In der Fremde

Wenn auch ferne Orte, so doch nah im Herzen.

SPRICHWORT AUS SANSIBAR

40

MuschelHamburg, Ende Juni 1867



Die Droschke ratterte über das Pflaster, das gesäumt war von Menschen, die schnellen Schrittes voranhasteten. Menschen, die es wahrscheinlich nach Hause zog oder an einen Platz, an dem sie den Sommerabend genießen würden. Kupfernes Licht stieß mit rauchigem Vergissmeinnichtblau zusammen, und Dachfirste glühten brandrot über langen Schatten.

»Schau mal da, Bibi!«

Heinrich hatte seinen Arm um sie gelegt, und Emily sah auf, als er sie leicht an der Schulter berührte und sein Zeigefinger ihr die Richtung wies. Eine stämmige Person marschierte die Straße entlang, dass bei jedem ihrer energischen Schritte die Rüschen ihres Unterrocks unter dem Saum ihres dunkelgrauen, fast schwarzen Kleides hervorblitzten. Die Ärmel, die nicht einmal bis zum Ellenbogen reichten, umspannten die kräftigen Oberarme, während die Hände in Handschuhen, die bis zur Mitte des Unterarms reichten, etwas umfasst hielten, das sie mit einem Tuch bedeckt unter dem Arm trug. Als weißer Block hob sich die Schürze vom düsteren Hintergrund des Kleides ab, und weiß war auch die Haube, die topfartig das Hinterhaupt bedeckte. Die daran befestigten Bänder flatterten hinterher, und Rüschen mit Lochstickerei umrahmten das rotbackige Gesicht.

Fragend sah Emily ihren Mann an.

»Das ist ein Dienstmädchen. Fast alle hier in Hamburg tragen die gleiche Tracht.«

Emily nickte und blinzelte auf die Straße hinaus. Nur langsam löste sich die finstere Wolke auf, die sie seit ihrer Fahrt durch Frankreich umfangen gehalten hatte und nichts zu ihr durchdringen ließ.

Schlägt das Schicksal zu, zertrümmert es ein Menschenherz, so wie ein hinterhältiger Bengel mit einem Felsbrocken in der Faust ein Insekt zerschmettert, stirbt man nicht. Wenn man auch nicht weiß, wie man weiterleben soll. Nimmt einem der Tod das Liebste, tritt man ein in ein Schattenreich zwischen den Verstorbenen und den Lebenden. Man ist leibhaftiger als ein Geist und doch ebenso nebelhaft, ausgewaschen von zu vielen Tränen. Man wandelt zwischen den anderen Menschen, sieht aus wie sie und gehört doch nicht mehr zu ihnen, die Sinne abgestumpft, die Seele bloßgescheuert von der Qual, die mit jedem Atemzug aufs Neue beginnt.

Vielleicht ist das Schicksal gnädig und nimmt einem die Erinnerung an die erste Zeit danach. In der Hoffnung, dass Stärke irgendwann den Schmerz überwinde und eine Rückkehr ins Leben ermögliche. In eine Welt, die trotzdem nie wieder dieselbe sein würde.

So war es auch mit Emily, die keinerlei Erinnerung daran besaß, wie sie hierher, nach Hamburg, gelangt war. Lyon, wo die Rhône und die Saône zusammenflossen, hatte ebenso wenig Spuren in ihr hinterlassen wie Dijon und die Weinberge Burgunds oder wie Paris, das nur ein Name geblieben war. Seit jenem Morgen im Zug schien ihr Gedächtnis wie leergefegt. Nichts, was darin Halt zu finden vermochte, kein Bild, kein Geräusch, kein Geruch. Leer wie ihre Arme, die kein Kind mehr zu halten hatten. Emily bemühte sich auch nicht um Erinnerung, fragte nie Heinrich danach.

Woran sie sich noch erinnerte, wog schwer genug. Ebenso schwer wie die Vorwürfe, die sie sich machte, wie die Gedanken an Schuld, von denen sie gequält wurde. Gedanken an Strafe für all ihre begangenen Sünden. Nie würde ein Wort davon über ihre Lippen kommen, nie würde es in Tintenzeichen auf Papier gebannt werden, und nie mehr würde sie einen Fuß nach Frankreich setzen. Tief in ihr würde es eingeschlossen bleiben. Eine Bürde, an der sie ihr Leben lang trug. Die niemand ihr abnehmen konnte. Aber eine Bürde, die Heinrich mit ihr schulterte.

Nur ganz allmählich öffnete Emily ihre Sinne für die Stadt, durch die sie fuhren. Zu lange waren diese wie betäubt gewesen, und zu überwältigend war die Flut dessen, was über sie hereinbrach.

Dabei schien Hamburg bemüht, es ihr leicht zu machen, kleidete es sich doch in gedämpfte Farben, die nicht grell ins Auge stachen: das stumpfe Rostrot und Zinnober der Klinkerfassaden, ihr dunkles Braun; ein Ton, der getrockneten Gewürznelken ähnelte, durchbrochen von weißen Sprossenfenstern. Kalkhelle Häuser gab es, mit glatten Säulen und allerlei Schnörkeln aus Stuck. Manche davon waren bereits leicht vergilbt oder hatten durch den Ruß in der Luft einen Grauschleier übergeworfen bekommen, und die Dächer waren mit steingrauen, manchmal auch rötlichen Schindeln gedeckt. Und Glas – überall Glas! In allen Fenstern, oft auch in einem kleinen rhombenförmigen Ausschnitt in die Haustüren eingelassen. So viel Glas, das sich in den Schatten verdunkelte oder in dem sich die Abendsonne spiegelte. Die Farben der Häuser nahm die Kleidung der Menschen auf – mausgrau, flohbraun, leberfarben und schieferdunkel; braun wie Holz oder wie unbehandeltes Leder, wie Tierfell; grau wie Asche und wie die Dämmerung. Kleider, dem Gefieder der tschilpenden Sperlinge ähnlich, die auf dem Pflaster umherhüpften oder als Flaumbälle durch die Luft schossen. Und Schwarz, überall Schwarz, vor allem bei den Herren, als trügen sie alle Trauer. Weiße Akzente verliehen der Hamburger Garderobe etwas Feierliches, und manchmal nahm ein wenig Beige ihr die Strenge. Ein finsteres Grün, ein Pflaumenblau oder ein tiefes Violett stellten schon Farbtupfer dar, sodass man unwillkürlich hinsah.

So ordentlich, wie die Häuser sich entlang den Straßen aufreihten, ging es auch unter den Menschen zu. Kaum einer ihrer Wege kreuzte sich mit dem anderen, als hätte jeder seine eigene Bahn, die ihm allein gehörte und die ihm auch keiner streitig machte. Emily hatte noch nie so viele hellhäutige, hellhaarige Menschen auf einmal gesehen. Gesichter wie aus Milch oder Sahne, wie das weiche Innere von hellem Brot, mit Wangen wie Rosenblüten. Haare wie Butter, wie Stroh und wie Bast, wie Sand und wie Maismehl.

Emily schöpfte Hoffnung, als sie sah, wie fröhlich die Menschen wirkten; wie liebenswürdig die Herren an die Krempe ihres Zylinderhutes oder ihrer Mütze tippten, ihre Kopfbedeckung kurz lüfteten, um jemanden zu grüßen. Wie die Damen gut gelaunt zurücknickten, einen heiteren Zug auf dem Gesicht. Hamburg versprach eine freundliche, eine offene Stadt zu sein; eine, in der sich gut leben ließ.

»Wie vergnügt sie alle sind«, murmelte Emily erstaunt. Sie verspürte einen neidvollen Stich ob ihrer eigenen Trauer, und doch bescherten ihr diese Straßenszenen einen Silberstreif am Horizont: dass diese Heiterkeit bald auch in ihr ihre Wirkung tun mochte. Dass sie in Hamburg wieder das Lachen lernen könnte.

»Wie kommst du darauf ?«, entgegnete Heinrich in ehrlicher Verblüffung.

»Sieh doch«, erwiderte Emily, nicht weniger verblüfft darüber, dass Heinrich nachfragte. »Alle lächeln oder lachen! Ihr Deutschen müsst eine durch und durch vergnügte Nation sein.«

Heinrich blieb ihr eine Erwiderung schuldig. Es würde noch Zeit genug sein, sie dahingehend aufzuklären, dass das andauernde Lächeln auf den Mienen reine Höflichkeit war und keine Rückschlüsse auf die Empfindungen der Menschen zuließ, allzu oft nichts anderes war als eine Fassade – da musste er ihr diese Illusion nicht schon am ersten Tag nehmen.



Das Straßenbild lockerte auf, wurde ländlicher und von viel Grün durchsetzt. Wo die Häuser zuvor in nahtlosen Reihen und Blöcken verbunden gewesen waren, standen sie hier allein, wenn auch recht dicht, umgeben von gepflegten Gärtchen, Rasenteppichen und Bäumen.

»Wohnen hier Fürsten und andere hohe Würdenträger?«, wollte Emily wissen und deutete auf die zartgelben und blendend weißen Fassaden, die bläulich überhaucht waren vom Abendlicht. Mit ihren Zinnen, Säulen und Treppen sahen sie aus wie Burgen oder Schlösser, was noch betont wurde durch Türme, über denen schwarz-weiß-schwarze oder rot-weiß-rote Fahnen flatterten. Auch Mrs Evans, die die gegenüberliegende Sitzbank gleich hinter dem Kutschbock einnahm, sah sich interessiert um.

»Zumindest Leute, die sich eines dieser neuen Häuser leisten können. Vielleicht nicht die beste Adresse, aber eine sehr gute. Wer hier auf der Uhlenhorst wohnt, hat es zu etwas gebracht.«

Etwas an der Art, wie er seine Äußerung betont hatte, ließ Emily aufhorchen.

»Heißt das …«

»Ja, Bibi. In diesem Teil Hamburgs werden wir wohnen.« Er klang höchst zufrieden. »Zwar ist das Haus fürs Erste nur gemietet, aber sehr komfortabel und auch hübsch gelegen. Wir kaufen uns ein Haus, sobald ich geschäftlich fester im Sattel sitze.«

Der Wagen rollte durch Straßen, an denen alles neu und sauber wirkte. Hier waren die Häuser weniger protzig, dafür von einer schlichten, lichten Eleganz, die Emily gefiel. Sie stieß einen Laut des Entzückens aus, als sie am Ende der Straße Wasser sah, und am letzten Haus vor dem Uferweg, der von Gras, schlanken Pappeln und noch jungen Eichen gesäumt war, hielt die Droschke.

»Ist das unseres? So nah am Wasser?!« Zum ersten Mal klang Emily wieder lebendig.

»Ja«, gab Heinrich mit einem Lachen zur Antwort. »Das ist es. Diese Straße trägt ihren Namen zu Recht: Schöne Aussicht

Hamburg, Uhlenhorst, an der Schönen Aussicht Nr. 29.

Ihr neues Heim.

41

SeesternDie ersten Wochen in Hamburg glichen einem Rausch.

Fast wie in einem Traum, dachte Emily oft. Meine Augen, meine Ohren reichen nicht aus, um alles in mich aufzunehmen. Zehn Augen, zehn Ohren bräuchte ich!

Gänzlich begeistert war sie davon, dass in einem Raum des Hauses, neben dem Schlafgemach gelegen, beim Drehen eines Knaufs Wasser aus den Rohren kam und in das darunterliegende Becken floss, ohne sich je zu erschöpfen, so lange Emily es auch herausströmen ließ. Und wie Zauberei kam es ihr vor, dass bei Einbruch der Dunkelheit in der Stadt die Gaslaternen auf den Straßen ganz von selbst angingen. Sie bestaunte die mannigfaltigen Gerätschaften in der Küche des Hauses aus Kupfer, Eisen, Holz und Keramik, deren Verwendungszweck ihr rätselhaft erschien, und dass nur die Köchin Lene darin werkelte, während auf Sansibar ein ganzes Heer von dienstbaren Geistern mit ungleich weniger und einfacheren Mitteln die Mahlzeiten zubereitet hatte, und das für Hunderte und Aberhunderte von Menschen, nicht nur für das Ehepaar Ruete und für Mrs Evans. Und sie staunte über die Läden, die sie mit Heinrich aufsuchte, um die Lücken in ihrem provisorischen Hausstand zu schließen. Besonders gut gefielen ihr die Wäschemangel, mit der man ein Bettlaken so glatt bekam wie ein Blatt Papier, und das Plätteisen für Kleidungsstücke.

Hamburg erschien ihr wie eine Welt voller Wunder, mit Phantasie und mit Kunstfertigkeit allesamt von Menschen bewirkt. Oftmals wusste sie jedoch nicht, ob sie im Paradies gelandet war oder in einem nicht enden wollenden Albtraum.

