Die versunkene Welt

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

JEAN PAUL

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SeesternSansibar, Anfang August 1885



»Was gibt es Neues von unserem geheimnisvollen Schiff ?«

Dr. John Kirk, seit über einem Jahrzehnt Generalkonsul Großbritanniens auf Sansibar, war beunruhigt. Über die baldige Ankunft eines deutschen Geschwaders als Druckmittel auf den Sultan war er unterrichtet, doch das kleine Dampfschiff unter deutscher Beflaggung, das seit vier Tagen immer wieder vor dem Hafen auftauchte, tagsüber in gebührender Entfernung zur Küste den Anker auswarf, dann wartete, bis es dunkel war und es Leuchtsignale aussenden konnte, bevor es sich bis zum nächsten Morgen wieder davonmachte, gab ihm Rätsel auf.

»Sie haben mich nicht draufgelassen«, erwiderte der sansibarische Junge, den er gegen ein paar Rupien auf einem Fischerboot als Kundschafter ausgeschickt hatte, auf Suaheli und fügte ein zackig englisches »Sir!« hinzu, ehe er in seiner Muttersprache fortfuhr: »Aber ich hab gesehen, dass sich drei Frauen auf dem Schiff verstecken, Sir! Ich hab ihre Röcke gesehen.« Ein breites Grinsen auf seinem braunen Gesicht entblößte ein Paar weißer, ungewöhnlich großer Schneidezähne im Oberkiefer. »Ich hab ihre Füße gesehen!«

Kirk schob den Unterkiefer vor und kraulte sich nachdenklich den struppigen lohfarbenen Bart, über den sich seine Gattin Helen seit ihrer Heirat vor siebzehn Jahren beklagte, er kratze wie eine Scheuerbürste – was ihn weder dazu hatte bewegen können, ihn abzunehmen, noch einen Hinderungsgrund dargestellt hatte, zusammen einen Sohn und fünf Töchter in die Welt zu setzen.

Was ihm der Junge berichtete, deckte sich mit dem, was auch Fischer und Matrosen an Bord sansibarischer und afrikanischer Boote und Segler beobachtet hatten: Drei Frauen befanden sich an Bord der Adler – eine Mutter, etwa Anfang vierzig, von dunkler Hautfarbe und mit schwarzem Haar, ihre beiden Töchter und ein Bursche, der zwar aussah wie ein Araber, aber europäische Kleidung trug und durchaus auch Spanier sein konnte, vermutlich der Sohn und Bruder. Diese Beschreibung, zusammen mit dem Umstand, dass besonders die Mutter sich fast immer, wenn sich ein anderes Schiff näherte, hinter einem Sonnensegel oder hinter den Aufbauten verbarg, ließen bei Dr. Kirk einen ungeheuren Verdacht aufkeimen.

In seiner Eigenschaft als Generalkonsul mit all den dazugehörigen Aufgaben und gesellschaftlichen Verpflichtungen ständig überarbeitet, hatte er mit der Zeit schon fast ganz vergessen, dass er vor bald zwanzig Jahren ein Kriegsschiff zur Verfügung gestellt hatte, um einer Schwester des damaligen Sultans Majid zur Flucht von der Insel zu verhelfen. Mrs Seward hatte ihn damals um Hilfe ersucht – Mrs Seward, die auch dafür gesorgt hatte, dass die ledige Helen Cooke kurz darauf ein Schiff betrat, das sie nach Sansibar brachte, um Kirks Frau zu werden. Vergangenen Oktober waren die Sewards nach Großbritannien zurückgekehrt, um Dr. Sewards wohlverdienten Ruhestand nach bald dreißig Jahren in der Fremde zu genießen. Mrs Sewards blaue Augen und ihre überaus charmant vorgebrachte Bitte waren nicht der einzige Grund gewesen, weshalb Kirk bereitwillig die Rolle des Fluchthelfers übernommen hatte. Es war vor allem die Überzeugung gewesen, damit Leben zu retten, die unverdienterweise mit dem Tod bedroht gewesen waren, die letztlich den Ausschlag für sein Handeln gegeben hatte. Ein Einsatz christlicher Nächstenliebe von aus seiner Sicht nicht einmal besonderer Tragweite, für den er nie Dank erwartet und an den er kaum mehr einen Gedanken verschwendet hatte.

Bis er Sultan Barghash vor fast genau zehn Jahren nach London begleitete. Kirk hatte erstaunt, ja geradezu befremdet festgestellt, in welcher Aufregung sich sowohl die englische Regierung als auch das deutsche Auswärtige Amt befanden, als sei eine mögliche Begegnung zwischen Bruder und Schwester eine Angelegenheit von internationaler Bedeutung. Die Deutschen waren durchaus dafür, die Briten unbedingt dagegen, und Kirk stand als Vertreter Großbritanniens sowie als Vertrauter des Sultans und damit als Ansprechpartner für deutsche Anliegen genau zwischen den Fronten. Der an Fanatismus grenzende Hass des Sultans auf seine Schwester war ihm ebenso ein Rätsel wie der Zorn der Königsfamilie auf den orientalischen Herrscher, wie die hektischen Bemühungen der britischen Regierung, eine solche Begegnung zu verhindern, und ebenso wie die Einmischung des Kaiserreichs.

Erst die Jahre, die auf diesen Besuch folgten, die Nachrichten über den Fall Ruete, die in seinem Konsulat eintrafen, der Brief, den Emily Ruete vor zwei Jahren an ihren Bruder schrieb und den Barghash ihm übergab, ließen ihn allmählich ahnen, dass Emily Ruete zur Schachfigur im Wettlauf Deutschlands und Englands um Afrika zu werden drohte. Durchaus aus eigenem Verschulden, wie Kirk verärgert feststellte. Es missfiel ihm, wie hartnäckig sie an hochgestellte Persönlichkeiten zwischen Berlin, London und Cairo herangetreten war, um ihr Anliegen vorzubringen. Wie sie sich Barghash angedient und versucht hatte, ihn gegen Großbritannien einzunehmen, zu ihrem eigenen Vorteil. Hoffärtig fand er dieses Verhalten, anmaßend ihr Beharren auf Geld, das sie für sich beanspruchte, und verbohrt obendrein. Statt sich mit dem Los zu bescheiden, das das Leben ihr zugedacht hatte – das Leben, das sie mit ihrem Verhältnis zu einem Deutschen selbst gewählt hatte –, brachte sie die Beziehungen zwischen dem Sultan und den Europäern in Gefahr.

Sollte sich an Bord dieses deutschen Dampfers, der sich derart merkwürdig verhielt, tatsächlich Bibi Salmé befinden, könnte dies einiges verändern auf Sansibar. Kirk traute den Deutschen nicht über den Weg, und er traute ihnen allerhand zu – sogar, dass sie den Sohn von Emily Ruete als Marionetten-Sultan einsetzen wollten.

»Pass auf«, wandte er sich an den Jungen, der bereits begonnen hatte, ungeduldig über das lange Schweigen des Konsuls, von einem Bein auf das andere zu treten. »Du bekommst noch einmal so viel Geld von mir, wenn du Folgendes tust …«

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Muschel»Wann kann ich endlich an Land?«

Emily umklammerte die Reling der Adler so fest, dass ihre Sehnen und Muskeln zum Zerreißen gespannt waren.

»Wir müssen auf den restlichen Flottenverband warten, Frau von Köhler. So lautet der Befehl«, gab Leutnant von Dombrowski ihr zur Antwort, nickte ihr knapp, aber nicht unfreundlich zu und begab sich unter Deck.

Dieselbe Antwort, seit Tagen schon, auf die Frage, die Emily unablässig stellte, seit sie zum ersten Mal wieder einen Blick auf ihre Heimat geworfen hatte. Vier Tage kreuzten sie nun schon in den Gewässern vor Sansibar, hielten tagsüber Ausschau nach dem Geschwader der Kaiserlichen Marine, das von seinem Stützpunkt an der Westküste Afrikas aus eintreffen sollte, und schickten des Nachts fragende Leuchtspuren in die Finsternis über dem Ozean. Bislang ohne die erhoffte Erwiderung.

Emilys anfänglich überwältigendes Glücksgefühl war unter der Sonnenglut an Deck dahingeschmolzen, hatte sich in der bedrückenden Enge des Dampfers, der ursprünglich für den Transport von Schafen von Bremerhaven nach Hull oder London gebaut und in aller Eile für sie als Passagiere hergerichtet worden war, der sich jedoch nicht dafür eignete, dass man längere Zeit darauf lebte, zu einem harten, quälenden Knäuel in ihrer Magengrube zusammengeballt.

Grausam war es, Sansibar nur aus der Ferne sehen zu dürfen. Die körperlichen Leiden, die Emily in Deutschland geplagt hatten, die steifen Gelenke und die Kopfschmerzen, ihr flatterndes Herz und der unruhige Magen, waren verschwunden. Sie vergaß, dass ihr Leib Spuren trug von bald einundvierzig Lebensjahren, von Schwangerschaften und Geburten. Dass Leid und Not und viel zu viele Tränen daran genagt, ihn ausgewaschen oder plumper gemacht hatten, so wie das Meer der Küste über die Jahre kaum merklich eine neue Gestalt gibt, mit jedem Anrollen, mal sacht, mal voll heftigen Zorns. Emily fühlte sich keinen Tag älter als zwanzig. In ihr vibrierte eine Kraft, die sie längst erstorben geglaubt hatte und die in der erzwungenen Bewegungslosigkeit auf dem kleinen Schiff wehtat in den Muskeln und in den Knochen. Ein ziehender, bittersüßer Schmerz voller Lust und Sehnen. Sie wollte barfuß durch den Sand rennen, auf dem Rücken eines Pferdes durch die Wälder und Plantagen der Insel galoppieren, mit großen Schritten durch die Stadt streifen. Sie wollte Sansibar nicht nur sehen, seine Geräusche nicht nur aus der Ferne hören – sie wollte es riechen, schmecken, fühlen, mit allen Sinnen in sich aufnehmen. Wieder ein Teil davon sein.

