Entwurzelt

Liebe ist wie ein Husten – sie kann nicht verheimlicht werden.

SPRICHWORT AUS SANSIBAR

26

Muschel»Ihr müsst diesem unsittlichen Treiben endlich Einhalt gebieten, Hoheit!«

Mehrere der Minister des Sultans, die auf der Veranda von Beit il Sahil zusammengekommen waren, brummten zustimmend.

Die Augenbrauen von Sultan Majid hoben sich. »Haltet Eure Zunge im Zaum, werter Minister! Ich werde es nicht dulden, dass Ihr eine meiner Schwestern ungerechtfertigt anstößigen Verhaltens bezichtigt!«

Sulayman bin Ali schnaubte. »Ungerechtfertigt, Hoheit? Ich habe Euch doch berichtet, wie Sayyida Salima nächtelang von Dach zu Dach mit dem Deutschen tuschelt und flüstert. Dutzende und Aberdutzende von Zeugen haben es bestätigt!«

»Der freundschaftliche Umgang mit Andersgläubigen ist eine alte Sitte unserer Familie. So hat es mein Vater gehalten, so wurden wir als seine Kinder erzogen, und so setzen wir die Tradition auch fort!« In der Stimme des Sultans lag eine ungewohnte Schärfe.

»Nun, Hoheit«, erwiderte Sulayman bin Ali hämisch, »wie weit dürfte der freundschaftliche Umgang einer Sayyida mit einem Manne in Euren Augen gehen? Mit einem Ungläubigen gar? Etwa so weit, dass sie keine Scham kennt, in sichtlicher Vertrautheit allein mit ihm auf dem Land oder am Strand spazieren zu gehen?«

Schweißperlen traten auf Majids Stirn. »Das kann sich nie und nimmer so zugetragen haben!«

»Aber ja, Hoheit.« Zufriedenheit zeigte sich auf der Miene seines obersten Ministers. »Auch dafür gibt es Zeugen – für mehr als nur eine Zusammenkunft der beiden unter vier Augen. Genauso wie dafür«, fuhr er fort, »dass besagter Ungläubiger mehr als eine Nacht auf dem Landgut verbracht hat.«

Der Sultan erhob sich und trat an die Balustrade. Unruhig nestelten seine dürren Hände an dem Krummdolch, den er in der Taillenschärpe seines Gewandes stecken hatte. »Infame Lügen«, murmelte er. »Nichts als Intrigen und üble Nachrede schändlicher Personen, die meiner Schwester und damit mir zu schaden trachten.« Doch er war kalkweiß geworden unter seiner ohnehin schon aschenen Hauttönung.

Sulayman bin Ali straffte sich. »Vergesst nicht, Hoheit: Schon einmal hat Sayyida Salima Verrat an Euch begangen. Was liegt näher, als dass sie ihren Weg der Verderbnis fortsetzt?«

»Genug!«, brüllte Majid und hieb auf das Geländer der Veranda, eine Geste, die eher verzweifelt wirkte denn zornig.

Doch es war noch nicht genug. Es war noch nicht alles gesagt. Nicht für Sulayman bin Ali, dem Frauenzimmer von lockerem Lebenswandel ein Gräuel waren, auch und gerade wenn es sich um eine Schwester seines Sultans handelte. Wie er überhaupt befand, dass Sultan Majid die Zügel auf Sansibar ruhig strammer anziehen könnte, was Sittenstrenge und Frömmigkeit betraf. »Es heißt, Sayyida Salima trage bereits das Kind des Deutschen unter ihrem Herzen.«

Der Sultan wandte sich langsam um, und seine Augen funkelten vor Hass.

»Ich will aus ihrem Munde hören, was sie dazu zu sagen hat. Sie soll sich in die Stadt begeben! Auf der Stelle!«



Salima lag zusammengerollt auf ihrem Bett und blickte aus dem Fenster, hinauf in den Nachthimmel. In vollkommene Schwärze, von einzelnen Blitzen brutal zerschnitten. Sie lauschte in den Regen, der herabrauschte, immer wieder übertönt vom Krachen des Donners.

Als ob die Welt unterginge … Meine Welt.