Die Kunde, dass ein Sohn dieser Stadt aus der Fremde zurückgekehrt war und eine exotische Frau von dort mitgebracht hatte – die romantische Geschichte seiner Liebe zur Prinzessin von Sansibar und ihre abenteuerliche Flucht von der Insel, wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, war längst auch schon nach Hamburg gedrungen und hier in aller Munde. Demzufolge riss man sich um die Gesellschaft des jungen Paares; jeden Tag flatterten neue Einladungen zu Diners, Soupers und Déjeuners in das Haus an der Schönen Aussicht. Die Anwesenheit der Ruetes garantierte strahlenden Glanz für jeden Gastgeber.

Die Abende glichen einem Wirbel aus festlichen Roben, glitzerndem Geschmeide, Gesprächsfetzen und Musik, Farben, Formen, Geräuschen, Menschen, sodass Emily oft alles nur verschwommen, in farbigen Schlieren und verzerrten Tönen wahrnahm. Die Gesichter schienen ihr ununterscheidbar eintönig in ihren hellen Nuancen, den gleichförmigen Gesichtszügen; die Namen derart unaussprechlich, dass sie bereits in dem Moment vergessen waren, in dem sie bei der Vorstellung der betreffenden Personen fallen gelassen wurden.

Das Deutsche klingt wie das Gezwitscher der Vögel, die uns früh am Morgen wecken. Dieser auf und ab steigende Singsang, ständig diese Laute von S, Sch, T, Tz, die mich ganz verwirren.

Gleichermaßen herrlich wie befremdlich war es, wenn sie auf einem Stuhl am Rande eines Ballsaals saß, weil sie die Tanzschritte nicht kannte. Die Musik der Streicher klang ihr zunächst schief und falsch in den Ohren, bis ihr Gehör Muster und Abfolgen darin erkennen und Emily einen gewissen Genuss daraus ziehen konnte. Den umherhüpfenden und umeinander kreiselnden Paaren zuzusehen ließ sie, unbeweglich, wie sie auf ihren Platz ausharrte, auf einem schmalen Grat zwischen wohligem Taumel und heftigem Schwindel wandeln.

»Tanzt man bei Ihnen auf Sansibar denn auch?«, ließ eine junge Dame, die sich – nach einer Reihe von flotten Tänzen außer Atem – in den Stuhl neben Emily hatte fallen lassen, Heinrich vom Deutschen ins Suaheli übersetzen.

»Wir tanzen nicht selbst, wir lassen uns von eigens dafür ausgebildeten Tänzern vortanzen«, erklärte Emily liebenswürdig.

»Ach so«, sagte die junge Dame, als sie Heinrichs Übersetzung vernahm, bevor sie hinter dem Fächer, mit dem sie sich das glühende Gesicht kühlte, in Kichern ausbrach, das sich durch die Umstehenden fortpflanzte, die Zeuge dieses Gesprächs geworden waren.



»Wissen Sie, dass wir alle Sie uns ganz anders vorgestellt haben?«, wurde sie an einem anderen Abend bei Tisch gefragt. Wenn Deutsch auch die vorherrschende Sprache war, so gab es in Hamburg doch genügend Leute, die auch des Englischen mächtig waren, und einige, die sich aufgrund ihrer Geschäftsbeziehungen mit Indien sogar leidlich auf Hindustani zu verständigen wussten. Manchmal war das Glück Emily besonders hold und sorgte dafür, dass auf einer dieser Gesellschaften jemand zugegen war, der Ostafrika bereist hatte und ein paar Brocken Suaheli beherrschte, was Emily jedes Mal aufblühen ließ.

»Wahrhaftig?« Emily versuchte sich an einem höflichen Lächeln, bemüht, nicht auf das Dekolleté der nicht mehr ganz jungen Engländerin zu starren, die in die feine Gesellschaft Hamburgs eingeheiratet hatte. Die Mode, abends derart viel Haut zur Schau zu stellen, wohingegen man sich des Tags bis an den Hals zugeknöpft gab, mutete sie seltsam an und brachte sie stets aufs Neue in Verlegenheit. Bei der Garderobe, die sie für sich selbst anfertigen ließ, achtete sie darauf, dass ihr Halsausschnitt und ihre Arme immer bedeckt blieben.

»Oh ja«, bekräftigte diese Frau Ehrenwerte Sowieso nun mit einem solch tiefen Atemzug, dass ihr ausladender Busen, kaum vom tiefen Ausschnitt ihrer Robe gebändigt, bebte wie der Milchpudding, der zum Dessert serviert worden war. »Mir wurde berichtet, Sie seien so dick wie ein Fass!«

Salima biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht in Gelächter auszubrechen. Während sie selbst unter fortwährender Appetitlosigkeit litt – was in Hamburg auf den Teller kam, sah für sie schwammig aus und bleich und schmeckte entsetzlich fade – und fast nur noch Haut und Knochen war, drohte ihre Tischnachbarin jeden Augenblick ihr lilaseidenes Abendkleid zu sprengen.

»Andere gingen davon aus«, fuhr diese sogleich fort, »Sie seien schwarz wie die Nacht, mit platt gedrückter Nase, Kraushaar und Wulstlippen. Schließlich kommen Sie ja aus dem Herzen Afrikas.«

»Mich war ganz erleichtert«, warf eine andere Dame von gegenüber in fehlerhaftem Englisch ein, »als ich gesehen, dass Sie laufen können! Wurde gehört, Ihre Füße sind verkrüppelt wie die von Chinesinnen!« Sie nickte Emily über all das im Kerzenschimmer funkelnde und blinkende Silber und Kristall hinweg aufmunternd zu. Hilfe suchend blickte Emily hinüber zu Heinrich, doch der war in ein angeregtes Gespräch mit seinem Tischnachbarn vertieft.

Ihr Bedürfnis, über all diese haarsträubenden Gerüchte zu lachen, schwand. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das halbe Dutzend Gläser, das neben ihrem Teller aufgebaut und mit verschiedenen Flüssigkeiten gefüllt war, um sich zu erinnern, in welchem sich das Wasser befand und nicht Wein oder Champagner. Sie fühlte sich wie ein Allgemeingut, über das jeder frei verfügen durfte. Ein bestaunenswertes Kabinettstück, über das man hemmungslos Mutmaßungen anstellen, sich zum Zeitvertreib das Mundwerk zerreißen konnte, und ihr war elend zumute.



»Du fandest es schrecklich heute Abend, nicht wahr?«, fragte Heinrich später in der Nacht, im schwachen Schein der halb heruntergedrehten Lampe, der über das breite Bett im oberen Stockwerk des Hauses fiel. Es war schon fast gegen Morgen, denn manche der Gesellschaften zogen sich bis weit nach Mitternacht hin, weitaus länger, als Emily dies von Sansibar her kannte. Er hatte geflüstert, unsicher, ob Emily in seiner Armbeuge bereits schlief.

»Ja«, kam es schließlich leise von ihr. »Es war grauenhaft. Wie all die Male zuvor.« Heiße Tränen rannen unter ihren Lidern hervor. »Überall werde ich angestarrt, überall wird getuschelt. Wie die eine Frau, die die Frechheit besaß, mir auf dem Kopf herumzutatschen, weil sie wissen wollte, wie sich afrikanisches Haar anfühlt. Oder die beiden in der Kutsche, als wir am Sonntag spazieren gingen.«

»Die auf dem Sitz knieten und einen langen Hals machten?« Heinrich lachte sanft. »Lass sie doch schauen«, riet er ihr zärtlich. »Du bist hier in Hamburg eben eine Sensation – so etwas wie dich kennt man hier einfach nicht.«

»Ich will das aber nicht!«, entfuhr es ihr mit einem Schluchzen; ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, gruben über ihrer Nasenwurzel eine steile Falte ein. »Ich finde es furchtbar. Ich finde alles hier furchtbar!« Sie löste sich aus seiner Umarmung und setzte sich auf, verfing sich dabei in dem weiten langen Nachthemd. Sie zerrte und riss daraufhin an dem weißen Batist, als sei er allein Schuld an ihrem Unglück.

»Als ich klein war, besuchte uns manchmal ein französisches Mädchen«, rief sie und wischte sich Tränen von den Wangen. »Claire hieß sie. Und wenn sie bei uns auf der Plantage übernachtete, trug sie immer so ein Hemd, worüber wir uns immer lustig machten, weil es komisch aussah. Nun trage ich solche Hemden, und ich bin es, die so komisch aussieht, dass die ganze Stadt über mich lacht!« In verzweifelter Wut kickte sie gegen die ausladende, mit Federn gefüllte Zudecke, die ihr noch immer Beklemmungen verursachte.

»Nein, Bibi.« Auch Heinrich richtete sich auf und strich ihr das dunkle Haar zurück, das ihr in das nasse, glühende Gesicht gefallen war. »Niemand lacht über dich! Sie sind alle nur neugierig und wissen nichts von dir. Wissen nichts von Sansibar. Das wird sich geben – mit der Zeit.« Als Emily nichts sagte, einfach nur vor sich hin weinte, setzte er zögernd hinzu: »Es tut mir leid, dass ich dir vorgeschlagen habe, dein Gesicht mit dem roten Schal zu verhüllen, als wir neulich ins Konzert gingen. Ich dachte, so könntest du dich vor allzu aufdringlichen Blicken schützen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass das die Neugierde der Leute erst recht schüren würde. Und«, er atmete tief durch, »es tut mir auch leid, dass ich dich gebeten habe, ins Theater das bestickte Obergewand anzuziehen, in dem du mir so gefällst. Das war dumm von mir.«

Emily schnaubte tränenfeucht. »Diese Oper war dumm! Dieser – dieser Meyer… Meyerbeer hat bestimmt aus seinem Musikerhimmel auf mich heruntergesehen und gedacht, was bildet sich diese ungebildete Afrikanerin ein, meine Kunst so wenig zu würdigen. Hat er doch mit seiner blühenden Phantasie ein Afrika erschaffen, von dem die gewöhnliche Afrikanerin nichts versteht!«

Heinrich gab Laute von sich, die verrieten, wie sehr er mit sich rang, um ein Lachen zu unterdrücken. Was derart komisch klang, dass nun auch Emily nicht anders konnte, als über ihre Verärgerung an jenem Abend zu schmunzeln, die sie bewogen hatte, bereits um neun Uhr die Oper zu verlassen.

»Was sind wir nur für ein seltsames Paar, Bibi«, sagte Heinrich lachend und zog sie an sich.

»Oh ja, und wie«, schniefte sie, halb schluchzend, halb in sich hinein glucksend.

»Vergib mir«, murmelte er in ihr Haar, in jäh umgeschlagener Stimmung. »Vergib mir, dass ich dich hierhergebracht habe. Vergib mir, wenn ich Fehler mache und dir damit wehtue. Nichts liegt mir ferner, und dennoch werde ich es nicht immer verhindern können.« Als sie nickte, fügte er hinzu: »Wir müssen nicht mehr zu solchen Anlässen gehen, wenn du nicht willst.«

Emily zögerte. So verlockend war es, darauf einzugehen. Hätte sie nicht gesehen, wie er mit leuchtenden Augen ganz in den Gesprächen bei Tisch aufging. Wie eifrig er Hände schüttelte und wie so manche Visitenkarte von seiner Westentasche in eine andere wanderte.

»Für dich sind diese Leute aber wichtig, nicht?«

Heinrich schwieg. Um sie nicht zu beunruhigen, hatte er ihr nichts davon erzählt, dass er seines Heimatrechtes durch auswärtige Verheiratung verlustig gegangen war, wie es in dem Schreiben von Amts wegen geheißen hatte. Sie waren beide nicht Bürger dieser Stadt, sondern in Hamburg nur mehr geduldet. Je mehr Kontakte er knüpfte, je enger er diese knüpfte, umso größer war die Chance, einflussreiche Fürsprecher zu gewinnen, die ihnen zur Seite standen, was auch kommen mochte.

Seine Bibi Salmé war auch gänzlich ahnungslos, dass die Nachricht von ihrer beider Heirat und vor allem von Emilys Taufe auf Sansibar noch höhere Wellen geschlagen hatte als ihre Flucht von der Insel. Heinrich hatte Sansibar kaum in Richtung Aden verlassen, als Sultan Majid an John Witt schrieb, Heinrich Ruete solle sich tunlichst nicht mehr blicken lassen auf Sansibar. Und doch war Heinrich entschlossen, genau das zu tun. Weil er sich selbst geschworen hatte, dass Emilys Besitzungen, die sie ihm vertrauensvoll überschrieben hatte, nicht brach liegen, dass sie diese nie verlieren sollte, allein weil sie in seinen Händen lagen. Schon gar nicht Kisimbani, wo sie beide so glücklich gewesen waren.

