Im Abgrund

Eine Hand allein kann kein Kind großziehen.

SPRICHWORT AUS SANSIBAR

46

MuschelHamburg, Ende Mai 1870



»Du kannst mich hier nicht allein lassen!«

Emily ballte die Hände zu Fäusten, um ihr Zittern zu unterdrücken.

»Es ist doch nur für ein paar Wochen.« Heinrich wirkte ratlos; augenscheinlich hatte er nicht mit einer solch heftigen Reaktion seiner Frau gerechnet, als er ihr nach dem Abendessen eröffnete, dass er in dringenden Angelegenheiten nach England reisen müsse.

»Nimm mich mit!«

Emily hörte selbst, wie schrill ihre Stimme klang, aber sie war zu aufgewühlt, um sich zu beherrschen. Sie schämte sich nicht einmal, derart die Fassung zu verlieren, eine erwachsene Frau von fünfundzwanzig Jahren und Mutter von mittlerweile drei Kindern, die einst auf Sansibar selbständig drei Plantagen geführt hatte.

»Aber, Bibi, wie soll das denn gehen?« Heinrich stand auf, kniete sich neben Emily und nahm ihre noch immer unnachgiebig verkrampften Finger in die Hände und strich sanft darüber. »Ich werde dort alle paar Tage von Stadt zu Stadt reisen müssen. Das wird zu aufwändig und zu anstrengend sein für die Kinder. Vor allem für Rosa. Sie ist doch noch viel zu klein für eine solche Reise. Und hierlassen wirst du sie nicht wollen. Hast du vergessen«, seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern, »wie es dir letztes Jahr in Kopenhagen ergangen ist?«

Nein, Emily hatte es nicht vergessen, jene Reise nach Kopenhagen im letzten Sommer. Erstaunt hatte sie zur Kenntnis genommen, dass wer immer es sich leisten konnte, im Sommer seine Koffer packte und aus der Stadt floh, um sich an der See oder in den Bergen zu erholen. Lange hatte sie sich gesträubt, diese Mode mitzumachen – sie, die ihr Leben lang vom Reisen geträumt, sich fremde Orte in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte.

Doch nur wer im Mutterboden fest verwurzelt ist, vermag Freude daran zu empfinden, sein Zuhause für gewisse Zeit zu verlassen und noch unbekannte Flecken der Welt für sich zu entdecken. Der Hamburger Boden war für Emily zwar keine Heimat, aber er war doch zumindest vertraut.

Dennoch hatte sie letzten Juli Heinrichs Bitten nachgegeben, mit ihm zu verreisen. Erholung hatte er ihr versprochen, sich eine Zeit zu zweit gewünscht, ohne Tony und ohne Said, ihren Sohn, der ein Jahr und knapp drei Wochen nach seiner Schwester zur Welt gekommen war. Er hatte sie damit gelockt, dass Kopenhagen am Wasser lag, dass das Meer – die Ostsee – ganz in der Nähe und dass Kopenhagen überhaupt eine sehr hübsche und sehenswerte Stadt sei.

Der Abschied von ihren Kindern war tränenreich ausgefallen und die Reise in zu dieser Jahreszeit, während der Schulferien, heillos überfüllten Eisenbahncoupés eine Tortur gewesen. Emily hatte sich bemüht, Gefallen an Kopenhagen zu finden, das durch seine Wasserläufe und Brücken eine gewisse Ähnlichkeit mit Hamburg besaß, aber kleiner und heimeliger wirkte. Doch weder das Museum, in dem sie Statuen und Büsten von der Hand des berühmten Bildhauers Bertel Thorvaldsen besichtigten, noch das königliche Jagdschlösschen von Klampenborg, in dem sie ein Konzert in Anwesenheit des Königs von Dänemark besuchten, vermochte sie zu berühren. Die Landschaft um das zu Emilys Enttäuschung turmlose Schloss, das kaum mehr war als eine schlichte Hamburger Villa, war ihr zu braun, zu karg, und von den Hirschen, die es dort geben sollte, bekam sie keinen einzigen zu Gesicht.

Vor allem setzte ihr die Trennung von Tony und Said zu. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Arm und ein Bein zu Hause in Hamburg gelassen, und fragte sich ständig, was sie gerade machten, wie es ihnen ging und ob das Kindermädchen auch wirklich gut für sie sorgte. Bis Heinrich schließlich aufgab und sie zu Emilys großer Erleichterung bereits nach acht Tagen die Heimreise antraten, eine Woche früher als beabsichtigt. Mit einem Mitbringsel ganz besonderer Art im Gepäck. Denn in den Sommernächten Kopenhagens war ihr drittes Kind gezeugt worden, ihre Tochter Rosalie Ghuza, die nun knapp sechs Wochen alt war.

In Kopenhagen hatte Emily sich geschworen, ihre Kinder nie wieder allein zu lassen. Doch sie wollte auch nicht ohne Heinrich sein, nicht einen einzigen Tag. Seine scherzhafte Bemerkung in Kopenhagen, sie liebe ihre Kinder wohl mehr als ihn, hatte sie als ungerechten Vorwurf empfunden.

Wie sollte sie ihm begreiflich machen, dass Angst sie überfiel bei dem Gedanken, ihn so weit fort zu wissen? Dass sie in der beständigen Furcht lebte, ihm oder den Kindern könnte etwas zustoßen, waren sie nicht in ihrer Nähe? Tief in ihrem Innern wusste Emily zwar, dass ihre Ängstlichkeit übertrieben war. Und doch stellte sie ein allzu wirkliches Schreckgespenst dar.

»Geht es um Valparaíso?«, brach sie schließlich ihr Schweigen.

»Auch«, bestätigte Heinrich. »Aber nicht nur.«

Emily nickte. Der Name Valparaíso löste in ihr ein unbehagliches Gefühl aus. An der Pazifikküste Südamerikas gelegen, war die Stadt ein bedeutender Handelshafen, ein Schmelztiegel von Einheimischen – seit Generationen ansässigen Spaniern, Indios und den Nachkommen beider Völker – und von Einwanderern aus Frankreich, Deutschland, England und der Schweiz. Eine Stadt, von der es hieß, sie mache ihrem Namen »Paradiestal« alle Ehre.

»Ich weiß sehr wohl, dass Valparaíso nicht Sansibar ist«, fuhr Heinrich behutsam fort. »Doch dort hättest du es wärmer als hier, und die dortige Lebensart würde dir bestimmt ebenfalls besser liegen als unser steifes Hanseatentum.«

Emily nickte wieder, erwiderte Heinrichs Lächeln jedoch nicht. So recht er mit seinen Argumenten auch hatte, so gut seine Auswanderungspläne auch sein mochten – obwohl sie in Hamburg nicht so recht glücklich sein konnte, graute ihr bei dem Gedanken, hier alles zusammenzupacken und in einem fremden Land einen Neuanfang zu wagen. Noch einmal eine fremde Sprache zu erlernen, nachdem ihre wenigen von den Macías aufgeschnappten Kenntnisse des Spanischen längst eingerostet waren; sich noch einmal in einer fremden Gesellschaft, einer fremden Kultur zurechtzufinden. Noch einmal zu versuchen, in einem fremden Land heimisch zu werden.

»Ich gebe trotzdem nicht auf, uns nach Sansibar zurückzubringen«, sagte er in ihre Gedanken hinein. »Ich werde hartnäckig bleiben. Irgendwann werden sich all diese Mühen auszahlen.«

Emily versuchte ein Lächeln, doch es misslang.

Majid hatte sich aufgrund einer inständigen Bitte Heinrichs an den Hamburger Senat, übermittelt durch den neuen Konsul Theodor Schultz, überreden lassen, der Ankunft eines Herrn Rehhoff in Sansibar zuzustimmen, der als Heinrich Ruetes Agent dessen geschäftliche Interessen auf der Insel und im ostafrikanischen Raum wahrnehmen sollte, und er war sogar damit einverstanden gewesen, dass seine abtrünnige Schwester über Heinrich und Rehhoff Zugriff auf den Ertrag ihrer Besitzungen bekommen sollte.

Was zunächst ausgesehen hatte wie ein hoffnungsvoller Beginn, war jedoch rasch von einem Rückschlag nach dem anderen zunichte gemacht worden. Rehhoff hatte sich eigenmächtig mit einem anderen deutschen Agenten namens Carl C. Schriever zusammengetan und begonnen, Heinrichs Geschäfte unter seinem eigenen Namen abzuwickeln. Heinrich ahnte Böses, vor allem finanziellen Verlust, aber möglicherweise auch eine Beschädigung seines Namens als vertrauenswürdiger Geschäftsmann und sah sich nun auch aus eigenem wirtschaftlichem Interesse gezwungen, so schnell wie möglich nach Sansibar zu reisen, um sich vor Ort um alles zu kümmern. In seiner Bedrängnis wandte sich Heinrich an niemand Geringeren als den Kanzler des Deutschen Bundes, Otto von Bismarck. Sultan Majid überschreite die Grenzen des Statthaften, wenn er ihm nicht einmal erlaube, als Empfänger sansibarischer oder als Lieferant deutscher Produkte aufzutreten, wie er ihm schrieb, wobei er sich auf den Handelsvertrag von 1859 zwischen Hamburg und Sansibar berief, der es jedem Hamburger Bürger gestattete, auf der Insel Handel zu treiben – demnach also auch dem Hamburger Bürger Rudolph Heinrich Ruete.

Majid indes war anderer Auffassung. Für ihn standen sowohl Herr Ruete als auch Herr Rehhoff außerhalb des Gesetzes, wie er durch den britischen Konsul Churchill mitteilen ließ. Zumindest, was die Regierung der Hansestadt und auch die des Bundes in Berlin anbetraf, wusste Heinrich diese nun auf seiner Seite. Sein Pochen auf den Handelsvertrag hatte sich als äußerst kluger Schachzug erwiesen, und der Konsul des Norddeutschen Bundes war gehalten, Heinrichs Anliegen beim Sultan zur Sprache zu bringen und auch in geeigneter Weise zu unterstützen – wie das auch immer aussehen mochte. Nun konnten Heinrich und Emily nichts weiter tun, als abzuwarten, wie dieses Tauziehen letztlich ausgehen würde – und vor allem, wie lange es noch andauern mochte.

Emily sah ihren Mann an, auf dessen Gesicht sich Hoffnung und Aufmunterung abzeichneten. Den Mann, für den sie alles aufgegeben hatte – ihre Heimat, ihre Familienbande, sogar ihren Glauben. Der sie immer auffing, wenn sie zu fallen glaubte. Der immer zuversichtlich blieb, wenn sie verzweifelte.

Hätte ich ihn nicht, wäre ich noch auf Sansibar. Aber was wäre mir Sansibar ohne ihn?