Majids Aufforderung, unverzüglich von Kisimbani in die Stadt zurückzukehren, war nicht als Bitte eines Bruders an seine Schwester zu verstehen gewesen. Es war der Befehl des Sultans an seinen Untertanen, und Salima hatte gehorcht. Drei Tage war sie nun schon wieder hier, in diesem hässlichen Haus, doch noch immer hatte Majid sie weder aufgesucht noch sie zu sich gebeten. Was Salima als kein gutes Zeichen wertete. Nicht, nachdem sie unter Getuschel und vielsagenden Blicken hier eingetroffen war. Sie zwang die Übelkeit hinunter, die in ihr aufwallte und von der sie wusste, dass sie allein von ihrer Angst herrührte. Von nichts sonst. Sie kannte den Unterschied mittlerweile.

Ihre weiße Katze, die sich in ihrem Schoß zu einem Fellball zusammengerollt hatte, streckte sich behaglich und begann mit einer Pfote auf Salimas Ärmel zu tapsen. Die ausgefahrenen Krallen verhakten sich in dem feinen Stoff und lösten sich unter leisem Knistern und leichtem Rucken wieder.

»Nicht, Liebchen«, murmelte Salima matt. »Ich mag jetzt nicht spielen. Ich bin müde.«

Mit Müdigkeit hatte es begonnen, doch Salima hatte auch alle anderen Zeichen sehr schnell zu deuten gewusst. Noch ehe eine Schwerfälligkeit ihre Glieder erfasst hatte und sie dazu zwang, sich vorsichtiger zu bewegen, ihr Leib ein Gefäß für ein kostbares Gut.

Salima trug ihr eigenes Todesurteil in sich.

Das Köpfchen der Katze fuhr auf. Sie schien zu lauschen, ins Haus hinein. Mit einem Satz war sie vom Bett herunter und um den Türrahmen herum im Dunkeln verschwunden. Jetzt konnte Salima auch die Stimmen unten hören, verzerrt durch die Geräusche des Regens und des Donnergrollens. Erschöpft vom Warten, müde von der Last der Hoffnungslosigkeit, setzte sie sich langsam auf und horchte auf die Schritte, die schwer die Treppe heraufkamen.

Gnadenlos leuchtete ein Blitz in den Raum, gerade lang genug, dass Salima einen Blick auf Heinrich erhaschen konnte, der im Türrahmen stand, barhäuptig und bis auf die Haut durchnässt.

»Ich war gerade erst in die Stadt zurückgekehrt und bin sofort nach Kisimbani hinausgeritten«, hörte sie ihn tonlos sagen. »Dort sagte man mir, du seist hier.« Er schien um Fassung zu ringen. »Ist es wahr? Ist es wahr, was wie ein Lauffeuer durch die Stadt geht?«

Salima zog die Knie an die Brust und umschlang sie fest. Ihr Schweigen war lauter als ein Donnerhall; beredter vor allem.

Schwer atmend ließ Heinrich sich auf der Bettkante neben ihr nieder. »Wann ist es so weit?«

Salima musste nicht erst nachrechnen. »In etwas über fünf Monaten.« Noch ein paar Wochen, dann lässt es sich nicht mehr verbergen. Dann wird aus dem Gerücht allzu sichtbare Wahrheit.

Heinrich nickte. Die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, spielte er mit seinem Hut, von dem es auf den Boden tropfte. »Warum … Warum hast du mir nichts gesagt?«

Weil Salima gehofft hatte, dass ihm geringere Schuld angelastet würde, wenn sie ihn so weit wie möglich heraushielte, und dass er vielleicht unbehelligt bliebe. Weil sie nicht wollte, dass er ihretwegen alles verlor, was er sich in diesen Jahren auf Sansibar eigenhändig aufgebaut hatte. Weil sie plötzlich Zweifel hatte, ob es ihm wahrhaftig ernst war mit »Ich liebe dich« und »Ich will mein Leben mit dir verbringen«, und sie ihn nicht gegen seinen Willen mit dem Kind an sich ketten wollte.

Noch bevor sie ein Wort über die Lippen gebracht hatte, legte Heinrich den Arm um sie, zog sie mit dem anderen Arm an sich und hielt sie fest. Sein Atmen wurde zu einem verhaltenen Schluchzen, und er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ich wende mich an O’Swald«, murmelte er. »Dort wird man uns helfen.«

O’Swald & Co., in Hamburg gegründet, war die zweite deutsche Handelsgesellschaft gewesen, die sich auf Sansibar niedergelassen hatte, drei Jahre nach Salimas Geburt, und seit sieben Jahren stellte sie den Konsul der Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen auf der Insel.