Vor allem jedoch, weil er in den letzten Tagen verstanden hatte, dass er Emily aus Deutschland wieder fortbringen musste. Ihm war nicht verborgen geblieben, wie unglücklich sie hier war. Wie sehr sie fror, sodass sie trotz des warmen Sommers im Haus stets eine Flanelldecke übergeworfen hatte. Wie schwer sie sich in dieser ihr so fremden Welt tat.

Heinrich wusste, was Heimweh war. Er hatte selbst eine Zeit lang darunter gelitten, bevor er sich in Sansibar verliebte, lange bevor er Emily begegnet war. Die Sehnsucht nach der fernen Insel verband sie beide. Im Geheimen plante er ihre Rückkehr, und für ihn bedeutete dies, als Erster vorangehen zu müssen, um den Weg für die Heimkehr Bibi Salmés zu bereiten.

»Ja, sie sind wichtig für mich«, gab er schließlich zur Antwort. »Leider. Auf einer einsamen, menschenleeren Insel kann man leider keine Geschäfte machen.«

Emily focht einen kurzen, aber heftigen Kampf mit sich selbst aus. »Ich werd versuchen, tapfer zu sein«, flüsterte sie und küsste ihn.

Die Zeit wird ’s richten, dachte sie, als Heinrich den Arm ausstreckte, um das Licht zu löschen. Als sie sich gemeinsam in das Land begaben, das ihnen beiden vertraut war, so wie sie im Leib des anderen heimisch geworden waren. In dem es nur eine Sprache ohne Worte gab, die sie beide blind beherrschten; dieselbe Sprache, in der sich Männer und Frauen von Anbeginn der Zeiten an begegnen und die doch ganz allein die ihre war.

Solange Heinrich bei mir ist, werd ich wohl alles ertragen können.

42

MuschelDie Regeln der Höflichkeit verlangten, dass die Ruetes bald Gegeneinladungen aussprachen, und die bevorstehende erste Gesellschaft im Haus an der Schönen Aussicht versetzte Emily in hektische Aufregung. So vieles, was es zu bedenken gab, zu planen und zu beschaffen, so vieles, was sie nicht wusste, und so vieles, was sie falsch machen und womit sie sich und vor allem Heinrich blamieren konnte. Im Hafen hatte Heinrich eine Suppenschildkröte aufgetan, die wie eigens für sie bestellt aus Sansibar angeliefert worden war. Lebend. Die zwei Wochen bis zu dem großen Abend wurde sie in der mit Wasser gefüllten Badewanne gehalten, aus der die Dienstmädchen das zentnerschwere Tier jedes Mal mit vereinten Kräften herausheben und in einen Zuber umquartieren mussten, wenn Heinrich oder Emily ein Bad nehmen wollten. Oft kniete Emily vor der Wanne und leistete der Schildkröte Gesellschaft.

»Da sitzen wir nun«, flüsterte sie. »Tausende von Meilen von unserer Heimat entfernt. Manchmal glaube ich, ich werde genauso wenig zurückkehren wie du.«

Die Schildkröte blinzelte.

»Du verstehst mich, nicht wahr? Du weißt auch, wie es ist, entwurzelt zu sein und fern der Heimat.«

Der schuppige Hals der Schildkröte schob sich einen Zoll weit vor, zog sich dann wieder ein Stückchen in den braunweiß gefleckten Panzer zurück.

»Du hast ja recht – es nützt nichts, zu hadern. Die Dinge sind so, wie sie nun einmal sind.«

Ausdruckslos erwiderte das Reptil Emilys schimmernden Blick.

»Ich bin froh, dass du da bist. Mit dir im Haus fühle ich mich ein bisschen weniger einsam.«

Eigens für den festlichen Anlass wurde eine Wanderköchin eingestellt, berühmt für ihre Schildkrötensuppe, die gerade nach englischem Vorbild à la mode war. Die Hände in den Schoß zu legen entsprach Emily nicht. Sie packte in der Küche beim Gemüseputzen mit an, beim Polieren von Gläsern und Tellern und beim Tischdecken an der Seite der beiden Lohndiener. Und da einige der zu erwartenden Gäste den Orient bereist hatten, bereitete Emily ein Curry zu, das die Wanderköchin beim Kosten nach Luft schnappen und nach einem Glas Wasser rufen ließ.

Die Gäste jedoch lobten Curry, Schildkrötensuppe – die Emily nicht anrührte; sie zog die ebenfalls servierte Bouillon vor – und überhaupt die tüchtige Hausfrau, die Heinrich Ruete mit nach Hamburg gebracht hatte. Der Abend war gelungen, und Emily benötigte drei Tage, um sich von der Anspannung und der Aufregung zu erholen.

Die späten Stunden glichen einem Strudel wilden, unbekannten Lebens, der Emily mit sich riss, ob sie wollte oder nicht, und der sie in der tiefen Nacht oft erschöpft und überreizt wieder ausspie.



Ihre Tage jedoch waren öd und leer.

Zwischen neun und halb zehn verließ Heinrich das Haus, um mit einem der Dampfschiffe, die auf der Außenalster verkehrten, in die Stadt hineinzufahren, von wo er erst am späten Nachmittag wieder zurückkehrte. Lange, viel zu lange Stunden, in denen Emily sich selbst überlassen blieb. In einem Haus voller Dienstboten, deren Sprache sie ebenso wenig sprach wie diese die ihre. Wünsche und Fragen mussten warten, bis der Hausherr wieder anwesend war und als Übersetzer dienen konnte. Solange Mrs Evans, die für Emily eine aufgeräumt auf Hindustani und Englisch plaudernde Gesellschaft darstellte, noch in Hamburg weilte, war es erträglich. Doch ihr in Aden aufgesetzter Vertrag war allzu bald ausgelaufen, und die Engländerin war weder durch Bitten noch mit einem großzügigen Angebot dazu zu bewegen hierzubleiben. Die Sehnsucht nach ihrem Ehemann, der in Aden stationiert war, erwies sich als übermächtig – etwas, das Emily, die neun Monate auf Heinrich hatte warten müssen, nur zu gut verstand. Mit Mrs Evans’ Abreise verlor Emily nicht nur eine Freundin; sie verstummte für die Zeit vom Morgen bis zum Nachmittag.

Anstatt aus der Stille Balsam für Leib und Seele zu schöpfen, darin Erholung zu finden, bemächtigte sich Emilys eine gereizte Unrast. Ruhelos wanderte sie im Haus mit den vielen Zimmern umher, die ihr klein und niedrig vorkamen. Zumal sie bis zum Bersten vollgestellt waren mit massigen Kanapees und Sesseln, Tischen und Stühlen, Schränken, Kommoden und Konsolen, sodass Emily sich ständig einen Ellenbogen stieß, mit der Hüfte gegen eine Ecke prallte oder mit ihren ausladenden Röcken irgendwo hängen blieb. Erstickend war es im Inneren des Hauses, vor allem an regnerischen Tagen, wenn die Fenster geschlossen blieben und die dicken Ripsgardinen die Atemluft zu verzehren schienen. An solchen Tagen litt Emily unter Kopfschmerzen, und sie hatte das Gefühl, als läge eine Schlinge um ihren Hals, die sich langsam zuzog.

Die deutsche Sitte, alle Türen im Haus ständig geschlossen zu halten, verstärkte noch Emilys Empfindung bedrückender Enge. Jedes Mal, wenn sie durch eine der Türen hindurchging auf ihren ziellosen Wanderungen durch die Zimmer, Flure und Stockwerke, ließ sie diese offen stehen – um sie wenig später wieder zugeschlagen vorzufinden. Als trieben Geister ihr Unwesen. Tatsächlich waren es nur die Dienstmädchen auf ihrem Rundgang mit Staubwedel, Teppichklopfer und Besen, Lappen und Politur, Scheuerbürste und Eimern voller Seifenlauge. Obwohl Emily keinen Schmutz, nicht das kleinste Stäubchen entdecken konnte, wurde von Montag bis Samstag im Haus alles bis in den letzten Winkel gekehrt, gewienert, geschrubbt. Wobei die Mienen der Dienstboten keinen Zweifel aufkommen ließen, wie lästig es ihnen fiel, dauernd um ihre stumme fremdländische Herrin herumzuputzen, die den ganzen Tag in Müßiggang verbrachte.

Die arabischen Bücher, die Heinrich ihr aus Alexandria hatte kommen lassen, vermochten ihr nicht lange Ablenkung zu verschaffen. Zu schnell hatte sie sie in ihrer Gier verschlungen, in kürzester Zeit so oft gelesen, dass sie sie fast auswendig kannte. Sogar um eine früher so verhasste Aufgabe wie das Stopfen von Strümpfen wäre sie dankbar gewesen, doch alle Strümpfe in den Schubladen waren neu und würden noch lange nicht durchgewetzt sein. Ihre einzige Gesellschaft war ihre verspielte Katze, die ihre eigene Sprache hatte aus Herumrollen, Pfotenstupsern, Maunzen, Miauen und Schnurren. Und das einzig Vertraute befand sich in der Kiste, in der sie ihre sansibarischen Habseligkeiten aufbewahrte, Beinkleider und Obergewänder, schele und Maske, den roten, golddurchwirkten Schal, den Majid ihr einmal aus Indien mitgebracht hatte, ihren Schmuck. Manchmal nahm sie all diese Dinge heraus, sog ihren Geruch ein, den Geruch nach Salz und Sand und Gewürznelken, nach Jasmin und Weihrauch, der sich jedoch erschreckend schnell zu verflüchtigen begann, verteilte sie im ganzen Zimmer, um ein Stückchen Heimat vor Augen zu haben.

Immer öfter wurde sie von einer unergründlichen panikartigen Angst überfallen, sobald Heinrich aus dem Haus war.

Wenn ihm etwas zustößt in dieser großen, überwältigenden Stadt … Wenn er nun nicht mehr nach Hause kommt? Was soll dann aus mir werden? Wenn Diebe oder Räuber hier eindringen, weil sie wissen, dass nur wehrlose Frauen anwesend sind?

Herzrasen und Atemnot gingen über in ein Zittern, das sie nicht unterdrücken konnte, dann in haltloses Weinen, das Stunden andauern konnte. Bis die Uhr kurz vor drei anzeigte. Dann kühlte sie ihre geschwollenen Augen mit Wasser und harrte Schlag drei hinter der Haustür aus, obwohl sie wusste, dass Heinrich nie vor vier eintraf. Erst mit seiner Rückkehr lebte sie wieder auf, überschüttete ihn mit den Wortkaskaden, die sich in den Stunden des Schweigens in ihr aufgestaut hatten, und die Sonntage, an denen sie ihn ganz für sich hatte, waren Festtage für sie.

Salima bint Sa’id, die auf Sansibar als kleines Mädchen unerschrocken in Palmen hinaufgeklettert und geritten war wie der Teufel, die mit einem Säbel ebenso gut umzugehen wusste wie ein Mann und besser mit einem Gewehr traf als ihre Brüder, gab es nicht mehr.

Nicht hier in Hamburg.

Das bin nicht mehr ich, dachte sie oft. Diese verzagte Frau, die sich ängstlich an ihren Mann klammert – das bin nicht ich. Was ist nur aus mir geworden?



Es war der Garten, der sie rettete. Der Garten und das, was dahinterlag.

Nachdem der August manchen kühlgrauen Regentag gebracht hatte, zeigte sich der September unter einem betörend blauen Himmel in dunkles Gold getaucht. Die Sonne verströmte so viel Kraft, als müsste sie alles davon über Hamburg verteilen, ehe der Herbst kam. In einer Üppigkeit, in einer Intensität, die an den Süden gemahnte und die die Wasservorräte des Mutterbodens aufbrauchte. Was Emily mit dem geschulten Blick einer ehemaligen Plantagenbesitzerin bemerkte, und da noch kein Gärtner eingestellt war, stapfte sie selbst in den Garten hinaus, schnitt mit einer Papierschere vertrocknete Zweige und verwelkte Blüten ab, schloss eigenhändig den im Gras zu einer schlaffen Schlange zusammengerollten Gartenschlauch an und sprengte die Erde unter den Bäumen, die Blumenbeete und Sträucher. Seit langer Zeit wieder mit einem echten Lächeln auf ihrem breiten Mund.

Stimmen und Kinderlachen drangen vom Ufer zu ihr herüber, mischten sich mit dem satten Tuten der Dampfer auf der Außenalster, dem zu einem kleinen See aufgestauten Flussteil, und weckten Emilys Neugier. Sie drehte den Hahn zu, bückte sich nach ihrem Schultertuch, das sie, erhitzt von der Sonne und der Bewegung im Garten, achtlos auf den Boden hatte fallen lassen, wickelte sich zum Schutz gegen den frischen Wind, der hier in Hamburg ständig blies, darin ein und ging hinunter ans Wasser.

