Kapitel 7

Wieder eine Nacht

- Hannes Wader -

Als wir weit genug von der Grenze weg waren, entschied ich, dass wir eine Pause brauchten. Meine Vorstellung eines romantischen Picknicks inmitten von Edelweiß, Enzian und lila Kühen ließ sich aber nicht umsetzen. Die Schweiz war grau. Nur die vielen rot-weißen Flaggen waren kleine Farbtupfer in der trüben Landschaft. Nach anfänglichem Nieseln hatte es zu regnen begonnen, und ein kräftiger Wind trieb die Tropfen über Feld und Flur.

»Ich seh vor lauter Regen keine Berge«, beschwerte sich Nele. »Das ist nicht gerecht, das haben wir nicht verdient.«

Eine ganze Weile suchten wir einen geeigneten Pausenplatz unter Bäumen. Überall gab es Grillstationen, jedoch alle ohne Unterstand. Also ließen wir Fips ins Freie springen, machten ein paar Schritte, um uns die Beine zu vertreten, und setzten uns dann wieder ins trockene Auto.

Während Renate ein Auge auf Fips hatte, der draußen herumsprang, schmierte Nele auf der Rückbank Brote, und ich studierte den Reiseatlas, als gelte es, die Schweiz auswendig zu lernen. Unglaublich, wir waren schon fast eine halbe Woche unterwegs, und Italien war noch immer weit entfernt. Immerhin hatten wir schon Frankreich, Deutschland, Österreich und die Schweiz durchfahren und Liechtenstein mit einem Blick gestreift. Das hörte sich nach einer großen Reise an und würde uns eine Erklärung bieten, wenn die Kinder später fragten, warum wir tagelang unterwegs gewesen waren, ohne Italien zu erreichen. Das Dreiländereck am Bodensee war nicht nur kurvenreich, sondern rhetorisch für uns ein Geschenk. Als mein Blick auf den Ort Romanshorn fiel, musste ich grinsen.

»Wir werden Anna und Sarah erzählen, dass wir nicht über die Schweiz hinausgekommen sind, weil wir Julia Onken, die bekannteste Frauenrechtlerin der Schweiz, aufsuchen wollten.«

»Hatte die nicht Weise Wunde Menstruation geschrieben?«, versuchte Nele Julia Onken einzuordnen.

»Nein, sie schrieb Die Feuerzeichenfrau, das war das erste Buch über die Wechseljahre«, berichtigte ich sie und erinnerte sie daran, dass sie das Buch mit Mitte zwanzig verschlungen hatte. »Du wolltest, so hast du uns die Lektüre damals erklärt, für spätere Zeiten gut vorbereitet sein. Und«, machte ich eine Kunstpause, »was weißt du denn noch davon?«

»???«

Dass Julia Onken sich in einem solch maskulinen Ort niedergelassen hatte, konnte nur Programm sein, dessen waren wir uns ganz sicher. Gleich begann Nele Damenwitze zu rezitieren, die sie in alten Emma-Ausgaben gefunden hatte.

»Was ist ein Mann in Salzsäure?«

Ich zuckte erwartungsgemäß mit den Achseln.

»Ein gelöstes Problem …«

Keine von uns lachte, weil auch das zu einer echten Genderfrau gehört.

»Wie wäre es mit Georges Moustaki?«, schlug Renate vor, als wir uns wieder auf den Weg machten. Natürlich durfte sie nur Angebote machen, denn die Musik bestimmte ich. Gnädig gewährte ich ihr den Wunsch. Georges Moustaki war damals so ziemlich das Lässigste gewesen, was man sich vorstellen konnte. Seine Musik strömte das aus, was später in Buchform ein Bestseller wurde, Salz auf unserer Haut. Ich wäre sofort mit ihm ins Bett gegangen, doch eine Jugend in Landau lässt einen nicht gerade zum Groupie werden. Und jetzt war es ohnehin zu spät.

Nele zählte die wenigen Fränkli, die wir hatten, nun schon zum dritten Mal. »Es will einfach nicht mehr werden«, stöhnte sie, »ganz egal, wie oft ich zähle.« Wieder klimperte sie mit den Münzen.