»Wir lassen uns trauen, sobald es geht. Als meine Frau werden sie dir nichts mehr anhaben können.«

Salimas Finger krallten sich in seinen triefend nassen Jackenärmel. »Heinrich, du musst mich nicht …«

»Ich will es aber«, fiel er ihr ins Wort, legte seine Stirn an die ihre. »Unser Kind ist nicht der alleinige Grund. Doch es zwingt uns, das zu tun, was wir schon längst hätten tun sollen.« Er schluckte. »Willst … Willst du denn meine Frau werden?«

»Ja, Heinrich.« Ohne Zaudern, ohne Zagen kam ihre Antwort.

Er küsste sie, drückte sie an sich, spürbar vorsichtig, als fürchtete er, dem Ungeborenen Schaden zuzufügen, geriete seine Umarmung zu fest.

»Ich bring dich in Sicherheit, Bibi Salmé.«

27

MuschelDie Pendeluhr hinter Glas tickte bedächtig, so als müsste auch sie Für und Wider abwägen, doch dann begann sie die Stille zu zerhacken, die sich im Kontor der Firma O’Swald ausbreitete, nachdem Heinrich Ruete dort sein Anliegen vorgebracht hatte.

Während er auf eine Antwort seines Gegenübers wartete, ließ Heinrich seine Blicke unauffällig durch den Raum wandern, dessen gediegenes Mobiliar geradewegs aus Hamburg zu kommen schien. Wäre die schweißtreibende Hitze nicht gewesen, die zum Schneiden dick im Raum stand und aus dem Kontor einen Backofen machte, wären die Wände nicht so nackt und weiß gewesen und nur mit einzelnen gerahmten Landkarten und Seestücken in Öl behängt und hätte es Tapeten, Teppiche und Vorhänge gegeben, dann hätte er fast glauben können, sich in seiner Heimatstadt zu befinden und nicht an der ostafrikanischen Küste. Er musste sich zwingen, ruhig sitzen zu bleiben, und mit jedem Ticktack, Ticktack, das in seiner Monotonie und in der lauernden Unendlichkeit das Schweigen noch bedrückender machte, schwand seine Zuversicht. Man hatte ihn im Hause O’Swald spürbar unwillig empfangen und nach einer unhöflich langen Wartezeit in das Kontor eines der Bevollmächtigten geleitet, der gleichzeitig das Amt des Konsuls innehatte.

»Nun, Herr Ruete«, begann John Witt schließlich, richtete einige beschriebene Bögen vor sich auf dem Schreibtisch genau parallel zueinander aus, räusperte sich und begann erneut: »Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass mir Ihr Ansinnen, mit dem Sie heute hier vorstellig geworden sind, doch recht befremdlich erscheint.«

Heinrich war sich wohl bewusst, dass er sich in einer denkbar schlechten Verhandlungsposition befand. Er saß vor dem massiven Schreibtisch, der Würde und Handelsmacht demonstrierte und sie auf den Mann auf der anderen Seite übertrug, der augenscheinlich deutlich jünger war als er selbst, und kam sich vor wie ein demütiger Bittsteller. Wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hatte und nun vor den gestrengen Rektor zitiert wurde. Ein Gefälle der Autorität entstand, das dadurch, dass Heinrich der Ältere war und über größere Erfahrung hier in Afrika verfügte, merkwürdig schief wirkte, und daran hatte er, der gewiefte Kaufmann, schwer zu schlucken.

»Nichts anderes hatte ich erwartet, Herr Witt«, erwiderte er trotzdem wahrheitsgemäß. Nicht auf Milde hoffte er, nicht auf Vergebung, nur auf Hilfe. Nicht durch Worte, sondern durch Taten. »Dessen ungeachtet bin ich hierhergekommen und habe mich Ihnen anvertraut.«

John Witt lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sodass das von der feuchten Meeresluft nachgegerbte Leder überlaut knarzte. »Ausgerechnet unserem Hause, Herr Ruete. Dem Sie erst unlängst mehrere fähige Agenten für Hansing & Co. abgeworben haben.«

»Geschäft ist Geschäft, Herr Witt«, entgegnete Heinrich, ohne eine Miene zu verziehen. »Und heute bin ich privat hier, in meiner Eigenschaft als gebürtiger Hamburger, der Schutz und Hilfe der hanseatischen Vertretung auf Sansibar benötigt.«

Die hellen Augen seines Gegenübers verengten sich. »Gehe ich recht in der Annahme, dass die besagte Person, um die es Ihnen hier geht, erst vor einigen Tagen meine Gattin aufgesucht und bei dieser Gelegenheit eine ähnliche Bitte vorgebracht hat?«

