Kapitel 3
Daumen im Wind
- Udo Lindenberg -
»Wir fahren so wie immer«, bestimmte Renate, als wir in die verbotene Abkürzung durch den Weinberg einbogen. Ihre geflochtenen Zöpfe wippten bei jedem Schlagloch, das sie treffsicher mitnahm. Als Lehrerin war Renate daran gewöhnt, sich durchzusetzen. »Das macht richtig Spaß!«, jubelte sie. Noch freust du dich, dachte ich, aber auch deine Gebärmutter ist müde.
»So wie immer« bedeutete, dass die Wagenlenkerin den Weg bestimmte, dass ihre Musik gespielt wurde und dass sie die Frequenz der Pausen festlegen durfte. »So wie immer« hieß auch, dass dieser Urlaub in Weißenburg beginnen würde. Weißenburg war von Landau nur einen Katzensprung entfernt, lag aber in Frankreich, und deshalb war man schon ganz woanders, auch wenn man gerade erst losgefahren war.
»Mit einem Kaffee in Weißenburg beginnt der Urlaub«, rief Renate.
Die Fahrt von Landau nach Weißenburg dauerte nur eine knappe halbe Stunde.
»Gianna Nannini?«
Obwohl ihre Frage nach einer demokratischen Abstimmung klang, würde unser Kassettendeck gleich nur noch Renates Musik spielen. Krautrock, Herwig Mitteregger, Meat Loaf, Ulla Meinecke und natürlich jede Menge Frau Nannini. Und ausgenommen von Bello e impossibile fand ich die nur laut, ihre Lieder zu fordernd und furchtbar feministisch. Ich konnte mich gut an die Frauentanzbars erinnern, in denen sich die Lesben mit geballter Faust zu dieser Hymne verrenkten. Renate trällerte sofort in feinstem Italienisch mit, und Nele drehte sich zu mir um und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ja, ja, die Kooperative. Das Lied versetzte Renate in Übermut, und Fuchur verwandelte sich in eine angestochene Sau. Ich flog zur Seite, und aus der Tasche zu meinen Füßen roch es komisch. Oje, der Essig, den Renate immer für die Haare mitnahm. Am besten fiel ich gleich in ein Gestankskoma und wachte erst nach dem Urlaub wieder auf. Renate drehte die Musik noch ein bisschen lauter und ließ ihre Haare im Fahrtwind flattern. Ich verschnürte eine umgefallene Essigflasche mit Klopapier, grauem Umweltschutzpapier, mit blauem Siegel.
»Bello …«, sang Renate und rief ausgelassen: »Fraulich!« Ich kapierte: Logisch, vor wenigen Tagen hätte sie einfach »herrlich!« gesagt. Die Regeln, die Regeln. Ich stellte mich darauf ein, dass ab jetzt andere Vokabeln galten. Also, es hieß nicht mehr »O Gott«, sondern »O Göttin«. Nicht »man kann«, sondern »frau kann«. Nicht »der Mond«, sondern »la luna« – allein schon, weil das viel hübscher klang.
Ich griff mir die Töchter Egalias aus der Lesekiste, um schon mal zu üben.
Ich kannte niemanden, der das Buch zu Ende gelesen hatte, schon gar keinen Mann, es sei denn, er wollte sich bei einer Frauen-WG einschleimen.
Werner hatte das geschafft. Mit den Töchtern unterm Arm war er zum Frauentee erschienen und hatte sich in die Runde eingeschleimt. In Wirklichkeit war er nur auf Nele scharf gewesen. Neles verständnisvolle Art kam bei Werner besonders gut an, weil er das Wort Pazifist auf fast jedem Pulli trug. Wow!, hatten wir damals gedacht. Was für ein super Macker, kennt sich sogar mit Wolle aus. Damals dachten wir, die Männer mit dem sanften Augenaufschlag wären männliche Emanzen. Deswegen durfte Werner sich beim Frauentee auf einen Hocker kauern und mit uns über die Rolle der Frau, ihre Rechte auf Selbstbestimmung und über alternative Verhütungsmethoden diskutieren. Wenn er Glück hatte, durfte er sogar ein Diaphragma auf ausgestreckter Hand beäugen.
»Ach?! Damit verhütet ihr?«
»Und es dient uns auch als Tampon!«
Mit Schaudern dachte ich an das Auswaschen!
In den Töchtern Egalias waren Frauen das herrschende Geschlecht. Das hatten wir damals so neu gefunden, aber es war mühsam, und man quälte sich hindurch.
»Mir ist schlecht!«, jammerte ich. Die Federung gab nicht nach. Die Landschaft hoppelte an mir vorbei, und ich versuchte vergeblich, mit den Augen einen festen Punkt zu fixieren, weil das bei Übelkeit gut wirkt.