»Dann tauschen wir halt was um«, versuchte ich das Problem ganz praktisch anzugehen. »Sparen ist ein typisches Frauenproblem. Frau muss aber eher darüber nachdenken, wie sie mehr Geld verdienen kann. Das ist nämlich der Witz dabei.« Selten gehen bei mir feministische Jugend und stressiger Job als Personalreferentin so harmonisch Hand in Hand.

»Das ist nicht witzig«, sagte Nele gereizt und brachte Renate und mich auf den aktuellen Stand. Der Sprit hatte uns ein großes Loch in die Niveadose gerissen. Hinzu kam die Raucherei, deren Kosten sich seit 1981 verdreifacht hatten. Die fünfzig Mark, die wir früher für einen Tag berechnet hatten, reichten hinten und vorne nicht. Den Pumpernickel konnte ich schon nicht mehr sehen, aber er war noch lange nicht aufgegessen. Mühsam schluckte ich die Scheibe runter, die Nele mir reichte. Auch der Schmierkäse darauf half nun nicht mehr viel. Wenn Pumpernickel wirklich ausgetrocknet war, dann konnte man sich ebenso gut ein Korkbrettchen belegen. Aber essen gehen war nicht drin, und die Schweiz ist ja sowieso nicht gerade das günstigste Reiseland. Vermutlich würden unsere Vorräte so oder so bis nach Russland reichen.

»Am besten kaufen wir hier gar nicht ein«, beschloss Nele. Ich machte mich auf weitere Büchsenkost gefasst. Renate suchte schon nach den Gläschen, die sie für den Joghurt vorgesehen hatte.

»Wenn ich mir den Joghurtpilz schon mal unter das T-Shirt lege, vielleicht geht er dann später schneller auf?«

In einem kleinen Plastikgefäß hatte sie das weißliche Pulver mit Wasser und anderem angerührt. Zwanghaft, dachte ich unfreundlich, meine Freundinnen sind wirklich zwanghaft geworden.

»Wie wär’s«, ich zeigte auf einen Bauerngarten mit Paprika, Lauch und Tomaten. »Wir könnten schnell ein paar Tomaten klauen, um zu einer günstigen Unterkunft zu kommen. Die Schweizer Gefängnisse sollen sehr gut sein. Und sie sind preiswerter als jeder Schweizer Campingplatz.«

»Wie meinst du das?«, fragte Nele.

»Hör nicht hin!«, empfahl ihr Renate trocken.

Offenbar wollten beide nicht darüber nachdenken, dass wir mit dem »kleinen Alpenparadies«, in das wir Fips zu bringen hatten, ganz sicher einen Campingplatz ansteuerten, der weit über unseren Verhältnissen lag.

Na, ich war gespannt, besonders schöne Aussichten ließen sich die Schweizer besonders schön bezahlen. Sonja hatte uns am Morgen geraten, Berge und Höhen lieber von unten zu bestaunen. »In Italien scheint die Sonne. Und billiger lebt es sich dort sicher auch«, erinnerte ich die beiden. »Besonders in dieser Kooperative. Wo war die eigentlich ganz genau?«

»Mitten in den Bergen vor Forli, und nur kleine Wege führten dahin.« Renates Blick wurde glasig und romantisch. »Ein altes Haus war das, das in den Wiesen lag. Außen herum Hügel, Berge und ein kleiner See.«

Falls es noch ein paar Althippies der früheren Kooperative gab, dann konnten wir sicherlich umsonst dort schlafen.

»Und du kletterst zu Maurizio ins Bett!«

Renate rollte mit den Augen. Wir summten ein wenig zu Georges Moustaki mit, und wir sangen so lange, bis wir nur noch »Mmmmm mmmmmm mmmm« zustande brachten, aber nicht weil uns der Text fehlte, sondern weil unsere Mahlzeit aus lecker Knäckebrot ganz schrecklich in den Mündern staubte.

»Ich hatte Luzern anders in Erinnerung«, befand Nele kauend und sah sich enttäuscht um. Angestrengt versuchte sie, die Merkmale der Stadt zu finden, die uns Sonja als Wegweiser gegeben hatte. In den letzten Minuten hatten wir nichts als viel Verkehr und eine lange angegraute Häuserfront gesehen.