John Witt hatte sich zunächst nichts dabei gedacht, als seine »kleine Frau«, wie er sie durchaus auch in Briefen an die Firmenführung zu bezeichnen pflegte, ihm eines späten Abends aufgeregt berichtet hatte, dass ihr eine Schwester des Sultans höchstselbst einen Höflichkeitsbesuch abgestattet hatte. Er hatte sich sogar aufrichtig gefreut für seine Gattin, dass sie einen solchen Glanzpunkt in ihrem ewig gleichen Tagesablauf bekommen hatte. Eine Abwechslung zwischen den Partien Whist mit anderen Kaufmannsgattinnen, mit denen sie sich die Langeweile vertrieben und sich von der Hitze ablenkten. Erst die ungeschickten Versuche seiner Ehefrau, ihn schmeichlerisch um den Finger zu wickeln, damit der »bedauernswerten Person« in ihrer bedauerlichen Notlage beigestanden würde, ließen Witt hellhörig werden, und da zudem die Gerüchteküche der Stadt brodelte, zählte er schließlich eins und eins zusammen.

»Das ist in der Tat der Fall, Herr Witt. Worauf Ihre verehrte Gattin empfahl, Sie um Hilfe zu ersuchen. Was ich hiermit noch einmal nachdrücklich tue.«

John Witt gab ein flaches Auflachen von sich und zog dabei einen Mundwinkel in die Höhe. »Bei allem Respekt, Herr Ruete, Ihre Bitte ist nicht anders als anmaßend und obendrein als unklug zu bezeichnen. Wenn Sie einen Rat von mir wollen, so empfehle ich Ihnen, mit Ihrem kleinen Techtelmechtel anderweitig zurande zu kommen. Mit Geld beispielsweise, woran es Ihnen gewiss nicht mangeln dürfte. Araber wie Schwarze hier sind doch allesamt käuflich. Zahlen Sie dem Sultan eine gewisse Summe, Ihrer – Ihrer Geliebten ebenfalls, und Sie sind fein raus.«

»Meiner Verlobten«, berichtigte Heinrich, wofür er von John Witt einen fassungslosen Blick erntete. Doch Heinrich fuhr fort: »Ich bitte nicht um Hilfe für mich noch um Hilfe für die Schwester des Sultans. Sondern allein um Hilfe für meine zukünftige Gattin. Gewähren Sie ihr und ihren Habseligkeiten eine Passage auf dem nächsten Ihrer Schiffe, das sie außer Landes bringen kann.«

»Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen, Mann!«, entfuhr es John Witt. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf, tat ein paar Schritte durch den Raum. »Ist Ihnen nicht klar, wie sich eine solche Fluchthilfe durch uns auf die Beziehungen zwischen dem Sultan und den Europäern auswirken könnte? Für uns Händler insbesondere?«

»Niemand braucht je davon zu erfahren, Herr Witt. Niemand darf davon erfahren.«

Während Heinrich den Weg des O’Swald’schen Agenten durch das Kontor verfolgte, witterte er mit seinen geschulten Sinnen, dass ein Geschäft in der Luft lag. »Ich würde Sie nicht darum ersuchen, wenn es nicht um Leben und Tod ginge«, sagte er eindringlich. »Ihr würdet damit ein Leben vor dem sicheren Tod retten.«

Zwei sogar – das von Bibi Salmé und das unseres ungeborenen Kindes.

Er hielt es für ratsam, Salimas Schwangerschaft nicht zu erwähnen, obwohl er annehmen musste, dass man im Hause O’Swald bereits darüber im Bilde war. Schließlich griff er zu dem Argument, das stets das gewichtigste war für Männer vom Schlage eines John Witt: »Eine Passage für meine Verlobte und für zwei Dienerinnen und etwas Gepäck, die ich der Firma O’Swald & Co. gut bezahlen würde. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

John Witt fuhr sich mit dem angewinkelten Zeigefinger nachdenklich über die Unterlippe. »Und was wird aus Ihnen, Ruete?«

Heinrich senkte den Blick auf seinen Hut, den er in den Händen hielt. Der Schwachpunkt seines Plans, an den John Witt noch zusätzlich gerührt hatte durch die nur halb formelle Anrede, die etwas Vertrauliches, aber auch Herablassendes hatte. »Erst muss meine Verlobte in Sicherheit sein«, entgegnete er ausweichend.