Obwohl es ein Werktag war, hatte das Prachtwetter zahlreiche Spaziergänger an die Alster gelockt. Wenige Herren in der Tat, und fast alle waren bereits recht betagt, wie an Haltung und Gang unschwer zu erkennen. Die meisten Ausflügler, die den warmen Tag genossen und die malerische Aussicht zwischen den Bäumen hindurch über das Wasser, hinüber zu der am anderen Ufer ausgebreiteten Silhouette Hamburgs, waren Damen. Großmütter und Tanten, Mütter und Kinderfrauen mit ihren Schützlingen: kleine Jungen in blau-weißen Matrosenanzügen, die einen Ball vor sich hertraten oder einen Reifen mit einem Stöckchen neben sich hertrieben; kleine Mädchen in rüschenumwölkten weißen Kleidchen mit riesigen Schleifen im Haar, die in ihren Lackschühchen artig an Frauenhänden einhertrippelten.

Es versetzte Emily einen schmerzhaften Stich, und doch breitete sich kribbelnde Freude in ihrem Inneren aus. Unwillkürlich strich ihre Hand über die Stelle, an der der versteifte Stoff des Mieders in Rockfalten aufsprang. Ein neues Leben wuchs in ihr heran; in Marseille gezeugt, sofern sie richtig gerechnet hatte. Heinrich wusste noch nichts davon. Sie wollte erst ganz sicher sein, bevor sie es ihm sagte. Vor allem wollte sie mit sich selbst im Reinen sein. Ihre Vorfreude war getrübt von der Angst, noch einmal ein Kind zu verlieren. Von der Angst, ihr zweites Kind würde immer ein Ersatz für den toten Bruder bleiben. Von der Angst, ein neues Kind würde jeden Tag, jede Stunde an dem alten, immerwährenden Schmerz rühren.

»Bitte, lieber Gott«, schickte sie murmelnd ein Gebet zum Himmel, »lass es ein Mädchen werden. Eine Tochter macht es mir vielleicht leichter, damit zu leben.«

In ihre Gedanken versunken, ihre widerstreitenden Empfindungen ordnend, ging sie den Uferweg entlang, ohne dessen gewahr zu sein. Erst ein Grußwort schreckte sie auf, ein ihr unbekannter Herr, der mit der Fingerspitze den Rand seines Zylinders lüftete und ihr dabei zunickte. Emily wurde glutrot, stammelte etwas Unverständliches und sah sich hastig um. Niemand sonst schien Notiz von ihr zu nehmen, nicht einmal davon, dass sie nur ein einfaches Wolltuch umhatte, dass ihr Rocksaum erdverkrustet und dass sie ohne Hut und ohne Handschuhe unterwegs war.

Ein unsicheres Lächeln flatterte um ihre Mundwinkel und wurde zu einem seligen Strahlen. In immer größeren, schnelleren Schritten setzte Emily ihren Weg fort, die Alster hinauf. Ihr ganzer Leib jubilierte in der Bewegung, und sie sog tief die Luft ein, die sich zwar kühl anfühlte, aber nach Freiheit roch und schmeckte.

Bis eine Kirchturmuhr die dritte Stunde des Nachmittags in die Hamburger Luft zählte und Emily buchstäblich nach Hause flog, um rechtzeitig zu Heinrichs Ankunft wieder da zu sein.



Am nächsten Tag ging sie etwas früher los, am übernächsten noch früher, bis sie irgendwann dazu überging, gleichzeitig mit Heinrich das Haus zu verlassen. Wobei er ihr manchmal nachlief, einen Schal, Handschuhe oder einen Hut in den Händen, die Emily in ihrer Ungeduld vergessen hatte und deren Sinn sich ihr nicht erschloss, angesichts der vielen Kleidungsstücke, die sie ohnehin schon am Leib trug – bis sie im Hamburger Wind wieder erbärmlich fror. Und während Heinrich in seinem Kontor Waren orderte und wieder verkaufte, neue Kunden gewann und die bestehenden zufriedenstellte, erwanderte sich Emily seine Heimatstadt und deren Umgebung.

In flottem Schritt marschierte sie das Ufer der Außenalster entlang, an dem sich Pappeln wie strammstehende Zinnsoldaten aufreihten, durch Grünflächen und Baumgruppen hindurch am Ferdinandstor vorbei und über die Lombardsbrücke, die Außen- und Binnenalster voneinander trennte und die einen großartigen Blick auf Hamburg bot. Sie ließ die Windmühle am Ende der Brücke hinter sich und spazierte wie andere Flaneure durch die Allee der Esplanade mit ihren gleichförmigen, edel wirkenden Häuserzeilen dahinter. Am Theater vorbei und über den Gänsemarkt, wo stets ein verführerischer Duft nach frischem Brot in der Luft lag und auf dem vor Weihnachten der »Dom« stattfand, ein Volksfest mit allerlei Buden und Vorführungen. Zurück ging es den neuen Jungfernstieg hinauf, oder sie wählte den Weg über den alten Jungfernstieg, in dessen Alsterpavillon sie und Heinrich sonntags manchmal Tee tranken und Kuchen aßen. Kaffee stand zwar auch auf der Karte, doch Emily verschmähte das im Vergleich zur kräftigen, stark gesüßten arabischen Variante wässrige Gebräu, das man in Hamburg als »Kaffee« zu bezeichnen pflegte. Die Alsterarkaden mit ihren elegant dekorierten Schaufenstern blieben einem sonntäglichen Bummel mit Heinrich vorbehalten. Oft begutachtete Emily die Fortschritte an den zahlreichen Baustellen der Stadt, während sich an der Lücke, die das alte Rathaus hinterlassen hatte, nachdem es beim großen Brand rund fünfundzwanzig Jahre zuvor ein Raub der Flammen geworden war, weiterhin nichts tat. Doch die Börse dahinter, die vorschont geblieben war, stellte auch für sich genommen schon ein Schmuckstück dar.

In Hamburg war vieles prächtig, vieles bezauberte Emily. Vor allem die vielen Wasserläufe, die die Stadt durchzogen. Doch nichts betörte sie so sehr wie die Elbe, ein Strom, der schon fast etwas an sich hatte von einem Meer, so wenig zahm, wie er war. Im Hafen hielt Emily sich am liebsten auf. Hier glaubte sie das Salz der Weltmeere zu riechen und ein bisschen von den Gewürznelken Sansibars, wenn sie das Gesicht in den kräftigen Wind hielt und in die Masten der Segler sah. Ihr Herz schlug schneller, wenn ihr Blick auf dunkelhäutige Matrosen fiel, die geradewegs aus ihrer Heimat gekommen zu sein schienen. Emily verspürte dann brennendes Heimweh und die wimpernschlaglange Erfüllung ihrer Sehnsucht. Ein bittersüßer Schmerz, den sie willkommen hieß.

Eines Tages werde ich Sansibar wiedersehen, das weiß ich. Eines Tages – ganz bestimmt …

Hamburg hatte indes noch ein zweites Gesicht, eines, das finster war und schmutzig, als sammelte sich an bestimmten Orten der Stadt der Ruß, den die unzähligen Schornsteine in die Luft schickten. Hier waren die Gassen schmierig und schlüpfrig und selbst an einem sonnigen Tag nebelverhangen unter einem Himmel, der bleiern war von Rauch und schwarzem Dunst, schlimmer noch als in Aden.

Schmutzig waren auch die Menschen hier, abgerissen, vor der Zeit verbraucht und mit leeren Augen. Emilys Hände ballten sich zu Fäusten, als sie sah, wie Kinder, deren Schulterblätter unter den Joppen hervorstachen wie beschnittene Engelsflügel, Backsteine schleppten. Mehrmals war sie auf den Abendgesellschaften auf die Sklaverei angesprochen worden, so als säße man zu Gericht über Emily. Niemand wollte glauben, dass ihr der Name »Bagamoyo« nicht mehr sagte, als dass es sich um einen Ort an der afrikanischen Küste handelte. Niemand konnte sich vorstellen, dass Emily nie die halb toten, zerschundenen Gerippe gesehen hatte, als die die aus dem Inneren des Kontinentes verschleppten Menschen dort ankamen, während jeder, der sich in Hamburg nur ein wenig für dieses Thema interessierte, ausführliche Berichte darüber kannte.

Emily stiegen Tränen in die Augen, als sie an die wohlgenährten, fröhlichen Kinder ihrer Sklaven auf Kisimbani dachte, an ihre lebhaften Spielgefährten in Mtoni und Beit il Sahil, deren Mütter den sarari des Sultans, ihr und ihren Geschwistern gedient hatten. Keines dieser Sklavenkinder hatte in diesem Alter je so hart arbeiten müssen, und keines war je so abgemagert gewesen wie diese Hamburger Kinder, deren Gesichter bereits greisenhafte Züge hatten. Deren Blick stumpf war, ohne diesen unbändigen Funken eines jungen Lebens, das noch nichts wusste von den Kümmernissen der Welt.

Oh ja, gewiss, sie sind frei, dachte Salima voller Ingrimm, während sie zornig ausschritt und in Gedanken eine stumme Rede an die vor ihrem inneren Auge versammelten Bürger Hamburgs hielt, die mit einer Verurteilung sansibarischer Gepflogenheiten so schnell bei der Hand gewesen waren. Frei, um sich krank und halb tot zu schuften. Frei, um nicht genug zu essen zu haben und doch gerade so viel, dass sie nicht einfach tot umfallen. Wie viel ist Freiheit wert mit einem leeren Magen? Wie frei ist jemand, der sich von Kindesbeinen an derart abrackern muss, ohne dass sein Dienstherr für ihn sorgt? Jemand, dem es wohl nie gelingen wird, das Joch aus Schinderei, wenig Lohn und Hunger abzuschütteln – solch ein Mensch soll frei sein?



Emily sah viel von Hamburg in den Jahren, die sie hier verbringen sollte. Im Frühjahr und im Sommer, im Herbst und sogar in den kältesten Wintern, bei Sonne und Regen und Schnee. Oft begleitet von ihrem Pudel und dem schlankgliedrigen Windspiel – die beiden Hunde, die Heinrich ihr geschenkt hatte, nachdem ihre weiße Katze von einem Streifzug durch die Nachbarschaft nicht wieder zurückgekehrt war. Bis hinaus nach Reinbek zog es sie, idyllisch am Flüsschen Bille gelegen, zu einem verwunschen wirkenden Teich aufgestaut; lieblich mit seinen Wiesen und Wäldern, seinem Schlösschen und der steinernen Brücke, die daran erinnerte, dass das Königreich von Dänemark einmal bis hierher gereicht hatte. Die Bille war es auch, die Emily von Reinbek nach Bergedorf führte, mit seinem rotsteinigen Schloss am Wasser und seinem italienischen Viertel, in dessen Restaurants sie manchmal zu Mittag aß.

Diese Märsche bewahrten ihren klaren Verstand, linderten Heimweh und Einsamkeit.



Diese Stadt hatte etwas Eigentümliches: Aus einer gewissen Entfernung, vom Ufer der Außenalster etwa oder von der Lombardsbrücke aus gesehen, wirkte Hamburg filigran, fast putzig. All die Türmchen und Spitzen und grauen oder grünen Dachflecken, die Fensterchen und Türchen und der feine Zierrat, den die Bürger dieser Stadt so schätzten – aus einer gewissen Entfernung betrachtet, ähnelte Hamburg einer Ansammlung von Puppenhäusern, für zerbrechliche kleine Wesen gemacht.

Ein trügerischer Eindruck, wie Emily mehr als einmal feststellte, wenn sie sich inmitten der Straßenzüge und Gassen heillos verlief und erst nach stundenlangem Umherirren wieder eine bekannte Ecke, ein vertrautes Bauwerk fand, das ihr den Heimweg zeigte.

Es war an einem solchen Tag, noch in ihrem ersten Spätsommer in Hamburg, dass sie in ihrer Not einen Laden betrat, in dessen Schaufenster zierliche Pumps und blanke Stiefel ausgestellt waren.

Die Glocke über ihr bimmelte heftig, als Emily die Tür aufriss und hineinging.

Über seine Brillengläser hinweg sah der Schuhmacher sie freundlich an, ein verhutzeltes Männlein mit einem Gesicht wie eine getrocknete Dattel, die Ärmel seines blau-weiß gestreiften Hemdes hochgerollt und eine Lederschürze umgebunden.

»Moin«, begrüßte er sie mit einem der wenigen Ausdrücke, die Emily von der fremden Sprache verstand. Er legte den Schuh, an dem er gerade mit seiner Ahle herumgestichelt hatte, auf den hölzernen Ladentisch und erhob sich. Der nächste Satz, den er von sich gab, blieb Emily rätselhaft, aber aus seiner Miene schloss sie, dass er eine Frage an sie gerichtet hatte.

In ihrer Aufregung vergaß sie, den Gruß zu erwidern, und stieß in überdeutlicher Betonung hervor: »Uh-len-hor-stt?«

Die struppigen Augenbrauen des Schuhmachers zogen sich zusammen.