»Irgendwo muss hier der Bahnhof sein«, suchte sie einen Halt, um sich besser zu orientieren.

Mit dem Eintreffen in Luzern hatte sich das Wetter deutlich verschlechtert, was vielleicht am Vierwaldstättersee lag, den wir in kurzer Entfernung vor uns sahen. Seen ziehen das Wasser ja angeblich an. Wenigstens waren wir richtig, denn den See hatte Sonja als ganz markanten Punkt beschrieben, aber an Urlaub erinnerte er nicht. Möwen flogen weiß durch das Grau, das in schweren Wolken über dem Wasser und zwischen den Bergen hing. Die Ausflugsdampfer schaukelten leer am Steg und ließen sich müde von den Wellen wiegen. Bunte Regenschirme dort, wo sonst schattenspendende Sonnenschirme standen. Die Bänke am Ufer glänzten vor Nässe, und niemand setzte sich auf sie.

»Wir sehen zu, dass wir bald weiterkommen«, versuchte ich den Abschiedsschmerz zu überspielen und warf einen verstohlenen Blick auf Fips, der zusammengerollt zu Renates Füßen lag. Nicht, dass ich einen Hund gewollt hätte, aber irgendwie hatte ich Fips sehr schnell ins Herz geschlossen. Es würde mir nicht leichtfallen, ihn bei Gritli zurückzulassen.

Nachdem wir eine Ewigkeit in der grauen, verregneten Stadt herumgekurvt waren, fanden wir endlich den Campingplatz. Das kleine Alpenparadies lag hinter einem Bretterzaunverschlag und sah nicht besonders paradiesisch aus.

»Vielleicht liegt das an den beschlagenen Scheiben«, überlegte Renate laut und begann die Windschutzscheibe von innen mit einem kleinen Tuch restlos zu verschmieren.

»Das Tuch ist doch auch von ’81«, schimpfte ich und verlangte nach einer sauberen Serviette. Die gab es aber nicht, weil wir damals keine Servietten, sondern auch bei der Esskultur nur Klopapier genommen hatten. Nele reichte es mir. Es war billig und dünn und blieb in kleinen Fetzen an der Windschutzscheibe kleben.

»Super«, grummelte ich.

Auch im Kleinen Alpenparadies baumelten die bunten Fähnchen trübe und nass im Wind. Auf den ersten Blick konnten wir einige Campingwagen und Reisemobile erkennen, die nach Dauercampern aussahen. Die Stellplätze waren umzäunt, und an der einen oder anderen Tür war sogar eine Klingel zu erkennen. Viele hatten die Rollläden heruntergelassen. Offenbar war das Wetter in Luzern schon seit ein paar Tagen nicht besonders freundlich. Ein Mann stakste durch den Matsch zur Rezeption.

»Sicher lädt uns Gritli zu einem tollen Abendessen ein, weil wir ihr den Fips geschmuggelt haben. Danach fahren wir dann umgehend weiter. Auf diese Weise«, ich sah zu Nele, »sparen wir etwas Brot.«

»Vielleicht können wir bei ihr sogar unsere Schlafsäcke ausrollen. Wenn sie so ist wie Sonja, dürfte das kein Problem sein.« Nele versuchte wieder, das Positive zu sehen.

Fuchur hoppelte über den Schotterweg. Einsam und verlassen lag das Bretterhäuschen der Platzverwaltung da. Weiter hinten standen Familienzelte von ein paar Irren, die sich beim Camping beweisen mussten. Ich musste mir nichts beweisen. Ich würde nicht im Regen zelten! Wenn nötig, konnte ich mit meinen Freundinnen in ein Gasthaus übersiedeln, und sei es auch nur für eine Nacht. Dann war die Niveadose eben leer. Na und? Hauptsache, der Urlaub machte Spaß. Ich parkte vor der Verwaltung, und Nele und ich sahen durch die regennassen Scheiben, wie Renate in das Bretterhäuschen eilte. Sie hatte den gelben Friesennerz an, den die Mädels in einem Restmüllsack gefunden hatten.