28

MuschelNoch ehe John Witt ein Schiff aufgetan hatte, auf dem Salima die Insel verlassen konnte, erhielt sie endlich die gleichermaßen befürchtete wie erhoffte Nachricht: Majid befahl sie für den nächsten Tag zu sich nach Beit il Sahil.

In der Nacht davor fand Salima keinen Schlaf. Wieder und wieder ging sie im Geiste durch, wie sie vor ihren Bruder treten sollte – aufrecht und stolz oder lieber demütig – und wie sie ihre Worte wählen sollte, um ihren Bruder milde zu stimmen.

Indes, Salimas Gedankenspiele, das Einstudieren von Haltung, Gestik und Mimik, ihre sorgsam zurechtgelegte Rede, die vorbereiteten Antworten auf mögliche Fragen waren umsonst gewesen. Majid hatte sich in seiner launischen Art anders besonnen und seine Schwester Khaduj vorgeschickt.

Schweigend musterten sich die Halbschwestern. Khaduj, von einer Anzahl Leibdiener und Sklavinnen umringt, ihr ovales Gesicht mit den vollen Lippen ein feminineres Abbild des Bruders und, wie alle Sultanskinder tscherkessischer Abstammung, großgewachsen, starrte Salima unverhohlen hasserfüllt an, während ihre viel jüngere Halbschwester zwischen Hoffen und Bangen schwankte, unsicher, was Khadujs Besuch für sie bedeuten mochte.

»Schön, dich zu sehen, Schwester«, begann Salima schließlich zögerlich. »Ich wollte heute ohnehin zu euch nach Beit il Sahil kommen, auf Geheiß von Majid.«

»Dich hätte dort niemand Geringeres erwartet als dein Henker«, kam es ohne Umschweife von Khaduj. »Um auf Befehl unseres Bruders deinem sündhaften Leben das wohlverdiente Ende zu setzen.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Salima, weiß um Mund und Nase. »Majid würde mir so etwas niemals antun – niemals!«

Khadujs volle Lippen krümmten sich zu einem gehässigen Lächeln. »Eigens für dich hat er einen Kulfah von der Küste kommen lassen, der sein Handwerk versteht.«

Salima glaubte, der Steinboden gäbe für einen Augenblick unter ihr nach. Die Männer vom Stamme der Kulfah waren Riesen, an die sechseinhalb Fuß groß, muskelbepackt und bekannt dafür, dass sie geschickt waren im Umgang mit dem Schwert. Es hieß, die Klinge eines Kulfah vermochte den Hals eines Menschen so mühelos zu durchtrennen, als wäre er ein Grashalm.

»Dein Glück, dass dies den Witwen unseres Vaters nicht verborgen geblieben ist«, fuhr Khaduj fort. »Sie haben sich bei Majid für dich verwendet und ihn gebeten, deine Hinrichtung auszusetzen, bis deine Schuld zweifelsfrei bewiesen sei.«

Salima ließ ihre Augen über die Sklavinnen schweifen, die Khaduj mitgebracht hatte, die Leibdiener, die Dolch und Schwert bei sich trugen, dann über ihre eigenen Dienstboten. Sie wusste, was ihnen bevorstand: Unter Androhung der Folter würde jeder Mann, jede Frau im Haushalt gezwungen werden auszusagen, was sie über den Zustand ihrer Herrin wussten, und sie selbst würde von Khadujs Begleiterinnen entkleidet und untersucht werden, notfalls unter Zwang. Ihre Lider schlossen sich kurz, als der Raum um sie zu kreisen begann, doch sie zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben, wartete, bis der Schwindel sich legte, und sah Khaduj schließlich offen an.

»Ihr braucht euch nicht um Beweise zu bemühen, Khaduj. Es ist wahr, was euch in Beit il Sahil zu Ohren gekommen ist: Ich trage ein Kind in mir.«

»Erwarte keine Milde allein dafür, dass du dich zu deiner Schuld bekennst«, fuhr Khaduj sie barsch an und zog aus den Falten ihres Gewandes einen Brief hervor. Salima nahm ihn entgegen und entfaltete ihn. »Unser Bruder in seiner Weisheit und Güte gab mir diesen Brief hier für dich mit, für den Fall, dass all die Gerüchte sich nicht als Verleumdungen erweisen.«

»Er will mich nach Mekka schicken?«, entfuhr es Salima rau, als sie das Blatt wieder sinken ließ.