Emily konnte den Blick nicht von der Insel lösen. Sog gierig jedes noch so kleine Detail in sich auf, verglich, was sie sah, mit den Bildern, die sie all die Jahre in ihrem Inneren mit sich getragen hatte.

Das Antlitz Sansibars hatte sich verändert, von Natur und von Menschenhand. Ein Orkan, der vor dreizehn Jahren in blindwütigem Toben seine Klauen in die Insel geschlagen hatte, der nachfolgende Wiederaufbau. Majids Gleichgültigkeit und Barghashs Faszination für die Lebensweise der Europäer, die ihn dazu bewog, keine Kosten zu scheuen, um an technischem Fortschritt und feiner westlicher Lebensart mit fremdländischen Herrschern mithalten zu können.

Das alte Zollhaus, das dem Wüten des Tropensturms eine leichte Beute gewesen war, hatte man durch ein neues, viel größeres und eleganteres ersetzt. Was gewiss auch nötig war, denn Emily hatte den Eindruck, dass weit mehr Getümmel im Hafen herrschte als in früheren Zeiten. Mehr Menschen belebten den Kai, luden Kisten und Säcke um, und an den Anlegestellen wimmelte es von Segelschiffen und Dampfern, von dhaus und Fischerbooten.

Beit il Watoro suchte sie vergeblich, das Haus, das Majid mit seiner Mündigkeit erhalten hatte und in das Emily und ihre Mutter mit eingezogen waren. Zusammen mit dem angrenzenden Wirtschaftsgebäude hatte Barghash es niederreißen lassen, um auf der Fläche einen hässlichen Kasten zu errichten: eine Fabrik, in der Eis hergestellt wurde, um Getränke und Speisen nach westlichem Vorbild zu kühlen. Beit il Hukm, der Palast der Frauen, stand noch unverändert, und Beit il Sahil hatte einen neuen Anstrich und einen Anbau erhalten, einen luftigen Pavillon zur Seeseite hin. Und an der Stelle, wo in Emilys Jugend ein halb verfallener, längst unbewohnter Palast stand, hatte Barghash sich einen neuen errichten lassen, ganz nach seinem Geschmack: Beit il Ajaib – das Haus der Wunder, das höchste Haus im Hafen. Korallenstein und Mangrovenholz, Beton und Stahl verbanden sich zu einem Koloss von drei ungeheuer hohen Stockwerken, an deren Außenseite hohe säulengestützte Veranden entlangliefen. Überdachte Gänge verbanden hoch über der Straße den Palast mit Beit il Sahil, damit Barghashs Frauen ungesehen von der Öffentlichkeit ein und aus gehen konnten. Davor reckte sich ein neuer Leuchtturm in den Himmel, den die Offiziere der Adler wegen der Lichtkränze spaßhaft »des Sultans Weihnachtsbaum« nannten.

Die Offiziere erzählten Emily auch, weshalb der Palast »Haus der Wunder« genannt wurde. Wie der Leuchtturm war auch der Palast innen und außen elektrisch beleuchtet. Die Böden waren aus Marmor, die Wände silberverziert – Materialien, die der Sultan aus Europa hatte kommen lassen. Teure Hölzer waren im Inneren verwendet worden, und das Eingangstor war deshalb so breit, weil Barghash mit einem Elefanten hindurchreiten wollte. Was Emily für ein Märchen hielt. Von alters her erzählte man sich auf Sansibar, die geschnitzten Eingangsportale auf der Insel seien deshalb so stark und so massiv geschaffen, damit sie selbst dem Ansturm eines solchen Tieres standhalten könnten, obwohl sie in all den Jahren auf der Insel nie auch nur einen einzigen der Dickhäuter zu Gesicht bekommen hatte; erst in Hamburg, in einer Vorstellung des Circus Renz. Einen Aufzug gab es in Beit il Ajaib und, wie es hieß, gar eine telephonische Verbindung zum britischen Konsulat. Barghash hatte die Eisenbahn nach Sansibar geholt, die allein zu seinem Gebrauch seine Paläste in der Stadt mit einem ebenfalls von ihm neu gebauten Palast im Inneren der Insel verband.

All den Prunk, die neuesten Errungenschaften, die gewiss Unsummen verschlungen hatten, jeden Tag vor Augen zu haben, das schmeckte schal auf Emilys Zunge, vor allem wenn sie daran dachte, wie sie seit fünfzehn Jahren sparte und knauserte, wo es nur ging; wie sie ihrem Honorar für den erteilten Unterricht nachgelaufen war und nach und nach Stücke ihres Geschmeides verkauft hatte. Vor allem, wie sie ihren Stolz hatte herunterschlucken müssen, um vor hochwohlgeborenen Persönlichkeiten zuzugeben, wie wenig Geld sie zur Verfügung hatte, und darum zu bitten, dass man ihr zu ihrem Erbe verhelfe.

»Fischerkahn steuerbord voraus«, drang der Ruf eines der Offiziere in ihre Gedanken, unmittelbar gefolgt von einem auffordernden: »Frau von Köhler!«

Emily wusste, was sie zu tun hatte. Wie immer, wenn sich ein Boot näherte, musste sie, die geheime Ladung, wie sie unter den Offizieren bezeichnet wurde, sich verstecken. Ein fast kindlicher Trotz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, spiegelte sich in ihrer Haltung wider, und dennoch stieg sie in das Unterdeck hinab. Sie wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als dieser Aufforderung nachzukommen, so demütigend es ihr auch erschien.



»Shikamoo, shikamoo – guten Tag, guten Tag!«, rief der Junge und steuerte sein kleines Boot dicht an die Adler. »Orangen, frische Orangen«, setzte er in holprigem Englisch hinzu und hielt lockend mit der Hand eine der orangegoldenen Früchte hoch.

»Ganz frisch«, pries der Junge seine Ware weiter an und deutete in die Körbe neben sich, die prallvoll waren mit Orangen. »Frisch vom Baum, heute Morgen gepflückt!«

»Herr Leutnant?« Fragend wandte sich einer der Offiziere an von Dombrowski.

Mit Blicken versicherte dieser sich, dass seine Passagiere nirgendwo zu sehen waren, und nickte schließlich.

»Geht in Ordnung, aber lassen Sie sich einen guten Preis machen!«

Der Junge verknotete das Tauende, das hinabgelassen wurde, nacheinander um die Körbe, die die Offiziere leer wieder ins Boot warfen, wo er sie geschickt auffing. Als die vereinbarten Münzen zu ihm hinunterprasselten, kam es keck von dem kleinen Obsthändler: »Mein Herr lässt die Bibi Salmé herzlich grüßen!«



Die offensichtliche Enttarnung Frau Ruetes bewog Leutnant von Dombrowski, in aller Eile abzulegen und erneut an der Nordspitze der Insel Zuflucht zu suchen. Am nächsten Tag traf das Geschwader der Kaiserlichen Marine endlich im Hafen von Sansibar ein, und vier Tage später stieß die Adler dazu. Doch obwohl Kommodore Paschen, der befehlshabende Offizier auf dem Flaggschiff des Flottenverbandes, Emily zuvorkommend begegnete, durfte sie nach wie vor nicht an Land gehen. Die Politik hatte Vorrang vor den Privatangelegenheiten einer Frau Ruete. Erst wenn man auf anderem Wege bei Sultan Barghash nichts erreichen sollte, würde auf Bismarcks Trumpfkarte zurückgegriffen werden.

Emily begann zu ahnen, dass diese Reise nach Sansibar nicht das war, was sie gedacht hatte. Man hatte sie nicht aus Nächstenliebe hierhergebracht und auch nicht deswegen, weil man eingesehen hatte, dass es ihr gutes Recht war.

Sondern weil Emily Ruete die Rolle der schwächsten Figur in einer Partie Schach zugedacht worden war. Scheiterten alle anderen Strategien, konnte ein Bauer nützlich sein; bedurfte man seiner nicht mehr, konnte er ohne große Verluste einfach geopfert werden.

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Muschel»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mama!« Tony umschlang Emily fest und küsste sie.

»Alles Gute fürs neue Lebensjahr, mein Kind«, rief Rosa, drängelte sich zwischen Mutter und Schwester und gab Emily ebenfalls einen Kuss.

»Glückwunsch, Mama!« Said beließ es bei einer kurzen Umarmung.

»Danke, ihr Lieben!« Emily strich ihren Kindern übers Gesicht, übers Haar, über die Schulter, in einer Mischung aus echter Freude und fahriger, nachgerade zorniger Unruhe.

Es war der 30. August, ihr einundvierzigster Geburtstag. Vielleicht die zauberhafteste Sitte, die Emily in Europa kennengelernt hatte: dass man an dem Tag, an dem man geboren worden war, beglückwünscht, gefeiert und beschenkt wurde. Doch seit jenem Jahr, als Heinrich starb, im selben Monat, in den ihr Geburtstag fiel, war ihr wohl noch nie so wenig zum Feiern zumute gewesen wie heute.