»Fips«, sagte ich und kraulte den Hund. »Schau mal, das hier ist dein neues Zuhause.«

Fips saß auf meinem Schoß und sah mich aus seinen braunen Augen an. Ich musste mich zusammenreißen. Dies war ein wundervoller Platz für einen Hund. Gritli würde ihn bestimmt liebhaben, und nirgendwo auf der Welt hätte er es so gut wie hier, redete ich mir in innerer Dauerbeschallung ein. Aber Gritli kam nicht, und auch Renate tauchte nicht wieder auf.

»Das dauert aber lange«, sprach Nele meine Gedanken aus. Wir warteten schon eine halbe Stunde.

»Sicherlich essen sie schon Käsefondue«, stichelte ich und öffnete die Beifahrertür, damit Fips ein bisschen Auslauf hatte.

Sonja hatte uns erzählt, wie es Gritli vor Jahren auf diesen Campingplatz verschlagen hatte. Eine detailreiche Geschichte mit einer abenteuerlustigen Gritli, die überall auf der Welt zu Hause sein konnte, aber zurück in die Schweiz wollte. Und ausgerechnet im australischen Outback einen Mann aus Luzern getroffen hatte, der dann diesen Campingplatz erbte. Seit einiger Zeit gehörte er ihr, und nur ein Hund fehlte noch zu ihrem Glück.

»Gritli wollte ein faires Tier, da kam nur ein Flüchtlingshund in Frage«, hatte Sonja uns erzählt.

»Wenn Fips aus Spanien kommt, wieso heißt er dann eigentlich nicht Don Juan?«, fragte ich Nele ironisch. Sie reagierte etwas verwirrt. »Und er spricht auch gar kein Spanisch.«

Mit einem Mal kamen mir Zweifel an Sonjas Geschichte. Gebannt starrten wir auf den Eingang, als käme dort gleich die Erklärung herausgesprungen, aber es brauchte weitere zehn Minuten, bis sich die Tür öffnete und Renate wieder ins Freie trat. Sie setzte die Kapuze auf und kam zögerlich auf uns zu. Fips hüpfte freudig kläffend an ihr hoch, und beide trieften nur so vor Nässe, als sie wieder zu uns ins Auto stiegen. Ich suchte nach einem der Handtücher, die uns Sonja mitgegeben hatte, um wenigstens Fips abzutrocknen. Wenn Hunde nass sind, stinken sie erbärmlich, und wenn Menschen sich nicht regelmäßig waschen, dann löst Regen auch keine Parfumgerüche aus. Ich roch ein wenig an Renate.

»Was ist?«, fragte Nele und lehnte sich nach vorn. »War Gritli da, und hat sie sich gefreut?«

Wenn Gritli da gewesen wäre, dann säße Fips schon in der Holzhütte vor seinem Napf und wir säßen rund ums dampfende Käsefondue. Renate sah aber nicht so aus, als wäre irgendetwas in dieser Art zu erwarten.

»Die Sache ist die«, sagte sie. »Hier gibt es keine Gritli. Es gab noch nie eine. Der Mann, der den Campingplatz betreut, heißt Urs, und er wüsste auch nicht, dass es in der Nähe noch einen Campingplatz wie diesen gäbe, und überhaupt, eine Gritli kenne er nicht, und wenn es sie gäbe, dann müsste er sie kennen, weil alle Campingplatzbesitzer einen Stammtisch haben.«

Fips stupste mit der Schnauze an mein Ohr. Ich reagierte nicht. Eine Art Schockstarre legte meine Gedanken lahm. Also kein Käsefondue, dachte ich.

»Mist«, sagte Nele leise.

»So ist es«, stimmte Renate stockend zu und erklärte uns, dass es dennoch gut war, hier zu sein, weil Luzern ein überaus hübsches Städtchen sei, am wunderbaren Vierwaldstättersee, dessen blaugrüne Wogen bereits von unseren Altvorderen besungen worden waren, und wie um dies zu bestätigen, hielt sie ein blaues Reisehandbuch in die Luft, das den Titel Sommer in der Schweiz trug und das mich ahnen ließ, dass es heute wirklich nicht mehr weiter nach Italien ging.