Emily löste ihre Finger aus den seinen und legte die Arme um seinen Hals, schmiegte sich an ihn und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

»Komm nur gesund wieder nach Hause«, flüsterte sie.



Endlos waren die drei Wochen, in denen Heinrich in England weilte. Obwohl Emily sich so gut zu beschäftigen suchte wie nur möglich: In dem Kinderwagen, der eigens für die Ruete-Kinder gebaut worden war, geräumig genug, dass alle drei bequem darin Platz hatten, schob sie ihren Nachwuchs durch halb Hamburg. Mit ihrer aus Unruhe geborener Energie werkelte sie im Garten, goss und pflanzte, jätete Unkraut und schnitt verwelkte Triebe ab, während die Ziege, die Heinrich ihr zuliebe angeschafft hatte, rings um den Pflock, an dem sie angebunden war, den Rasen stutzte. An einem Tisch im Garten erledigte sie die Stopfarbeiten und sah zu, wie Tony auf ihren kräftigen Beinen umherstapfte und die Welt entdeckte, während ihr kleiner Bruder noch unsicher hinter ihr her tapste. Said war nach seinem Großvater benannt worden und geriet äußerlich ganz nach diesem: dunkel in Teint und Augenfarbe, schmal und feingliedrig, dabei aber vielmehr zäh denn zart. Und so willensstark, dass er brüllen konnte, bis sein Gesicht purpurrot anlief, wenn ihm etwas nicht passte. Rosa hingegen versprach ein echter Sonnenschein zu werden, die einen jeden sofort anstrahlte, der sich über den Rand des Körbchens beugte, das im Schatten unter dem Fliederbaum stand.

Eigentlich waren es schöne Tage in diesem Juni, und doch vermochte Emily sie nicht zu genießen. Nicht ohne Heinrich. Auch nicht, obwohl sie nun guten Gewissens den Dienstmädchen und der Kinderfrau bei der Arbeit zur Hand gehen konnte, ohne dass Heinrich sie sanft schalt, sich nicht so abzumühen, schließlich hätten sie genau dafür ja das Personal eingestellt.

Noch nie war sie so lange von Heinrich getrennt gewesen, nicht mehr seit dem Tag, als er sie in Aden abgeholt hatte.

Als die Droschke vorfuhr, die ihn von seiner Reise nach Hause brachte, stürmte Emily ihm entgegen, schneller, als Tony und Said auf ihren Füßchen hinter ihr hertrappeln konnten, lauthals »Papa! Papa!« kieksend.

Sie fiel ihm um den Hals, kaum dass er richtig aus dem Wagen geklettert war.

»Lass mich nie wieder so lang allein«, schluchzte sie.

»Das verspreche ich dir, Bibi«, erwiderte er lachend. »Das verspreche ich dir.«

47

MuschelEs versprach ein glücklicher Sommer zu werden in diesem Jahr. Heinrich war aus England zurück und hatte seine Pläne aufgegeben, nach Valparaíso auszuwandern, Emily zuliebe wie auch aus geschäftlichen Erwägungen. Und die berechtigte Hoffnung, es möge bald ein Wiedersehen mit Sansibar geben, verlieh dem Juni und dem Juli besonders leuchtende Farben.

Diese Hoffnung wurde allzu bald von den dunklen Wolken verdüstert, die über Deutschland heraufzogen: Die Schatten des Krieges begannen sich über den Sommer zu legen.

Schon lange hatte es Spannungen zwischen den Königreichen Frankreich und Preußen gegeben, und schließlich gipfelten sie in einem Streit um den Nachfolger der zwei Jahre zuvor in einer Revolution entmachteten spanischen Königin. Als Kandidat für die Königswahl stellte sich ein Prinz aus einer Nebenlinie der Fürsten von Hohenzollern zur Verfügung. Frankreich fürchtete, durch eine Wahl Prinz Leopolds zum spanischen König sowohl im Westen als auch durch den Norddeutschen Bund, in dem Preußen den Ton angab, im Osten in die Zange genommen zu werden, und äußerte lautstarken Protest. Obwohl Prinz Leopolds Vater und der preußische König Wilhelm I. die Kandidatur auf ausländischen Druck hin zurückzogen, entzündete sich an der Veröffentlichung der Depesche eines Beraters Wilhelms I. an Kanzler Bismarck Frankreichs Empörung, und am 19. Juli erklärte Frankreich Preußen den Krieg. Der Norddeutsche Bund, unterstützt vom Großherzogtum Baden und den Königreichen Bayern und Württemberg, stand im Krieg mit Frankreich.

Ganz Hamburg war in fieberhaftem Aufruhr, der allerdings mehr jubelnder Begeisterung denn Angst glich. Der Ausbruch des Krieges stieß allenthalben auf ungeteilte Zustimmung. Emily war verwirrt, aber auch neugierig, und ihre Wissbegierde ließ sie ihre Scheu vor dem gedruckten Wort verlieren. Konzentriert buchstabierte sie sich jeden Morgen durch das Hamburger Abendblatt und bestürmte Heinrich jeden Abend mit neuen Fragen zum Krieg. Das Ausmaß dieses Krieges, in den Hunderttausende von Soldaten geschickt wurden, und der Einsatz von Unmengen an Kriegsmaterial von höchster technischer Perfektion, faszinierte Emily ebenso, wie es sie abschreckte. Wie unbedeutend, nachgerade harmlos und primitiv erschienen ihr im Vergleich dazu die Kriege in Afrika, jene Kämpfe, die ihr Vater einst im Oman ausgefochten hatte! Selbst der Zwist zwischen Majid und Barghash seinerzeit, die Bombardierung der Plantage von Marseille, der Beschuss der Stadt von Sansibar und die drohende Vernichtung durch das Kriegsschiff der Briten erschienen ihr im Rückblick beinahe lächerlich.

Ihr imponierte die flammende Treue der Deutschen zu dieser Sache. Patriotismus war das Schlagwort jener Tage; etwas, das man auf Sansibar nicht kannte, wo jeder nur den größtmöglichen Vorteil für sich selbst im Auge hatte. Ebenso war sie davon beeindruckt, dass die Soldaten sich aus allen Schichten des Volkes zusammensetzten, gleich, ob arm oder reich, gleich, ob jüdischen oder christlichen Glaubens. Was ihr äußerst gerecht erschien, was sie aber gedanklich mit dem Christentum nicht vereinbaren konnte.

Es ist unfasslich, dass die Bekenner der friedfertigen und Nächstenliebe predigenden Lehre Jesu sich gegenseitig zu überbieten suchen, wer die tödlichste und am meisten Leben vernichtende Waffe erfinden kann. »Fortschritt« nennen sie dies hier. Doch diese Kunst des Krieges, die als Fortschritt bezeichnet wird, kann man doch nicht anders als satanisch nennen.



Trotzdem war Emily in diesem Sommer in Hamburg beinahe glücklich. Der Krieg berührte ihr Leben nicht weiter. Zwar wurde ein Trupp Soldaten in ihrem Haus einquartiert wie bei so vielen anderen Hamburger Familien in diesen Tagen. Doch Emily und Heinrich brachten den Trupp rasch in einem Gasthof unter, weil sich für solcherlei Gäste das Haus dann doch als zu beengt erwies. Vor allem aber wegen der kleinen Kinder, die anfingen zu schreien und zu weinen, sobald sie einen Mann in Uniform erblickten.

Emily gewann an Selbstvertrauen. Zwischen Köchin Lene und ihr stand es schon lange nicht zum Besten, seit Emily sie zufällig dabei erwischt hatte, wie sie den Kaffee für Gäste durch einen alten Strumpf filterte. Emily war außer sich gewesen, hatte den nassen Stoffklumpen voller Kaffeesatz augenblicklich ins Herdfeuer geworfen, und Lenes Protest, der Strumpf sei doch aber gewaschen, war ungehört verhallt. Voller Misstrauen, was womöglich noch alles hinter ihrem Rücken vor sich ging, verlangte Emily das Haushaltsbuch zu sehen. Sie las und rechnete und rechnete noch einmal nach und begriff, wie viel Geld jeden Monat in den Taschen der Dienstboten verschwand, anstatt wie vorgesehen samt und sonders in den Töpfen und Schränken der Ruetes zu landen. Ohne viel Federlesens entließ sie die gesamte Dienerschaft, hieß Heinrich eine Annonce aufgeben und wählte die vorstelligen Bewerberinnen nach eigenem Gutdünken aus. Ihr Stolz auf diese Leistung hielt lange vor, schenkte ihr neue Tatkraft und Zuversicht.

Zum ersten Mal in den drei Jahren, die Emily nun hier war, hatte sie das Gefühl, sie könnte hier heimisch werden. Sie fror nicht mehr so sehr, begann auf Deutsch zu denken und zu träumen, vermochte die Eigenarten der hiesigen Menschen besser zu nehmen und gewöhnte sich sogar an das Essen.

Und mit ihrem Heimweh nach Sansibar versuchte sie zu leben, so gut es ging.



So bestand in diesem Sommer ihre größte Sorge darin, dass das Stillen Rosas – ein lang gehegter Wunsch und von ihrem modern eingestellten Hausarzt Dr. Gernhardt als das Beste für Mutter und Kind empfohlen – nach gut drei Monaten nicht mehr so recht klappen wollte. Schweren Herzens entschied sich Emily abzustillen, worauf ihr Körper mit einem leichten Fieber und mit Mattigkeit antwortete. Das Schwerste war bereits überstanden, dennoch hatte Emily sich an diesem Nachmittag mit in ein Tuch gepackten Eiswürfeln auf der Stirn auf ihrem Bett ausgestreckt, noch angekleidet, nur für ein Stündchen.

»Hallo, Bibi«, flüsterte es von der Tür her.

Emily öffnete die Lider und schickte ein müdes Lächeln zu ihrem Mann hinüber. »Heinrich. Ist es schon vier Uhr?« Sie schickte sich an aufzustehen, aber Heinrich, der sich auf der Bettkante niedergelassen hatte, drückte sie zurück in die Kissen.

»Bleib ruhig noch liegen.« Er küsste sie auf die Wange. »Wie geht es dir?«

»Viel besser. Nur ein wenig heiß ist mir noch.«

»Sag bloß, du hast dich bereits so an das hiesige Klima gewöhnt, dass dir der Hamburger Sommer inzwischen zu warm ist«, gab Heinrich mit leisem Lachen zurück.

Emily lächelte und versetzte ihm einen leichten Knuff. »Mach dich ruhig lustig über mich!«

Heinrichs Bart zuckte erheitert, doch er klang ernst, als er sagte: »Das würde ich nie tun, Bibi Salmé.« Er küsste sie noch einmal. »Höchstens ein bisschen …«

Emily gluckste in sich hinein.