»Eine Pilgerfahrt zum Zeichen, dass du deine Sünden aufrichtig bereust und Allah um Vergebung bittest«, bestätigte Khaduj. »Für die Zeit der Vorbereitungen bis zu deinem Aufbruch hat er mich zu deiner Hüterin in diesem Hause bestellt.«

Salimas Muskeln verkrampften sich, als sie versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das in ihr emporkroch. Sie hatte Geschichten gehört, von Frauen und Mädchen wie ihr, die in Sünde empfangen hatten und die ebenfalls auf Pilgerfahrt an die heilige Stätte ihres Glaubens, an den Geburtsort des Propheten, geschickt worden waren. Keine, so erzählte man sich, sei je dort angelangt, geschweige denn wieder von dort zurückgekehrt. Was bislang eine unbestimmte Bedrohung gewesen war, hatte nun greifbare Gestalt angenommen, und Salima glaubte schon die kalte Klinge an ihrer Kehle zu spüren. Ihre Finger krallten sich in das Papier und zerknüllten es, schleuderten es zornig durch den Raum.

»Was ist das für eine Welt, in der eine Liebe mit dem Tod bestraft wird?« Sie schrie jetzt fast. »Ich habe niemanden getötet, und ich habe niemanden bestohlen. Ich habe immer aus tiefster Seele meine Gebete verrichtet und alle Gebote unserer Heiligen Schrift geachtet. Es war Allahs Wille, dass ich diesem Mann begegnet bin, dass wir einander gefunden haben. Und darauf soll der Tod stehen?!« Schwer atmend funkelte sie ihre Halbschwester an. »Ihr könnt mir viel erzählen, du und Majid, aber nicht, dass euer Gewissen unbefleckt bleiben wird, wenn ihr mich in den Tod schickt. Eure eigene Schwester!«

Sie sah, wie sich unter Maske und schele etwas in Khadujs Gesicht anspannte. Dann bedeutete diese ihrem Gefolge mit einem Rucken des Kopfes, sich zu entfernen. Die fragenden Blicke ihrer eigenen Dienerinnen beantwortete Salima mit einem Nicken, und gleich darauf waren die beiden Schwestern allein.

»So warst du schon immer«, ließ Khaduj sich nach einer Weile leise vernehmen, während sie an das Fenster trat. »Eigensinnig und unbeugsam. Ich habe immer befürchtet, dass es mit dir einmal ein böses Ende nehmen wird.« Sie seufzte. »Bereust du deinen Frevel wenigstens?«

Salima zögerte. Vermochte eine Lüge sie womöglich zu retten? Eine vorgeschobene Bußfertigkeit, eine falsche Demut? »Ich bedaure, dass daraus nun so Schreckliches erwächst«, erklärte sie, als sie sich neben ihre Schwester an das Fenster stellte. »Aber ich bedaure nicht, was ich getan habe. Das nicht.«

Um Khadujs Mundwinkel zuckte es. »Bedeutet dir dieser Mann wahrhaftig mehr als deine Familie? Mehr als unsere Traditionen und Glaubensregeln?«

Auch Salimas Lippen kräuselten sich und verzogen sich unschlüssig, dann sagte sie: »Lasst ihr mir denn eine andere Wahl? Er hat mich nie zu etwas gezwungen, er hat nie etwas gefordert, und er hat mich nie bedroht, er ist mir stets mit Achtung und Zuneigung begegnet. Und ihr? Was tut ihr?«

Khaduj schlug die Augen nieder. Salima stellte fest, wie wenig sie doch über ihre Schwester wusste, obwohl sie lange Zeit unter einem Dach gewohnt, später einander besucht und so viel miteinander geteilt hatten. Khaduj schien immer vollauf zufrieden gewesen zu sein mit ihrem Los, erst als Erste Frau in Beit il Watoro, dann als Schwester des Sultans. Doch was Khaduj insgeheim dachte, was sie ersehnte, begehrte, wünschte, das war immer im Verborgenen geblieben.

»Du hättest Sansibar schon vor langer Zeit verlassen sollen«, bemerkte Khaduj sanft, und etwas in ihrem Tonfall ließ Salima aufhorchen. »Da ist etwas in dir, das dich nicht in deinen Grenzen hält, etwas, das dich geradezu in die Fremde drängt.«

»Hilf mir, Khaduj«, wisperte Salima in den Riss hinein, der sich in der harten Fassade ihrer Schwester gezeigt hatte und der sich langsam ausbreitete. »Ich bitte dich, hilf mir und meinem Kind.«

Obwohl Khaduj regungslos auf der Stelle stand, vermeinte Salima wahrzunehmen, wie diese innerlich in Bewegung geriet. Als brächen mit jedem Atemzug weitere Sprünge und Spalten in ihrem Panzer auf, der dick und verhornt war wie bei einer Schildkröte und hinter dem sich ihre Menschlichkeit verbarg.