»Wir könnten hier schöne Wanderungen machen, und viele Kühe gibt es auch.«

Richtig, und genau drei saßen hier in diesem Wagen. Ich nahm Renate ihre plappernde Munterkeit nicht ab und ahnte, was sie dachte. Wie sie sprach, wie sie den Kopf bewegte und wie sie die Sätze hinten so hochzog, damit niemand ihr in die Rede fallen konnte. Auch Renate wollte weg aus diesem Schlammloch, aber sie hatte den Gritli-Schwur geleistet, der da hieß, dass wir nicht eher das Land der hohen Berge verlassen würden, bis Fips im richtigen Körbchen bei der richtigen Frau gelandet war.

»Dann sitzen wir wohl fest«, sagte ich tonlos. »Einmal mit Fips über die Grenze hat geklappt, aber noch einmal raus aus der Schweiz, rein nach Italien, raus aus Italien und über die Schweiz dann womöglich bis nach Hause … Wie stellt ihr euch das vor?« Das klang mehr nach einem Vorwurf als nach einer Frage.

Innerlich verfluchte ich den Regen, das Zelt und meine ungeeigneten Schuhe. Die paar Klamotten, die wir dabeihatten, würden in ein paar Tagen von Matsch getränkt sein.

»An allem ist nur Gritli schuld«, jammerte Nele trotzig. Sie vergaß dabei, dass es ja nicht Gritli gewesen war, die uns Fips aufgenötigt hatte. »Wie kann sie uns nur so sitzenlassen, wo wir ihr den Hund geschmuggelt haben.«

»Jetzt bauen wir erst mal das Zelt auf, und dann sehen wir weiter. Da vorne ist unser Platz.« In alter Lehrerinnenenergie zeigte Renate mit dem Kinn nach vorne. Sie hielt die Campingplatzkarte in der Hand und hatte sich bereits einen Überblick verschafft.

Mir fiel etwas ein. »Hast du denn gar nicht bei Sonja angerufen? Dieser Rotkreuzladen hatte doch bis eben auf. Kurt hat doch sicher ein Telefon in der Anmeldung.«

»Ging doch nicht«, antwortete Renate gequält.

»Wie, ging nicht?«, hakte ich nach.

»Na wegen ’81.«

Ich konnte es nicht fassen. »Ja aber der Rotkreuzladen hatte doch ein ganz normales Festnetztelefon! Erinnerst du dich denn nicht daran?«

»Doch, schon«, gab Renate zu, »aber wie hätte ich denn an die Telefonnummer kommen sollen?«

Ich öffnete den Mund, aber Renate konterte bereits dagegen: »Komm mir jetzt nicht mit dem Internet. Wir haben Regeln.«

Also hielt ich den Mund. Ich war mit zwei durchgeknallten Frauen unterwegs, und wir hatten einen Hund am Hals, dessen nasses Fell zum Himmel stank. Was gab es da noch zu sagen?

»Der Hund kostet übrigens extra«, sagte Renate vorsichtig zu Nele. Ich konnte im Rückspiegel beobachten, wie Neles Gesicht ein paar Nuancen blasser wurde. »Aber wild campen ist bei diesem Wetter einfach nicht drin«, setzte Renate nach. Als ob es nicht völlig egal war, ob das Zelt hier oder auf einer Wiese im Matsch stand. Resigniert schloss ich die Augen und lehnte mich zurück. Fips war auf meinen Schoß geklettert und leckte mir den Hals. Das kitzelte zwar ein wenig, richtig heiter machte es mich aber nicht. Ich bekam allmählich kalte Füße in den klammen Schuhen, aber irgendwie … auch schon egal. Auch, dass ich mich dreckig fühlte und mich nicht waschen konnte. Müde ließ ich den Wagen an und lenkte ihn nach Renates Anweisungen auf einen kleinen Stellplatz, der eine Bergwanderung lang von den Sanitäranlagen entfernt war.