»In Weißenburg dürfen wir nicht zu lange bleiben«, kündigte Nele an. Sie hielt die veraltete Landkarte hoch, drehte sie mal nach rechts und mal nach links, klappte sie auf und wieder zu. »Der Wagen fährt nicht so schnell, wie ich dachte, und wir müssen noch einen Campingplatz bei Basel finden.«
»Bei Basel?«, fragte ich verwundert.
»Ja. Oder willst du vor dem Rathaus campen?«
Nele hatte sich Sonnengläser über ihre Lesebrille geklappt und maß die Strecke mit dem Daumen, weil das Rädchen wohl doch nicht die zuverlässigste Auskunft war. Wir fuhren im Schneckentempo, und wir würden noch langsamer werden, weil wir auch die Autobahn umgehen mussten. Wie damals. »Oder wir fahren zurück und schlafen noch mal auf der deutschen Seite, das ist sicher billiger«, schlug Nele vor.
Immer dieser Sparzwang. Ich jaulte leise auf.
»Günstiger«, korrigierte Renate die ungeschickte Wortwahl. Sie sang nicht mehr mit, weil Frau Nannini zu eiern begonnen hatte. So was aber auch! Mit einer ungeduldigen Handbewegung ließ Renate die Kassette aus dem Rekorder springen und beäugte die Angelegenheit expertinnenhaft.
»Offenbar ist sie zu heiß.«
Frau Nannini und zu heiß? Die konnte doch gar nicht heiß genug sein. Renate hielt die Kassette aus dem Fenster. »Vielleicht kühlt der Wind sie ein bisschen ab.« Das hatte schon früher nicht geholfen, weil die Kassetten nicht heiß liefen, sondern einfach kaputt waren.
Renate probierte nun den nächsten Trick, um die jaulende Interpretin wieder zur Räson zu bringen. Energisch klopfte sie mit der Kassette gegen das Lenkrad, doch die leistete trotzig Widerstand. Mieses Kassetten-Karma.
Nele ergriff die Gelegenheit und legte eine neue Kassette ein. »Da fliegt dir doch das Blech weg!«, rief sie begeistert, als Spliff erklang.
»Hey, Spliff!« Ich wurde wieder munter. »Weißt du noch, Renate, du hast mir das Album zum Geburtstag geschenkt, ich glaube, es war zum Dreiundzwanzigsten, und ich habe es innig geliebt. Die Kassette ist aber nicht von mir. Wer die wohl aufgenommen hat?«
In den 80ern zählte es zu den großen Liebesbeweisen, für jemanden eine Musikkassette zusammenzustellen, Mixtape nannte man das zu dieser Zeit. Gestaltete ein Mann auch noch ein Cover und schrieb alle Titel und Interpreten auf, womöglich sogar mit der Schreibmaschine, war davon auszugehen, dass frau auf echte Gefühle hoffen konnte. Später, als man mit dem Doppeldeckrekorder bequem Kassetten kopieren konnte, büßte diese besondere Liebeserklärung etwas an Unschuld ein. Nele, Renate und ich hatten tatsächlich von ein und demselben Liebhaber die gleiche Kassette bekommen. Als der Schwindel aufflog, war Michael schon lange weg, und wir entsorgten die Kassetten im Kollektiv. Schade eigentlich, denn Michaels Musikgeschmack war ziemlich gut gewesen, und jetzt hätte ich die Hits sehr gern gehört.
Heute schickten die Kerle einen YouTube-Link. Dass die Welt der Mixtapes irgendwann untergehen würde, hätte ich im Leben nicht gedacht. Deshalb war ich nicht sehr sorgsam mit den Kassetten umgegangen: Sie flogen ohne Hüllen im Auto oder in der Wohnung umher, und alle Beschriftung war umsonst.
Renate zündete sich eine filterlose Camel an und inhalierte genussvoll. In null Komma nichts waren wir von Nikotinnebel umgeben. In einem winzigen R4 zu rauchen ist so ziemlich das Fieseste, was es gibt. »Du bist echt asozial«, sagte ich ganz im Geiste der 80er zu Renate.
»Stimmt«, antwortete sie burschikos. Auch das waren die 80er. Wenn einem jemand betroffen kam, dann ließ man ihn einfach auflaufen, indem man sagte: »Du, ich nehm das an.«
Renate hatte seit Jahren keine Zigarette mehr geraucht und erst recht keine filterlose. Verblüfft stellte ich fest, dass es mit dem Rauchen wohl wie mit dem Fahrradfahren war, der Körper verlernt es nie: Die Camel hing lässig in Renates Mundwinkel, als hätte sie nie aufgehört zu glimmen. Ich hustete demonstrativ und japste nach Luft. Auch Nele hatte sich für die Reise vorgenommen, wieder zu rauchen, wie sie es mit zwanzig getan hatte. Ich fand das irrsinnig komisch. Da machten sie Ayurveda, Heilfasten und Gesundheitskuren, und jetzt zündeten sie sich Zigaretten an.
