr und Genaueres davon hören. Sie erzählte, dass sie Journalistin sei und dass es doch toll sei, von Frauen, wie ich eine war, zu berichten. Sie deutete mit dem Telefon auf ein Café. Und sie roch so gut! Sie roch nach dem Parfum, das ich zu Hause benutzte, und ich sehnte mich danach, nach dieser kleinen grünen Flasche, auf der Chanel und No. 19 stand. Es zog und es sehnte mich, weil Margret ganz nah an meinem Leben von zu Hause war und ich jetzt hier wie ein kleines Flüchtlingskind stand, das den Schritt ins alte Leben nicht mehr wagte.

»Es wäre doch toll«, schwärmte Margret, »wenn ich eine Reportage, eine Art Zelt-Homestory, über Sie und Ihre Freundinnen machen könnte. Drei Frauen im R4 oder so.« Margret schnatterte auf mich ein, und ihr pinkfarbener Schirm tanzte heiter im Luzerner Regendunst. In Gedanken schrieb sie bereits den Artikel. Der Kaffee, auf den ich mich gefreut hatte, war bereits weit weg. »Züri brännt – haben Sie von der Schweizer Jugendrevolte damals überhaupt was mitbekommen?«

Freilich hatten wir das, wir lebten ja nicht auf dem Mond. Studenten, die durch das Land trampten, hatten uns von den beschmierten Häuserwänden, der Schließung des Jugendzentrums und den Krawallen am Küchentisch erzählt.

»›Macht aus dem Staat Gurkensalat‹ oder ›Freier Blick aufs Mittelmeer – sprengt die Alpen‹. Das gehörte doch auch in diese Besetzerszene«, erinnerte ich mich. Neidisch erinnerte ich mich an diese Tage, an denen noch wirklich was los gewesen war.

»Ja«, rief Margret begeistert. »Und so Schmuck, wie Sie tragen, den trugen wir auch.« Sie bewunderte meine Halskette. »Das waren Zeiten. Ich rufe gleich mal den Fotografen an und frage ihn, ob wir heute noch Fotos machen können für die Reportage. Das wäre doch toll, und danach laden wir sie alle ein, und wir gehen köstlich essen. Auf welchem Campingplatz zelten Sie denn eigentlich?«

Die Verführung war leibhaftig. Ich sah mich schon in dem schnieken Restaurant Schnitzel mit Gemüse essen, und als Nachtisch gab es in meiner Phantasie Rüblikuchen und Schümli-Kaffee. Wie ein Fisch stand ich im Regen herum, mein Mund klappte auf und zu, mal blubberte ein gehauchtes »Ja« und mal ein gezischtes »Nein« heraus. Ich wusste, ich war gerade einen Schritt vom Selbstverständlichen entfernt, einem Leben, in dem es Stühle gab, feines Porzellan und silbernes Besteck. Wie ich das inzwischen hasste, dass wir nur auf der Erde oder im Auto saßen, weil wir 1981 ohne Campingtisch und Stühle gereist waren. Zwar konnte ich mich dank der Übung seit wenigen Tagen wieder gelenkiger aus der Hocke erheben, aber so ein Stuhl, ein Tisch und feines Porzellan zogen mich an wie ein Magnet.

»Ich möchte das nicht.« Ich erschrak selbst über meinen barschen Ton. »Vielen Dank, aber ich möchte nicht Teil einer Story sein!«

Eine Geschichte in einem bunten Blättchen, nein. Ich war mir sicher, die konnte sich nur über uns und unsere gemeinsame Reise lustig machen, und uns damit verraten.

»Es ist nämlich eine ganz besondere Erfahrung, die ich hier mache«, erklärte ich mit fester Stimme. »Es ist schwierig, aber auch schön und lustig und ganz anders, als ich dachte. Aber es ist privat, nur für uns drei. Ich möchte nicht, dass wir mit unserer Reise in der Zeitung landen. Aber danke für Ihr Angebot.«

Margret gab mir ihre Visitenkarte, weil sie merkte, dass sie mich nicht für sich gewinnen konnte, und steckte enttäuscht das kleine Aufnahmegerät wieder in die Tasche, das sie schon herausgeholt hatte. Als sie sich verabschiedete und mich mit einem Winken stehenließ, da wusste ich, dass sie mich in Erinnerung behalten würde, als wäre ich aus einem Film gesprungen. Das Gespräch mit Margret hatte mir aber bewusst gemacht, wie kostbar die Zeit war, die Renate, Nele und ich gerade erlebten. Dennoch traute ich mich nicht, zu ihnen zurückzufahren. Ich eilte zu Fuchurs Parkplatz, setzte mich ins Auto, nahm wahllos eine Kassette und schob sie in den Rekorder. Wolfgang Niedecken sang, und sein Jraadus trieb mir die Tränen in die Augen. Verdammt, dieser Urlaub hatte mich sehr dünnhäutig gemacht.