»Anna hat unten aufgetragen. Magst du mit hinunterkommen, oder soll ich dir etwas heraufbringen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich nachher noch Vater besuche?«

Hermann Ruete kränkelte seit längerer Zeit, befand sich deshalb auch bereits seit zwei Jahren im vorzeitigen Ruhestand. Derzeit ging es ihm wieder etwas schlechter, weshalb er sich in das Sommerhäuschen der Ruetes vor den Toren Hamburgs zurückgezogen hatte, wo er sich in Stille und reiner Luft von seiner Gattin pflegen ließ.

»Nein, nicht im Geringsten. Bestell ihm bitte liebe Grüße von mir.«

»Mach ich. Ich bin um neun Uhr zurück.«

Liebevoll streichelte er ihre glühenden Wangen. Emily hörte ihn hinausgehen und die Tür behutsam hinter sich schließen. Wie aus weiter Ferne vernahm sie seine Stimme, dann Saids kollerndes Lachen. Der laue Wind des Sommertages, der die Blätter der Bäume mit papiergleichem Rascheln gegeneinanderrieb und die Vorhänge vor dem geöffneten Fenster bauschte, lullte sie ein, ließ sie in einen Dämmerzustand sinken, aus dem sie rasch in einen tiefen Schlaf hinüberglitt.



Heinrich rannte den Bahnsteig entlang.

Er war spät dran. Johanna hatte ihm eine Tasse Kaffee nach der anderen aufgenötigt, und sein Vater, froh um die Ablenkung, die der Besuch seines ältesten Sohnes an sein einsames Krankenlager gebracht hatte, hatte stundenlang alte Geschichten aus Heinrichs und seiner eigenen Kindheit zum Besten gegeben und war dabei vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Nur mit Mühe hatte Heinrich sich losmachen können, und nun musste er sich sputen, um die Pferdebahn noch zu erreichen. Nicht die letzte, die an diesem Juliabend in Richtung Uhlenhorst fahren würde, aber Heinrich mochte keine Unpünktlichkeit. Auch nicht im Privaten, und schon gar nicht, wo er doch wusste, wie schnell Emily in Sorge geriet, wenn er sich verspätete.

Der von zwei massigen Pferden gezogene Wagen rollte gerade unter Hufgeklapper in flottem Tempo auf den Schienen heran, an deren Rand zahlreiche Menschen darauf warteten einzusteigen, zumeist Ausflügler, die das schöne Wetter aus der Stadt herausgelockt hatte und die nun wieder zurückwollten, ehe es dunkelte. Mit einem Blick sah Heinrich, dass die Pferdebahn schon gut besetzt war, sowohl hinter den Fenstern des Coupés als auch oben auf dem überdachten Deck des Wagens. Alle Wartenden würden kaum Platz darin finden; ein Gutteil von ihnen müsste wohl oder übel auf den nächsten Wagen warten. Ein junger Bursche am anderen Ende des Perrons nahm am Gleis entlang Anlauf und sprang auf die heranfahrende Bahn auf, hangelte sich vom Trittbrett zum Einstieg hinauf und verschwand im Coupé. Ein winziger Augenblick des Zauderns bei Heinrich, eine Spur von Scham für eine solche Unhöflichkeit, die zu begehen er im Begriff war, dann beschleunigte er seinen Schritt, hetzte an der Menschenmenge vorbei und war mit einem Satz auf dem Trittbrett des Wagens.

Er hatte sich verschätzt.

Heinrich kam auf dem schmalen Trittbrett nicht richtig auf und verlor das Gleichgewicht. Suchte Halt an den Griffen, verfehlte sie, ruderte mit den Armen und fiel. Atmete auf, als er spürte, dass sein Hosenbein irgendwo festhing, seinen Sturz aufhielt. Der Stoff riss, und Heinrich schlug hart mit Rücken und Hinterkopf auf. Er hörte gellende Schreie, das Kreischen der Bremsen.

Zu spät, viel zu spät. Mit einem grausamen Knirschen rollte ein Eisenrad über ihn hinweg, schnitt durch die Haut, zerquetschte Fleisch und zermalmte Knochen. Schmerz, flammender, lodernder Schmerz, unerträglich. Ich lebe noch.

Erleichterung, als die Bahn zum Stillstand kam, barmherzige Hände ihm aufhalfen. Er konnte stehen und sich gestützt bis zur nächsten Droschkenstation schleppen, um nach einem Arzt zu schicken.

Ich lebe noch.



Emily wurde aus tiefem Schlaf geweckt, als Friederike, das Kindermädchen, mit ihren beiden größeren Schützlingen an das Bett trat.

»Wünscht eurer Frau Mama eine gute Nacht«, sagte sie zu den Kindern.

Das Gutenachtsagen war ein wichtiges Ritual im Hause Ruete. Die zweieinhalbjährige Tony, schon im Nachthemdchen, zog sich über die Bettkante hinauf und gab Emily ein schmatzendes Küsschen. »Nacht, Mama!«

»Gute Nacht, mein Liebes.« Emily drückte ihre Tochter an sich, bevor sie sich aufsetzte und Friederike ihr Said übergab, den sie ebenfalls herzte. »Gute Nacht, mein kleiner Prinz.«

»Natt«, machte Said. Schon heftig gähnend, winkte er ihr vom Arm Friederikes aus noch einmal zu, indem er mit dem Ärmchen wedelte.

Obwohl es erst acht Uhr war, läutete Emily nach Anna, damit diese ihr beim Auskleiden half. Zwar hatte sie fast den ganzen Nachmittag geschlafen; trotzdem war sie noch immer müde, fühlte sich wieder leicht fiebrig. Im Nachthemd schlüpfte sie zurück ins Bett und wartete auf Heinrich.

Bis die Uhren im Haus die neunte Stunde schlugen, blieb Emily noch liegen. Allmählich jedoch begann sie unruhig zu werden, horchte in den Sommerabend hinaus, der erfüllt war vom Tuten der Dampfer draußen auf der Alster.

Vielleicht ist er mit der Bahn bis in die Stadt hineingefahren und nimmt von dort eines der Schiffe hier herüber …

Es wurde zehn, es wurde elf. Ein Zittern kroch in Emily empor, ließ sich nicht unterdrücken. Sie sprang aus dem Bett und wanderte unruhig durchs Haus.

»Sie sorgen sich um den gnädigen Herrn, nicht wahr?«, fragte Friederike mitfühlend, der sie im Korridor begegnete. »Seien Sie ganz beruhigt, Frau Ruete. Bestimmt ist etwas ganz Harmloses dazwischengekommen.« Sie klang jedoch nicht wirklich überzeugt. Die Pünktlichkeit und die Zuverlässigkeit Heinrichs waren sprichwörtlich bei jedem, der ihn kannte. Emily konnte nur nicken und setzte ihren Weg durch das Haus fort, bis sie wieder in ihrem Schlafgemach angelangt war und sich unter der Decke verkroch. Sie umschlang Heinrichs Kissen und vergrub das Gesicht darin, sog tief den Geruch ihres Mannes ein, der noch im Stoff hing.

Bitte, lieber Gott, mach, dass ihm nichts geschehen ist.

Es war Mitternacht. Emily fror erbärmlich, und ihr Kopf glühte. Das durch die Aufregung gestiegene Fieber ließ sie wild phantasieren, was Heinrich zugestoßen sein könnte, und sie brauchte ihre ganze Kraft, um all die entsetzlichen Bilder zurückzudrängen und ihnen keinen Raum zu geben.

Endlich läutete unten die Hausglocke, ganz leise nur, so als würde besonders behutsam daran gezogen. Grenzenlose Erleichterung überflutete Emily.

Endlich. Er ist zu Hause. Er hat wohl den Schlüssel vergessen oder verloren.

Langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag, entkrampften sich ihre Muskeln, und sie schmiegte sich erschöpft, aber glücklich in die Kissen.

Doch Heinrich kam nicht.

Emily stand auf und trat aus dem Zimmer. »Heinrich?«, rief sie hinab, halblaut, um die Kinder nicht zu wecken. Lauschte nach unten, und als eine Antwort ausblieb, beugte sie sich über das Treppengeländer. »Heinrich?! Bist du da?« Sie schrie auf, fuhr herum, als jemand sie leicht am Arm berührte. »Anna! Hast du mich erschreckt!« Der Ausdruck im Gesicht ihres Dienstmädchens ließ Emily aschfahl werden. Als Anna sie am Handgelenk packte, zuckte sie zusammen. »Wo ist der gnädige Herr? Anna – wo ist mein Mann?!«

Als Anna nichts erwiderte, sie nur aus großen Augen anstarrte und schluckte, riss Emily sich los und rannte die Treppe hinunter, geradewegs in die Arme Friederikes und in die Arme von Martha, der Köchin.

»Bitte, Frau Ruete, beruhigen Sie sich«, redete Friederike auf sie ein. »Ihr Mann hatte einen Unfall, er ist im Krankenhaus.«

Emily rang nach Atem, dann gaben ihre Knie nach, und ihr wurde schwarz vor Augen.

48

Muschel»Frau Ruete! Frau Ruete – hören Sie mich?!«

Emilys Lider flatterten, öffneten sich widerstrebend. Verschwommen zuerst, dann zunehmend klarer nahm sie den Mann wahr, der vor ihr auf der Treppe kniete und ihr die Wange tätschelte. Das kantige Gesicht mit dem buschigen Bart kam ihr bekannt vor, wenn sie es auch zunächst nicht einzuordnen vermochte.

»Gott sei Dank, Sie sind wieder bei uns, Frau Ruete«, sagte er, als Friederike und Martha, die sie in ihrem ohnmächtigen Fall aufgefangen hatten, ihr nun halfen, sich aufzusetzen. »Seien Sie guten Mutes, Frau Ruete. Ihr Mann lebt; er hat mich zu Ihnen geschickt, damit ich Ihnen die Nachricht von seinem Unfall überbringe.«

»Wo ist er?«, brachte Emily mühsam hervor, die deutschen Worte plötzlich wieder gänzlich ungewohnt und fremd in ihrem Mund. »Kann ich zu ihm?«

»Erkennen Sie mich nicht wieder?«, kam seine Gegenfrage. »Ich bin’s, Dr. Helmuth Rilling, der Hausarzt Ihrer Nachbarn.«

»Ja natürlich«, murmelte Emily. »Was ist passiert?«

Dr. Rilling, der durch einen glücklichen Zufall der Arzt gewesen war, den man herbeigeholt hatte, zögerte, erklärte Emily dann aber doch möglichst ruhig und sachlich den Unfallhergang, wie Zeugen ihm diesen geschildert hatten, während er Heinrich Erste Hilfe leistete. Wie schwerwiegend Heinrichs Verletzungen waren, dazu äußerte er sich nicht; er beschränkte sich darauf, ihr zu versichern, dass Heinrich im Krankenhaus in den besten Händen sei.

»Ich muss zu ihm«, erklärte Emily und rappelte sich auf.