»Uh-len-hor-stt?«, versuchte Emily es noch einmal und tippte sich einige Male mit dem Zeigefinger gegen das Brustbein. »Show me, zeigen Sie es mir«, setzte sie auf Englisch hinzu. Der Schuhmacher hob hilflos die schwieligen Hände und zog die Schultern hoch.

»Show me«, wiederholte Emily, der Verzweiflung nah. Zum besseren Verständnis spreizte sie dabei leicht Zeige- und Mittelfinger und ließ sie zwei Beinen gleich über den Ladentisch spazieren. »Uh-len-hor-stt! Show me!«

»Ah-haaaa«, machte der Mann und strahlte über das ganze Gesicht. Er drückte die verdutzte Emily auf einen Stuhl, schob ihr einen Hocker hin und legte einen ihrer Füße darauf, zog ihr flugs den Schuh aus und holte aus seiner ausgebeulten Hosentasche ein Maßband, das er sogleich anlegte.

»No!«, rief Emily, hochrot im Gesicht, zog ihren Fuß rasch zurück, packte ihren Schuh und sprang auf. »Uh-len-hor-stt!«

Der Schuhmacher sah sie verwirrt an, reckte den Zeigefinger mahnend vor sich in die Luft und rannte dann aus seinem Laden, um gleich darauf mit einem zweiten Mann, der einen Anzug trug, zurückzukehren. Dessen englisches »Guten Tag, Madam – kann ich Ihnen helfen?« ließ sie vor Erleichterung beinah in Tränen ausbrechen. Sein Lachen jedoch, als er erklärte, ihr show hätte geklungen wie das englische Wort für Schuh, shoe, daraus hätte sich dieses Missverständnis ergeben, beschämte Emily zutiefst.

Der Herr im Anzug brachte sie bis zur übernächsten Ecke, ab der sie sich wieder auskannte. Die Wangen brennend vor Scham und eine brodelnde Wut im Bauch, eilte Emily nach Hause.



An diesem Abend schickte sie ihre Köchin Lene mit unzweifelhafter Gestik früher in den Feierabend. Alleinige Herrin über die Küche, schob Emily die Ärmel hoch und begann energisch unter viel Geklapper und Geschepper darin herumzuhantieren. Mit dem messinggelben Currypulver und einer Reihe anderer exotischer Gewürze, die Heinrich ihr aus einem Kolonialwarenladen in der Stadt mitgebracht hatte, rührte und brutzelte und schmurgelte sie in Töpfen und Pfannen, bis das ganze Haus roch wie eine Garküche in Bombay. Ein indisches Curry aus Gemüse und Obst, höllisch scharf, und pilaw aus Reis, Zwiebeln und Huhn kochte Emily sich immer dann, wenn sie schlechte Laune hatte – weil diese von den Indern nach Sansibar gebrachten Rezepte tröstlich nach ihrer Heimat schmeckten und ihre Seele mindestens ebenso nährten wie den Leib. Und weil es die einzigen Gerichte waren, die sich mit den in Hamburg erhältlichen Zutaten auch nur annähernd nachkochen ließen.

Wortlos rauschte sie ins Speisezimmer, in dem Heinrich bereits über seinem aufgeschlagenen Abendblatt am Tisch saß, da er nie wagte, Emily in der Küche zu stören, wenn sie sich in einer Curry-und-pilaw-Laune befand. Aufmerksam sah er zu, wie sie erst heftig den Topf mit dem pilaw absetzte, dann auf dem Absatz kehrtmachte, um das Curry zu holen, das sie ebenfalls unsanft auf dem Tisch platzierte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, stemmte eine Hand in die Hüfte und blies sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Heinrich«, verkündete sie bestimmt, »ich will Deutsch lernen!«

43

Muschel»Das ist eine Uhr, Frau Ruete. Eine Uhr. Uhhhrrrrr

»Uhhhh«, ahmte Emily die Laute nach, die ihr klobig im Mund lagen.

»Uhhh-rrrr«, wiederholte Frau Semmeling mit Nachdruck.

»Uhhh-rrr«, sprach ihre Schülerin nach und tippte mit dem Finger auf die Glasglocke, unter der der Zeitmesser vor sich hin tickte, und machte ein fragendes Gesicht.

»Das ist Glas, Frau Ruete. Glas wie die Scheiben der Fenster. Verstehen Sie?« Die ausgebildete Deutschlehrerin ging zum Fenstersims, schob die Gardine beiseite und klopfte mit dem Fingerknöchel an die Scheibe. »Glas. Glaaassss

Helene Semmeling verfügte über eine wahre Engelsgeduld. Nie wurde sie müde, mit Emily durchs Haus zu wandern, vom Souterrain über die Küche und die gute Stube bis hinauf zum Dachboden, um jedes Ding zu benennen, auf das Emily deutete.

Emily nickte strahlend. Ja, das hatte sie verstanden. »Glaaassss«, kam es ihr spielend über die Lippen, mit einem vollkommenen Zischeln am Ende, wie das Fauchen einer Kobra.

Auch ihre Lehrerin, die durch ihre hagere Gestalt, den strammen, grau gesträhnten Haarknoten und das lange Gesicht, in dem vierzig Lebensjahre deutliche Spuren hinterlassen hatten, strenger aussah, als sie tatsächlich war, schien zufrieden. »Sehr schön, Frau Ruete. Nun schreiben Sie.«

Auf eine Geste von Frau Semmeling hin setzte sich Emily an den Tisch, tauchte die Feder in das Tintenfässchen und setzte die Spitze in der rechten oberen Ecke des Blattes an.

»Halt, Frau Ruete!«

Emily sah erschrocken auf, dann begriff sie und führte die Feder seufzend auf die andere Seite, bevor sie begann, die Laute, die sie soeben gelernt hatte, in Buchstaben zu fassen. Wobei sie sich bemühte, nicht zu der Fibel hinzuschielen, die vor ihr auf dem Tisch lag und ihr das Alphabet zeigte. Dass man in Europa von links nach rechts schrieb statt wie im Arabischen von rechts nach links, war nur eine der Schwierigkeiten, mit denen Emily in ihrem Unterricht zu kämpfen hatte. An manchen Tagen fühlte ihr Gehirn sich an, als sei darin das Oberste zuunterst gekehrt.

»Glas ist ein Gegenstand, ein Ding, Frau Ruete. Etwas, das man anfassen kann.«

Emily starrte ratlos auf die Buchstaben vor sich. Von Frau Semmelings Satz hatte sie nur die Hälfte verstanden, doch dass sie einen Fehler gemacht haben musste, hatte sie klar herausgehört. Schließlich erhellte sich ihre Miene; sie strich glas durch und schrieb Glas darunter. Wenn sie auch nicht wirklich einsah, wozu manche Wörter Großbuchstaben am Anfang benötigten – man hätte doch auch so gewusst, was sie bezeichneten! Die Buchstaben erschienen ihr sperrig und feindselig mit ihren Ecken und Kanten, in ihrer Abgeschlossenheit, und als es später an die Grammatik ging, war Emily manches Mal den Tränen nah, weil sie an den unzähligen Regeln und den zahllosen Ausnahmen verzweifelte.

Jeden Tag, außer sonntags, betrat Helene Semmeling Punkt ein Uhr die gute Stube der Ruetes und brachte Emily in den folgenden zwei Stunden die deutsche Sprache bei. Auf ihren vormittäglichen Spaziergängen durch die Stadt begegnete Emily dann auf Schritt und Tritt dem deutschen Alphabet. Oft blieb sie vor einem Schild oder vor einem Plakat stehen und buchstabierte sich murmelnd durch die Aufschriften hindurch. Manches erkannte sie wieder, anderes konnte sie sich zusammenreimen, aber hin und wieder musste sie Papier und Bleistift aus ihrer Manteltasche ziehen und die Zeichen abmalen, damit sie am Nachmittag Frau Semmeling nach deren Bedeutung fragen konnte.



Der Herbst kam und tauchte die Blätter der Bäume in Gold und Kupfer, entzündete Leuchtfeuer von Orangerot, Zinnober und Scharlach, sodass Emily aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Ihre Freude an diesem Zauber des Nordens endete jedoch bald, als die Farben erloschen und das Laub braun wurde und welk, zu Boden segelte in Sturm und Regen und dort matschige Haufen bildete. Als stürbe die Natur um sie herum einen langsamen Tod.

Die einzigen Jahreszeiten, die es auf Sansibar gab, waren Regen und Hitze. Die Insel war immergrün, und Tag und Nacht waren beständig gleich lang.

Nicht so in Hamburg, wo die Tage merklich kürzer wurden, die Dunkelheit früher einsetzte und später wich. Mit jedem Tag entblätterten Bäume und Sträucher sich weiter, bis sie nur mehr als kahle Gerippe herumstanden. Wie knochige Klauen, vom Nebel zu gruseligen Schemen verwaschen und sich in einen düsteren Himmel krallend, der bleiern über der Stadt hing.

Totenfinger, ging es Emily oft schaudernd durch den Sinn. Wie die ausgezehrten Finger von Menschen, die der Cholera erlegen sind, Finger, im Todeskampf erstarrt.

Der späte Herbst und der beginnende, noch nackte Winter des Nordens war eine Zeit, die an Vergänglichkeit und an den Tod gemahnte. Grau und lichtlos, bar jeder Hoffnung, dass Sonne und Farbe je zurückkehren würden. Selbst dick eingepackt und am flackernden Kamin, am bullernden Kohleofen bibberte Emily vor Kälte, und doch riss sie immer wieder die Fenster auf, um genügend Luft zu bekommen, sodass es in der Nachbarschaft bald amüsiert hieß, Frau Ruete heize halb Uhlenhorst mit.

Es war an einem Nachmittag im Dezember, als Emily in eine Wolldecke gehüllt am offenen Fenster stand und tief einatmete, obwohl die kalte Luft ihr in den Lungen brannte und sie husten machte. Wie so oft in den letzten Wochen. Sie dachte schon, ihr sei schwindelig, weil sie helle Pünktchen vor den Augen tanzen sah, doch dann bemerkte sie, dass diese vom Himmel herabkamen. Zarte weiße Flöckchen wie Wattefetzchen oder wie Schaumbläschen, die durch die Luft taumelten und zu Boden sanken, wo sie dann spurlos verschwanden. So vertieft war sie in dieses Schauspiel, dass sie nicht einmal hörte, wie Heinrich nach Hause kam. Erst als sich die Tür hinter ihr öffnete, wandte sie den Kopf.

»Ah, wieder sansibarisch-hamburgisches Wetter heute im Hause Ruete«, lachte er, als er die Tür hinter sich schloss und zu ihr ging. »Am Ofen heiß, am offenen Fenster eisig.« Er küsste sie auf die Wange.

»Was ist das da draußen?« Ihre Stimme war heiser vor Aufregung.

»Das ist Schnee, Bibi. Es schneit.«

»Schnee?«

»Wenn es im Winter kalt ist«, erklärte er, »wird der Regen noch in den Wolken zu Kristallen und kommt als Schneeflocken herab.« Prüfend blickte er zum sich verdunkelnden Himmel. »Über Nacht bleibt er bestimmt liegen. Dann ist morgen früh alles weiß. – Komm ins Warme, Bibi, nicht dass du dich erkältest.« Am anderen Morgen wachte Emily vor der Zeit auf. Es war ungewöhnlich hell im Schlafzimmer, anders als an den finsteren Morgen zuvor. Ein helles bläuliches Licht. Und es war still, so still. Stiller als sonst, als wäre die ganze Welt in Watte gepackt, die jegliches Geräusch verschluckte. Neugierig schlug Emily die dichte Daunendecke zurück und stieg mit ihrem gewölbten Leib schwerfällig aus dem Bett, zog sich ihren Morgenmantel über und tapste in den zwei Paar übereinandergezogenen Strümpfen, die sie des Nachts der Kälte wegen trug, zum Fenster.

»Ooohh«, hauchte sie, als sie die Vorhänge beiseitezog. Draußen war wahrhaftig alles weiß, wie Heinrich vorausgesagt hatte. Ein dicker weicher Teppich bedeckte den Boden, und die kahlen Bäume und Sträucher hatten weiße Hauben übergezogen. Unablässig fielen neue Flocken vom Himmel, als schüttelte jemand oben am Himmel einen Sack Flaumfedern aus.

Emily kleidete sich an, so schnell es ihr mit ihren klammen Fingern möglich war.

»Bibi?« Schlaftrunken hatte sich Heinrich im Bett aufgesetzt. »Was machst du?«

»Schnee, Heinrich«, rief sie begeistert das neu gelernte deutsche Wort aus. »Schnee! Ganz viel! Ich muss hinaus und ihn mir ansehen!«

Stöhnend warf sich Heinrich wieder in die Kissen, bevor er sich einen Ruck gab, ebenfalls aufstand und sich ähnlich hastig anzog wie seine Frau, die gerade in ihre neu gekauften Stiefeletten stieg.