»Du auch eine?«, fragte Renate und hielt mir die Schachtel hin, aber ich verneinte. Ich hatte schon früher nicht vor 21 Uhr geraucht.
»Herrlich …«, freute sie sich inkorrekt und meinte die Pfälzer Berge, die uns umgaben. Bunte Felder schmiegten sich an die Hänge, kleine Dörfer und Burgen fügten sich malerisch in die Landschaft. An den Rändern der Weinäcker wuchsen Rosen, und Wicken rankten sich um die Rebstöcke.
»Hinter Weißenburg können wir noch ein winziges Stück die Autobahn benutzen, aber dann müssen wir runter«, kündigte Nele an. Sie schaute wieder in die Karte. »Ein Stückchen A5, dann ist Land angesagt.«
»Jetzt sind wir erst mal in Weißenburg«, sagte Renate. Wir fuhren auf das Pfälzische Weintor zu.
Nele warf vor Freude die Hände in die Luft, als wir auf einer Begrüßungsfahne »Willkommen in Wissembourg« lasen.
»Schade, dass es keine Zollbeamten mehr gibt«, beklagte sich Renate. Das neue Europa stahl uns den ersten Thrill früherer Reisen. Wie spannend die Fahrt über die Grenze gewesen war! Würde man rüberkommen oder gefilzt werden? Diese Frage hatte damals zu solchem Herzrasen geführt, dass wir an der Grenze stumm und zitternd im Auto kauerten. Bei der Abfahrt war es eine große Herausforderung, Kaffee und Weinflaschen möglichst unauffällig unter den Sitzen zu verstauen. Die mussten mit, weil es ja billiger war, Wein und Kaffee aus Vaters Keller und Mutters Schrank zu klauen, als sie vom knappen Haushaltsgeld selbst zu kaufen. Unsere Eltern sahen gutmütig über die fehlende Ware hinweg, bis auf das eine Mal, als ich Vaters Lieblingscognac in der Jutetasche hatte verschwinden lassen. Doch ansonsten waren wir immer gut mit Flaschen bestückt gewesen. Meist fühlte man sich schon als Ganovin, wenn man nur an Frankreich dachte. Was die Grenzkontrollen betraf, hatte die Geschichte von Dietmar aus der WG unsere Befürchtungen genährt. »Ich musste die Ente selbst ausräumen und dann wieder ein!«, hatte er sich beschwert. Vor den Augen der Beamten musste er sämtliche Weinflaschen auf dem Seitenstreifen aufreihen und abzählen, und es war eine Tortur, bis er endlich weiterreisen durfte. Die Schweine hatten ihn gefilzt. Obwohl Dietmar schimpfte und die Parolen »Macht aus dem Staat Gurkensalat« und »Nur wer sich widersetzt, ist unersetzlich!« aus sich herausposaunte, suhlte er sich doch in den Mädchenaugen, die an seinen Lippen hingen. Toll! Dietmar war von den Schweinen gefilzt worden, aber er hatte es stolz überlebt und sich nicht unterdrücken lassen. »Schade«, träumte ich mich leise in die vergangenen Bilder hinein. Niemand würde uns hier filzen, weil sich niemand für unsere Bratheringe in der Dose interessierte. Eine öde Grenze, nicht mal wirklich erkennen konnte man, ob man noch in Deutschland oder bereits im Urlaub war. Natürlich wäre auch heute eine Zollkontrolle aufregend gewesen. Ich ging davon aus, dass man uns in diesem R4 nicht über die Grenze gelassen hätte, auch wenn das Auto ein gebürtiger Franzose war. Drei Frauen in Latzhosen, Renate fuhr selbstverständlich barfuß, ich trug ungebrochen meine Gesundheitslatschen, und Nele hatte für die Fahrt die Espandrillos angezogen.
»Darf man heute zu Espandrillos eigentlich noch Jesuslatschen sagen?«, fragte ich nach vorn. Ich war froh, dass ich bald ein wenig Freigang bekommen würde, aber es dauerte, bis Renate am alten Kloster von Weißenburg eine Parklücke fand, die groß genug für die schwerfällige Lenkung war.