Müde und frustriert saß ich auf dem Fahrersitz und starrte mit stumpfem Blick durch die Windschutzscheibe. Schon wieder prasselte der Regen nieder. Wenn ich jetzt zum Campingplatz zurückkomme, was werde ich dann sagen?, fragte ich mich. Würden meine Freundinnen mich verstehen? Sicher würden sie das, unsere Freundschaft hatte schon kritischere Zerwürfnisse überstanden. Zum Beispiel, wenn Renate einen neuen Mann an ihrer Seite hatte, dann kriselte es meistens zwischen uns. Ich kam mit ihren Männern nicht klar und die nicht mit mir. »Passt dir überhaupt ein Mann an meiner Seite?«, hatte sie mich einmal wütend gefragt. Natürlich passte mir ein Mann an ihrer Seite. Aber er sollte besonders sein, weil auch Renate besonders war.

Und Nele war so zuverlässig, so gutmütig, und niemand konnte mir besser dabei helfen, meine Gedanken zu ordnen. Ich liebte sie dafür. Schon traten mir wieder die Tränen in die Augen. Aber ich schaffte es noch nicht, einfach den Zündschlüssel umzudrehen und zu den beiden zurückzufahren. Verzweifelt glotzte ich auf die Hauswand gegenüber, als würde ich dort die Antwort finden. Ich stand noch immer zu dem, was ich ihnen vorhin an den Kopf geworfen hatte. Aber ich hätte die Sätze anders sagen können, das war mir klar. Mit einem Handy wäre jetzt alles leichter gewesen. Ich hätte eine SMS geschickt oder vielleicht kurz angerufen. Aber so, im Leben der 80er Jahre, war keine schnelle Lösung möglich.

Ich stellte den Kassettenrekorder wieder an, obwohl ich Renates strenge Mahnung hörte, dass das die Batterie leer fraß. Wie in einer Achterbahnschleife kamen mir all die dramatischen Situationen in den Sinn, die wir so gut gemeistert hatten. Zank und Streit in den Beziehungen, kranke Mütter und sterbende Väter, als Renate das Bein in Gips hatte und Nele nach einem Umzug gleich wieder Koffer packen musste. Alles hatten wir gemeinsam hingekriegt. Und jetzt sollte uns ein gemeinsamer Urlaub an den Rand bringen? Ich liebte Nele, und ich liebte Renate, weil … schon traten mir wieder Tränen in die Augen, aber obwohl ich sonst sehr spontan bin, schaffte ich es diesmal nicht, einfach den Schlüssel des Wagens umzudrehen und zu den beiden zurückzufahren. Ich fühlte mich so allein, wie sich ein störrisches Kind fühlt, das gerne wieder nach Hause möchte, aber weiß, dass genau das jetzt nicht geht, weil die Rückkehr dann eine Niederlage ist.

Wie ein Hase in seinem Bau hockte ich im Wagen, hörte den Regen, der nicht aufhören wollte, dachte an Nele, Renate, Fips und das sicherlich durchnässte Zelt, fragte mich, was sie wohl essen würden und ob es klug war, von meinem Geld einen Kuchen mitzubringen, und als ich den Zündschlüssel umdrehte, weil man das bescheuerte Gefühl von Streit am besten durch eine Versöhnung wieder verliert, da schreckte ich zurück, weil sich plötzlich in voller Breite ein Schild auf die nasse Windschutzscheibe legte: »Free hugs!« Und kaum war es da, war es auch schon wieder weg, und dahinter kam ein lachender Wuschelkopf hervor.

Die Haare des Jungen waren regennass, und eine Strähne klebte an seiner Stirn. Kleine Tropfen rannen über seine Wangen, seine Augen leuchteten blau. Anstatt das Seitenfenster zu öffnen, stierte ich nur stumm nach draußen und versuchte zu begreifen.

»Hey! Free hugs! Darf ich dich umarmen?«, fragte der Junge mich durch die Scheibe und hielt das Schild erneut hoch. »Das kostet auch nix.«

Misstrauisch überlegte ich, welcher fiese Trick sich dahinter verbergen könnte. Lock die alte Schachtel mit einer Umarmung aus dem Auto und reiß ihr dann die Geldbörse weg. Zu viele Geschichten dieser Art hatte ich schon gehört.

Der Junge grinste mich weiter unbekümmert an und bedeutete mir, doch auszusteigen, damit er mich endlich umarmen konnte. Wie durch ein Wunder ließ genau in diesem Augenblick der Regen ein wenig nach, und über dem Fluss zeigten sich die ersten Farben eines Regenbogens. Ich betrachtete mir das Spiel der Farben, klammerte mich aber weiter am Lenkrad fest, als wäre ich mit ihm verwachsen.