»Ich habe den günstigsten genommen«, sagte Renate zu Nele, die ihre Sprache immer noch nicht wiedergefunden hatte. In diesem Teil des Campingplatzes war kaum was los. Wer campte und dafür ein bisschen Kleingeld lockermachte, suchte selbst in solchen Anlagen den Komfort. Die beiden Zelte neben unserem waren viel robuster und wetterfester als unser kleines Spaßzelt. Sie hatten Vorzelte, und eines war sogar auf ein Auto gebaut, was die Besitzer vor Flutwellen und Überschwemmungen bewahrte. Unser Zelt dagegen war leicht, dünn wie aus Papier und exakt so groß, dass drei Menschen darin Platz fanden. Für das herbstliche Wetter, wie es hier herrschte, war die lausige Unterkunft keinesfalls konzipiert. Ich sah uns schon bei den anderen Campern um Obdach bitten.

»Da kommt wer«, sagte Nele plötzlich. Tatsächlich kam der Platzwart mit schnellen Schritten auf unser Auto zugeeilt. Sein T-Shirt, die Shorts und der Regenschirm waren allesamt mit der Schweizer Flagge oder dem Luzerner Wappen verziert. Ungeduldig klopfte er ans Seitenfenster.

»Ich hab noch mal gefragt, es ließ mir keine Ruhe«, sagte er, sobald Renate das Fenster heruntergekurbelt hatte. »Gritli könnte Greta sein. Die macht drüben im Schwimmbad die Burger und ist überübermorgen wieder da. Sie ist in Zürich. Meine Frau hat mich auf die Idee gebracht.«

Während ich mich noch fragte, ob der Mann stotterte oder ob er wirklich Sonntag meinte, rief Renate schon: »Super, danke!« Sie strahlte erleichtert. »Sonntag also, oder? Und kann man die Dame anrufen?«

Jetzt musste der Platzwart auch noch mal nachrechnen. Er sah etwas angestrengt aus, wie er da im Regen unter seinem Schirm stand. Ihm drang bereits trübes Matschwasser in die Sandalen.

»Ja, Sonntag. Überübermorgen. Nein, anrufen geht nicht, wir haben keine Nummer. Grüezi und gut’ Nacht.«

»Gibt es eine öffentliche Wärmestube hier auf dem Campingplatz?«, rief ich ihm noch nach, aber meine Worte gingen im Rauschen des Regens unter. Der Platzwart eilte zurück in sein Büro, wo es trocken und bestimmt kuschelig warm war und wo wahrscheinlich ein echter Jura-Vollautomat diensteifrig parat stand, um ihm einen frisch gemahlenen Cappuccino aufzubrühen.

»Und was ist, wenn Gritli gar nicht Greta ist?«, wagte ich zu fragen.

»Das wird sie schon sein«, bügelte Renate meine zaghafte Frage ab. »Ich meine mich zu erinnern, dass Sonja den Namen Greta erwähnte.«

»Da bin ich mir aber nicht so sicher«, gab ich zurück.

»Pscht!«, unterbrach Nele uns und drehte das Fenster weiter runter. »Hört mal, Musik!«

Tatsächlich hörten wir durch den Regen leise Akkordeontöne, zu denen ein paar brüchige Seniorinnenstimmen Rosamunde sangen.

Mit einem »Rührend« wurde Nele melancholisch und schnäuzte sich die Nase.

Wilder denn je trommelte der Regen aufs Dach. Ich hatte den Motor ausgemacht, und die Scheibenwischer lagen in tiefem Schlaf. In Bächen strömte das Wasser an den Fenstern herunter, so dass wir kaum noch etwas erkennen konnten.

»Dass eins klar ist«, erklärte ich mit majestätisch fester Stimme. »Ich werde heute auf gar keinen Fall ein Zelt aufbauen. Wenn wir hierbleiben, dann schlafe ich im Auto. Keinen Fuß setze ich da raus.«

»Und wenn du auf die Toilette musst?«, fragte Nele. »Willst du dann vielleicht ins Auto pinkeln?«