»Ich finde, wir sollten die Kasse knapp halten, weil das zu den Regeln gehört«, meinte Nele und zückte die Niveadose. »Wenn wir reisen wie 1982, dann sollten wir so wenig Geld wie möglich ausgeben, weil wir nämlich keins haben. Also Wasser aus dem Hahn und keinen teuren Sprudel. Zuerst brauchen wir unsere Vorräte auf. Kaffee, Eis und Kuchen gibt es nur gelegentlich und nur nach Absprache. Renate macht den Joghurt, ich die Fladen, und du«, sie sah mich etwas ratlos an, »behältst alles im Blick.«
»Wir finden schon noch was für Trudi«, stichelte Renate los. »Zelt auskehren, Geschirr spülen, es gibt viel, womit man sich beim Campen nützlich machen kann.«
Demonstrativ legte ich siebzig Euro in die Dose. Sollten die mal sehen, was ich zu bieten hatte!
»Fünfzig Euro«, wies Nele mich zurecht und gab mir den Zwanzigeuroschein zurück.
»Lass sie doch, unsere Madame Großkotz«, brummte Renate und legte ihren Anteil in die Dose.
Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass Madame Großkotz es ihr irgendwann heimzahlen würde. In Gedanken zog ich schon mal das Band aus der Kassette von ihrem Lieblingssänger Paolo Conte. Ehe wir den R4 endlich verlassen durften, fertigte Nele noch einen Kassenzettel an, auf dem wir alle Ausgaben notierten.
Aber ich kannte Nele und Renate nur zu gut, um zu wissen, dass es nur einen kleinen Schubs brauchte, um sie aufmüpfig zu machen. Nicht jedes Spiel muss zu Ende gespielt werden, nicht jede Idee ist bis zum Ende gut.
»Wisst ihr was«, sagte ich also und streckte mich, kaum dass ich aus dem Wagen gekrochen war. »Eure Töchter sind ja nicht hier, und wir können doch machen, was wir wollen. Lasst uns diese Reise genießen. Wir müssen es Anna und Sarah ja nicht sagen. Was meint ihr?«
Vorsichtig sah ich von einer zur anderen. »Ja, wir haben Ravioli dabei, aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass wir die auch essen müssen.« Ich setzte ein breites Grinsen auf und fühlte mich, als wollte ich Renate und Nele zum Schuleschwänzen überreden.
»Ich will die aber essen!«, erklärte Nele so entschieden, dass die kleine Hexe an ihrem Ohrring tanzte.
»Ich auch!«, pflichtete Renate ihr motzig bei.
»Was du immer hast«, wunderte sich Nele.
»Und meint ihr nicht, wir könnten uns wenigstens ab und zu ein wenig Luxus gönnen?«, versuchte ich es noch einmal.
»Das hier ist Luxus«, erklärte mir Renate, und Nele legte den Arm um mich, damit ich mich etwas besser fühlte.
Wir schlenderten los in Richtung Weißenburger Innenstadt. Renate natürlich ohne Schuhe, dafür mit Glockenkettchen am Fußgelenk. Wir boten einen großartigen Anblick in diesem Aufzug und mit den Federn im Haar. Früher trugen wir eingefärbte Taubenfedern, bis uns jemand sagte, dass die voller Flöhe waren. Später nahmen wir Kunstfedern, und was ich jetzt im Haar hatte, wollte ich gar nicht wissen. Langsam trottete ich den beiden hinterher. Ich brauchte keine Fünfsternesuite, aber ich wollte mich nicht die ganze Zeit von Dosenfraß ernähren, und mir graute vor den Wochen im Schlafsack.
Ob ich die Frage nach dem ADAC noch mal aufbringen sollte, jetzt, wo wir uns noch im Zwischenland bewegten? Auf der Höhe von Baden-Baden würden wir die Grenze wieder überqueren, und dann konnten wir ohne großen Zeitverlust einen ADAC-Auslandsschutzbrief abschließen. Das Gekeuche deutete doch schon an, dass Fuchur ernsthaft grippegefährdet war. Hatte denn nur ich das wahrgenommen?
»Also, wenn ihr wollt«, Nele zählte nun schon zum zweiten Mal die Scheine in der Niveadose, »gibt’s jetzt für jede einen Kaffee.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Aber nur to go, auch wenn es das damals noch nicht gab.«
»Eben«, motzte ich.
Ein japanischer Tourist sah uns und filmte sofort los. Ich streckte ihm die Zunge raus. Später, wieder daheim, konnte er dann erzählen, er hätte in Europa eine Spezies von Amish People gesehen, die sich wie Maori begrüßten.
»Na bitte, wie für uns bestellt.« Nele zeigte auf eine Parkbank. Immerhin, sie stand auf einem lauschigen Plätzchen, gleich neben einem Springbrunnen, und von der Bank aus sahen wir das alte Münster. Es lag in goldenes Licht getaucht, insgesamt ein schöner Anblick. Vielleicht war das ein gutes Omen.