»Halt, Bibi, hier!« Er reichte ihr einen Schal. »Den hast du vergessen. «

»Den hab ich nicht vergessen – ich mag ihn nicht!« Sie stampfte auf wie ein ungezogenes Kind. »Der ist wie eine Schlinge um meinen Hals!«

Er hielt sie am Arm zurück, als sie schon losstürmen wollte, und hielt ihr den Schal auffordernd hin.

»Anziehen, Bibi Salmé! Sonst wirst du krank – und unser Kind gleich mit! Und die auch!« Emily entriss ihm die Handschuhe und lief los, polterte die Treppen hinab und durch die Eingangshalle, wo sie die massive Tür entriegelte und über die Schwelle setzte.

Bis über die Knöchel versank sie im Schnee, der zu leuchten schien und die dämmernde Morgenstunde erhellte. Verwirrt sah sie, wie sich vor ihrem Mund bei jedem Ausatmen ein Wölkchen bildete, als zöge sie an einer Zigarre, wie Heinrich es manchmal tat. Wie ein Flamingo stapfte sie darin herum, die Säume ihrer Röcke durch die weiche Masse schleifend, blieb dann stehen und breitete die Arme aus, den Kopf in den Nacken gelegt. Bei jedem kalten Tupfer, der sie auf Wangen, Nase und Kinn traf, zuckte sie zusammen und freute sich doch daran. Sie öffnete den Mund und streckte die Zunge heraus, fing die Flocken damit auf, verblüfft darüber, dass sie aussahen wie Zuckerzeug und doch nach nichts schmeckten.

»He, Bibi!«

Sie drehte sich um, sah einen faustgroßen weißen Ball auf sich zufliegen, der sie an der Schulter traf, teils zu Pulver zerplatzte, teils als schneeige Kruste an ihrer Mantelschulter kleben blieb. Ihr Mund formte ein empörtes »Oh«, während um seine Ränder ein Lächeln kribbelte.

Heinrich schaufelte erneut Schnee in seine behandschuhten Hände, knetete und formte ihn zu einer weiteren unregelmäßigen Kugel, und Emily bückte sich, um es ihm gleichzutun.

Ihre übermütigen Rufe füllten die morgendliche Stille, das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen, das satte Fumpp, wenn ein Schneeball den jeweils anderen traf, bis sie mit eisigen Händen und Füßen innehielten. Schneereste hafteten an Emilys Röcken und Heinrichs Hosenbeinen, an Mänteln und Schals, hingen in harten Klümpchen an den Handschuhen. In Emilys dunklen Wimpern und auf ihrem Haar funkelten Kristalle; ihre Wangen waren rot vor Kälte, von der Bewegung und von der Freude, die ihre Augen blitzen ließ. Atemlos sahen sie und Heinrich einander an, bevor sie in Lachen ausbrachen, das weit hinausdrang in das noch schlafende Uhlenhorst.

Heinrich und Hamburg hatten Emily das Lachen wiedergeschenkt.

Wenn es auch nicht mehr ihr altes war.

44

MuschelDer Dezember brachte nicht nur Schnee, sondern auch eine solche Kälte, dass die Alster zufror. Vom Garten des Hauses aus bestaunte Emily die spiegelnde Fläche, halb opak, halb durchscheinend glänzend wie dicker Zuckerguss auf einem Kuchen. Nicht minder fasziniert war sie von den Hunderten von Menschen, die sich darauf tummelten und scheinbar schwerelos über das Eis glitten, als hätten sie unsichtbare Flügel. Tatsächlich waren es stählerne Kufen, unter die Sohlen der Winterstiefel geschraubt, die ihnen dieses Dahinfliegen ermöglichten, sodass die Enden ihrer Wollschals hinter ihnen herflatterten wie Wimpel und die Röcke der Mädchen und Frauen sich blähten wie die Segel einer Fregatte im Wind. Emily betrachtete das Treiben gebannt und vergaß dabei sogar den bellenden Husten, der sie seit Längerem quälte.

Rote Backen und blitzende Augen, vergnügtes Gelächter und Gejohle verhießen einen Heidenspaß und verlockten Emily, sich ebenfalls auf den rutschigen Untergrund zu wagen, warm eingepackt und Heinrichs eine Hand umklammert, während er den anderen Arm um ihre Taille gelegt hatte, um ihrem rundlichen Leib Halt und Stütze zu bieten.

Was jedoch so einfach aussah, sogar kleinen Jungen, die auf einem Bein und rückwärts in halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihr vorübersausten, so leichtfiel, erwies sich für Emily als ungeheuer schwierig: Ihre Füße in den mit Kufen versehenen Stiefeln führten auf dem Eis ein Eigenleben, drifteten fortwährend in verschiedene Richtungen oder stießen wie starke Magnete an den Spitzen zusammen und bremsten sie aus. Mehr als ein paar kurze, wackelige Vorwärtsruckler schaffte sie nie, so verbissen sie auch übte, in diesem Winter und denen, die noch folgen sollten. Als sei ihr Leib von Geburt an zwar dazu geschaffen, waghalsig auf dem Rücken eines Pferdes zu reiten, zu jagen und im Meer zu schwimmen, aber nicht dazu, über gefrorenes Wasser zu gleiten. Und der Duft, den die hölzernen Buden verströmten, die am Rand der Eisfläche aufgebaut waren und an denen es neben heißem Kakao vor allem Glühwein zu kaufen gab, verursachte ihr mit seinen würzigen Noten von Zimt, Sternanis und Gewürznelken Heimweh, während die stechende Süße vergorenen Obstes, die dem erhitzten Rebensaft entströmte, ihr Übelkeit erregte.



Je weiter der Monat voranschritt, umso hektischer wurde das Leben in Hamburg. Die sorgsame Ordnung, in der sich die Bürger sonst durch ihre Stadt zu bewegen pflegten, geriet aus den Fugen. Getrieben erschienen sie, reizbar und unruhig wie Jagdhunde, die Fährte aufgenommen hatten, und das Lächeln auf ihren Gesichtern wich übellauniger – oder wie man in Hamburg sagte: muckscher – Verkniffenheit. Umso verwunderlicher für Emily, als sich die Straßen, die Fenster und Türen, die Auslagen der Geschäfte mit jedem Tag mehr in ein festliches Gewand kleideten, mit Tannenzweigen und zu Schleifen gebundenen Seidenbändern, mit Ketten aus buntem Papier, mit Strohsternen, goldenen Walnüssen und Engelsfiguren in weißen Kleidchen. Der trübe Winter des Nordens erhielt Glanz, einen festlichen Anstrich, und doch schien jedermann blind dafür, ganz darauf erpicht, Besorgungen zu machen und verschnürte Pakete aus den Läden nach Hause zu schleppen. Auch Heinrich nahm sich einen Nachmittag frei, um mit seiner Frau durch die Alsterarkaden zu bummeln, in denen großes Gedränge herrschte, als gäbe es Handschuhe, Hüte, Schmuck und Porzellan derzeit zu Schleuderpreisen oder gar umsonst.

»Das wäre doch etwas für Anna, meinst du nicht auch?« Fragend sah Heinrich sie an und hielt ihr einen Schal hin, der ein Muster aus Schnörkeln und Ranken in Veilchenblau und Blassgrau zeigte.

Unschlüssig zog Emily eine Schulter hoch. Sie besaß keine Vorstellung davon, was Johanna Ruete, Heinrichs Stiefmutter, gefallen mochte. Obwohl das junge Paar jeden Sonntag mit Heinrichs Familie zusammenkam – abwechselnd in deren Haus und in ihrem eigenen, zum Mittagessen und zum Kaffee –, war auch nach einem guten halben Jahr für Emily noch kein Gefühl der Nähe oder gar Vertrautheit entstanden. Familie – für Emily war das etwas anderes. Jede Begegnung war wie die allererste: eine Mischung aus neugieriger Faszination für die Exotin und steifer Befangenheit gegenüber der Prinzessin aus einem fremden Land, nur unzureichend verborgen hinter dem Versuch, einen Anschein familiärer Normalität herzustellen. Emily konnte es ihnen nicht verdenken. Zweifellos hatten sie bereits allerhand Abenteuerliches und Wundersames über diese Frau vernommen, die Heinrich in der Fremde unter ebenso märchenhaften wie skandalösen Umständen geheiratet hatte und die er ihnen als fait accompli präsentierte, kaum dass die Koffer der frischgebackenen Eheleute ausgepackt waren. Heinrichs Halbbrüder, der neunzehnjährige Johann und der zwei Jahre jüngere Andreas, fanden sich als Erste in diese für hanseatische Verhältnisse bestürzend ungewöhnliche Situation. Mit einer Anpassungsfähigkeit, wie nur ganz junge Menschen sie besitzen, legten sie rasch ihr stummes, großäugiges Staunen ab und gingen zu einer leichtherzigen Gleichgültigkeit über, die sie gewiss auch dann gezeigt hätten, wäre ihre neue Schwägerin eine waschechte Hamburger Deern gewesen.

Am meisten verunsichert fühlte Emily sich von ihrem Schwiegervater. Dr. phil. Hermann Ruete, der Schulmeister, war kein Mann vieler Worte und noch weniger ein Mann gefühlsbetonter Äußerungen und Taten, und er begegnete auch seinen Söhnen eher mit distanzierter Höflichkeit denn mit väterlicher Zuneigung.

Allein die blauen Augen Johannas, die sie manchmal mit einem Ausdruck zaghafter Zärtlichkeit auf sich ruhen spürte, waren ein Hoffnungsschimmer für sie, dass mit der Zeit engere Bande zu Heinrichs Verwandten entstehen könnten. Und es war der Gedanke an ebendiese Augen, der sie nun sagen ließ: »Der Schal ist hübsch und passt zur Farbe ihrer Augen. – Hat sie denn Geburtstag?«, setzte sie arglos hinzu.

»Nein, Bibi, aber bald ist doch Weihnachten.«

Weihnachten – das Fest, mit dem die Christen der Geburt Jesu gedachten. Emily hatte Bilder davon gesehen, vom Neugeborenen in einer Krippe, umgeben von Maria und Josef, einem Ochsen und einem Esel, bewacht von Engeln und besucht von drei Orientalen. Heinrich musste ihr angesehen haben, dass sie sich vergeblich bemühte, das Christfest und einen Schal für Johanna Ruete miteinander zu vereinbaren, denn er fuhr erklärend fort: »Und an Weihnachten macht man einander Geschenke.«

»Jeder? Du und ich auch?«

»Nun, jeder schenkt denjenigen etwas, die ihm lieb sind«, erwiderte Heinrich schmunzelnd. »Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?«

Emily ging im Geiste die Schrankfächer und Schubladen ihres Hauses durch, die mehr als reichlich gefüllt waren mit vielfältigen Kleidungsstücken, Tisch- und Bettwäsche, Silber und Porzellan, all den kleinen und großen Dingen, die das tägliche Leben erforderte, die es schöner machten oder die zumindest dazugehörten, wenn man sich in gewissen Kreisen bewegte. Das Ehepaar Ruete war das, was man als gut situiert bezeichnete, und Heinrich legte großen Wert darauf, dass es Emily an nichts fehlte. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Nichts. Ich habe doch alles, was ich brauche.«

»Dann werde ich mir etwas einfallen lassen müssen«, kam es vielsagend von Heinrich.



An Heiligabend verteilten sie Päckchen unter den Dienstboten – ein Paar feiner Handschuhe für Lene, einen Stapel spitzenumrandeter Taschentücher für Else, eine Schachtel Konfekt für Lisbeth und für Emma, ein Säckchen duftendes Badesalz für Gerda –, ehe sie ihnen für den Rest des Tages freigaben und eine Droschke mit unzähligen großen und kleinen Paketen beladen ließen. Heute schien besonders große Unrast zu herrschen, wie Emily hinter dem Fenster des Wagenschlags feststellte. Ganz Hamburg war auf den Beinen, um offenbar den Abend bei Verwandten oder bei Freunden zu verbringen. Besonders bemerkenswert fand sie die Gestalt eines Mannes, der eine unverpackte Pendeluhr mit sich schleppte und damit alle anderen Passanten beiseitedrängte.

Das Haus der Familie Ruete in der Neustadt, ganz in der Nähe des liebevoll »Michel« genannten Kirchturms von Sankt Michaelis gelegen, war hell erleuchtet, und aus einem geöffneten Fenster im oberen Stockwerk schauten Johann und Andreas heraus.

»Sie sind da!«, schallte es zu Emily und Heinrich herunter, als diese ausstiegen. Die Silhouetten der beiden jungen Männer verschwanden aus dem goldgelben Rechteck. Den mahnenden Ruf ihres Vaters ignorierend, sprangen sie polternd die Treppen hinunter, rissen die Haustür auf und stürmten mit ihren langen Beinen in den Festtagshosen über die Schwelle, um beim Hineintragen der Geschenke zur Hand zu gehen.