»Ich beneide dich, Salima«, flüsterte Khaduj. »Um deine Unerschrockenheit. Um deinen Mut, allen die Stirn zu bieten. Und um das Leben, das noch vor dir liegt.«



Die Freiheit schien für Salima zum Greifen nahe. Eine Freiheit, die sie in dieser Form nie ersehnt hatte und die sie nun doch mit jeder Faser ihres Seins herbeiwünschte. Ein wenig mehr mit jedem Tag, der aus ihrem Leben in der Steinstadt ein Gefängnis machte. Keine Wachen vor der Tür waren dazu notwendig; es genügten die abweisenden, zuweilen gar hasserfüllten Blicke der Menschen, das feindselige Getuschel, das die Luft vibrieren ließ, bedrohlich aufgeladen wie kurz vor einem schweren Gewitter. Es waren Tage, in denen jedes Geräusch sie auffahren ließ, weil es bedeuten mochte, dass die Soldaten des Sultans im Anmarsch waren, um sie abzuholen. Wahnhafte Vorstellungen von gedungenen Mördern, von Gift in Speis und Trank und von ihrer eigenen Hinrichtung beherrschten ihr Dasein, und es kostete sie große Anstrengung, bei klarem Verstand zu bleiben.

Es war Heinrich, der ihr dabei half, nicht verrückt zu werden in diesem Gespinst aus Angst und Bedrohung, aus quälenden Gedanken und Ahnungen, das sich wie ein Netz enger und immer enger um ihr Haus zusammenzuziehen begann. Heinrich, der kühl und nüchtern blieb, der plante und vorbereitete, innerhalb des geschützten Raumes, den Khaduj durch ihre Anwesenheit im Hause schuf – als Tugendwächterin und Gefängnisaufseherin von Majid hierher entsandt, aus freiem Willen und Mitgefühl zur Verbündeten des jungen Paares geworden. Und nur ganz langsam sickerte in Salimas Bewusstsein hinein, was zu tun sie im Begriff war.

»Ist das denn wirklich nötig?« Mit dem Nagel des Zeigefingers kratzte sie an ihrem Daumen herum und starrte auf die Papiere, die Heinrich vor ihr ausgebreitet hatte.

»Nun, wenn du verhindern willst, dass du die shambas oder ihren entsprechenden Gegenwert verlierst«, kam Heinrichs trockene Antwort. »Ich halte es für wahrscheinlich, dass du deine Rechte daran verlierst, sobald du Sansibar verlassen hast.«

Sobald du Sansibar verlassen hast …, hallte es in ihr wider, und sie ballte die Hände zu Fäusten. Nie, nie will ich für immer von Sansibar fortgehen, hatte sie als Kind einmal beschlossen, und nun war sie dennoch bereit, ihrer Heimat den Rücken zu kehren.

»Vielleicht kann ich Majid doch noch gnädig stimmen«, murmelte sie, mehr zu sich selbst denn zu Heinrich. Und dabei wusste sie doch, dass es nicht an Majid allein hing. Selbst Hamdan, Jamshid und Abd il Wahab hatten nichts mehr von sich hören lassen, seit ihre Untat ruchbar geworden war. Die Stimmung auf der Insel war gegen sie; der Name Bibi Salmé stand für eine Schuld, die keine Vergebung erhoffen durfte.

»Vielleicht«, erwiderte er und berührte sie sanft an der Schulter. »Dennoch sollten wir vorbereitet sein und vor allem keine kostbare Zeit verschwenden.«

Salimas Blicke wanderten zur Tür hin, an der gerade zwei Sklaven vorbeigingen, eine schwere Kiste geschultert. Im ganzen Haus herrschte großes Räumen und Packen. Bis auf Salimas Geschmeide wurde unter dem Vorwand, die notwendige Barschaft für die Pilgerfahrt nach Mekka zusammenzubekommen, alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ: Spiegel und silberne Leuchter, Teppiche und kostbare Truhen, Uhren und Geschirr. Eine ungewöhnliche Betriebsamkeit wurde dabei an den Tag gelegt, denn mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs die Gefahr, dass Majid ihre Täuschung durchschaute und ihren Plan vereitelte.