Seit achtundzwanzig Tagen kreuzte die Adler in sansibarischen Gewässern, und seit anderthalb Monaten hatten sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen gehabt. Emily war es leid, ihre Tage und Nächte auf einem winzigen Dampfer zuzubringen, ihre Heimat schon im Blick und ihr doch keinen Schritt näher gekommen. Wie ein Tier in einem Käfig kam sie sich vor, und noch mehr dauerten sie ihre Kinder. Deren junge Glieder barsten nachgerade vor unterdrückter Energie, vor erzwungener Bewegungslosigkeit auf viel zu engem Raum, und ihr reger, nach Eindrücken und neuen Erfahrungen gierender Geist erstickte in Langeweile. Fast jeden Tag begannen sie ohne erkennbaren Grund Händel untereinander, den Emily nur mit Mühe und viel geduldigem Zureden zu schlichten vermochte.

Heute jedoch schien zwischen den Geschwistern alles eitel Sonnenschein zu sein.

»Wir haben eine Überraschung für dich«, raunte Rosa ihr zu und tauschte verschwörerische Blicke mit Schwester und Bruder. »Komm mit uns an Deck!«

Oben angekommen, erwartete die gesamte Besatzung der Adler unter Leutnant von Dombrowski sie in strammem Salut.

Auch Kommodore Paschen war zugegen, dem bei seiner Ankunft auf Sansibar die Aufgabe zugefallen war, Sultan Barghash ein formelles Dokument zu überbringen, das dem Wunsch des Deutschen Kaisers nach freundschaftlichen Beziehungen zum Sultan Ausdruck verlieh und den Abschluss gewisser Verträge zu diesem Zweck in Aussicht stellte. Im Gegenzug jedoch müsse der Sultan seinen Protest gegen die Verträge, die mit den Sultanen der von der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft erworbenen Gebiete geschlossen worden waren, zurückziehen und seine dorthin entsandten Truppen abkommandieren. Vierundzwanzig Stunden gedachte Paschen auf die Antwort Barghashs zu warten, und als diese ausblieb, ließ er die insgesamt sieben Kriegsschiffe in Gefechtsposition bringen, genau gegenüber dem Palast des Sultans und dessen Familie, und die Geschütze ausfahren. Dr. Kirk, von Sultan Barghash in beinahe hysterisch zu nennender Aufregung um Hilfe gebeten, riet ihm nach der Lektüre des kaiserlichen Briefes, auf die Bedingungen einzugehen, gegen die er als britischer Konsul keinerlei Einwände vorzubringen hatte. Was Barghash auch unverzüglich tat. Bismarcks Strategie war aufgegangen.

Seine Kopfbedeckung unter den Arm geklemmt, trat Admiral Knorr vor und salutierte energisch.

»Im Namen des gesamten Geschwaders entbiete ich Ihnen meine besten Wünsche zu Ihrem Ehrentag, verehrte Frau Ruete.«

Admiral Knorr sah ganz so aus, wie sein Name verhieß: bärtig und verwittert wie ein echter Seemann – so jedenfalls tuschelten Emilys Kinder kichernd hinter seinem Rücken. Emily selbst fand, dass das Gesicht des Admirals, dessen einstmals gewiss ohnehin schon scharfe Konturen die Jahre auf See noch mehr gegerbt hatten, von Güte kündete, und in seinen wasserblauen Augen, halb unter struppigen Augenbrauen verborgen, vermochte sie nichts anderes zu lesen als Freundlichkeit.

Entgegen Emilys Befürchtung war ihr Anliegen Barghash doch noch vorgebracht worden, erst von Paschen, dann von Admiral Knorr, der an Bord der Bismarck nach Sansibar nachgekommen war. Eine Woche ließ Barghash sich Zeit, ehe er sich in bedauerndem Tonfall entschuldigen ließ, dass er auf diese Briefe keine Antwort geben könne: … weil sie uns viele Jahre zuvor mit jemandem verließ, der Uns nicht ebenbürtig ist, hieß es in der kurzen, von seinem Sekretär unterzeichneten Notiz.

»Danke, Herr Admiral«, erklärte Emily mit einer leichten Neigung des Kopfes.

»Ich möchte Sie einladen, heute an Bord meines Schiffes mein Gast zu sein. Eigens für Sie haben wir ein Schwein geschlachtet.«

Emily biss sich auf die Lippen. Ihre Augenbrauen zuckten, zogen sich für einen Moment über der Nasenwurzel zusammen. Sie wusste nicht, ob sie belustigt oder erbost sein sollte, und entschied sich schließlich für Ersteres.

Doch der Admiral hatte noch etwas in petto – die von ihren Kindern, die eingeweiht worden waren, angekündigte Überraschung. In Ermangelung konkreter Befehle aus Berlin, wie mit Frau Ruete weiter zu verfahren sei, hatte er eigenmächtig eine Entscheidung getroffen: Emily Ruete sollte auf Sansibar mit dem gebührenden Respekt gegenüber einer deutschen Staatsangehörigen behandelt werden.

»Ferner möchte ich Ihnen mitteilen«, verkündete er, »dass es Ihnen ab dem morgigen Tage freisteht, in meiner Begleitung oder in der eines meiner Offiziere an Land zu gehen, wann immer es Ihnen beliebt.«

60

MuschelVielleicht kam es Emily nur so vor, dass die Stadt von Sansibar für einen Augenblick den Atem anhielt, als Admiral Knorr ihr die Hand reichte, um ihr aus dem Boot zu helfen, das sie von der Adler herübergebracht hatte. Vielleicht war es aber auch sie selbst, die vergaß, Atem zu holen, als sie zum ersten Mal wieder einen Fuß auf heimatlichen Boden setzte.

Still war es in jedem Fall, erstaunlich still. Nachgerade unheimlich, obwohl unzählige Menschen auf dem Kai standen und die bronzefarbenen Gesichter von Arabern sich ihr zuwandten, die tiefbraunen bis blauschwarzen von Männern und Frauen mit afrikanischem Blut, das verwaschene Messinggelb indischer Züge. Augen, die ihr erstaunt oder neugierig entgegenblickten, dann aufglänzten, schließlich strahlten. Menschen in weißen, dunkelblauen und mattroten Gewändern, in den farbenfrohen, bunt gemusterten kanga-Tüchern, die näher und immer näher rückten, als müssten sie sich vergewissern, dass der Augenschein sie nicht trog. Dann ein Raunen, wie ein tiefes Einatmen, das von Mund zu Mund ging, ein Flüstern und Tuscheln, das sich durch die Menge fortpflanzte.

»Bibi Salmé. Wahrlich, sie ist es. Unsere Bibi Salmé ist zurück.«

Emily spürte Rosas selbst durch die Handschuhe hindurch vor Aufregung feuchte Finger, die sich in die ihren schoben. Sie spürte, wie Tony sich ängstlich in ihren anderen Arm einhängte, als sich die Menschen um sie zusammendrängten, von Admiral Knorr und einem weiteren Offizier auf Armeslänge von ihr ferngehalten, während Said sichtlich beeindruckt hinter ihnen herschritt.

»Wie geht es Euch, Bibi Salmé? Geht es Euch gut?«

»Werdet Ihr bleiben, Bibi Salmé?«

Rufe drangen an ihr Ohr, während sie vom Kai in die erste Gasse einbogen. Menschen, überall Menschen, in all den Farben und unterschiedlichen Gesichtszügen der Insel. Und als Emily den Kopf in den Nacken legte und hinaufsah, entdeckte sie auch dort überall neugierige Menschen. Die Fensterläden standen einen Spaltbreit auf, und dahinter blitzten die von Maske und schele frei gelassenen Augen arabischer Frauen. Ein, zwei besonders Mutige wagten es, ihr zuzunicken oder gar zu winken.

Es war wie in einem Traum. Die Erfüllung ihrer größten Sehnsucht, zu überwältigend, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Immer mehr Menschen säumten ihren Weg durch die Stadt.

»Allah sei mit Euch und schenke Euch und Euren Kindern gute Gesundheit!«

»Allah zum Gruße, Bibi!«

»Siehst du, siehst du – das ist die Bibi, die lange Jahre in der Fremde gelebt hat und nun wieder zu Hause ist!«

Mütter setzten sich ihre kleinen Kinder auf die Schultern, damit die über die Köpfe der Menge vor ihnen hinweg eine gute Sicht auf Bibi Salmé haben konnten. Bibi Salmé, deren aufregendes Leben wie ein Märchen erzählt wurde auf Sansibar. Diener drängten sich an Emily heran, entboten ihr schüchterne Grüße und zogen unter ihrem Käppchen auf dem kahlgeschorenen Haupt verstohlen zusammengefaltete Zettel hervor, die sie ihr in aller Heimlichkeit zusteckten: Nachrichten von alten Freunden und entfernten Verwandten der Sultansfamilie, die hofften, Emily würde sie besuchen, möglichst ohne dass der Sultan davon erfuhr. Manchmal war eine der massiven Haustüren mit ihrem Schnitzwerk und den zu Ornamenten angeordneten Messingnägeln nur angelehnt, und durch den Spalt glaubte sie Bewegungen zu erspähen, Geflüster zu hören. Als wartete man in diesen Häusern nur darauf, dass sie anklopfte, damit man sie einlassen und ihr Kaffee und Gebäck anbieten konnte.

Es war seltsam, wieder hier zu sein. Hocherhobenen Hauptes und mit bloßem Gesicht durch die Straßen und Gassen zu gehen, die sie früher nur verschleiert und in der Nacht hatte betreten dürfen. Nun ging sie einher in ihrem schmal geschnittenen, an der Taille eng geschnürten Kleid, das zu Heinrichs Gedenken noch immer schwarz war, einen kleinen Hut mit breiter Krempe zum Schutz gegen die Sonne auf dem hochgesteckten Haar.

Ihre äußere Erscheinung stand in scharfem Kontrast zu ihrer Umgebung, noch betont durch die fortwährende Anwesenheit eines bewaffneten Offiziers.