»Das geht nicht, Frau Ruete. Es ist mitten in der Nacht, kein Krankenhaus lässt um diese Zeit Besucher ein. Morgen früh können Sie Ihren Mann sehen. Nicht eher.«

»Entweder«, sagte Emily ruhig, aber mit entschlossener Bestimmtheit, »entweder bringen Sie mich mit Ihrem Wagen ins Krankenhaus, oder ich mache mich zu Fuß auf den Weg. Und wenn die Leute dort tatsächlich so hartherzig sind und mich nicht zu meinem Mann lassen, so bleibe ich die ganze Nacht draußen vor der Tür sitzen. Nur hier, hier bleibe ich nicht. Nicht heute Nacht.«

Dr. Rilling sah sie lange an. Schließlich nickte er. »Also schön. Ich bringe Sie hin.«

Hektische Betriebsamkeit brach aus, als Anna ihr half, sich hastig anzukleiden, und als sie mit Friederike, die sie nicht allein fahren lassen wollte, und Dr. Rilling aufbrach. Die Fahrt kam ihr endlos vor, obwohl sie kaum eine halbe Stunde dauerte – eine wahre Höllenfahrt, in der sie durch die nachtstillen Straßen Hamburgs rumpelten.

An der Seite des Arztes gelangten sie zwar durch die Pforte, doch der Beamte der Krankenhausverwaltung, den sie um Besuchserlaubnis ersuchten, wollte sie zunächst fortschicken. Erst auf Emilys unter Tränen vorgebrachte Bitten hin begab er sich zu einem der Chirurgen, der nach langem Hin und Her seine Zustimmung gab.

Dennoch ließ man sie warten; erst gegen Morgen und auch nur für eine Viertelstunde durfte Emily das Krankenzimmer betreten.

Auf Zehenspitzen, sich die Tränen wegwischend, die ihr unablässig die Wangen hinabrannen, schlich sie in den abgedunkelten Raum hinein.

»Bibi? Bist du das?« Seine Stimme klang erschreckend flach, wie abgeschürft.

»Ja, Heinrich.« Ihre Stimme flackerte, als sie sich an sein Bett setzte und seine linke Hand nahm. Die rechte war unter der Bettdecke verborgen, und Emily ahnte, dass der Arm schwer verletzt sein musste. Viel sehen konnte sie nicht; die schwache Beleuchtung ließ kaum mehr als Schemen erkennen.

»Bibi – roho jangu. Mein Atem, meine Seele. So spät kommst du noch … Bitte, wein doch nicht.«

»Ich versuch’s. – Hast du große Schmerzen?«

Sein Atem kam stoßweise.

»Ja.«

»Wo?«

»In – in der Brust.«

»Oh Heinrich«, brach es aus ihr heraus. »Wie konnte das nur passieren?«

Er gab ein trockenes, gequältes Auflachen von sich. »Das weiß Gott allein.«

Die Viertelstunde verging viel zu schnell. Viel zu bald kam eine Schwester herein und bat Emily mit sanftem Nachdruck, jetzt zu gehen. Sachte küsste Emily Heinrich auf die Stirn.

»Bis morgen. Gute Nacht, Heinrich.«

»Ya kuonana – auf bald«, flüsterte er.

»Ya kuonana«, erwiderte Emily mit wehem Herzen.



Ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte, wurde Emily wieder nach Hause gebracht, doch an Schlaf war nicht zu denken. In ein dickes wollenes Umschlagtuch gehüllt, saß Emily die restlichen Nachtstunden auf dem Balkon ihres Hauses und starrte in den Himmel. Betrachtete die Sterne, die ihr hier ungleich ferner und bleicher erschienen als über Sansibar. Als diese nach und nach verblassten und der Himmel verblaute und sich lichtete, ging sie in das Zimmer ihrer Kinder, betrachtete den friedlichen Schlaf von Tony, Said und Rosa, die noch nichts von dem Unheil ahnten, das über ihre bislang sorglose Kindheit hereingebrochen war.

Emily kniete sich hin, legte den Kopf auf die Kante von Rosas Wiege und weinte lautlos.



Erst im unbarmherzigen Licht des neuen Tages, wurden Heinrichs schwere Verletzungen offenbar. Im Gesicht und am Kopf, im Brustkorb und an den Gliedmaßen, durch deren Verbände noch immer Blut sickerte.

»Guten Morgen, Bibi«, begrüßte er sie und versuchte, seiner Stimme einen munteren Klang zu geben, streckte seine unverletzte Hand nach ihr aus. »Bist du hier, um mich zu einem Spaziergang abzuholen?«, fragte er in neckendem Tonfall.

Emily lächelte und ließ sich auf der Bettkante nieder. »Wir können gern zusammen einen Fluchtplan aushecken, wie wir von Ärzten, Schwestern und dem Mann an der Pforte ungesehen hier hinaus und nach Hause kommen.«

Sein Mund zuckte. »So wie du damals von Sansibar geflohen bist?«

Emily hielt seinen Blick fest. Lange. »Ja«, flüsterte sie. »So wie damals.«

»Weißt du noch«, sagte er leise, »wie wir uns begegnet sind – du auf dem Dach deines Hauses, ich am Fenster des meinen?«

»Nichts«, erwiderte Emily zärtlich und fuhr mit den Fingern über die Stellen in seinem Gesicht, die nicht zerschunden oder abgeschürft waren, »nichts von alldem werde ich je vergessen.« Emilys Sorgen und Ängste wirkten einmal mehr unbegründet. Heinrich machte den Eindruck, als sei er auf dem Weg der Besserung. Als sei sein Unfall nur ein tüchtiger Schrecken ohne allzu schwerwiegende Folgen gewesen, und er tat so, als habe er sich nur einige Gelenke verstaucht und ein paar Prellungen und Kratzer abbekommen. Mit Geduld und guter Pflege würde er wieder auf die Beine kommen, das schien gewiss. Sie erinnerten sich an ihre vergangene Zeit auf Sansibar und schmiedeten Pläne für ihre Rückkehr dorthin, während Emily mit ihrem Fächer, den sie aus ihrer Heimat nach Hamburg mitgebracht hatte, die Fliegen verscheuchte, die an diesem heißen Sommertag im Krankenzimmer herumsurrten. Und es war fast ein bisschen so, als säßen sie auf der Veranda von Kisimbani beisammen und all das Schwere, das hinter ihnen lag, wäre nie geschehen.



Am Nachmittag jedoch begann Heinrich zu fiebern und zu phantasieren.

Emily bangte. Schöpfte Hoffnung, als er zu Bewusstsein kam und danach verlangte, aufzustehen und etwas zu essen. Bangte erneut, als das Fieber ihn wieder in seine Klauen bekam.

Emily litt. Litt mit ihm und auch mit sich selbst.

Stunde um Stunde. Einen Tag und noch einen.

Als Heinrichs Kräfte sichtbar schwanden und er gänzlich in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit versank, benötigte Emily keinen Arzt, um zu wissen, wie es um ihren Mann stand. Dennoch kam spätabends der Hausarzt der Ruetes, Dr. Gernhardt, in das Haus an der Schönen Aussicht, um Emily mitzuteilen, dass er mit den Ärzten des Krankenhauses gesprochen habe, und ihr schonend die Nachricht überbrachte, dass es keine Hoffnung mehr gab.

Obwohl Emily es schon den ganzen Tag über geahnt hatte, traf die Endgültigkeit dieser Aussage sie doch mit unerträglicher Wucht. Wie betäubt saß sie stundenlang so da, wie Dr. Gernhardt sie verlassen hatte. Betete im Stillen abwechselnd um Rettung wider jede Wahrscheinlichkeit oder darum, dass Heinrich schnell von seinem Leiden erlöst werde.



Als sie am Morgen darauf ins Krankenhaus kam, erschrak sie über die Veränderung, die über Nacht mit Heinrich vor sich gegangen war. Seine Züge waren eingefallen, spitz und hager, er selbst geschrumpft, halb wieder Kind, halb vor der Zeit vergreist.

Es war das Antlitz des Todes, in das Emily blickte. Das sie nicht zum ersten Mal sah, aber das sie mit unsagbarem Grauen erfüllte.

»U hali gani, wie geht es dir, Bibi?«

Ihr Kopf, den sie in den Händen vergraben hatte, fuhr hoch.

»Heinrich.« Ein Aufblitzen der Hoffnung durchzuckte sie, dass er wieder zu sich gekommen war. Vielleicht würde ein Wunder geschehen, eine gütige Macht ihn ins Leben zurückkehren lassen. »Wie geht es dir? Verlangt es dich nach irgendetwas? Hast du Durst?«

»Kir-schen«, flüsterte er. »Gibt es … frische … Kirschen? Hier?«

»Ich frage gleich danach.«

Dankbar für diese Regung, drückte sie seine unverletzte Hand und rannte hinaus, scheuchte gleich zwei Krankenschwestern auf einmal auf, ihr welche zu besorgen. Doch als beide mit betretenem Gesicht zurückkehrten und ihr berichteten, dass es im Krankenhaus bedauerlicherweise keine gebe, Frau Ruete müsse wohl welche in der Stadt besorgen lassen, hatte Heinrich bereits wieder das Bewusstsein verloren. Den ganzen Nachmittag saß Emily bei ihm, betupfte seine glühende Stirn mit Kölnisch Wasser aus ihrer Handtasche. Und als sein Gesicht kühl wurde, fast so kalt wie seine Hand, lauschte sie seinem Atem, der flacher wurde, zeitweise stockte, immer unregelmäßiger ging.

Bis es still wurde im Krankenzimmer. Still und kalt.

Eine der Schwestern schlich herein, warf einen Blick auf Heinrich und legte Emily eine Hand auf die Schulter.

»Es ist vorbei, Frau Ruete. Mein Beileid.«

49

SeesternEmily verstand nicht, weshalb sie nicht bei Heinrichs Leichnam Wache halten durfte, bis der Tag der Beisetzung gekommen war. Und auch nicht, warum am Tag des Begräbnisses der Sarg mit vernageltem Deckel ins Haus gestellt wurde, damit Freunde, Familie und Verwandte Abschied nahmen, ohne dass sie Heinrich noch einmal sehen konnten.

Ihr war unbegreiflich, warum niemand auch nur einen Zoll breit von dem eingefahrenen Weg dessen, was sich gehörte, abweichen wollte, um Emilys Wunsch nach einer eigenen Form des Abschiednehmens zu erfüllen. Die Bräuche und Zeremonien, die man zu diesem traurigen Anlass hier in Hamburg pflegte, erschienen Emily kalt und herzlos. So kühl und grau wie der Augusttag, als sie Heinrich zu Grabe trug; so abweisend wie das nüchterne Ritual am Rande des Erdlochs, in dem Heinrichs Asche schließlich zur letzten Ruhe gebettet wurde.