»Weißt du«, stupste ich Renate an, »ich hab einfach ein bisschen Muffe, dass mir diese Zelterei nicht gut bekommt. Das harte Liegen ist nichts für mein Kreuz.«
»Ach was, dann mach ich dir ein Lager aus meinen Kleidern«, beruhigte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Und noch was«, sie schlug einen sanften Ton an, »tut mir leid wegen vorhin, war nicht so gemeint.«
»Schon gut«, winkte ich ab. Wir kannten und stritten uns seit über dreißig Jahren. »Du bist eben voll auf dem Trip und ich noch nicht. Schau, da kommt auch schon Nele mit dem Kaffee.«
Die Feder, die Nele sich in die Locken gesteckt hatte, wippte mit jedem Schritt und schien unsere Freundin ein Stück mit sich in die Höhe zu liften. Federleicht und schwungvoll war ihr Gang, und ich erinnerte mich an eine wissenschaftliche Untersuchung, die besagte, dass Menschen wirklich jünger werden, wenn sie einfach so tun, als ob dies so ist.
Die Konditoreibesitzerin war nicht jung. Sie sah noch genauso hochnäsig wie vor zwanzig Jahren aus, mit ihren hochtoupierten Locken und der spitzen Nase. Ganz die Madame, aber aus Weißenburg nie weggekommen. Solche Menschen waren mir die liebsten. Und die Feder im Haar, die konnte man bei ihr vermutlich lange suchen. Nicht mal Daunenfedern aus dem Bett wagten sich an die heran. Ausgiebig wischte sie draußen die Tische und sah dabei immer wieder zu uns rüber. Sie wusste wohl nicht so recht, in welche Schublade sie uns drei Walküren stecken sollte.
»Mmh.« Nele nippte am Kaffee, lehnte sich genussvoll auf der Bank zurück, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Renate und ich taten es ihr gleich, und alle drei, wie auf Befehl, streckten wir die Beine aus. Zum ersten Mal seit Stunden hatte ich das Gefühl, dass aus dieser Reise doch noch etwas werden könnte. »Machen wir nachher im Münster ein Kerzchen an«, nuschelte Nele.
»Ja, das machen wir.«
»Als ich damals in Italien war«, erzählte uns Renate mit geschlossenen Augen, »da war es so heiß, dass ich fast nur in Kirchen hockte. Aber selbst dort war der Marmor warm geworden.«
»Mmmmh«, stimmte ich ihr schläfrig zu und schob die Gedanken weg, die sich mir mit dem Stichwort »heiß« aufdrängen wollten, ein Wort, das mein Chef benutzte, wenn es um schnelle Aufträge ging, die wieder einmal eine Nachtschicht verlangten. Mit geschlossenen Augen nippte ich am Kaffee. Schön, jetzt so dösen zu können, ohne zu wissen, was man verpasste.
»Hey, fahrt ihr zufällig Richtung Italien?«
Ein Schatten fiel auf unsere Gesichter. Wir erschraken und setzten uns abrupt auf. Das geht aber schnell, dachte ich und erkannte einen jungen Mann, den ich auf nicht mal dreißig schätzte.
»Wie kommst du darauf, dass wir nach Italien wollen?«, fragte ich ihn geradeheraus.
»Weil alle Reisen nach Italien mit einem Kaffee in Weißenburg beginnen«, sagte der Junge. Seine Selbstsicherheit versetzte mir einen kleinen Stich. »Sorry, ich bin übrigens Marco«, stellte er sich vor. Er trug einen Blumenkranz auf dem Kopf. Der Kranz war ganz frisch, als hätte Marco erst vor wenigen Minuten ein »Blumen zum Selberpflücken«-Beet rasiert.
»Genau Renates Typ«, flüsterte Nele mir ins Ohr. In der Tat. So ein Blumenkranz, kombiniert mit diesem hübschen Lachen und den Grübchen, das war genau nach Renates Geschmack.
»Außerdem«, Marco tippte auf das Italienischwörterbuch, das neben Nele auf der Bank lag, »war ich schon immer ein kleiner Sherlock Holmes.«
Renate lachte laut auf. Ruckartig schauten Nele und ich zu ihr hinüber. Sie hielt den Kopf dabei etwas schief, ein deutliches Signal.
»Rutscht ihr ein bissel, dann pass ich zu euch auf die Bank.«
»Ähm …«, stotterte Renate, was Marco als Zustimmung verstand. Er setzte sich neben sie und fing gleich an zu erzählen, dass er nach Italien trampte und was für ein Glück das war, dass er uns getroffen hatte, und wie schön es doch war, hier auf der Bank mit uns zu sitzen. Renates Augen strahlten.