»Wenn ich heute Nacht pinkeln muss, dann setze ich mich neben den Wagen«, brüstete ich mich laut. »Mir ist inzwischen alles egal. Ich werde auf keinen Fall durch den Regen zu diesem Waschhäuschen gehen, das so weit weg ist, dass ich es nicht einmal erahne. Ich werde direkt neben das Auto pinkeln. Und wenn wir deswegen vom Platz fliegen, dann ist mir das nur recht. Und wenn es weiter so regnet, bleibe ich im Auto, und sollten daraus Tage, Wochen oder Lebensjahre werden.«

»Du kannst doch nicht davon ausgehen, dass wir die nächsten Tage hier in diesem R4 hausen. Ich weiß schon nicht, wie ich diese eine Nacht überstehen soll.«

Das war neu. Normalerweise warf sich doch Renate in jeden Karton, den man ihr bot. Auf einmal war der Wagen ihr zu klein. Klar, schlafen ging nur mit angezogenen Beinen, oder man blieb eben, wie als Jugendliche, die ganze Nacht wach. ’81 wäre das der Fall gewesen, und wir hätten uns prächtig dabei amüsiert.

»Du hast es gut«, giftete sie auch schon zu Nele auf die hintere Bank. »Du kannst es dir gemütlich machen, neben deinem Hundefuttersack.«

Renate und ich verknoteten unsere Beine miteinander, bis wir eine einigermaßen erträgliche Position eingenommen hatten. Fips saß mal auf dem einen, mal auf dem anderen Schoß, und wenn es uns zu viel wurde, dann ließen wir ihn kurz nach draußen. Wir erzählten uns schlimme Damenwitze, hörten Ina Deter und Wolf Maahn, und später, als wir ein bisschen Alkohol getrunken hatten, war es sogar fast gemütlich. Noch später wusste ich nicht mehr, dass ich Beine hatte. Dafür lachten wir, aßen von den Vorräten, und wir mussten die Fenster öffnen, damit der stickige Qualm rauskonnte.

Das Zimmer in Weißenburg erschien mir jetzt in der Rückschau luxuriös. Alles hätte ich für ein staubiges Bett gegeben! Mein Rücken schmerzte, und ich sehnte mich nach einer durchgelegenen Matratze. Aber es keimte auch ein Gefühl von Abenteuer in mir auf, wenn ich zurückblickte auf all das, was wir in den wenigen Tagen schon erlebt hatten. Wer weiß, ob wir die geheimnisvolle Gritli jemals finden werden, dachte ich.


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Wir saßen zwar in einem Kleinwagen im Regen auf einem matschigen Campingplatz fest. Doch wenn ich so darüber nachdachte, mit wem ich am liebsten im R4 eine Regennacht verbrachte, dann waren das eindeutig Nele und Renate.

»Ich les euch was vor«, erklärte Nele und begann, mit sehr ruhiger Stimme etwas zu zitieren.

Die Worte, ich erkannte sie sogleich, stammten aus meiner eigenen Feder. Genauer, sie las aus einem meiner Tagebücher vor, die mit im Rucksack gelandet waren. Dass sie das tat, war mir nicht unangenehm, denn wir drei wissen so und so fast alles voneinander. Dass es aber meine Hoffnungen, mein Sehnen war und die bis heute unerfüllten Träume, war mir wie ein Stoß ins Herz. Die Worte waren von 1981 und erzählten, wo ich einst gestartet war. Künstlerin hatte ich werden wollen, eine Projektmanagerin für fremde Erfolge war aus mir geworden. Ich wischte mit der Hand das beschlagene Seitenfenster frei und stellte fest, dass es nicht nur die Scheibe war, die meine Sicht beschlagen machte, sondern die Tränen, die in meinen Augen standen. Mit einem »Weinst du?« rutschte Renate von ihrem Sitz zu mir. Hilflos reagierte ich mit einem Achselzucken.

»Wir sprechen darüber«, sagte sie und nahm mich in den Arm. Unter Tränen begann ich wild zu nicken, und dann fühlte ich Neles Hand auf meinem Rücken, wie sie mich streichelte und sanft beruhigte. Ein nasses Etwas, Fips’ Zunge, bohrte sich in mein freies Ohr.

»Ich weiß nicht, was ich habe«, schluchzte ich in meinen Ärmel. Ich hoffte darauf, dass meine Tränen nur ein ungünstiges Symptom meiner Wechseljahre waren.