Ohne Heinrich kam ihr das Haus leer vor und verlassen. In den Schränken lagen noch seine Hemden, hingen seine Anzüge; die Garderobe war voll von seinen Mänteln und Hüten. Das ganze Haus atmete Heinrichs Gegenwart, obschon es ihn nicht mehr gab auf dieser Welt. Manchmal rief Emily geistesabwesend nach ihm oder suchte ihn, häufig in seinem Raucherzimmer, wo er sich immer eine Zigarre genehmigt hatte. Oder sie sprang auf, weil sie gehört zu haben meinte, wie er die Eingangstür hinter sich schloss. Wenn sie sich in den Räumen aufhielt, glaubte Emily zu ersticken; sie lebte fast nur noch auf dem Balkon oder im Garten und ging nur ins Haus, wenn sie weinen musste.

Es erschien ihr ungerecht, dass die Welt dort draußen sich einfach weiterdrehte, während ihre eigene kleine Welt in Trümmern lag. Wie konnte die Sonne weiterhin jeden Morgen aufgehen und die Sterne sie des Nachts ablösen? Wie konnten die Blätter an den Bäumen weiter im Wind rauschen und die Blumen ständig neue Knospen hervorbringen? Sie fürchtete den gnadenlosen Tag, der sie ihren Verlust mit jedem Atemzug würde spüren lassen, und hatte Angst vor der Nacht, die sie mit Träumen quälte, in denen Heinrich durch die Tür trat, sie anlachte und erklärte, sein Unfall, sein Tod seien ein großer Irrtum gewesen, er sei gesund und munter. Nur um am nächsten Morgen wie zerschlagen zu erwachen und festzustellen, dass es nur ein Traum gewesen war. In einem Bett, das ohne ihn kalt war und leer.

Wie ein Geist wanderte Emily rastlos umher, suchte Antworten auf unausgesprochene Fragen, doch sie fand keine. Sie verlangte nach Halt und nach Trost, doch sie bekam weder das eine noch das andere. Ein Teil von ihr war mit Heinrich gestorben, und ihre Seele trug Trauer. Die Trauer hüllte sie ein in dickes graues Tuch, das die Sinne abstumpfte und keine andere Regung zuließ außer dem Schmerz. Selbst ihre Kinder waren ihr fremd geworden.

Sie ertrug es nicht, dass Tony und Said beständig fragten, wann ihr Papa denn wiederkäme, und weinend nach ihm riefen; dass Rosa, die spürte, wie sehr ihr Zuhause aus den Fugen geraten war, und die den inneren Aufruhr der Menschen um sich herum wahrnahm, plötzlich weinerlich wurde. Sie ertrug die plötzliche Anhänglichkeit nicht, mit der sich ihre Kinder an ihre Hand oder an ihren Rockzipfel klammerten, und überließ sie mehr und mehr Friederike.

Ich wünschte, ich hätte sie nie geboren, dachte Emily ein ums andere Mal. Ich wünschte, ich wäre tot. Ich wünschte, ich würde an Heinrichs Seite im Grab liegen.



Es war an einem solchen Abend, an einem Abend aus Blei und Asche, dass sie sich auf Zehenspitzen am Kinderzimmer vorbeischlich, hinauf in ihr Schlafzimmer. In der Hoffnung, die Kinder würden sie nicht hören und nicht nach ihr rufen. Doch sie selbst hörte sehr wohl, wie Said leise weinte und unaufhörlich »Papa. Papa. Papa« wimmerte. Emily wollte sich schon die Ohren zuhalten, als sie das Geräusch von bloßen Füßchen wahrnahm, die über den Boden tapsten.

»Nich’«, sagte Tonys feines Stimmchen. »Nich’ weinen. Nich’ Papa rufen. Sonst muss die Mama wieder so arg weinen.«

Emily presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschluchzen. Geräuschlos trat sie näher und spähte um den Türrahmen herum.

Said saß auf dem Boden, seine Eisenbahn aus Holz achtlos neben sich umgekippt, die dunklen Augen voller Tränen. Und Tony kniete vor ihm, wischte ihrem Bruder über die nassen Wangen, bevor sie ihn tröstend in ihre rundlichen Arme schloss.

Ein hoher, dünner Klagelaut entfuhr Emily. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und in die Hocke sinken, wobei ihre weiten Röcke sich zu einer Wolke um sie herum aufbauschten und dann in sich zusammensanken. Weinend vergrub sie das Gesicht in den Händen.

Was bin ich nur für eine Mutter! Meine Tochter ist noch nicht einmal drei Jahre alt und muss meinen Sohn mit seinen noch nicht einmal zwei Jahren trösten, weil ich nicht in der Lage bin, für sie da zu sein. So kann es doch nicht weitergehen.

Sie schrak auf, als etwas an ihren Röcken zupfte und dann auf ihre Beine zu klettern begann. Verzerrt hinter ihrem Tränenschleier sah sie Tony, die unnachgiebig ihre Nähe suchte und ihrer Mutter nun in kindlich-unbeholfenen Bewegungen mit einem Taschentuch die Tränen zu trocknen begann.

»Nich’ weinen, Mama«, befahl sie energisch. »Wird doch alles wieder gut!«

»Ach, Tony«, schluchzte Emily auf und zog ihre kleine Tochter in die Arme. »Ich wüsste nicht, wie! Ich weiß nicht, wie ich jetzt weiterleben – was aus uns werden soll.«

Sie sah auf, als sie einen Stupser erhielt. Es war Said, der ebenfalls angelaufen gekommen war und wie ein bockiges Zicklein seine Stirn gegen Emilys Schulter schubste. Unwillkürlich hoben sich Emilys Mundwinkel, und sie schloss auch ihren Sohn in ihre Umarmung mit ein. Es tat wohl, diese beiden warmen Kinderkörper zu spüren, die aus ihr und Heinrich hervorgegangen waren. Es war nicht der Trost, den sie brauchte – aber es war gleichwohl einer.

Es muss weitergehen. Irgendwie. Das bin ich den dreien schuldig. Meinen Kindern.

Heinrichs Kindern vor allem.

50

Muschel»Natürlich würden wir dich gern nach Kräften unterstützen«, begann Johanna Ruete und warf einen besorgten Blick zu ihrem Gatten hinüber. »Aber mit drei Kindern … Wir haben doch selbst nur so wenig Platz. Und durch Hermanns Leiden …« Sie brach ab und zupfte fürsorglich die Wolldecke zurecht, die ungeachtet des warmen Spätsommertages über den Beinen von Heinrichs Vater lag.

Hermann Ruete sah in der Tat schlecht aus. Der vorzeitige Tod seines ältesten Sohnes hatte für den gesundheitlich angegriffenen Mann einen herben Schlag bedeutet. Emily hatte ihn nie weinen sehen, und doch schien ihr Schwiegervater ernsthaft zu trauern. Man sah es an den neuen Furchen und Falten in seinem länglichen Gesicht, die sich fast über Nacht eingegraben hatten, und daran, dass er mit einem Mal kleiner wirkte, weil er sich nicht mehr so gerade hielt wie früher, so als trüge er eine zu schwere Last auf seinen Schultern. Und manchmal dachte Emily, sie habe einen abwesenden, traumverlorenen Glanz in seinen Augen entdeckt, als wenn er gerade Heinrich vor sich sähe.

»Oh nein, daran hatte ich keineswegs gedacht«, beeilte sich Emily zu erwidern. Stumm leistete sie Abbitte für diese kleine Lüge und senkte verlegen den Blick auf ihre Teetasse. Denn genau darauf hatte sie gehofft: bei Heinrichs Eltern, den Großeltern seiner Kinder, Aufnahme zu finden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Emily sich das schöne Haus an der Außenalster nicht mehr lange würde leisten können.

Heinrichs Tod war für sie der bislang schwerste Schicksalsschlag in ihrem an Unglück und Todesfällen nicht gerade armen Leben gewesen. Doch diesem Tod waren weitere Hiobsbotschaften gefolgt – kleinere, im Vergleich zum Verlust ihres Mannes geradezu lächerliche –, und doch fühlte Emily sich an der Schwelle zu ihrem vierten Herbst hier in Hamburg, als triebe sie unaufhaltsam auf einen Abgrund zu.

Heinrichs böse Vorahnungen, was das Geschäftsgebaren von Herrn Rehhoff auf Sansibar anbetraf, hatten sich leider bewahrheitet: Was an Gewinn zwischen Frühjahr 1869 und Heinrichs Tod im August 1870 erzielt worden war, war zu weit mehr als der Hälfte in den Taschen von Rehhoff und von Schriever gelandet, nicht in der mit dem Namen Ruete beschrifteten Schatulle. Viel war es anscheinend ohnehin nicht gewesen, was in den letzten Monaten an Geldern geflossen war. Der hanseatische Handel auf Sansibar lag durch den noch immer andauernden Krieg des Norddeutschen Bundes gegen Frankreich zunehmend brach. Auch der Ertrag von Emilys drei Plantagen aus dem entsprechenden Zeitraum war von den beiden unredlichen Geschäftsleuten in die eigene Kasse abgeschöpft worden. Und als sei dies nicht genug, war bei der Durchsicht der geschäftlichen Aufstellungen ans Tageslicht gekommen, dass Heinrich beträchtliche Summen aus ihrer beider Vermögen in die Geschäfte auf Sansibar transferiert hatte, die nun ebenfalls in dunklen Kanälen versickert waren.

Emily war froh, dass Heinrich nicht mehr hatte miterleben müssen, dass er sich in seinem einstigen Schulfreund Rehhoff so sehr getäuscht hatte. Darüber hinaus war dieser auch noch der Sohn eines Pastors, was in Emilys Augen die Schwere seiner Schuld noch vergrößerte, wie sie sich in letzter Zeit oft kopfschüttelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen gedacht hatte.

Doch alles Jammern half nichts, es änderte vor allem nichts daran, dass Emily nur eine kleine Summe Geldes blieb, mit der sie für sich und ihre Kinder sorgen konnte, plus dem durch den Krieg ebenfalls nicht sonderlich üppigen Ertrag aus Aktien, in die Heinrich investiert hatte. Zumal sie trotz der Tatsache, dass sie die Witwe eines Hamburger Bürgers war, keine Bürgerrechte besaß und der Senat der Hansestadt ihr auch weiterhin als Ausländerin die Möglichkeit verweigerte, den entsprechenden Eid abzulegen, sie somit keinerlei Anspruch auf eine Witwenpension erheben konnte.