So schnell hatte ich nicht mit Herrenbesuch gerechnet. Und Renates in den letzten Jahren an den Tag gelegte Gleichgültigkeit gegenüber Männern? Hatte sie den Männern nicht abgeschworen? Mit zwanzig hätten wir Marco eingepackt. Aber wir waren fünfzig, und ich brauchte meinen Platz.
Marco schnorrte eine Zigarette von Renate und paffte angeberische Ringe. Er hatte damit schon ganz das Gehabe drauf wie die Typen in meiner Abteilung, wenn sie von ihrem Dienstwagen erzählten. Komisch, dass Männer sich so wichtig nahmen – und ihre Ringe auch.
»Vor Weißenburg habe ich lange warten müssen, keiner wollte mich mitnehmen.«
Wieder blubberte ein perfekter Ring aus seinem Mund, und Renate probierte es auch schon. Wie zwei Steiff-Bären mit Pustefix hockten die beiden auf der Bank. Nele pochte verstohlen auf ihre Uhr. Es war eine frühe Digitaluhr, mit eckigen Ziffern, deren Anzeige 3551 als »Esel« gelesen werden konnte. Wenn Nele meinte, dass ich nun zum Aufbruch drängen würde, dann hatte sie sich geschnitten. Für meinen Teil hatte ich heute schon genügend Fett abbekommen, also blieb ich schweigsam und lauschte interessiert der warmen Luft, die aus Marcos Mund selbst nach den Ringen kam.
»Ich bin aus Berlin, und ihr?« Nicht antworten, dachte ich. Die Frage ist nur rhetorisch gemeint, auch das kannte ich von den wöchentlichen Sitzungen im Büro.
»Die meiste Zeit im Jahr lebe ich in Berlin. Ich studiere dort. Urbanes Lebensdesign!« Urbanes Lebensdesign. Boah!
Nele sah mich hilflos an. Was will der Kerl?, schien sie zu fragen.
Renate stand bereits unter Narkose und nahm den Berliner Jungen ernst. Auch meine kritischen Zwischenfragen würden sie nicht zur Besinnung bringen, also nutzte ich die Situation, um den Flirt im Alter zu beobachten. Ich meine, das war hier doch wie Lernen am offenen Herzen. Kaum taucht so ein Lockenköpfchen auf und bläst ein paar Ringe in die Luft, schon sind die Frauen hin und weg. Außer mir natürlich. Ich machte mir nichts aus jungen Männern. Außerdem hatte ich einen Mann daheim. Und Renate, deren Anti-Männer-Eid war erkennbar bedeutungslos geworden. Die satten zwanzig Jahre zwischen ihr und Marco, kein Problem! Wenn man immer mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, dann ist man so und so dreimal jünger, und Zahlen und Geburtsjahrgänge, du liebe Zeit, die bedeuten nichts. Völlig verstaubt und konservativ, wer heute noch in Jahresringen denkt.
»Berlin ist viel freier als dieses komische Weißenburg.« Marco sah sich um. »Das ist hier voll das Rentnerparadies. Ganz brav hintereinandergehen, wie die Enten. In Berlin hätte das Volk schon längst die Straße instand besetzt.«
Instand besetzt! Ich atmete konzentriert ein und aus und legte dabei die Zunge an den Gaumen. Das half, hatte ich im Yoga gelernt, wenn man kurz davor ist, aus der Haut zu fahren. Renate klimperte mit den Wimpern. O ja, mit Instandbesetzungen kannte sie sich aus, sie kam nur nicht dazu, davon zu erzählen, weil nämlich Marco unter verbalem Dünnpfiff litt.
»Berlin hat mich versaut«, versuchte er sich besser zu erklären. »Das ist so, wenn man in dieser Megacity lebt. Dann kannst du nicht mehr zurückschrauben, weil die Ansprüche einfach zu sehr gestiegen sind. Aber na ja, man will ja trotzdem was sehen und reisen. Nur Weißenburg, das ist echt too much für mich.«
»Ich finde es hier sehr gesellig«, überspielte Nele die Tatsache, dass wir Anfang zwanzig Weißenburg auch schon ziemlich lahm gefunden hatten. Der Kaffee, die Eclairs, die Zigaretten und die Franzosen waren aufregend, aber die Stadt an sich? Und die Aspirin und die Kosmetik, die waren in Weißenburg billiger gewesen. Aspirin … hatten wir so was wohl dabei?
»Haben wir eigentlich Aspirin dabei?«, erkundigte ich mich sofort bei Nele, weil Renate mit anderem beschäftigt war.
»Wie kommst du denn jetzt da drauf?«
»Weil das gegen Schädelbrummen hilft!«
Meine Augenbrauen tanzten zu Marco und Renate hin.