»Herzlich willkommen. Kommt schnell rein ins Warme!« – »Frohes Fest!«, klang es Emily und Heinrich entgegen, und gemeinsam mit Hermann und Johanna, begleitet von einem Dienstmädchen, gingen sie in den Salon hinauf.

»Du wartest bitte hier, bis wir dich rufen«, erklärte Johanna Ruete ihrer Schwiegertochter und drückte sie sanft in einen Stuhl, bevor sie mit ihrem Gatten und mit Heinrich verschwand. Aus der Richtung, in der das Esszimmer lag, hörte Emily emsiges Rascheln, verschwörerisches Flüstern und leises Lachen. Geheimnisvolle Aufregung lag in der Luft. Neugierde kribbelte in ihrem Bauch, sodass sie ungeduldig auf ihrem Platz herumrutschte. Über den Rand der Tasse mit Tee hinweg, die ihr inzwischen gereicht worden war, warf sie einen verstohlenen Blick zu Johann und Andreas hinüber, die sich spielerisch neckten und balgten, ohne auf ihren feinen Anzug und auf ihre gescheitelten, pomadisierten Haare zu achten. Erst das Bimmeln einer Glocke ließ sie auseinanderfahren. Johanna rief: »Ihr könnt kommen!«, und ihre Söhne rannten jubelnd los.

Vorsichtig erhob sich auch Emily und folgte den anderen ins Esszimmer hinüber.

Die Gesichter von Hermann, Johanna und Heinrich waren ihr in strahlender Vorfreude zugewandt, während Johannes und Andreas von einem Bein aufs andere traten. Doch sobald Emily über die Schwelle getreten war, wurde ihr Blick von etwas anderem gefangen genommen. Sie sah nur noch den Baum – eine zimmerhohe Tanne, in deren Zweigen unzählige Kerzlein brannten und in denen Zuckerstangen hingen, goldene Walnüsse und glänzende rote Äpfel; Schaukelpferde, Sterne und Engelspüppchen, die aussahen wie aus Teig gebacken oder aus einer süßen Masse modelliert. Dergleichen hatte Emily noch nie gesehen, und sie verlor sich gänzlich in der Betrachtung dieser fremdartigen Herrlichkeit, nahm kaum wahr, wie sich Heinrichs Halbbrüder auf die ersten Pakete stürzten, Bänder mit ihren Taschenmessern durchtrennten und Einwickelpapier ratschend zerrissen, Jauchzer und zufriedenes Brummen von sich gaben.

»Bibi.« Sie schrak auf, als Heinrich sie sanft am Arm berührte und auf den Tisch vor ihnen wies, der sich unter der Last von Paketen förmlich zu biegen schien. »Da ist auch etwas für dich mit bei.«

Mit fragendem Blick streckte sie die Hand nach einer kleineren, länglichen Schachtel aus, die zuoberst lag, und als Heinrich bestätigend nickte, nestelte sie behutsam den Knoten des Schleifenbandes auf, schlug das Seidenpapier zurück und hob den Deckel. Es waren dick gefütterte Handschuhe, die sie wahrlich gut gebrauchen konnte in diesem kalten Winter. Nach und nach öffnete sie die für sie bestimmten Geschenke, bedankte sich bei Hermann und Johanna und den beiden Jungen, die einen Teil ihres Taschengeldes zusammengelegt hatten, um ihr Eintrittskarten für den Circus Renz zu schenken, der berühmt war für seine Pferdeschau.

»Hier ist noch etwas für dich«, warf Heinrich ein. »Mein Geschenk für dich – das sich leider als zu umfangreich erwies, als dass es sich hätte einpacken lassen. Fröhliche Weihnachten, Bibi!«

Emily besah sich das weiche Bündel, das er ihr zuschob, entfaltete es langsam und mit gerunzelter Stirn. Ein Mantel aus dickem Samt, durch und durch mit Pelz gefüttert und am Kragen, an den Säumen und an den Ärmeln mit einer breiten Pelzborte besetzt, die noch feiner und anschmiegsamer war als selbst der Samtstoff.

»Gefällt er dir?«

Emilys Miene spiegelte zuerst Ratlosigkeit wider, zeigte dann völlige Fassungslosigkeit. »Ausgerechnet du schenkst mir so etwas?«, sagte sie leise auf Suaheli zu ihrem Mann. Schnell ließ sie den Mantel los, als wäre er schmutzig. »Den kann ich doch unmöglich tragen! Etwas so – so Armseliges!«

Man trug keine Tierfelle auf Sansibar. Nur die wilden Völker im Inneren Afrikas kleideten sich in die Häute von Gazelle und Löwe, Leopard und Zebra; jene Menschen, die sich keine Stoffe zur Bedeckung ihrer Blöße leisten konnten, die nie die Kunst gelernt hatten, Fasern zu spinnen und Garn zu weben. Die sich damit begnügten, sich in das zu kleiden, was sie an Getier in der Savanne erlegen konnten.

»Bitte, Bibi«, gab Heinrich ebenso leise zurück. »Bei uns ist das etwas sehr Kostbares. Das ist Hermelin«, seine Finger streichelten über den Besatz, »der in Europa von alters her nur von Fürsten getragen wird.«

»Von Fürsten?« Emilys Augen wurden groß und rund. »Können die sich nichts Besseres leisten?«

Heinrich lachte. »Es gibt nicht viel Besseres als Hermelin. Er ist selten und entsprechend teuer. In früheren Zeiten durften sich allein Adelige damit kleiden.«

Emily kaute unglücklich auf ihrer Unterlippe. Heinrichs Ausführungen leuchteten ihr ein, und seine Absicht, ihr etwas Besonderes zu schenken, etwas, das in seinen Augen nicht nur wertvoll war, sondern das sie auch wärmen konnte, rührte sie an. Doch dies änderte nichts daran, dass ihr dieser Hermelin ungefähr so kostbar vorkam wie das Fell einer Katze oder eines Karnickels. So wie der Arzt ihr gegen ihren hartnäckigen Husten Austern empfohlen hatte, die hier als schick und als erlesene Speise galten, die auf Sansibar jedoch ein Essen für die Ärmsten der Armen waren. Europa erschien ihr mehr und mehr nicht nur wie eine fremde, sondern wie eine nachgerade verkehrte Welt, in allem das genaue Gegenteil von jener Welt, aus der sie gekommen war.

Wird mir immer nur die Wahl bleiben, mich entweder zu verstellen oder Heinrich wehzutun, weil ich gänzlich anders denke und empfinde als die Menschen hier? So vieles, was ich nicht verstehe, so vieles, was ich noch lernen muss. Deutschland macht mich wieder zu einem Kinde, unwissend und dumm.

Die Enttäuschung, die in Heinrichs Augen aufflackerte, stach ihr ins Herz, und so rang sie sich schließlich mit aufgesetztem Lächeln ein »Danke« ab. Und sie war froh, als sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die goldene Taschenuhr richtete, die mitsamt dazu passenden Berlocken aus Gold, Elfenbein und Tigerauge ihr Geschenk an Heinrich war. Als Ersatz für seine bisherige, vom Alter, von Sand und Meeressalz seiner weiten Reisen recht mitgenommene Uhr gedacht, hatte Emily sie mittels ihrer noch spärlichen deutschen Sprachkenntnisse auf reichlich abenteuerliche Weise bei einem Uhrmacher am Jungfernstieg erworben – eine Anekdote, die sie teils auf Englisch, teils mithilfe von Heinrich als Dolmetscher und mit lebhafter Pantomime der Familie erzählte, was für große Erheiterung sorgte. Heinrichs Freude über dieses Geschenk, ihr Stolz, den Kauf von Uhr und Schmuckanhängseln ganz allein und eigenständig bewältigt zu haben, ließen ihre gemischten Gefühle über den Mantel verblassen.



Am nächsten Morgen stand Emily schon früh auf, obwohl sie erst spät in der Nacht von ihrem Besuch bei den Ruetes zurückgekehrt waren, und verwandte ungewöhnlich viel Zeit auf ihre Toilette, bevor sie zum Frühstück hinunterging.

»Himmel, Bibi!«, rief Heinrich, der gerade aus dem Speisezimmer kam, um nachzusehen, wo sie blieb, ihr mit einem Ausdruck höchster Verblüffung im Gesicht entgegen. »Was hast du vor? Wo willst du denn hin in diesem Aufzug?!«

Emily zog eine Augenbraue hoch und schritt erhobenen Hauptes weiter die Stufen hinab, sich ihrer Eleganz in der raschelnden schokoladenbraunen Seidenrobe mit den durch eine weite Krinoline versteiften Röcken, der langen Schleppe und den prächtigen Ohrgehängen vollkommen bewusst. Erst als sie vor Heinrich stand, öffnete sie den Mund.

»Mein lieber Gatte, hast du mir nicht selbst gesagt, dass heute und morgen bei euch Festtage seien?«

»Schon, aber …«

»Siehst du«, gab sie zurück und reckte ihr Kinn herausfordernd hoch. »Deshalb habe ich mich auch so herausgeputzt.«

Sein Blick wurde weich. »Auf Sansibar wäre das auch zweifellos angemessen. Hier tut man so etwas nicht. Schon gar nicht«, er zog seine neue Uhr aus der Westentasche hervor, ließ den Deckel aufschnappen und sah auf das Zifferblatt, »schon gar nicht um zehn Uhr morgens.«

Emily zuckte mit den Achseln, drehte sich auf dem Absatz um und ging die Treppe wieder hinauf. Mit hängenden Schultern, weil sie einmal mehr etwas falsch gemacht hatte, obwohl sie sich doch stets solche Mühe gab.

Welch ein sonderbares Volk!, dachte sie bei sich. Begehen ein wichtiges Fest mit besonderen Speisen, besonderem Backwerk, schmücken Heim und Hof, geben große Summen aus für Geschenke, aber sich selbst wollen sie sich nicht in ihren besten Staat kleiden.

Den restlichen Tag verbrachte sie in dumpfen Grübeleien über das Wesen der Weihnacht. Die Geburt Christi wurde gefeiert, und doch spielte diese bei den Festlichkeiten eine solch geringe Rolle, schien mehr bloße Dekoration zu sein denn tatsächlicher Anlass. Offenbar ging es allein um das Beisammensein mit Freunden und Verwandten, um gutes Essen und besonders um die Geschenke. Emily empfand so etwas wie Enttäuschung ob der Art, wie in Hamburg das Christfest begangen wurde. Sie hätte sich weniger Geschenke und dafür eine religiöse Feier gewünscht.

Auf ihren sonntäglichen Ausflügen mit Heinrich an die Elbe, die sie so sehr liebte, weil diese sie an das Meer erinnerte, hatte sie die Gläubigen gesehen, die mit ihrem Gesangbuch unter dem Arm zum Gottesdienst gingen oder von dort kamen, und den Wunsch verspürt, selbst in die Kirche zu gehen. Um dem Gott der Christen zumindest räumlich nah zu sein, wenn sie sich schon gewaltsam abgewöhnt hatte, die altvertrauten Gebete zu Allah zu sprechen, dem sie mit ihrer Taufe entsagt hatte.

Eine Bitte, der Heinrich nur zu gerne nachkam, und Emily brachte es nicht über sich, an der Pforte gleich wieder umzukehren, als eine unerklärliche Scheu sie überkam. Die Rituale des Aufstehens und Hinsetzens, der Gebete und Lieder waren ihr fremd, die Predigt verstand sie nicht, und die vielen Abbildungen von Jesus und von den Heiligen waren ihr nicht nur rätselhaft, sie fand sie auch störend in ihrem Bemühen, sich in eine Andacht zu versenken. Sie fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Dass mitten im Gottesdienst Geld gesammelt wurde, berührte sie peinlich, und dass sich niemand zu Gottes Ehren niederwarf, kam ihr hochmütig vor. Das Christentum hier im Norden schien ihr kühl und oberflächlich; ein Glaube ohne rechte Form und vor allem leer, gänzlich ohne Gefühl.

Als vollkommene Araberin und gute Mohammedanerin hab ich meine Heimat verlassen. Und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche.