»Ich bin schon auf Wohnungssuche«, erklärte sie nun gespielt zuversichtlich und setzte ihre Untertasse ab. »Ein paar passende Objekte habe ich bereits in Aussicht.«

Die nächste Lüge. Ihren Wunsch, ein Häuschen anzumieten, das einen Garten besaß, in dem die Kinder spielen konnten, hatte Emily sich bei Durchsicht der Annoncen rasch aus dem Kopf schlagen müssen. Mit ihrem sehr beschränkten Budget war so etwas unbezahlbar, und auch von der Alster würden sie Abschied nehmen müssen. Eine Mietwohnung läge vielleicht gerade noch im Rahmen des Möglichen, und ihr war jetzt schon ganz flau, wenn sie daran dachte, dass sie nahezu alle Dienstboten würde entlassen müssen. Vor allem um Anna tat es ihr leid, da sie diese doch sehr lieb gewonnen hatte. Mit etwas Glück würde Friederike vielleicht mitkommen wollen, obwohl Emily ihr nicht mehr ganz so viel würde zahlen können.

»Gib dabei bitte keinen Schilling mehr aus als nötig«, sagte Hermann eindringlich. »Ich will nicht, dass meine Enkelkinder um ihr Erbe gebracht werden!«

Mit seinen Worten trieb ihr Schwiegervater den Stachel tiefer ins Fleisch, den Emily kurz nach Heinrichs Tod abbekommen hatte. Das schmale Erbe, das Heinrich hinterlassen hatte, fiel zu einem Drittel an Emily, zu zwei Dritteln an die Kinder. Allerdings oblag es nicht Emily als seiner Witwe, darüber zu verfügen. Laut den Gesetzen der Stadt Hamburg wurde eine Witwe unter Vormundschaft gestellt; größere Ausgaben, die Verträge, die sie künftig für sich oder ihre Kinder abzuschließen gedachte, bedurften der Zustimmung dieser beiden sogenannten »Assistenten«. Der eine saß ihr im Salon just in Gestalt ihres Schwiegervaters gegenüber; der andere war ursprünglich kein Geringerer gewesen als der Mann, der sie und ihre Kinder um so viel Geld gebracht hatte: Herr Rehhoff. Emily war wutschnaubend beim Senat der Stadt vorstellig geworden, hatte ihre Beschwerde mit Dokumenten zu Rehhoffs Veruntreuungen untermauert, und schließlich war Johann Ruete, mit bald dreiundzwanzig schon längst mündig, zum zweiten Vormund bestimmt worden.

»Ich kann mit Geld umgehen, lieber Hermann«, versuchte Emily ihren Schwiegervater zu beschwichtigen und erklärte nicht ohne Stolz: »Auf Sansibar habe ich drei große Plantagen selbständig geführt, die Erträge gesteigert und die Ausgaben gesenkt.«

»Das mag wohl sein.« Hermann Ruete sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Aber wir sind hier in Hamburg und nicht in Afrika. Und hier«, er beugte sich leicht vor und tippte energisch mit dem Finger auf den Tisch, »hier geht es anders zu! Unsere Verhältnisse sind ungleich komplizierter als bei dir zu Hause. Hier pflegt man kein orientalisches Lotterleben! Hier muss man auf dem Quivive sein!«

Es war das erste Mal, dass Hermann Ruete auf ihre Herkunft und auf die Verhältnisse in ihrer Heimat anspielte. Und die Art, wie er das tat, herablassend, fast schon gehässig, traf Emily tief. Davon, dass Hermann Ruete sich einmal geäußert hatte, Emily sei wider Erwarten eine tüchtige Hausfrau geworden und ihm eine so liebenswürdige Schwiegertochter, wie er sie sich nur wünschen konnte, war nichts mehr zu spüren.

Eine Kränkung, die sie sich nicht anmerken lassen wollte. Sie schob ihr Kinn mit dem leichten Grübchen ein Stückchen vor.

»Heinrich war mehr als zufrieden damit, wie ich das Haushaltsgeld verwaltet und das entsprechende Buch dazu geführt habe.«

»Da hat er auch noch gelebt und für ein regelmäßiges Einkommen gesorgt«, widersprach Hermann Ruete knurrend und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. »Die Zeiten sind ja nun vorbei, nech?«

»Zur Not kannst du ja auch noch deinen Schmuck verkaufen«, warf Johanna ein. »Heinrich – Gott hab ihn selig – hat einmal erzählt, dass ihr damals viel davon nach Europa retten konntet. Er ist doch bestimmt eine Menge wert!«

Fassungslos sah Emily die Stiefmutter ihres verstorbenen Mannes an. Als sie in deren blauen Augen keinerlei Arglist oder Neid entdecken konnte, begriff sie, dass Johanna einfach nur eine nach hamburgischen Maßstäben praktisch denkende Frau war, die nicht wissen konnte, was all das Geschmeide für Emily bedeutete. Eine Prinzessin von Sansibar war nichts ohne ihren Schmuck, der Zeichen ihres Standes und ihrer Herkunft war. »Willst du eine Prinzessin sein oder ein Bettelmädchen? Hast du keinen Stolz?«, hatte ihr Vater sie einmal vor bald zwanzig Jahren gescholten; eine Lektion, die Emily nie vergessen hatte. Emily schwieg und führte ihre Tasse wieder zum Mund, nahm gedankenvoll noch einen Schluck.

Was verbindet mich bloß mit diesen Leuten, an deren Tisch ich gerade sitze?

Nichts. Außer dass Hermanns Sohn mir das größte Glück auf Erden war. Und sein Blut in den Adern meiner Kinder fließt.

Emily atmete auf, als sie endlich das Haus der Ruetes verließ und auf der Straße stand. Sie schlüpfte in ihre Handschuhe, die schwarz waren wie ihr Trauerkleid, und wanderte ziellos und in ihre Gedanken versunken durch die Neustadt.

Ihr Blick fiel auf den Kirchturm von Sankt Michaelis mit seinem roten Backsteinsockel und dem Aufbau, der grau und grün verwittert war. Es hieß, für die Seeleute der Stadt sei der Michel ein Sinnbild für ihre Heimat, weil er angeblich das Letzte war, was man auf dem Deck eines auslaufenden Schiffes von Hamburg sah, und das Erste, was einem bei der Heimkehr ins Auge fiel.

Das Heimweh nach Sansibar plagte Emily seit Heinrichs Tod umso heftiger. Als könnte nur Sansibar die Lücke ausfüllen, die der Verlust ihres Mannes in ihr gerissen hatte.

Ich muss nach Hause, dachte Emily. Ich muss zurück. Zurück nach Sansibar. Hier gehöre ich nicht hin. Nicht ohne Heinrich.

Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie beinahe rannte. An diesem und den folgenden Abenden entwarf sie einen Brief an Majid, in dem sie ihm ihr Herz ausschüttete, ihm in Erinnerung rief, wie eng die Bande zwischen ihnen einst gewesen und dass sie nie aus bösem Willen heraus gegen ihn oder gegen die Sitten und Bräuche ihres Landes gehandelt habe, und in dem sie ihn schließlich flehentlich bat, sie in Begleitung ihrer drei Kinder zurückkehren zu lassen. Und so schwer es ihr auch fiel: Sie bat ihn auch um etwas Geld.



Womöglich erreichte dieser Brief Majid sogar noch rechtzeitig; beantworten konnte er ihn jedoch nicht mehr. Sein Leib, von mehr als dreißig Jahren des Leidens an der Fallsucht zerrüttet und ausgelaugt, versagte ihm am 7. Oktober den Dienst. Nur zwei Monate nach dem Tod seines ihm so verhassten deutschen Schwagers starb auch Emilys Lieblingsbruder.

Barghash, der sich solange hatte gedulden müssen, bekam von der Vorsehung endlich das, was ihm seiner Meinung nach von Anfang an, seit dem Tod ihres Vaters, gebührt hatte: Er wurde der neue Sultan von Sansibar.

Es war Zeit, offene Rechnungen aus alten Tagen zu begleichen.

Auch die mit Sayyida Salima, die sich nun Emily Ruete nannte, der Schwester, die einst nicht nur ihn, sondern auch ihren Glauben verraten hatte.

51

MuschelEs war ein grauer Herbst in diesem Jahr für Emily, dem ein grausamer kalter Winter folgte.

Einsam war sie, denn der Graben zwischen ihr und den Ruetes wurde immer tiefer. Nur zu Geburtstagen und den Festtagen sahen sie sich noch; ein einsilbiges Beisammensein bei Kaffee und Kuchen, an dem Hermann und Johanna sich ganz ihren Enkeln widmeten, während Emily stumm am Rande saß. Aus gesundheitlichen Gründen hatte Hermann das Amt als ihr Vormund niedergelegt, und sein Sohn Johann, der sich aufgrund seiner jungen Jahre dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, tat es ihm gleich. Dr. Gernhardt wurde zu deren Nachfolger bestellt, in seiner Eigenschaft als Freund der Familie, einer der wenigen, die Emily geblieben waren.

Die Einladungen, die zu Heinrichs Lebzeiten so zahlreich ins Haus geflattert waren, wurden weniger, blieben schließlich ganz aus. Der Zauber der aufsehenerregenden Exotin, der fremdländischen Prinzessin war verflogen. Emily Ruete war nur mehr eine ganz gewöhnliche Witwe mit drei kleinen Kindern, die um ihr Überleben kämpfte. Wie so viele andere Witwen auch in dieser großen Stadt.

Emily hätte es sich auch gar nicht leisten können, Gegeneinladungen auszusprechen. Unzählige Stunden vergingen mit der Wohnungssuche und damit, ihre Ausgaben durchzurechnen und mit dem abzugleichen, was sie an Geld besaß. Dr. Gernhardt hatte die Vormundschaft zwar bereitwillig übernommen, überließ Emilys finanzielle Angelegenheiten aber dem zweiten Vormund, einem Anwalt namens Krämer, weil er als Arzt in diesen Dingen nicht bewandert war. Dieser schien sich zwar sorgfältig um die Wertpapiere zu kümmern, ließ Emily jedoch darüber im Unklaren, wie viel Geld ihr daraus denn tatsächlich zur Verfügung stand.

Farbe in diesen knochenbleichen Winter brachte die Ankunft eines Handelsschiffes aus Sansibar, dessen Matrosen die Straßen Hamburgs so lange nach Bibi Salmé absuchten, bis sie sich eines frostigen Tages vor ihrer Haustür einfanden. An diesem Abend verwandelte sich das hanseatische Haus an der Schönen Aussicht in ein sansibarisches, wo man im Schneidersitz auf dem Boden saß, aß und trank und lachte und auf Suaheli von den alten Zeiten erzählte.

In der Zeit, in der die Ilmedjidi im Hafen vor Anker lag, bis die Ladung gelöscht war und neue Waren geladen waren, bekam Emily fast täglich Besuch aus ihrer alten Heimat, der ihr das Herz wärmte und ihr die Seele nährte.

»Bibi Salmé, wie kannst du nur in einem so kalten, unfreundlichen Land leben?«

»Bibi, komm doch zurück nach Sansibar; alle Leute fragen dort nach dir!«

Worte, die ihr Balsam waren und Folter zugleich.