»O ja, Berlin ist super«, hauchte Renate schon ganz verträumt und beamte sich hundertprozentig in das alte Westberlin der 80er Jahre, das damals ein Magnet für Kriegsdienstverweigerer und Späthippies aller Art gewesen war. War Marco zu dieser Zeit wohl schon geboren? Freundin, die ich war, erkundigte ich mich nicht. Nele rutschte unruhig hin und her. Die Kaffeebecher waren leer, und wir wollten heute noch eine ganz schöne Strecke hinter uns bringen. Mindestens bis Basel. Missmutig zerknautschte auch ich den Pappbecher in meiner Hand, doch Renate war für Signale nicht empfänglich Sie kicherte wie ein junges Mädchen und ließ ihre Fußglöckchen verführerisch erklingen. Marco hingegen wurde nicht müde, ihr von seinem Studium zu erzählen und von der Website, die er mit drei Kumpels plante. Na und?, dachte ich. Sollte das vielleicht ein Kracher sein? Eigentlich sprach er nur mit Renate. Er absorbierte sie! Das war unhöflich! Das war … gemein! Ein echter Macker war das. Ein Scheißmacker! Ich wollte Marco loswerden. Aber Renate stellte eine wissbegierige Frage nach der anderen. Minütlich wollten mehr und mehr ihrer Abiturienten auf einmal Urbanes Lebensdesign studieren, was immer das auch war, und selbstvergessen spielte sie mit ihren Zöpfen, in die Marco bereits ein grünes Seidenband geflochten hatte. »Das passt so gut zu deinem maronibraunen Haar und der schönen Feder.«
Es war klar, er flog ebenfalls auf sie. Renate sah einfach hinreißend aus und lebte unsere Kostümierung vorbildhaft, weil es für sie nämlich keine war. Völlig authentisch bewegte sie sich in ihrer Kluft und wurde dadurch so anziehend wie eine Apfelschorle in der Sonne für die Bienen.
»Jetzt reicht’s«, hörte ich mit einem Mal Nele leise fluchen. »Wir kommen gleich wieder«, und damit entschied sie, dass ich mit ihr auf die Toilette zu gehen hatte.
Kaum hatten wir die Tür hinter uns zugezogen, polterte sie auch schon los.
»Das gibt’s doch nicht! Wir sind gerade mal zwei Stunden unterwegs!«
»Die reine Fahrzeit zu dritt beträgt nur dreißig Minuten«, korrigierte ich sie detailverliebt.
»Ach was«, wischte sie meine Genauigkeit weg. »Kannst du mir sagen, was das da draußen soll? Ich denke, sie will keinen Mann mehr! Ich denke, sie hat die Schnauze voll! Ich denke, niemand soll in Gegenwart von Renate das Wort ›Liebe‹ auch nur denken!«
Stocksauer riss sie sich ein Papiertuch aus dem Halter und schnäuzte lärmend in das arme Tuch hinein. »Warum machen wir das hier denn alles?« Mit einer heftigen Bewegung schmiss sie das zerknüllte Tuch zielsicher neben den Eimer. »Für wen denn? Doch nur wegen Renate, weil sie unbedingt den Italiener wiedersehen wollte. Jahrzehntelang lag sie uns damit in den Ohren, dass ich es schon gar nicht mehr hören wollte.«
»Äh …«, versuchte ich es kurz.
»Oh, oh, oh! Maurizio und Olivenöl und bella Italia und Schafskäse …«
All das hatte Renate nie gesagt. Eins war klar, jetzt schnappte auch noch Nele über!
»Wieso klebt sie dann auf dieser Bank?« Pause. »Sie lacht! Sie lässt die Füße tanzen!« Pause. »Der, der, der …«, sie rang förmlich nach Luft, »dieser … der … der …«
»Marco«, half ich ihr sachlich aus.
»… der will sie doch nur vernaschen!«
Was nicht das Schlechteste war, was man unserer Freundin wünschen konnte.
Ich hob Neles Schnupftuch auf und warf es ruhig in den Eimer.
»Hättest du vielleicht auch gerne einen kleinen Flirt?«, klopfte ich vorsichtig mal an, und ein Atompilz stieg aus der Weißenburger Toilette auf. Nein, erwiderte Nele scharf, sie wollte ganz sicher keinen Flirt und schon gar nicht mit so einem jungen Typen. Es ging hier nicht ums Flirten, sondern um Regeln und eine gemeinsame Zeit.
»Das war nicht abgemacht!«, schimpfte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
»Was willst du denn da abmachen?«, holte ich sie mit etwas lauter werdender Stimme runter. »Über Männerbekanntschaften haben wir gar nicht gesprochen, und wenn, dann nur du! Mach bitte mal halblang! Der Typ ist gleich wieder weg, und dann gibt es nur noch uns. Kein Drama! Außerdem haben wir uns ’81 alle ständig und überall verknallt, also macht Renate alles richtig!« Ich legte eine gönnerische Pause ein. »Auch du!«
Sollte sie sich ruhig an ihre Nächte in fremden Zelten erinnern.