Sie empfand sich als Widerspruch. Als Fremdkörper in den Gassen ihres früheren Lebens.



Es war eine seltsame Art der Heimkehr.

Jeden Abend, bevor es dunkel wurde, mussten Emily und die Kinder auf Anordnung des Admirals an Bord der Adler zurück, um dort die Nacht zu verbringen. Nur am Tag durfte Emily auf die Insel übersetzen, um dort in den Straßen und Gassen umherzustreifen, die ihr vertraut waren und doch nicht mehr dieselben wie damals.

»Zeig uns doch das Haus, in dem du früher gewohnt hast«, bat Tony an einem dieser Tage.

»Au ja«, jubelte Rosa. »Das Haus, von dem du uns erzählt hast. Wo du Vater kennengelernt hast!«

Emily zögerte. Diesen Teil der Stadt hatte sie bislang auf ihren Wanderungen gemieden. Sie fürchtete, was sie heute dort vorfinden mochte, und noch mehr fürchtete sie die Erinnerungen an Heinrich.

»Bitte, Mama«, schloss sich Said dem Wunsch seiner Schwestern an. »Ich möchte es auch sehen!«

»Ein andermal vielleicht«, versuchte Emily sie zu vertrösten. Doch ihre Kinder blieben hartnäckig, bis Emily schließlich nachgab.

Sie kannte den Weg im Schlaf, noch immer, auch wenn sie an jeder Ecke zweifelte, ob ihr Instinkt sie nicht doch trog. Schließlich blieb sie in einer Gasse stehen und blickte sich verwundert um.

»Hier müsste es sein«, murmelte sie vor sich hin und suchte die Fassaden der Häuser mit den Augen ab. »Zumindest dieser Teil hier«, ihr Zeigefinger überstrich die unteren Stockwerke, wo fortwährend hellhäutige blonde Männer in hellem Anzug und sansibarische Bedienstete heraustraten oder hineingingen und sie mit verhaltenem Interesse musterten.

»Das oberste Geschoss gab es damals nicht.« Bedrückt sah Emily, dass die Dachterrasse, auf der sie so viele Nächte verbracht hatte – erst einsame, unglückliche; später köstliche, herzensselige in Heinrichs Gegenwart –, überbaut worden war. Als sei das Schicksal bestrebt gewesen, das auszulöschen, was sich damals ereignet und was solch ungeahnte Folgen nach sich gezogen hatte. Spuren ihres Lebens, fortgewaschen von der Zeit.

»Und da drüben«, ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Hand, als sie auf das Nachbarhaus wies, »seht ihr dieses Fenster? Dort stand euer Vater, als ich ihm das erste Mal begegnet bin. Später saß er dann oft dort oben, auf dem Dach.«

Masalkheri, jirani – Guten Abend, Nachbarin, hörte sie Heinrichs Stimme aus weiter Ferne.

Wehmut und Trauer erfüllten Emily, begleitet von einem Gefühl des Unwirklichen.

Ist das alles wahrhaftig so geschehen damals?

Sie erinnerte sich an jede Einzelheit, an jeden Klang, jeden Duft, jeden Blick. Und doch kam es ihr vor, als erinnerte sie sich an einen lang zurückliegenden Traum. Das Leben, das sie mit Heinrich in Hamburg geführt hatte, schien wirklicher gewesen zu sein, greifbarer und echter.

Ihre Kinder, die spürten, wie aufgewühlt sie war, verhielten sich still, warfen ihrer Mutter besorgte und bewegte Seitenblicke zu, legten abwechselnd die Arme um sie, während sie die Gasse wieder zurückgingen.

Nur aus den Augenwinkeln bemerkte Emily das Schild, das ihr altes Wohnhaus als Sitz der Firma Hansing & Co. auswies, für die Heinrich damals tätig gewesen war.



»Pst! Bibi Salmé!«

Ein Flüstern schreckte sie auf, kaum dass sie in die nächste Gasse eingebogen waren, die weiter in die Stadt hineinführte. Es kam von einem verhutzelten Männlein mit einem Gesicht wie eine getrocknete Feige, das den Kopf aus dem leicht geöffneten Flügel eines Eingangsportals herausstreckte. Das breite Grinsen, das sich auf seiner Miene ausbreitete, entblößte ein schadhaftes Gebiss.

»Erkennt Ihr mich nicht mehr, Bibi? Ich bin’s – Salim!«

»Salim, gewiss«, rief Emily freudig aus, als sie sich an ihren früheren Hausdiener erinnerte, und trat näher. »Wie geht es dir? Seit wann arbeitest du hier bei …« Sie sah an dem Haus hinauf. Das Gesicht der Hausherrin, ihrer früheren Nachbarin, stand ihr lebhaft vor Augen, doch der Name wollte ihr nicht mehr einfallen. Diejenige, die sie damals gewarnt hatte vor dem Klatsch, der über sie und Heinrich in der Stadt umging, die sie ermahnt hatte, Vorsicht walten zu lassen, damit sie nicht eines Tages Grund zur Reue hätte.

Reue? Nein. Glück, unermessliches Glück. Auch Kummer und Leid – das ja. Aber keine Reue. Nicht einen einzigen Augenblick.

»… bei Zahira, jaja«, bestätigte Salim mit eifrigem Nicken. »Seit Ihr damals fortgegangen seid, Bibi. Meine Herrin«, er senkte die Stimme, »meine Herrin hat Euch kommen sehen und lässt fragen, ob Ihr nicht auf einen Kaffee hereinkommen wollt. Ihr und Eure Kinder.«

»Uns wurde soeben eine Einladung überbracht«, wandte sich Emily auf Deutsch an den jungen Offizier, der ihnen heute als Begleitschutz zur Seite gestellt worden war und der sich derart unauffällig im Hintergrund hielt, dass sie seine Anwesenheit zeitweise beinahe vergessen hatte. »Und ich würde sie gerne annehmen.«

Das Gesicht des Offiziers färbte sich tiefrot, als er angestrengt nachdachte, ob es ihm zustand, Frau Ruete diesen Besuch zu verbieten oder ihn zu gestatten. Hatte er doch den ausdrücklichen Befehl erhalten, weder sie noch ihre Kinder je aus den Augen zu lassen. Er wusste aber auch, dass ihm als deutscher Soldat wie als Mann der Zutritt zu den Frauengemächern des Hauses verwehrt bleiben würde.

»Gut«, entschied er schließlich. »Eine Stunde. Ich warte hier so lange.«

An Salim vorbei traten sie über die Schwelle, und Emily hielt ihre Kinder an, die Schuhe auszuziehen und in die bereitstehenden Gästepantoffeln zu schlüpfen, bevor Salim sie die Stufen hinaufgeleitete.

»Salima!« Mit ausgebreiteten Armen kam ihnen Zahira, mittlerweile von beträchtlicher Leibesfülle, entgegengewatschelt. »Ist das zu glauben – nach all den Jahren, Allah sei gepriesen! – Sind das deine Kinder? Hübsche Kinder hat Allah dir geschenkt!« Erstaunlich gelassen ließen es die drei über sich ergehen, dass Zahira sie tätschelte und sie begeistert in die Wangen kniff.

»Nehmt doch Platz, nehmt doch Platz!«, rief ihre Gastgeberin aus und wies auf die verschiedenartigen Stühle, die offensichtlich herbeigeholt worden waren, damit die Besucher aus Europa ihrer Sitte gemäß bequem sitzen konnten. Emily und ihre Töchter in den schmalen Röcken und den Korsetts zeigten sich auch dankbar dafür.

»So viel erzählt man sich hier über dich«, begann Zahira, als Kaffee und Gebäck serviert worden waren. »Aber aus deinem Munde selbst will ich alles hören. So sprich, wie ist es dir ergangen in der Fremde?«

Emily beschrieb das Leben in Hamburg und in Berlin und in der Provinz. Nur am Rande erwähnte sie, dass sie Witwe war, worauf Zahira ihr tröstend die Hand drückte. Von menschlichen Enttäuschungen und materieller Not erzählte sie nichts. Lieber gab sie lustige Anekdoten zum Besten: wie sie sich mit der fremden Sprache abgemüht und welche Missverständnisse ihre mangelnden Kenntnisse anfangs hervorgerufen hatten.

»Erzähl mir nun von dir«, schloss sie ihre eigenen Schilderungen. »Wie geht es dir?«

»Prächtig, prächtig«, antwortete Zahira. »Sechs Kinder hab ich geboren, und ich bin schon Großmutter von achten!« Ihr Blick fiel auf Said. »Dein Sohn sieht aus wie ein wahrer Prinz. Als könnte er eines Tages ein guter Herrscher sein.«

Said tat so, als bemerkte er nicht, dass er zum Gegenstand des Gesprächs wurde, und konzentrierte sich ganz auf die Tasse in seiner Hand.

Said als Sultan über Sansibar? Emily musterte ihren Sohn nachdenklich. Solange es Gerüchte gewesen waren, über die man in den Zeitungen schrieb, schien ein solcher Gedanke keine Bedeutung zu haben, nicht schwerer zu wiegen als Druckerschwärze auf Papier. Hier auf Sansibar jedoch hielt man offenbar diese Möglichkeit durchaus für vorstellbar. Während seine Schwestern stets ihre Begeisterung kundtaten über all das Exotische, Aufregende, das sie hier zu Gesicht bekamen, über die Aufmerksamkeit, die ihrer Mutter zuteil wurde, wirkte Said zunehmend in sich gekehrt. Emily hatte den Eindruck, dass er sehr viel nachgrübelte über das, was er hier jeden Tag sah, und nicht zuletzt über seine Herkunft. Aber Said in der Nachfolge seines Großvaters, von Majid und Barghash – das konnte sich Emily für ihren Sohn nicht vorstellen. Durch sie lag ein Teil seiner Wurzeln zwar hier im Orient, sein arabisches Erbe stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Trotzdem war Said ein durch und durch europäischer Junge.