»Si sasa, si sasa – noch nicht, noch nicht«, lautete ein ums andere Mal ihre Antwort.

»Aber wann denn, Bibi, wann?«

»Wenn meine Kinder etwas größer sind«, wich sie dann immer aus.

Es war der Blick auf Tony, auf Said und Rosa, die ganz berauscht waren von der Fröhlichkeit und von der überschwänglichen Herzlichkeit, mit der die Matrosen aus dem fremden Land das Haus erfüllten, der Emilys Herzenswunsch, nach Sansibar zurückzukehren, ins Wanken brachte. Konnte sie ihren Kindern zumuten, dort aufzuwachsen? Wäre es nicht vielmehr Heinrichs Wunsch gewesen, sie als Christen in Deutschland großzuziehen?

Sie wusste es nicht; der Fall, dass Heinrich so früh von ihnen ging, war nie in Betracht gezogen worden. Er war eingetreten, ohne dass Heinrich sich je geäußert hatte, wie er sich die Zukunft ihrer gemeinsamen Kinder vorstellte. Mit Heinrich an ihrer Seite wären die drei auch auf Sansibar mehr deutsche denn arabische Kinder gewesen; allein mit Emily würde in der fremdländischen Umgebung ihr arabisch-muslimisches Erbe überwiegen. Dafür war Emily zu wenig Christin. Zu wenig deutsch.

Wäre dir das denn recht, Heinrich? Sie von hier fortzubringen? Ich würde dich so gern fragen … Es gibt so vieles, was ich dich noch fragen und was ich dir sagen wollte … Du fehlst uns, Heinrich. Den Kindern und mir.



Und Briefe von der fernen Insel trafen ein: von Chole, die ihren alten Groll gegen die Schwester abgelegt hatte, und von Metle, und durch die Hand eines Schreibers beschworen sie Emily, nach Sansibar zurückzukehren, wo sie doch hingehörte. Aber selbst wenn Barghash ihr erlauben würde, wieder in seinem Reich zu leben – Emily hätte nicht einmal die Kosten für die Schiffspassage aufbringen können.

»Wo soll ich denn all das Geld hernehmen?«, murmelte sie oft über den Zahlen, die ihr bedrohlich vorkamen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben litt Emily materielle Not, gar Hunger. Sie plünderte sogar die Sparbüchsen ihrer Kinder, damit sie ihnen etwas Nahrhafteres vorsetzen lassen konnte als Suppenfleisch, während sie selbst sich mit Schwarzbrot und Milch begnügte. Ein Einkommen hätte sie gebraucht, doch nichts und niemand hatte Emily je darauf vorbereitet, arbeiten zu gehen. Ihre Näherei taugte allenfalls für den Hausgebrauch, und auch sonst besaß sie keinerlei Fertigkeiten, mit denen sich etwas verdienen ließ. Ihre Annonce, mit der sie fachkundigen Unterricht der arabischen Sprache anbot, riss ein großes Loch in ihr monatliches Budget, ohne dass sich darauf auch nur ein einziger Schüler meldete.



Im Frühjahr waren alle entbehrlichen Möbel verkauft, das Personal mit Ausnahme der treuen Friederike entlassen, und Emily zog mit ihren Kindern um. Nach Altona, das ein Städtchen für sich war, hübsch anzusehen und heimelig, mit vielen Bäumen und Grünflächen und auch nicht allzu weit von der Elbe entfernt, die Emily so liebte. Die Tränen von Tony und von Said um die beiden Hunde, die sie in die Mietwohnung in der Blücherstraße nicht mitnehmen durften, und um die Ziege, für die es keinen Garten mehr gab, trockneten schnell. Mit der Anpassungsfähigkeit jungen Lebens sprangen sie an ihrem neuen Wohnort umher, als hätten sie nie einen anderen gekannt.

Nicht so Emily. Altona gefiel ihr zwar, und mit Helga hatte sie ein tüchtiges Mädchen gefunden, das aus wenigen und billigen Zutaten sättigende und durchaus genießbare Mahlzeiten zubereiten konnte und das die Wohnung tadellos in Ordnung hielt. Doch Emily litt an pochenden Kopfschmerzen, an Herzrasen und Übelkeit bis zum Erbrechen. Manchmal hatte sie so große Angst um ihre Kinder, dass sie mitten in der Nacht alle drei in ihr Bett packte, die Zimmertür von innen verriegelte und Tony, Said und Rosa die ganze Nacht im Arm hielt, damit ihnen kein Unheil geschah und sie nicht im Schlaf das Atmen vergaßen.

»Die Nerven, meine liebe Frau Ruete«, erklärte Dr. Gernhardt, nachdem er sie gründlich untersucht hatte. »Und Ihre Augen lassen nach.« Als er Emilys entsetzten Gesichtsausdruck sah, lachte er. »Ja, das kann auch schon in Ihrem Alter vorkommen. Lassen Sie sich eine Sehhilfe machen, das wird gewiss auch Ihre Kopfschmerzen lindern. Ansonsten empfehle ich Ihnen Bewegung und nochmals Bewegung. Gehen Sie an die frische Luft. Vielleicht suchen Sie sich zudem eine sinnvolle Aufgabe, damit Sie nicht nur zu Hause sitzen und grübeln.«



Um sich Augengläser anfertigen zu lassen, musste Emily nun doch eine goldene, mit Edelsteinen besetzte Schnalle an einen Juwelier verkaufen. Sie erhielt dafür einen wesentlich geringeren Betrag als erhofft, denn es wurde nur der Materialwert berechnet, nicht aber die kunstfertige Arbeit, die in dieses Schmuckstück geflossen war, deren orientalischer Stil in Hamburg ohnehin keinen Käufer finden würde. Doch was nach dem Erwerb eines Kneifers übrig blieb, reichte noch, um zweimal in der Woche von ihrer Wohnung durch die Stadt zu marschieren und in der Nähe des Thalia-Theaters bei einem pensionierten Lehrer Unterricht im Schreiben der deutschen Sprache zu nehmen. Wie Adnan sie einst heimlich in der vergessenen Bibliothek von Beit il Tani die arabische Schrift gelehrt hatte, so brachte dieser Lehrer ihr bei, sich schriftlich im Deutschen auszudrücken.

Sosehr Emily aber auch rechnete und sparte – es reichte hinten und vorne nicht. Chole und Metle hatten in ihren Briefen die traurige Nachricht übermittelt, dass etliche ihrer gemeinsamen Halbgeschwister inzwischen verstorben waren. Darunter auch Jamshid und Hamdan, denen Emily einst so nahegestanden und mit denen sie in ihrer Kinderzeit so fröhliche Jahre und so herrliche Tage auf Bububu verlebt hatte. Emily verbrachte einige Tage in Trauer und in stillem Gedenken um die immer lustigen, immer zu Scherzen und Streichen aufgelegten Brüder. Erst als Chole in ihrem nachfolgenden Brief beiläufig erwähnte, dass sie aus dem Erbe einer unverheirateten, kinderlosen Schwester ein hübsches Häuschen nebst Land geerbt hatte, zeichnete sich für Emily ein Silberstreif am Horizont ab.

Aufgrund des Familienklatsches, mit dem Chole und Metle sie nun regelmäßig versorgten, machte sich Emily eine Aufstellung der verstorbenen Geschwister, bei denen sie sich erbberechtigt glaubte, schätzte anhand ihrer Erinnerung an Häuser, Grundbesitz, kostbaren Schmuck und Bargeld ab, was ihr als Hinterbliebener laut sansibarischem Gesetz wohl zustand. Die aufaddierte Summe raubte ihr den Atem: Sie ging in die Tausende.

Da Barghash zwei vorsichtig formulierte, von schwesterlicher Zuneigung durchdrungene Briefe, in denen Emily ihn um Vergebung und Versöhnung bat, mit Schweigen quittiert hatte, trug sie noch einmal Schmuck zum Juwelier und kaufte sich im März 1872 ein Zugbillett nach Berlin.

Denn so wie man auf Sansibar mit seinem Anliegen zum Sultan ging, so wie Heinrich sich mit dem Wunsch, nach Sansibar zurückzukehren, an Konsul und Kanzler gewandt hatte, wollte Emily sich Hilfe von oberster Stelle holen.



Zu Beginn des vergangenen Jahres hatte Paris nach langer Belagerung und heftigem Beschuss kapituliert, und noch ehe der Friedensvertrag aufgesetzt war, hatten sich die deutschen Staaten des Südens mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich vereinigt. Ein gewaltiges Reich war es, das sich von Ostpreußen bis an den Rhein und vom hohen Norden Schleswig-Holsteins bis ins tiefste Bayern erstreckte. König Wilhelm I. von Preußen war zum deutschen Kaiser gekrönt worden, Bismarck war Reichskanzler, und in der Wilhelmstraße 76 zu Berlin hatte das Auswärtige Amt seinen Sitz, bei dem Emily mit ihrer Aufstellung in der Hand um Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Erbansprüche ersuchte, und sie bat auch den deutschen Konsul in Sansibar schriftlich um Hilfe, der wiederum vom Auswärtigen Amt angehalten wurde, Sultan Barghash das Anliegen seiner Schwester zu übermitteln.

Dies wurde vom Sultan abschlägig beschieden – Sayyida Salima habe ihr väterliches wie ihr mütterliches Erbteil bereits angetreten; alle weiteren Erbansprüche aus Familienbesitz habe sie mit ihrem Übertritt zum Christentum verloren. Auch davon, dass ihr noch immer drei Plantagen gehörten, wollte der neue Sultan nichts wissen.

Eine Antwort, die für Emily einer Ohrfeige gleichkam, die sie letztlich aber nur noch mehr anstachelte, weiterhin auf dem zu beharren, was sie für ihr gutes Recht hielt.

Zunächst gab es allerdings naheliegendere Dinge zu regeln. Das Leben in Hamburg erwies sich auf die Dauer einfach als zu teuer. Was Emily an Geld zur Verfügung stand, reichte nicht für Miete und für Kohlen, für die Löhne von Helga und Friederike; für Brot und Milch und Eier, für Kleidung und Schuhe für die Kinder, die wuchsen wie Unkraut im Frühling. Emily mochte gar nicht erst daran denken, wie es werden sollte, wenn Tony, Said und Rosa alt genug sein würden, um in die Schule zu gehen, wenn sie Schulgeld brauchten, Bücher und Kreide und Schiefertafeln. Wovon sollte sie das bezahlen?



In der Provinz ließ es sich billiger leben, hieß es. Einfacher zwar und in mancher Hinsicht beschränkter, aber auch für einen kleinen Geldbeutel erschwinglich. Darmstadt sollte ein besonders angenehmer Ort sein, hatte Emily gehört. Hauptstadt des Großherzogtums Hessen, florierte nach dem Ende des Krieges hier die Wirtschaft, ohne dass die Preise dabei in die Höhe schnellten. Gesegnet mit mildem Klima und eingebettet in eine liebliche Landschaft, versprach Darmstadt ein angenehmes Leben. Und nachdem Emily bereits die Fahrt nach Berlin und zurück gemeistert hatte, bestieg sie um sechs Uhr morgens den Zug, der sie in den Süden Deutschlands brachte.