»Hey!«, rief der Student, der er sicher war. »Ein Regenbogen. Cool!« Er warf beide Arme in die Luft, als wollte er nun nicht nur mich, sondern auch den Himmel umarmen.

»Hey! Koscht nix, is frei!«, wiederholte er geduldig und drehte sich zu mir. »Ist ganz umsonst.«

»Und was soll das?«, fragte ich vorsichtig durch das Seitenfenster, das ich immerhin inzwischen geöffnet hatte.

»Das kommt aus Australien«, erklärte der Junge eifrig. »Da machen die das schon seit 2004. Das ist keine Kampagne oder so, sondern soll mehr Liebe und Freundlichkeit in die Welt bringen. Also, lass dich umarmen!«

Trotz meiner Vorbehalte stieg ich aus und wurde sofort fest in den Arm genommen. Irgendwie löste das etwas in mir, und es tat sehr gut. Der Junge fühlte sich stark und fest an, gar nicht wie ein Softie. Der Regen hatte seiner Jacke nicht viel angehabt, weil die Jacken von heute gut imprägniert sind.

»Hey, ich bin Joshi«, stellte sich der Junge mit jetzt leiser Stimme vor. »Schön, dich gefunden zu haben!« Schon umfasste er mich wieder und drückte mich an seine Brust, die sich durchtrainiert und kräftig anfühlte.

»Ist super, oder?«

Er war gerade achtzehn Jahr, fast noch ein Kind mit weichem Haar, ein Mann zum Lieben, sang Dalida mir ins Ohr. Ein wenig verlegen löste ich mich von Joshi und vertiefte mich schnell in den Zettel, den er mir reichte. Etwas länger als nötig studierte ich die Geschichte der Bewegung. Verunsichert fühlte ich, dass mich das gar nicht interessierte und ich eigentlich nur eines wollte: wieder zurück in Joshis Arm.

»Noch mal?« Er las meine Gedanken, und ich nickte und ließ mich zart aufnehmen und kuschelte mich – Himmel, wie peinlich – förmlich an seinen Hals. Über seine Schulter, auf der anderen Seite der Reuss, entdeckte ich jetzt noch mehr junge Männer und Frauen, die Schilder in der Hand hielten und wildfremde Menschen umarmten. Eine fröhliche Umarmungsarmee war dies, die sich spontan auf sich wundernde Passanten stürzte. Durch den Dunst, den der Regen hinterließ, beobachtete ich, dass sich auch andere Menschen erst zögerlich, aber dann freudig in den Arm nehmen ließen.

»Und darf ich dich auch mal umarmen?«, fragte ich Joshi unsicher und erinnerte mich daran, dass man dem Glück öffnen soll, wenn es an die Tür des Lebens klopft. Ich glaub, ich hab mich verknallt, dachte ich und konnte es nicht fassen, was ich fühlte.

»Hey! Du machst das gut!«

Joshi löste sich von mir und hielt mich ein Stückchen von sich weg.

»Und du riechst gut!«

Das war das Lavendelöl, mit dem ich mich am Morgen eingerieben hatte.

Joshi strahlte über das ganze Gesicht. Seine Augen waren offen, wach und lebendig. Nach all dem Regen und meinen inneren Kämpfen tat es unglaublich gut, dass da ein Mensch war mit Wärme und Lachen. »Hey! Willst du ein bisschen bei uns mitmachen?«

Wenn nur nicht dieses »Hey!« immer gewesen wäre. Ausgelassen winkend zeigte er zu den anderen, auf der anderen Seite der Brücke, und ausgelassen winkten sie zurück. Ich blieb noch ein bisschen sehr nah bei ihm stehen, um ihm und mir die Gelegenheit für einen neuen Hug zu geben. Ist doch unglaublich, was ich hier alles erlebe, dachte ich, und das Besondere der Situation stieg mir wie spanischer Rotwein in den Kopf, und zwar die Flasche mit dem güldenen Netz.

»Okaaay«, antwortete ich gedehnt. Warum eigentlich nicht?, redete ich mir gut zu. Wir hatten das früher nicht gemacht, aber es hätte gut in unsere Zeit gepasst. Ich hab nichts zu verlieren!, dachte ich weiter und ließ es willig zu, dass Joshi mich an der Hand nahm und über die Brücke führte. Schon liefen die Umarmer auf uns zu und taten, als sei ich eine von ihnen und wieder zwanzig wie sie. Die Mädchen staunten über die Buttons, die an meiner Folklorebluse steckten, und riefen: »Krass!«, oder: »Genial!«

Meine Haare hatte ich zum Glück noch kurz vor der Abreise gefärbt. Das war mir plötzlich ganz wichtig gewesen, obwohl es überhaupt nicht öko war. Wieder wurde ich umarmt, und alle riefen mir ihre Namen zu: Lizzi, Bissi, Ungi, Oshi, Maschi.