»Sansibar bräuchte einen guten Herrscher, weißt du«, fuhr Zahira fort, sah sich hastig um, als witterte sie heimliche Lauscher in den Winkeln des Raumes, und senkte ihre Stimme zu einem Raunen. »Barghash ist wie ein kleines Kind – voller Zorn und Hass, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Er hat so gar nichts von der Güte Eures Vaters oder von der Milde deines Bruders. Nicht einmal seiner eigenen Familie gegenüber! Man erzählt sich, er habe eure Schwester Chole vergiften lassen, weil sie ihm nicht gehorsam war. Und Khaduj schickte er auf eine Pilgerfahrt nach Mekka, von der sie nie wieder zurückkehrte.«

Wäre es nicht so erschütternd gewesen, hätte es Emily zum Lachen gereizt ob dieser grausamen Ironie des Schicksals. Ausgerechnet Khaduj, die einst zu ihrer Hüterin bestellt gewesen war, bis Emily zur Strafe für ihre Verfehlungen ebendiese Reise auf Nimmerwiedersehen antreten sollte, und die ihr dann doch zur Flucht verholfen hatte. Es war ihr kein Trost zu hören, dass Majid Khaduj nicht wie befürchtet für Emilys Flucht mit dem Tode bestraft hatte und dass ihr vielleicht noch einige gute Jahre vergönnt gewesen waren, ehe Barghash sie zu dieser Schicksalsfahrt verurteilte.

Fassungslos vernahm Emily, dass Barghash einen ihrer jüngsten Brüder eingekerkert und in Ketten hatte legen lassen, weil er befürchtete, Anhänger von Khalifa, der ihm in der Thronfolge am nächsten stand, suchten eine Revolte gegen ihn anzuzetteln – so wie er es einst gegen Majid getan hatte. Und eine Nebenfrau Barghashs, eine schöne Tscherkessin, die den Gruß eines portugiesischen Matrosen vom Fenster aus erwidert hatte, wie es die Höflichkeit auf Sansibar von jeher gebot, war auf Befehl des Sultans hin ausgepeitscht worden und daran gestorben.

Zunehmend beschlich Emily ein Gefühl der Befremdung, während Zahira eine Untat Barghashs nach der anderen aufzählte. Obwohl Geschichten von brutalen Grundherren und despotischen Herrschern Teil ihrer Kindheit und Jugend gewesen waren und sie selbst eine Rolle in Barghashs gescheiterter Revolte gespielt hatte, muteten sie diese Schilderungen merkwürdig an. Wie aus den orientalischen Märchen, die sie manchmal, wenn das Heimweh gar zu sehr an ihr nagte, zur Hand genommen hatte; Märchen von listigen Wesiren und von klugen Kalifen, von unbarmherzigen Sultanen und von schönen Sklavinnen. Sie hatte solche und ähnliche Dinge selbst erlebt, und doch waren sie nicht mehr Teil ihrer Wirklichkeit. So schön es war, Zahira wiederzusehen – insgeheim atmete Emily auf, als es Zeit war aufzubrechen.



Während Tony und Rosa sich darin ergingen, ihre Eindrücke von dem arabischen Haus, von dessen Einrichtung und Ausstattung, von den gekosteten Süßigkeiten auszutauschen, und Said zwischendurch seine eigenen Kommentare dazu abgab, wanderte Emily schweigend durch die Straßen. Nickte nur geistesabwesend, als der junge Offizier, der sichtlich erleichtert wirkte, dass sie wohlbehalten zurück war, sie inständig bat, um Himmels willen dem Admiral nicht zu verraten, dass er sie für eine Stunde allein gelassen hatte.

Emily sah, dass viele Häuser auf Sansibar neu gebaut oder frisch gestrichen waren. Sie sah aber auch Gebäude, aus deren Fassaden Sonne, Wind und Regen Löcher herausgenagt hatten wie eine Maus aus einem Stück Käse, und Häuser, die vermutlich beim nächsten Zuschlagen einer Tür in sich zusammenstürzen würden. Trümmerhaufen und Ruinen bemerkte sie, an denen die Menschen achtlos vorbeigingen, ohne dass sich jemand darum kümmerte, den Schutt abzutragen. Gräser und hoch aufschießendes Kraut wucherten zwischen den Steinbrocken. Bäume ragten daraus hervor, sprengten mit ihren Wurzeln Pflastersteine und die Fundamente der Häuser. Mit schwarzgrauem Schimmelpilz überzogene Essensreste lagen herum und gärten unter stechendem Geruch. Verbeulte Blechdosen rosteten vor sich hin, und in stinkenden Pfützen verwesten Tierkadaver.

Hat es hier schon immer so ausgesehen?

Emily wusste, dass dem so war, sie erinnerte sich dunkel daran. Aber damals hatte Sansibar auch noch keinen Sultan gehabt, der in Bombay in den Vierteln der Engländer gelebt, der Paris und London bereist hatte. Der zwar danach trachtete, zu leben und zu residieren wie Könige und Kaiser, sich Prunkbauten errichten ließ und nicht genug davon bekommen konnte, sich mit Silber und Gold und Porzellan zu umgeben, sich aber keinen Deut darum scherte, wie es außerhalb seiner Palastmauern aussehen mochte.

Zu ihrer eigenen Überraschung störte sich Emily an dem Zustand der Stadt, der erbärmlich war im Vergleich zu Hamburg oder Berlin, Städte, die ungleich sauberer, ordentlicher und vor allem gesünder wirkten.

Bin ich tatsächlich schon so deutsch geworden?

61

SeesternIhren Bruder sah Emily nur aus der Ferne, jeden Abend, wenn sie von ihren Spaziergängen durch die Stadt zurückkehrte, um wieder an Bord der Adler gebracht zu werden.

Denn jeden Abend, bei Sonnenuntergang, trat Sultan Barghash auf den Balkon seines Palastes, um sich seinen Untertanen zu zeigen und von ihnen bejubelt zu werden. Salutschüsse aus den Geschützen vor dem Palast kündigten sein Erscheinen an, und nachdem das Echo des letzten Donners verhallt war, erschien der Sultan an der Balustrade, um andächtig der eigens für ihn nach europäischem Vorbild komponierten Nationalhymne zu lauschen, die die Musikkapelle unten spielte: eine disharmonische Mischung aus afrikanischen Klängen und den indischen Weisen, die Barghash in Bombay kennengelernt und von dort mitgebracht hatte, untermalt von militärischen Fanfarenstößen und zwischendurch akzentuiert von einem kräftigen Tusch. Und an jedem Freitag, dem muslimischen Feiertag, fanden vor dem Palast zwei Paraden der askaris statt, der Soldaten des Sultans, bei denen diese unter den Augen des Sultans in strammer Haltung und akkurater Formation zu aus Europa importierten Militärmärschen auf und ab schritten.

Barghash sah aus, wie Emily ihn im Gedächtnis behalten hatte, mit seiner dunklen Hautfarbe, der fleischigen Nase und den vollen, aufgeworfenen Lippen, dem Erbe seiner abessinischen Mutter. Seinen schwarzen Bart im dunklen Gesicht trug er kürzer als früher, und so verschwenderisch sein Lebensstil war, so schlicht kleidete er sich: in ein einfaches weißes Gewand, darüber die schwarze Oberkleidung, die dezent mit goldenen Borten besetzt war, und mit einem weißen Turban. Ein Diamantring am kleinen Finger, der auffunkelte, wenn er die Hand zum majestätisch-huldvollen Gruß hob, stellte seinen einzigen Schmuck dar. Seine Schritte, wenn er herauskam, um sich seinem Volk zu zeigen, und seine Bewegungen waren kraftvoll und doch anmutig. Keine Spur davon, dass er an der Elephantiasis leiden sollte, wie man hörte, jener durch Parasiten hervorgerufenen Krankheit, die zu einer fortwährenden Entzündung führt und in deren Verlauf manche Körperteile groteske Formen und Ausmaße annehmen. Auch von der Schwindsucht, die ihn befallen haben sollte, war nichts zu bemerken.

Jeden Abend, wenn Emily dort unten stand, war sie überzeugt, Barghash müsste sie bemerken, so deutlich, wie sie sich von der sansibarischen Menge abhob in ihrem europäischen schwarzen Trauerkleid, begleitet von ihren Kindern und einem der Offiziere in Uniform, der dafür sorgte, dass ihnen im Gedränge niemand zu nah kam. Manchmal glaubte sie tatsächlich, er blicke geradewegs in ihre Richtung. Sie wusste, dass man sie von den Fenstern des Palastes aus erkennen konnte. Wann immer sie an Beit il Hukm vorbeikam, waren die Fenstersimse des Frauenpalastes voll schwarz verhüllter Gestalten, die ihr mit Gesten einen Gruß entboten.

Und ihr entgingen nicht die ausdruckslos dreinblickenden Inder, die sich auf den Straßen unter die Sansibaris mischten und jede ihrer Bewegungen mit scharfen Blicken überwachten. Sehnsüchtig hoffte Emily auf ein Zeichen ihres Bruders. Auf eine Regung in seinen Zügen. Auf eine Geste. Vielleicht auf eine Nachricht. Schließlich waren sie doch Bruder und Schwester, vom selben Manne gezeugt, wenn auch von unterschiedlichen Müttern geboren; zwei Geschwister von einstmals so vielen, von denen nur noch so wenige am Leben waren.