»Renate will doch gar nichts von dem«, redete ich besänftigend auf Nele ein. »Die plaudert doch nur ein bisschen.« In diesem Moment hörten wir Renate draußen so laut lachen, dass es durch alle Wände drang.
Eine Stunde später saßen wir noch immer vor der Konditorei. Und das, obwohl Nele direkt nach unserem Toilettengang um Weiterfahrt gebeten hatte.
»O ja«, hatte Renate genickt und Marco erklärt, dass die Campingplätze in Basel ja früh schlossen, aber dann musste Marco doch noch was erzählen.
»So wie du müssten alle Lehrer und Professorinnen sein«, schwärmte er im nächsten Moment, natürlich an Renate gewandt. »Ich glaub, du bist eine super Lehrerin!«
Renate senkte berührt den Blick. Zwei Schnaufer untermalten die zärtliche Situation. Der eine kam aus meiner, der andere aus Neles Nase. Ungehindert zog Marco eine Rolle Kekse aus seinem Rucksack. »Ich geb einen aus«, strahlte er, »weil’s so gemütlich mit euch ist.«
»Wir müssen noch mal«, knurrte Nele und zupfte mich am Ärmel.
»Habt ihr es an der Blase?«, rief uns Renate treuherzig hinterher. Sie ahnte nichts und wollte auch nichts ahnen. »Und wie alt ist noch mal deine Tochter? Das gibt’s doch nicht«, hörten wir im Weggehen Marco weitersäuseln.
»Eines ist klar, wenn wir wieder rausgehen, beendest du den Zwischenstopp!«, befahl sie mir und strich sich empört eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Renate soll sich mit ihrem Loverboy nach dem Urlaub treffen. Jetzt sind wir dran!«
Wütend zog Nele sich die Hose glatt. Der Frauenbutton am Träger hatte sich verdreht. Die kleine Hexe hing kopfüber. Wie das alles passt, dachte ich. Zu ärgerlich aber auch, dass ich jetzt nicht Wolfgang anrufen konnte, um ihm von unserer Kaffeefahrt brühwarm zu erzählen. Kringelig hätten wir uns gelacht!
»Und du bist jetzt gleich ganz klar! Es gibt keine Ausreden, hast du gehört!«, schärfte mir Nele meine Aufgabe ein. Dann wusch sie sich die Hände und drehte den Wasserhahn mit einem Papiertuch in der Hand wieder zu.
»In den 80ern haben wir noch die Hand genommen«, ich zeigte mit dem Finger auf den Hahn. Nele verstand nicht gleich. »Na, es gab damals noch keine Schweinepest oder so was. Nur Waldsterben. Erinnerst du dich? Man konnte sich die Hände einfach waschen. Kein Sagrotan und keine Bakterien, die am Wasserhahn lauerten.«
»Komm lieber!«, befahl mir jedoch Nele.
»Na ihr?«, begrüßte uns Renate, als wir wieder nach draußen kamen. »Marco hat gerade vorgeschlagen, über Nacht hier in Weißenburg zu bleiben, bevor wir Richtung Dolomiten fahren.«
»Dolomiten?« Neles Stimme toste wie eine Sirene los. Aber Renate ließ sich von dem Klang nicht weiter beirren, sondern studierte mit Marco eine Landkarte, die er aus dem Rucksack gezogen hatte. Sein Smartphone durfte er ja nicht benutzen, zumindest nicht auf dieser Bank.
»Wir fahren über München, Bozen direkt nach Italien, erst Venedig und dann Bologna. Das ist die direkte Strecke.«
Es war unfassbar. Sie fing schon wieder mit direkten Strecken an.
»Und ich fahr bei euch ein kleines Stück mit«, informierte uns Marco wie nebenbei, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Aber … aber wir wollten doch über Basel nach Italien«, protestierte Nele schwach und ließ sich auf den Hintern fallen.
»Aber das liegt doch fast auf der Strecke. Und du hast vorhin selbst gesagt, dass wir Zeit haben. Am besten bleiben wir hier eine Nacht, für die nächste Etappe ist es eh schon zu spät.«
Renates Finger radelte weiter emsig auf der Karte und kam sich – hoppala! – häufiger mit denen von Marco in die Quere. Beide diskutierten heiß und hingen über dem alten Knitterding, welche von allen die beste Tour mit den schönsten Ausblicken war.
Sieh mal eine an, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. Langsam wird der Urlaub spannend!