Das mit der Endung solle so sein, erklärte mir ein junges Mädchen, das sich mir als Sissi vorstellte. Nicht sie als Menschen sollten in Erinnerung bleiben, sondern auf die Free-hugs-Bewegung kam es an. »Es ist nicht wichtig, wer einen umarmt hat, sondern dass man umarmt wurde. Verstehst du?«

Mir war das zugegebenermaßen nicht egal, denn obwohl sich alle in dieser Gruppe gut anfühlten, wollte ich am liebsten noch einmal von Joshi in die Arme genommen werden. Ich beobachtete ihn heimlich, wie er auf einer Treppenstufe saß und sich eine Zigarette drehte. Nur dies eine Mal, nur ein bisschen naschen und noch mal Küsse kosten, bevor ich gänzlich verknittert, alt und unansehnlich bin, machte ich mir Mut. Wenn das Nele und Renate wüssten, dachte ich. Und ich brannte darauf, meinen Freundinnen alles zu erzählen.

Joshi saß mit einem anderen Jungen auf den Stufen. Sie steckten die Köpfe zusammen und nickten aufgeregt. Mit diversen Hand- und Klatschritualen schienen sie etwas zu besiegeln. Ich fühlte mich sehr besonders, als Joshi gleich danach aufsah und auf mich zukam. »Wir gehen auf den Berg, machen dort eine große Sonnenuntergangsumarmung. Kommst du mit?«

»Hey«, hauchte ich, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Wie kann das so schnell gehen, fragte ich mich. Wie ist das möglich? Und ich fühlte mich wie angeknipst, wie Nele diesen Zustand immer nannte.

»Hey, das wär doch geil«, umarmte mich ein Mädchen, und ich grinste breit, weil sie nach Zelt, Nele und Renate roch. Aufgedreht schnappte ich mir ein Schild und schlenderte auf eine Passantin zu. Als hätte ich das schon hundert Mal gemacht, breitete ich meine Arme aus, und tatsächlich, die Spaziergängerin ließ sich von mir umarmen. Es war genial, es war ein Wunder. Ich überlegte einen Moment. Das Free-hugs-Schild war das ideale Friedensangebot für Nele und Renate.

»Meinst du, ich kann so eins mitnehmen?«, fragte ich einen Jungen, der sich mir als Maiki vorgestellt hatte. Dann erzählte ich ihm und Joshi von dem Streit mit meinen Freundinnen und dass sie auf dem Campingplatz auf mich warteten. Während die anderen die Schilder zusammenpackten, wurde mir klar, dass ich dies alles niemals für mich alleine genießen konnte. Nicht ohne meine Freundinnen. Ich erklärte schnell, dass eine verrückte Nacht wie diese für mich nicht ohne die geht, die ich am meisten liebe.

Die beiden Jungs fanden, dass ich unbedingt zu ihnen zurückfahren und die Lage klären sollte.

»Ich komm mit!«, erklärte mir Maiki, der von meinen inneren Grabenkämpfen nicht die geringste Ahnung hatte. »Dann können sie nicht lange sauer auf dich sein«, erklärte er. »Und wenn sie noch sauer sind, dann erzähle ich Häsliwitze, des ischd mei Spezialität.«

Häschenwitze!

»Kommt ein Häschen zum …«, legte Maiki los. Ich sah es vor mir. Renate würde brüllen vor Lachen. Als Überraschungsmoment würden die Witze wirken, und das überzeugte mich so, dass ich Maiki einpackte und mit ihm zurück zum Zeltplatz fuhr.

»Das wird genial«, erklärte er mir. Er fingerte Auto und Kassetten ab. »Genial!« Seine Anwesenheit beschwor in mir dieses Bild herauf von der einen Wiese, die wir immer aufsuchten, um das Leben und die Liebe zu feiern. »Genial wird das!«

Und so saß ich, ehe ich mich’s versah, wieder hinter Fuchurs Steuer, mit einem jungen Mann auf dem Beifahrersitz.

Als ich mit ihm losfuhr, drehte ich mich um, und Joshi sah mir nach. Er winkte mir, und dann, ich konnte es fast nicht glauben, warf er mir auch noch eine Kusshand zu.

»Und was macht ihr hier?«, fragte Maiki, als wir aus Luzern rausfuhren.

Es strahlte aus mir heraus. »Ich mache hier mit meinen Freundinnen den schönsten Urlaub unseres Lebens!«

»In der Schwiiiz?«, erkundigte er sich. »Wo doch alle Individualisten immer nur weiter nach Italien wollen.« Er nickte wissend zu mir herüber. »Weißt du, in Italien gibt’s nämlich noch ganz ächte Kooperativen!«