Doch nichts dergleichen geschah. Dafür wurde Emily jeden Abend von einem Pulk von Sansibaris begleitet, die davon überzeugt waren, ihre Bibi Salmé besteige jetzt wieder den deutschen Dampfer, um in ihre neue Heimat zurückzukehren, und die es sich nicht nehmen lassen wollten, sich von ihr zu verabschieden.

»Kwa heri, Bibi! Kwa heri«, riefen sie ihr zu. »Auf Wiedersehen, Bibi, auf Wiedersehen!« So laut, dass es gewiss bis in die Gemächer des Sultans hinaufdrang. Besonders übermütige Jungen sprangen links und rechts von dem Boot ins Wasser, das Emily und ihre Kinder zur Adler hinüberbrachte, schwammen den ganzen Weg bis zum Dampfer nebenher, lachten und prusteten zwischen ihren Rufen: »Kwa heri! Kwa heri!«

Kwa heri – zwei Worte, die in ihrem wehmütigen Tonfall Emily ins Herz schnitten, jeden Abend aufs Neue. Und jeden Abend war es, als müsse sie Sansibar erneut endgültig verlassen. Ungeachtet dessen, dass ihr versichert worden war, sie dürfe noch mindestens einige Tage bleiben.



Doch nicht allein deshalb beschloss Emily, sich an Land einzuquartieren, eine nach reiflichem Nachdenken getroffene Entscheidung, über die sie Admiral Knorr gegen Ende des Monats in Kenntnis setzte.

»Ausgeschlossen, Frau Ruete! Das kommt nicht infrage!« Es war das erste Mal, dass Emily den Admiral derart aufgebracht erlebte.

»Ich danke Ihnen und der Besatzung der Adler sehr für Ihre Gastfreundschaft«, erwiderte Emily ungerührt. »Sie haben allesamt Ihr Möglichstes getan, um uns den Aufenthalt an Bord so angenehm zu gestalten, wie die Umstände es zuließen. Aber Sie werden zweifellos verstehen, dass meine Kinder und ich uns nach all den langen Wochen in schaukelnden Kojen nach einem richtigen Bett sehnen. Das französische Hotel, das wir uns ausgesucht haben, erscheint uns äußerst komfortabel.«

»Dem mag wohl so sein, Frau Ruete«, gab der Admiral zurück. »Aber Sie scheinen nicht zu verstehen, dass Sie sich nicht als gewöhnliche Reisende hier auf Sansibar aufhalten. Der britische Konsul Kirk ist sehr ungehalten über Ihre Spaziergänge in der Stadt und über Ihre allabendliche Gegenwart bei der Darbietung der Nationalhymne.« Tatsächlich hatte Emilys Enttarnung die Telegraphenleitung zwischen London, wo man sich über diesen Schachzug Bismarcks empörte, und Berlin, das zu beschwichtigen suchte, zum Glühen gebracht.

»Er befürchtet, der Sultan wird sehr bald ungehalten sein über Ihre derart sichtbare Anwesenheit auf der Insel und das dann sowohl die Engländer als auch die Deutschen vor Ort spüren lassen. Wenn es nach Kirk ginge, hätten Sie die Insel schon längst wieder verlassen, und der deutsche Konsul teilt diese Auffassung durchaus.«

»Ich kann jetzt nicht gehen«, rief Emily aus, von der plötzlichen Angst gepackt, gegen ihren Willen und vorzeitig weggeschickt zu werden. »Nicht mit leeren Händen! Nicht jetzt, da Sie mit Ihren Schiffen hier sind. Eine bessere Möglichkeit, meine Ansprüche bei meinem Bruder geltend zu machen, werde ich wohl nie wieder haben!«

»Verehrte Frau Ruete«, fuhr der Admiral fort. »Ich verwende mich gerne persönlich für Sie und für Ihr Anliegen beim Sultan, in meiner Eigenschaft als Admiral wie als Vertreter des Deutschen Reiches. Aber bitte bleiben Sie weiter an Bord. Nur hier kann ich für Ihre Sicherheit und für die Ihrer Kinder garantieren.« Seine hohe Stirn legte sich in Falten. »Sie denken doch wohl nicht daran, selbst bei Sultan Barghash vorzusprechen?«

Rasch schlug Emily die Augen nieder. Unruhig verschränkte sie die Finger in ihrem Schoß und löste sie wieder. Ihre Stimme klang leise, fast ein wenig unsicher, als sie sagte: »Selbst wenn dem so wäre – wäre das nicht allein meine Angelegenheit?«

»Nein, Frau Ruete. Das wäre es nicht. Selbst wenn wir die politischen Interessen Deutschlands außer Acht lassen, die Sie womöglich aufs Spiel setzen, wenn Sie den Sultan erzürnen. Sie gefährden auch sich selbst und Ihre Kinder.«

Barghash ist mein Bruder, er würde doch nie …, wollte sie schon ansetzen, als ihr Zahiras Schauergeschichten in den Sinn kamen, und sie blieb stumm.

»Sie wollen mir doch nicht weismachen, Sie hätten nicht bemerkt, dass der Sultan Sie bei jedem Ihrer Schritte beobachten lässt!«

Emily presste die Lippen aufeinander, bis sie nur mehr eine schmale Linie bildeten. Natürlich hatte sie die Inder wahrgenommen, die ihnen auf ihrem Weg durch die Stadt folgten: Barghashs Spione. Die nicht einmal davor zurückschreckten, sich als Verkäufer von irgendwelchem billigen Tand auszugeben, um unter dieser Tarnung an Bord der Adler zu gelangen, wie der Leutnant ihr berichtet hatte.

»Und sagen Sie nicht«, fuhr er gedämpfter fort, »Ihnen ist nicht zugetragen worden, dass der Sultan die Leute, die Ihnen freundlich begegnen, festnehmen und auspeitschen lässt.«

Emily schluckte und schüttelte den Kopf, ließ ihn schließlich sinken wie ein gescholtenes Schulmädchen. »Das … das wusste ich nicht.«

In ihrem Kopf begann es zu hämmern.

Das ist doch alles nicht wahr … Das kann doch alles unmöglich wahr sein. Ist das wirklich noch das Sansibar, nach dem ich mich all die Jahre gesehnt habe? Was ist das für eine Welt, in der solche Dinge möglich sind?

»Lassen Sie sich vom einfachen Volk nicht täuschen, Frau Ruete«, drang die Stimme des Admirals behutsam zu ihr. »Wer auf der Insel etwas zu sagen hat, dem sind Sie hier nicht willkommen. Verlassen Sie mutwillig den Schutz, den unser Flottenverband Ihnen bietet, lehne ich jede weitere Verantwortung für Ihre Sicherheit und die Ihrer Kinder ab.«

Emily straffte sich wieder und erhob sich würdevoll. »Ich weiß auf mich und meine Kinder Acht zu geben. Schließlich bin ich hier geboren und aufgewachsen. Sansibar ist meine Heimat.«

Der Admiral schüttelte den Kopf und stand ebenfalls auf. »Ich bedaure, Ihnen das so sagen zu müssen, Frau Ruete, aber Sie irren sich. Sansibar war Ihre Heimat. Vor vielen Jahren.«

62

Muschel»Und du willst da wirklich einfach so hingehen?« Tonys Miene drückte äußerste Skepsis aus. Sie bemühte sich, mit ihrer Mutter Schritt zu halten, die, von einem Schwung gepackt, den ihre Kinder schon sehr lange nicht mehr bei ihr erlebt hatten, aus dem Hotel trat und dann in großen Schritten vorwärtsstürmte.

»Das siehst du doch«, gab Rosa frech an Emilys Stelle zurück.

»So war es Brauch, als mein Vater noch Sultan war«, erwiderte Emily voll grimmiger Entschlossenheit, den hoch aufragenden Palast von Beit il Ajaib fest im Blick. »Jeder, der ein Anliegen vorzubringen hatte, durfte ohne große Formalitäten bei ihm vorsprechen.« Sie verschwieg ihre Befürchtung, dass auch dies eine Sitte sein mochte, mit der Barghash gebrochen hatte.

Als sie vor dem gewaltigen Tor angelangt waren, das Barghash für den Durchritt auf einem Elefanten geplant hatte, zauderte Emily einen winzigen Augenblick lang, dann schritt sie mit ihren Kindern auf die Torwachen zu, die ihnen zwar nicht grimmig, aber durchaus aufmerksam entgegensahen.

»As-salamu aleikum«, grüßte Emily sie, in einer Mischung aus herablassender Freundlichkeit und hoheitlichem Stolz, ihr Kinn herausfordernd in die Luft gereckt. »Emily Ruete, geborene Sayyida Salima bint Sa’id, verlangt Sultan Sayyid Barghash bin Sa’id zu sehen. In meiner Eigenschaft als Bürgerin des Deutschen Reiches sowie als seine Schwester erbitte ich eine Audienz für mich und meine Kinder, des hochwohlgeborenen Sultans Neffe und seine Nichten.«

»Wa-aleikum as-salam«, gab einer der Torhüter zurück, sichtlich verlegen. Schließlich verneigte er sich kurz und bat sie um einen Moment Geduld, ehe er hinter dem Tor verschwand.

Geraume Zeit warteten sie in der Gluthitze vor dem Palast – wie Bittsteller, dachte Emily voller Ingrimm und behielt die restlichen Torwachen im Blick. Verstohlen tupften sich Tony und Rosa mit ihren Taschentüchern die Schweißperlen von der Stirn; selbst ihre leichten Sommerkleider waren noch zu warm für die Septemberhitze Sansibars, und die Hüte und Sonnenschirme vermochten nie genug Schatten zu spenden.