45

SeesternDen letzten Tag des Jahres verbrachten sie zu Hause, zusammen mit Heinrichs Familie. Gemäß einer alten Tradition im Hause Ruete würzte Heinrich Rotwein mit Gewürznelken, Zimt, Sternanis, Zitronen- und Orangenschalen und zündete einen mit Rum getränkten Zuckerhut an, den er mit der Feuerzange aus dem Kamin darüberhielt, bis der Zucker flüssig geworden und in den Punsch getropft war. Emily nippte vorsichtig an dieser Mixtur. Entschlossen, die deutsche Lebensart so gut wie möglich anzunehmen, hatte sie sich schon an Schweinefleisch gewagt und probierte nun nach Wein und Champagner auch dieses alkoholische Getränk, das ihr jedoch in seiner beißenden Schärfe auf der Zunge so gar nicht mundete. Als Emily kurz nach Mitternacht im Garten stand, in den ihr so verhassten Mantel eingehüllt, Heinrichs Arm um ihre Schultern gelegt, und den Farbexplosionen am Himmel zusah, den Funkenfontänen, die die Dächer und Turmspitzen der Stadt in goldene und silberne, blaue, rote und grüne Schlieren aus Licht tauchten und die Alster mit verbrannt riechenden Rauchschwaden überzogen, war Emily sicher, dass das neue Jahr 1868 ein gutes werden würde.



Wenn der Winter zunächst auch endlos schien. Sobald nach Dreikönig all der weihnachtliche Zierrat von Wänden, Schränken und Fenstern abgenommen und verstaut war, trat die Stadt dahinter umso nackter und trister hervor. Unter Schnee und Reifkrusten, mit Eisblumen an den Fenstern und funkelnden Zapfen an den Dachrinnen und Baumzweigen war Hamburg zwar hübsch anzusehen, aber unerträglich kalt; wurde es wärmer, fühlte Emily sich zwar einen Deut behaglicher, litt aber unter der grauen Trübseligkeit, die das Schmelzen der winterlichen Pracht hinterließ.

An manchen Tagen glaubte sie, ihr würde nie wieder wirklich warm werden und nie würde der Winter ein Ende nehmen, nie würde die Natur aus ihrem Todesschlaf wiederauferstehen. Die ersten Schneeglöckchen im Garten, die Blüten zwar farblos, Stängel und Blätter jedoch in umso kräftigerem Grün, begrüßte Emily überschwänglich wie Freunde, die sie jahrelang nicht mehr gesehen und die sie schmerzlich vermisst hatte.

Irgendwann bekam die Sonne wieder Farbe, gewann an Kraft, lockte und schmeichelte so lange, bis Bäume und Sträucher zögerlich ihren Saft aus den Wurzeln aufsteigen ließen und erstes schwaches Laub zeigten. Die Krokusse in Gelb und Violett leuchteten aus dem endlich wieder glänzenden Rasen, und schlagartig hielt der Frühling Einzug, überzog die Stadt großzügig mit Buntheit, sodass sie schimmerte wie ein pastellig eingefärbter Seidenstoff. Emilys Herz jubelte wie die Vögel in den Baumkronen, die die leichtere Jahreszeit priesen, während sie mit ihrem angeschwollenen Leib schwerfällig durch die Gegend watschelte.

Im März erblickte Antonie Thawka Ruete das Licht der Welt. Gott hatte Emilys Bitten erhört und ihnen eine Tochter geschenkt. Tony, wie sie bald genannt wurde, war ein großes, ein kräftiges Kind mit einem runden, pausbäckigen Gesicht und dicken Speckfalten an Ärmchen und Beinchen, robust und leicht zufriedenzustellen. Ihre Amme konnte Stunden damit zubringen, mit einem weichen Bürstchen Tonys pechschwarzes seidiges Haar zu striegeln, das ihr bis weit über die Schläfen reichte. Mit Tony zog in das Haus endlich das Leben ein, das Emily sich ersehnt hatte. Und auch wenn Heinrich seine eigene Art gehabt hatte, um ihren gemeinsamen Sohn zu trauern, indem er seine Gefühle und Gedanken tief in sich verschloss, lebte er mit der Geburt seiner Tochter sichtlich auf.

Nur manchmal, wenn ihr Blick auf die weißen Kleidchen fiel, die ihr Kind deutscher Sitte gemäß trug, wurde es Emily kalt ums Herz. Wie ein kleiner Geist, dachte sie dann und musste sich zwingen, keine Erinnerung an das Kind zuzulassen, das sie geboren hatte und das sie so früh begraben musste.



»Ich bin zu Hause, Bibi!«

Bei Heinrichs Ruf, dem Zuklappen der Eingangstür, das im Gebell und Gewinsel der beiden Hunde unterging, die den Herrn des Hauses stürmisch begrüßten, sprang Emily leichtfüßig die Treppen hinab. Auch ihren zweiten Sommer in Hamburg empfand sie als viel zu kühl, seine Farben als zu blass, wie ausgewaschen, aber es war die Jahreszeit, in der sie sich immer noch am wohlsten fühlte. Und sie fürchtete schon den nächsten Winter, dessen Kommen der September mit seinen Tönen von Kupfer und Messing bereits androhte. Doch noch waren die Tage hell und freundlich; zumal Emily seit ein paar Tagen die freudige Vermutung hegte, dass sie – ein knappes halbes Jahr nach Tonys Geburt – erneut guter Hoffnung war.

Mit ausgebreiteten Armen stand Heinrich in der Halle und rief ihr entgegen: »Rate, was ich mitgebracht habe!«

Emily legte den Kopf in den Nacken und lachte, als sie die letzte Stufe hinabhüpfte. Jeden Nachmittag das gleiche Spiel, und auch wenn sie sah, dass seine rechte Anzugtasche deutlich ausgebeult war, hielt sie sich an die Regeln. Zuerst legte sie die Stirn grüblerisch in Falten, stützte das Kinn nachdenklich auf die Hand und machte »Hm«, während sie Heinrich eindringlich musterte.

»Es ist keine Ananas«, schloss sie, denn eine solche pflegte Heinrich mit beiden Händen hinter dem Rücken zu verbergen.

Heinrich grinste. Es war seine Idee gewesen, jeden Tag auf dem Rückweg von seiner Arbeit im Kontor einen Umweg über den Hafen zu machen und nach exotischen Früchten Ausschau zu halten, um seiner Frau den Geruch und den Geschmack ihrer Heimat mitzubringen: Ananas und Bananen; eine Mango, wenn diese Hamburg auch nie in der saftigen orangegoldenen Reife erreichten, wie Emily sie aus Sansibar kannte; noch frische gelbgrüne Feigen, die lieblicher schmeckten als die hiesigen Äpfel, ein bisschen wie der Geruch nach frisch gemähtem Gras, oder saftige Datteln.

Mit gespielt ernster Miene, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlenderte Emily gemächlich und mit pendelnden Röcken einmal um Heinrich herum.

»Hm«, machte sie erneut und blieb vor ihm stehen. »Sie gestatten?« Sie tastete das Jackett ab, Heinrichs vergnügten Blick unverwandt mit dem ihren festhaltend. Die Zungenspitze zwischen den Lippen, fasste sie schließlich in die rechte Tasche des Jacketts und zog eine nicht ganz runde, harte und glatte Kugel hervor.

»Ein Granatapfel!«, rief sie entzückt aus und roch an der roten Frucht, bemüht, so viel wie möglich von deren schwachem, blumigem Duft einzuatmen. Sie musste sich beherrschen, damit sie nicht sogleich die Zähne in die feste Schale schlug, um so schnell wie möglich an die saftig ummantelten Kerne zu gelangen, die so herrlich im Mund knusperten. Es war der erste Granatapfel, den sie seit Sansibar in den Händen hielt, und Tränen schossen ihr in die Augen, als sie an die Granatapfelbäume an der Meeresseite von Beit il Sahil dachte. Wie die Blüten vor der hellen Palastmauer tiefrot loderten und wie die Meeresbrise über sie hinwegstrich, in einer Luft, die satt war von Sonne und Salz und vom Duft der Gewürznelken. In der der Ruf des Muezzins erschallte und für einen Augenblick in uferlosem, raumfüllendem Klang zum Stillstand kam, ehe er zitternd erstarb.

»Heimweh?«, fragte Heinrich behutsam und zog sie in seine Arme.

Emily konnte nur nicken; es weinte haltlos aus ihr heraus.



Heinrichs Bemühungen, ihre Rückkehr nach Sansibar voranzutreiben, waren zumindest teilweise von Erfolg gekrönt gewesen. Im April hatte er den Bürgereid der Freien und Hansestadt Hamburg geleistet, damit seine vollen Bürgerrechte zurückerlangt und vor allem den konsularischen Schutz, dessen er dringend bedurfte. Denn weder Sultan Majid noch der hanseatische Konsul Witt oder dessen britischer Amtskollege Churchill zeigten sich erbaut über Heinrich Ruetes Pläne.

Majids monatelanges Schweigen zur Flucht und zur Heirat seiner Schwester war mitnichten als Gleichgültigkeit oder gar als Nachsicht zu werten gewesen, wie Heinrich inzwischen wusste. Er war im Bilde über den regen Briefwechsel, der sich in der Folge ergeben hatte, nachdem die Firma Hansing, die ihn trotz des Skandals gerne wieder als Agent nach Sansibar geschickt hätte, vorsichtig bei Konsul Churchill anfragte, welches Wagnis Herr Ruete mit einer Reise nach Sansibar eingehe.

Die Antwort des britischen Konsuls war eindeutig ausgefallen: Für Heinrich Ruete hätte das Betreten sansibarischen Bodens Lebensgefahr bedeutet und in der Folge womöglich ebenso für andere Europäer, die sich auf Sansibar aufhielten. Heinrichs anfängliche Vergehen wogen durch Emilys nachfolgenden Übertritt zum Christentum noch schwerer als zuvor. In seiner Sorge sowohl um Heinrich Ruete als auch um die britischen Beziehungen zum Sultan wandte sich Churchill gar mit der Bitte an sein Außenministerium, unter allen Umständen Position für Majid zu beziehen und auch das Auswärtige Amt des im vergangenen Sommer neu gegründeten Norddeutschen Bundes auf den Fall Ruete aufmerksam zu machen. Der Bund, dem neben Hamburg und einer Handvoll Fürsten-, Herzog- und Großherzogtümern des Nordens die Hansestädte Lübeck und Bremen und die Königreiche Sachsen und Preußen angehörten, reagierte wie erwartet: Auf jede zulässige Weise sei darauf hinzuwirken, Heinrich Ruete von der Reise nach Sansibar abzuhalten, lautete der Kommentar. Ansonsten verlöre er den gerade erst erworbenen konsularischen Schutz Hamburgs wie auch den Schutz als Bürger des Norddeutschen Bundes.

Auch Konsul Witt, an den sich Majid heftig protestierend gewandt hatte, empfahl dem Hamburger Senat, Ruete dürfe auf keinen Fall nach Sansibar reisen. Gemäß den eigentümlichen Verhältnissen im Sultanat könne man das Verlangen des Sultans nur unterstützen, Ruete die Rückkehr zu verweigern, da die Entrüstung der Bevölkerung darüber, dass Ruete die Schwester des Sultans verführt und dass diese ihren Glauben gewechselt hatte, noch immer ungebrochen sei. Einmal mehr stellte das Privatleben von Emily und Heinrich ein Politikum dar, mit dem sich gleich drei Nationen beschäftigten.

»Dazu haben sie kein Recht«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie strafen mich, ohne dass ich je straffällig geworden wäre. Wenigstens nicht nach den Maßstäben aufgeklärter und christlicher Nationen. Ich habe meine Steuern für die Sansibar-Geschäfte bezahlt, und ich will diese Geschäfte weiterführen. Ich lasse nicht zu, dass andere das Feld abernten, das ich bestellt habe.«

Lange hatte er seinen Vorsatz, Emily nicht in seine Pläne einzuweihen, nicht durchgehalten. Er wusste, dass sie die Hoffnung, ihre Heimat eines Tages wiederzusehen, brauchte wie die Luft zum Atmen. Sansibar könnte vielleicht die Wunden heilen, die das Leben ihr geschlagen hatte.

Was sonst, wenn nicht der Zauber dieser Insel?

Die Sehnsucht nach Sansibar hatte Emily auszuhöhlen begonnen. Er sah es an Schatten, die zuweilen über ihr Gesicht huschten, an den Tränen in den Augen, die mit schmerzlicher Verträumtheit ins Leere wanderten, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Ein Verlangen, das sich vor allem in den Nächten den Weg an die Oberfläche bahnte, wenn Emily von Sansibar träumte und wenn sie halb auf Arabisch, halb in Suaheli vor sich hin murmelte.

»Willst du heute so früh nach Sansibar reisen?«, pflegte er sie zu necken, wenn sie sich anschickte, vor ihrer üblichen Zeit zu Bett zu gehen. »Grüß mir unsere Freunde dort!« Und doch nahm er ihre Sehnsucht ernst, weil er sie nicht nur verstand, sondern weil er sie bis zu einem gewissen Grad sogar teilte.

Er sah Emily fest in die tränenfeuchten Augen. »Wenn wir über den Handel den Anfang machen, bekommen wir einen Fuß in die Tür. Und wenn ich erst einmal dort bin, kann ich dich und Tony nachholen.«