Anderntags stand sie früh auf und fragte die Wirtin der kleinen Pension nach den Preisen für Butter und Fleisch aus. Diese hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, wollte vielmehr wissen, was sie nach Darmstadt geführt habe und wie sie bisher so gelebt habe. Zwar äußerte die Wirtin in dem lockeren Singsang der hiesigen Mundart Mitgefühl für Emilys Witwenstand, aber die Art, wie diese sie unverhohlen musterte, verunsicherte Emily, sodass sie, als sie schließlich auf die Straße trat, erst einmal prüfend in die nächste Fensterscheibe blickte, ob sie auch vollständig angekleidet und unter ihrem Hütchen ordentlich frisiert war.

Die Zeitung mit den Wohnungsannoncen in der Hand, fragte sie sich zu der ersten Adresse durch, stieg die Stufen empor und wartete einige Augenblicke vor der Tür, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und sie im Geiste noch einmal ihre zurechtgelegten Sätze durchgegangen war, ehe sie schließlich läutete.

»Ja?« Eine nicht mehr ganz junge Frau öffnete, wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze ab und sah Emily misstrauisch an.

»Guten Tag«, begrüßte Emily sie freundlich, bestrebt, einen guten Eindruck zu machen, und den dumpfen Geruch nach gekochtem Kohl ignorierend, der zu ihr herüberwaberte. »Ich komme wegen der Wohnung.«

Das Misstrauen im Blick der Frau vertiefte sich. »Eiwokommesedennheer?«

Emily blinzelte verwirrt. Sie brauchte einige Augenblicke, um aus dem weichen Brei des Dialektes die Bedeutung dieser Frage freizulegen.

»Aus Hamburg«, antwortete sie mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es möglichst entwaffnend wirkte. »Ich bin gestern am späten Abend eingetroffen.«

»Naaa«, machte die Frau unwirsch, bemühte sich aber um eine deutlichere Aussprache. »Wo stamme Se eischendlisch heer?« Emily spürte förmlich, wie die blassen Augen ihres Gegenübers sich in ihrem Gesicht festsaugten. »Doch ned etwa aus Affriga?«

Noch ehe Emily sich überlegt hatte, ob es von Vorteil oder eher von Nachteil sein mochte, wenn sie ihre Herkunft von Sansibar angab, blaffte die Frau: »Mer vermiete ned an Neescher!«

Und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.



Das nächste Haus war nicht nur besser gepflegt, die Sprache des Ehepaars, das ihr öffnete, verständlicher, auch der Empfang war viel freundlicher. Emily wurde sogar in die gute Stube gebeten und bekam einen Kaffee vorgesetzt. Und aufgrund der ersten Erfahrung antwortete sie sogleich, als die Frage nach ihrer Herkunft aufkam: »Aus Hamburg. Aber ursprünglich aus Südamerika, aus Valparaíso.«

»Sind Sie verheiratet?«, fragte die Vermieterin.

»Ich bin Witwe«, antwortete Emily mit aufrichtiger Trauer in der Stimme.

»Haben Sie Kinder?«, wollte ihr Ehemann wissen.

»Drei«, gab Emily zur Auskunft, und als sie den entsetzten Blick sah, den die beiden tauschten, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Es sind ganz entzückende und brave Kinder, keine lärmenden Rabauken.«

»Haben Sie denn Bekannte oder Verwandte hier in Darmstadt?«, erkundigte sich die Frau des Hauses weiter.

»N-nein«, stammelte Emily, plötzlich auf der Hut.

»Ja, meine liebe Frau … äh … Dings«, brummte der Hausherr und schaufelte Zucker in seine Tasse. »Wie stellen Sie sich das denn vor? So ganz ohne Empfehlung? An wen sollen wir uns denn halten, wenn Sie uns die Miete schuldig bleiben?«

»Aber ich habe nicht vor, Ihnen die Miete schuldig zu bleiben!« Emily war richtiggehend erschüttert. »Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen für den ersten Monat schon im Voraus geben!«

Die Vermieterin fühlte sich sichtlich unbehaglich und nestelte an ihrer Halskette. »Sie müssen uns auch verstehen – ich meine, so ganz ohne Sicherheiten … eine fremde Familie im Haus …«



Emily bekam die Wohnung nicht. Auch nicht die nächste und die übernächste. Stets spielten sich die Vorstellungsgespräche nach demselben oder zumindest ähnlichen Muster ab. Emily konnte keine Empfehlungen vor Ort vorweisen, und als Witwe mit drei Kindern schien sie ebenfalls keine erwünschte Mieterin zu sein. Vor allem die ständigen Erkundigungen nach ihrer Herkunft, in der unausgesprochen Misstrauen wegen ihres dunklen Teints und dem schwarzen Haar mitschwang, machten ihr zu schaffen. Als sie im nächsten Mietshaus wieder danach gefragt wurde, lag es ihr auf der Zunge, patzig zu erwidern: Natürlich vom Mond, was dachten Sie denn?!

Müde und mit schmerzenden Füßen langte sie abends in der Pension an und brach gleich in der Frühe wieder gen Hamburg auf.

Den Kopf gegen das kalte Glas der Scheibe gelehnt, ihre kleine Reisetasche auf dem Schoß, ruckelte Emily auf der harten Holzbank der dritten Klasse durch Deutschland, zurück in den Norden. Entmutigt und wütend, ein wenig beschämt, dass sie so schnell aufgegeben hatte, und vor allem ohne eine Aussicht, wie es nun für sie weitergehen sollte, starrte sie in die vorüberzuckelnde Landschaft hinaus, die so einladend und so lieblich wirkte. So gar nicht wie die Menschen, denen sie gestern begegnet war.

Sind die Deutschen alle so? Voller Misstrauen gegen jeden, der kein Vollblutdeutscher ist?

Vielleicht war es ein Fingerzeig des Schicksals, dass sie sich in diesem Augenblick an eine Dame erinnerte, der sie einmal auf einer Hamburger Gesellschaft begegnet war und die durch ihr offenes Wesen und ihre ungekünstelte Art bei Emily einen angenehmen Eindruck hinterlassen hatte. Die Baronin von Tettau stammte aus Dresden und hatte die Stadt als schön und liebenswert beschrieben. Und noch an etwas anderes dachte Emily während dieser Zugfahrt. Als sie zum wiederholten Male im Hamburger Senat vorgesprochen hatte, um mit allen möglichen Einwänden eine Aufhebung der Vormundschaft zu erwirken, hatte man ihr hochnäsig zur Antwort gegeben: »Gesetz ist Gesetz, gnädige Frau. Und wenn Ihnen die Gesetze dieser Stadt nicht passen, suchen Sie sich doch einen Ort, wo Ihnen diese besser behagen.«

Ob Dresden dieser Ort war?



Die Baronin antwortete herzlich auf Emilys Brief – natürlich erinnere sie sich an die liebe Frau Ruete! – und gab bereitwillig und äußerst ausführlich Auskunft auf Emilys Fragen, was das Leben in Dresden betraf. Und lud sie in einem ihrer nächsten Briefe gar ein, sie dort zu besuchen, die Stadt anzusehen und zusammen mit ihr Wohnungen zu besichtigen. Als Stadt der Musik und der Kunst wurde Dresden schwärmerisch »das Florenz des Nordens« genannt, wegen der dominierenden Kuppel der Frauenkirche, den barocken Schnörkeln und Ornamenten, den Farben von weichem Weiß und Terrakotta. Emily war nie in Florenz gewesen, aber sie fand durchaus, dass ihre geliebte Elbe, die die Stadt durchfloss, die sanften Hügel, in die sie eingebettet lag, Dresden eine südliche Note verliehen. Hier lag etwas Heiteres, Beschwingtes in der Luft, und sie mochte den Zungenschlag der Menschen, der weich war und drollig klang.

Obwohl in Dresden gerade nicht die günstigste Zeit war, um eine neue Bleibe zu finden, und Emily auch hier mit scheelen Blicken gemustert wurde, half ihr die Anwesenheit der Baronin. Gemeinsam besichtigten sie eine sehr schöne Wohnung, groß, hell und freundlich – eigentlich zu groß, allein für Emily und die Kinder, und vor allem zu teuer. Wenn sie allerdings zwei der Zimmer untervermieten könnte, würde es womöglich gehen … Dass die Vermieterin eine gebürtige Hamburgerin war, erschien ihr wie ein weiterer Wink des Schicksals, und so war der Umzug nach Dresden eine beschlossene Sache.

Blicken gemustert wurde, half ihr die Anwesenheit der Baronin. Gemeinsam besichtigten sie eine sehr schöne Wohnung, groß, hell und freundlich – eigentlich zu groß, allein für Emily und die Kinder, und vor allem zu teuer. Wenn sie allerdings zwei der Zimmer untervermieten könnte, würde es womöglich gehen … Dass die Vermieterin eine gebürtige Hamburgerin war, erschien ihr wie ein weiterer Wink des Schicksals, und so war der Umzug nach Dresden eine beschlossene Sache.

Voll neuer Zuversicht fuhr Emily zurück nach Hamburg, um ihre Sachen zu packen.



Hamburg machte ihr noch ein Abschiedsgeschenk: Am 1. Mai 1872 durfte Emily den Bürgereid ablegen und war somit nicht nur offiziell in Hamburg anerkannt, sondern auch Bürgerin des Deutschen Kaiserreiches. Emily vermutete, dass das Auswärtige Amt in Berlin den Senat dahingehend angewiesen hatte, quasi als Entschädigung dafür, dass Emilys Anliegen, an das Erbe ihrer toten Geschwister zu kommen, ihren Grundbesitz wieder für sich zu beanspruchen, bei Sultan Barghash weiterhin auf taube Ohren stieß.

Emily kehrte Hamburg nicht ungern den Rücken. Dieser Stadt, von der sie einst auf Sansibar solch schwärmerische Träume gehegt hatte und die nun, fünf Jahre nachdem sie sie zum ersten Mal betreten hatte, gepflastert war mit den Scherben ihrer zerbrochenen Träume und getränkt von all den Tränen, die sie hier geweint hatte. Nichts hielt sie mehr in Hamburg.

Allein der Abschied von Heinrichs Grab fiel ihr schwer.

Doch was bedeutete schon ein Grab, wenn sie Heinrich weiterhin in ihrem Herzen trug? Die Erinnerung an Heinrich und an die Liebe zu ihm nahm sie mit.

Mit nach Dresden und an all die anderen Orte, an die ihr Lebensweg sie noch führen sollte.