Endlich öffnete sich das Tor; der Wächter hielt es gerade so weit auf, dass sie nacheinander hindurchgehen konnten. »So tretet doch ein …« Er zögerte. »Sayyida Salima.«

Mit einem hallenden Donnerschlag fiel der Torflügel hinter ihnen ins Schloss.

Auf der anderen Seite erwartete sie ein Leibdiener des Sultans, der nicht minder verlegen dreinblickte als der Torwärter zuvor.

»As-salamu aleikum, Sayyida Salima«, verkündete er mit einer Verbeugung. »Mir wurde gesagt, Ihr seid gekommen, um den hochwohlgeborenen Sultan Sayyid Barghash bin Sa’id zu sprechen.«

»Wa-aleikum as-salam«, erwiderte Emily. »So ist es. Sag ihm, seine Schwester, die er so lange Jahre nicht gesehen hat, ist hier, um ihm seinen Neffen und seine Nichten vorzustellen.«

»Sehr wohl, Sayyida«, sagte der Diener mit einer weiteren Verbeugung und eilte davon.

Staunend betrachteten die Kinder den riesigen, mit glatt polierten Steinen ausgelegten Innenhof mit den drei umlaufenden Galerien. Gespenstisch leer und still war es hier – kein Vergleich zu dem Lärm, dem Gedränge und der geschäftigen Betriebsamkeit, die Emily aus den Palästen ihrer Kindheit her kannte.

Als hätte er ihn nicht bauen lassen, um darin zu leben, sondern nur, um der Welt zu zeigen, wie reich und wie mächtig er ist. Damit jeder, der ihn aufsucht, sich klein und demütig fühlt und bewundernd zu ihm aufschaut.

Mit nostalgischer Melancholie dachte Emily an die bendjle von Mtoni, den großen hölzernen Balkon zur Seeseite hin, auf dem ihr Vater seine Audienzen abgehalten hatte. Jeder, der zu ihm gekommen war und ihn sprechen wollte, hatte zuerst einen Kaffee oder sherbet vorgesetzt bekommen, selbst ein einfacher Bauer oder ein abgerissener Hungerleider.

Eine Ehre, die Barghash zumindest uns nicht erweisen will.

Mtoni – das Haus, in dem sie geboren worden war und wo sie ihre ersten Jahre verbracht hatte. In Emily stieg unvermittelt eine nagende Sehnsucht auf, es noch einmal zu sehen. Solange ihr noch Zeit dazu blieb.

»Das ist doch wie im Märchen hier«, entfuhr es Tony, die an der Seite ihres Bruders ein paar Schritte umhergegangen war, um sich alles genau zu besehen. All die durchbrochenen Balustraden aus Stein, die aussahen wie aus weißer Klöppelspitze, das üppige Schnitzwerk an den Türen, die schönen Holztreppen mit ihren gedrechselten Pfosten, auf die man durch geschwungene Fensterbogen einen Blick erhielt, und die gewaltigen, gleichwohl filigranen Laternen mit ihren bunten Glasscheiben, die bei Dunkelheit gewiss ein zauberhaftes Licht verströmten.

»Allerdings«, pflichtete Said ihr bei. »Der Palast trägt seinen Namen zu Recht. Das ist ein Haus der Wunder.«

»Mama«, flüsterte Rosa heiser und zupfte ihre Mutter am Ärmel, wies dann mit dem Kinn auf eine der Galerien im zweiten Stock, genau gegenüber von der Stelle, wo sie standen.

Eine Tür hatte sich dort ein Stück weit aufgeschoben, und unter vorsichtigen Blicken nach allen Seiten huschten drei schwarz verschleierte Frauen über die Galerie an das Geländer und sahen zu ihnen herab, winkten schließlich eifrig. Emily hatte schon die Hand erhoben, als das weit entfernte Zuschlagen einer anderen Tür die Frauen auffahren und in Windeseile wieder hinter der Tür verschwinden ließ, aus der sie soeben getreten waren.

Über die Galerie im Erdgeschoss näherte sich der Leibdiener, der sie empfangen hatte, den Blick auf den Boden geheftet und mit hochrotem Kopf.

»Ich bitte alleruntertänigst um Verzeihung, Sayyida Salima«, erklärte er, als er zu ihr getreten war, und verbeugte sich tief, ohne sie anzusehen. »Aber der hochwohlgeborene Sultan Sayyid Barghash bin Sa’id lässt sich entschuldigen. Er kann Euch nicht empfangen.« Er verbeugte sich wieder und ging sogleich wieder davon. Emily brauchte ein, zwei Herzschläge, um sich zu fangen.

»Warte!«, rief sie und eilte ihm hinterher. Der Diener blieb stehen und wandte sich um. »Was hat er gesagt?«

»Ich bitte Euch, Sayyida …« Der Diener wand sich wie ein Wurm. »Belasst es bei dieser Antwort.«

»Was hat er gesagt?!«

Ihr Gegenüber schien Höllenqualen zu leiden. »Der hochwohlgeborene Sultan Sayyid Barghash bin Sa’id wählte die Worte: Ich habe keine Schwester, sie ist vor vielen Jahren gestorben.«

Emily spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

»Hab dennoch Dank für deine Mühe«, entgegnete sie gepresst.

»Gehabt Euch wohl, Sayyida Salima. Allah sei mit Euch«, verabschiedete sich der Diener unter einer tiefen Verbeugung und entfernte sich hastig.

»Was ist, Mama?« – »Was hat er gesagt?« – »Du bist ja ganz blass, mein Kind!«

»Nichts«, kam es tonlos von Emily. »Nichts hat er gesagt. Nur, dass er uns nicht sehen will«, antwortete sie beiläufig und drehte sich auf dem Absatz um.

Als sie von innen an das Tor hämmerte, es sich öffnete und sie mit ihren Kindern über die Schwelle trat, hinaus in das gleißende Sonnenlicht, ließ Emily auch alle Hoffnung hinter sich, dass es eines Tages doch noch zu einer Versöhnung mit ihrem Bruder kommen würde.

Und so wie sie für ihn gestorben war, löste auch Emily an diesem Tag jegliche Familienbande zu ihm. Sayyid Barghash bin Sa’id war für sie von Stund an nur mehr der Sultan von Sansibar. Der in Prunk und Glanz lebte und ihr das Erbe vorenthielt, das ihr zustand und das er ihr über kurz oder lang würde auszahlen müssen.

Das war er ihr schuldig. Jetzt mehr denn je.

63

MuschelWie versteinert stand Emily am Strand vor Mtoni. Oder vielmehr an der Stelle, an der sich der Lieblingspalast ihres Vaters, ihr Geburtshaus, einst befunden hatte. Und starrte auf das, was davon übrig geblieben war.

Während ihre Kinder, die sich sonst so sehr bemühten, sich zu benehmen wie Erwachsene, jauchzend durch den Sand hüpften und umeinander herumtollten, ging ihre Mutter mit gerafften Röcken langsam über den Strand, an dem sie als kleines Mädchen selbst unzählige Male herumgetobt hatte. Weg von dem Boot, das sie gegen ein kleines Entgelt von der Stadt hierhergebracht hatte.

Traurig schritt sie um die tief im Sand vergrabenen Stützpfeiler der bendjle herum, die nur noch eine gute Handbreit herausragten und die zerfasert und zersplittert waren, nachdem wohl Sturmwind und Flutwellen den Balkon zerschmettert und die Trümmer schließlich mit sich fortgetragen hatten. Denn so sehr Salima auch Ausschau hielt, sich bückte und mit den Fingern den Sand durchkämmte: Nirgendwo fand sie ein Stück Holz, das noch die farbenprächtige Bemalung aufwies, die sie als Kind so bewundert hatte. Sie warf einen Blick über die Schulter, hinaus aufs Meer.

Hier hat Vater immer gestanden und mit seinem Fernrohr nach Afrika hinübergeschaut. Hier war er immer zu finden, und hier haben wir als Kinder von ihm die französischen Bonbons bekommen, die ich über alles liebte.

Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr hinter den Augäpfeln brannten, schüttelte den Schauder ab, der ihr über den Rücken lief, und ging weiter. Vorbei an dem Flügel des Hauses, den der alte Sultan einst für sich in Anspruch genommen hatte – eine leergefegte Ruine, die aus toten Augenhöhlen auf das Meer hinausglotzte. Emily wanderte um die Mauerreste herum, die aussahen wie ausgekratzt. Nichts befand sich darin, außer dem in sich zusammengebrochenen Wrack der Treppe, die sie immer im Laufschritt genommen hatte, bis sie außer Atem oben angelangt war.

Wie übermütige Füllen jagten ihre Kinder über den Hof von Mtoni, über die große Freifläche in der Mitte der Anlage, und ein kleines, wehmütiges Lächeln spielte um Emilys Mundwinkel.

Ganz genau wie Metle, Ralub und ich damals. Genauso wild und ungestüm wie wir, wenn wir vor Schelte und vor dem Rohrstock davonliefen.

Metle war im vergangenen Jahr gestorben, hatten die Briefe aus Sansibar vermeldet, und Ralub, der sein Leben lang immer genau das tat, was seine Schwester vorgemacht hatte, war ihr nur wenige Monate später gefolgt.

Ein unzertrennliches Dreigestirn. Von dem nur ich übrig geblieben bin.

Auf dem Hof gab es keine Tiere mehr – keine Gazellen, keine Enten oder Flamingos, keine angriffslustigen Strauße. Nur noch schwarz-weiß gefiederte Raben, die erst im letzten Augenblick vor den herantrampelnden Halbwüchsigen aufflogen, um sich dann doch wieder in der Nähe auf dem Boden niederzulassen. In dem stacheligen harten Gesträuch, das beinahe die gesamte Fläche überwucherte.

Die Stallungen gab es nicht mehr, und auch von den anderen leicht gebauten Lagerhäusern war nichts mehr zu sehen. Überall standen eingekerbte und verwitterte Mauerreste, lagen Steinbrocken umher, die geborstenen Überbleibsel von dem Holz, das früher in Mtoni verbaut worden war. Emily wanderte um verdorrte Baumstrünke herum, stieg über umgestürzte Stämme hinweg, bis sie gewahr wurde, wo sie sich genau befand.

Die Orangenbäume … Das waren die Orangenbäume, in denen wir uns immer vor unserer strengen Lehrerin versteckt haben. Kein einziger steht mehr. Kein einziger.

Die Badehäuser, die immer belebt, immer voller Stimmen und Gelächter gewesen waren, hüllten sich in Schweigen. Gerippe nur noch, ohne Dach, ohne Fensterrahmen und ohne Türen, die Mauern angefressen vom Zahn der Zeit. Emilys Knie gaben nach, und sie ließ sich auf einen der umgekippten Baumstämme sinken, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.

Beweinte all die Toten. All die Jahre, die vergangen und ihr wie Wasser durch die Finger geronnen waren. Betrauerte die Vergänglichkeit alles Seins, der auch sie unterworfen war und die sie mit jedem Jahr deutlicher spürte. Beklagte all die jugendliche Kraft und Zuversicht, die sie einmal besessen hatte, und das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Das jeden neuen Tag überglücklich begrüßt hatte, behütet und geborgen in ihrer kleinen Welt. Das von der Fremde geträumt und in seiner Unschuld noch nicht gewusst hatte, was das Leben für sie bereithalten würde. Ein kleines Mädchen, von dem Emily nicht glauben konnte, dass sie es einst wahrhaftig gewesen war.

»Mama, was hast du?« Tony war als Erste bei ihr, hockte sich neben sie und schloss sie tröstend in die Arme.

»So schlimm?« Rosa ging vor ihr in die Knie und sah ihr erschrocken ins Gesicht.

»Nimm meins«, sagte Said mitfühlend und hielt ihr sein Taschentuch hin, als Emily fahrig nach dem ihren zu suchen begann.

»Danke.« Emily schnäuzte sich und wischte sich mit der Hand über die nassen Wangen. »Es ist nur – nur so traurig. Nichts steht mehr von Mtoni. Es ist alles … untergegangen.«

Wie meine Kindheit. Wie meine Jugend. Wie alles, wovon ich geträumt, was ich mir erhofft hatte.

»Dort steht noch ein großes Gebäude«, widersprach Said und zeigte mit ausgestrecktem Arm hinüber.

»Das … Das ist das Haupthaus«, schniefte Emily und tupfte sich mit dem Tuch die Nase. »Dort befand sich die Küche, und nebenan lag der Flügel, in dem oben die Frauengemächer untergebracht waren. Wo ich geboren worden bin und wo ich gelebt habe.«

»Zeigst du’s uns? Zeigst du uns, wo dein Zimmer war?«

Emily nickte und ließ sich von ihren Kindern aufhelfen. Einen Arm um jede Tochter gelegt, Said neben ihnen einherschlendernd, überquerten sie den Hof, traten unter einem nackten Türsturz ein.

»Dort hinten lebten Metle und Ralub mit ihrer Mutter«, flüsterte Emily in der Halle. »Sie war gelähmt, deshalb wohnten sie im unteren Stockwerk. Sonst waren dort nur Lagerräume. Es roch immer muffig und feucht hier, und als Kind habe ich mich immer ein bisschen gefürchtet.«

Keine Metle mehr. Kein Ralub.

»Und da oben«, sie deutete die Treppe hinauf, die von grünen Schlingpflanzen fast vollständig erstickt wurde, »da oben waren die Gemächer meiner Mutter und der anderen Frauen meines Vaters. Und da habe ich auch geschlafen.«

»Gehen wir hinauf ?« Fragend sah Said sie an, eine Hand schon am Treppengeländer.

»Besser nicht.« Emily lächelte. »Als ich klein war, ist hier schon einmal das Treppengeländer eingestürzt. Holz wird in der Luft Sansibars sehr schnell morsch. Wer weiß, wie baufällig das Haus im oberen Stockwerk inzwischen ist.«

»Ich kann mir das gar nicht vorstellen«, sagte Tony, den Arm um die Taille ihrer Mutter geschlungen. »Ein Mann und so viele Frauen. Das muss doch ein fürchterliches Durcheinander gewesen sein!«

Emily lachte leise. »Damals nahm ich das als selbstverständlich hin, eine Mutter zu haben und viele Stiefmütter. Ich kannte es ja nicht anders.«

»Trotzdem«, mischte sich Rosa ein. »Hättest du Vater teilen wollen? Mit einer oder gar hundert anderen Frauen?«

»Niemals!«, protestierte Emily sogleich, worauf alle in Lachen ausbrachen, und es war das erste Mal, dass Emily an Heinrich dachte, ohne dass es ihr die Kehle zuschnürte.

Das hohe Gras raschelte unter ihren Füßen, als sie langsam zurück zum Strand gingen.

»Seht mal, da.«

Auf Rosas Flüstern hin richteten sich alle Augen auf einen zerknitterten, altersgebeugten Greis, knorrig wie die Luftwurzeln der Mangroven, der im Mtoni stand, Wasser aus dem Flüsschen schöpfte und sich wusch.

»Er bereitet sich auf das Gebet vor«, erklärte Emily ihren Kindern leise. »Eines der fünf täglichen Gebete, die Pflicht sind im Islam.«

Wie ich ihn darum beneide, geborgen in seinem Glauben zu sein.

Als sie näher kamen, bemerkte Emily an den tastenden Bewegungen des Mannes, dass er blind sein musste. Seit sie hier auf Sansibar war, hatte sie es meist ihrem Gegenüber überlassen zu grüßen. In diesem Falle jedoch wäre es unhöflich gewesen, den alten Mann nicht zu grüßen, auch wenn es wiederum den Sitten widersprach, dass sie als Christin ihn bei dieser heiligen Handlung störte. Dessen ungeachtet trat sie zu ihm hin.

»Ich wünsche Euch einen guten Abend, Väterchen.«

Der Greis horchte auf, hob sein zerfurchtes Gesicht mit den milchigen Augäpfeln an und streckte die Hand nach Emily aus, die ihm verwundert ihre Rechte gab. Worauf er diese an den Mund führte und schließlich an sein Gesicht drückte. Verlegen blickte Emily ihre Kinder an, die nicht wussten, ob sie sich das Lachen verbeißen oder ob sie ihre Mutter vor dieser Zudringlichkeit beschützen sollten.

»So ist sie also zurückgekommen«, ließ sich der alte Mann schließlich mit krächzender Stimme vernehmen. »Die kleine Salima bint Sa’id.«

»Ihr kennt mich?« Emily war verblüfft.

»Natürlich«, erwiderte der Blinde mit einem Nicken. »Ich habe Euch als kleines Mädchen oft auf den Knien geschaukelt. Sofern Ihr nicht gleich wieder davongesprungen seid. Stillsitzen konntet Ihr nämlich nie für lange Zeit.«

Emily lachte. »Das ist wohl wahr! Verzeiht jedoch, ich erinnere mich nicht an Euch.«

Der Greis winkte ab. »Damals wart Ihr wahrhaftig noch sehr klein. Musiker am Hof Eures Vaters war ich einst. Bis ich mein Augenlicht verlor. Seither rufe ich die Menschen von Mtoni zum Gebet. Die kleine Salima«, fügte er schmunzelnd hinzu, »die ist wie das Meer, hab ich immer gesagt. Keinen Tag gleich und doch immer dieselbe, überall und nirgends zu Hause. Allah beschütze und behüte Euch!«

»Allah sei auch mit Euch«, bedankte sich Emily.

Überall und nirgends zu Hause. Welch weise Worte.

Als sie zum Strand hinuntergingen, fiel Emilys Blick auf die Ruine, die einst die Gemächer ihres Vaters beherbergt hatte. Auf eine Nische, in der er zu beten pflegte. Ein Stück abgesprengtes Steinfries lag darin. Emily hob es auf, strich zärtlich mit den Fingerkuppen darüber und steckte es ein, bückte sich im Weitergehen, um ein paar Grashalme und Blätter abzuzupfen, bevor sie mit ihren Kindern wieder in das Boot stieg, das sie zurück in die Stadt brachte.

mit den Fingerkuppen darüber und steckte es ein, bückte sich im Weitergehen, um ein paar Grashalme und Blätter abzuzupfen, bevor sie mit ihren Kindern wieder in das Boot stieg, das sie zurück in die Stadt brachte.



Zwei Tage später traf aus Berlin ein Telegramm ein: Emily Ruete solle Sansibar unverzüglich verlassen. Alle erbitterten Argumente, alles Bitten und Flehen half nichts. Als Bürgerin des Kaiserreichs war sie verpflichtet, dieser Anweisung Folge zu leisten. Emily musste packen und den Dampfer zurück nach Deutschland nehmen.

Wie eine Statue stand sie an der Reling, klammerte sich mit Blicken an die Küste Sansibars, die sich viel zu schnell entfernte, immer kleiner wurde, schließlich hinter dem Horizont verschwand.

Kwa heri, Sansibar, auf Wiedersehen. Ich komme wieder. Ich muss noch einmal wiederkommen.

Ich muss ganz einfach.