Und nun auch noch meine Plantagen … Auch Kisimbani. Wo wir so glücklich waren. Noch vor ein paar Wochen. Und doch eine scheinbare Ewigkeit her …

Sie senkte ihren Blick wieder auf die Papiere vor sich, deren Schrift durch einen Tränenschleier hindurch verschwamm.

»Nur für eine gewisse Zeit, Bibi Salmé«, hörte sie Heinrich neben sich flüstern. »Bis die Wogen sich geglättet haben.«

Die ersten Kisten mit Gold, der größte Teil von Salimas Schmuck und ihre geliebte weiße Katze befanden sich schon an Bord der O’Swald’schen Mathilde, die im Hafen vor Anker lag, bereit, gen Hamburg auszulaufen – mit einem Zwischenhalt vor Bububu, wo Salima mit zwei ihrer Dienerinnen zusteigen würde, die noch nichts von ihrem zweifelhaften Glück ahnten.

»Es ist der einzige Weg für uns, nicht wahr?«

Heinrichs Stirn zerfurchte sich, glättete sich dann wieder. »Ich fürchte, ja.«

Salima nickte und blinzelte die Tränen tapfer fort.

Nur für eine gewisse Zeit, sagte sie sich selbst vor, als sie die Bambusfeder in die Tinte tunkte, um Herrn Rudolph Heinrich Ruete ihre Besitzungen zu überschreiben. Doch noch ehe sie die Spitze auf das Papier gesetzt hatte, hielt sie inne. Wenn Heinrich ihre Plantagen übernahm, dann konnte das nur bedeuten, dass …

»Du kommst nicht mit?« Ihr Tonfall schwankte zwischen entsetzter Feststellung und auf Widerspruch hoffender Frage.

Heinrich wich ihrem Blick aus und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein. Ich bleibe hier.«

»Für wie lange?« Salima erstickte beinahe an ihren eigenen Worten, und auch Heinrichs Stimme klang belegt, als er antwortete: »Ich weiß es noch nicht. Einige Wochen gewiss, vielleicht auch länger.«

Einen schrecklichen Moment lang durchzuckte Salima der Gedanke, einem Betrüger aufgesessen zu sein, der sie fortschickte, einem ungewissen Schicksal entgegen, um sich an ihrem Besitz zu bereichern. Doch ungleich schrecklicher war die Gewissheit, die sich daran anschloss: dass Heinrich nichts zu gewinnen hatte, wenn er hierblieb, dass er hingegen alles verlieren konnte.

Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn seine Arme schlossen sich um sie, tröstend und aufmunternd. »Sie werden mir nichts tun. Das werden sie nicht wagen, keiner von ihnen«, versuchte er sie zu beruhigen, doch fehlte es seinen Worten an der Kraft, sie restlos zu überzeugen. »Ich muss hierbleiben, weil ich trotz allem noch Verpflichtungen gegenüber Hansing & Co. habe. Das wenigstens bin ich der Handelsgesellschaft schuldig, wenn ich ihren Ruf schon derart beschädigt habe.« Die Bitterkeit des letzten Satzes ging in eine stolze Zärtlichkeit über. »Und ich bleibe auch aufrechten Hauptes, um aller Welt zu zeigen, dass unsere Liebe nichts ist, wofür ich mich schämen und feige das Weite suchen muss.«

In Salima rangen Einsicht und Widerstand miteinander. Schließlich sagte sie: »Ich will nicht ohne dich gehen.«

»Du musst, Salmé«, sagte er eindringlich. »Ich weiß, unter den gegebenen Umständen ist es schwer. Aber versuch dennoch, mir zu vertrauen.«

Sie nickte langsam, als müsste sie sich ebendieses Vertrauen in Heinrich und in das Schicksal mühsam einbläuen; dann griff sie erneut zur Feder und unterschrieb die Papiere. Sie hatte ihren letzten Namenszug kaum daruntergesetzt und die Schreiben Heinrich überreicht, damit er die Besitzungen im Sekretariat auf sich registrieren ließe, als sie auch schon nach einem leeren Blatt griff und in aller Eile eine Liste erstellte, die sie Heinrich ebenfalls hinhielt.

»Würdest – würdest du bitte die entsprechenden Dokumente aufsetzen lassen, dass jeder seine Freiheit erhält?«

Heinrich überflog die Aufstellung. So weit er die arabischen Zeichen entziffern konnte, handelte es sich um Namen, die ihm von seinen Besuchen hier bekannt vorkamen. Aufgrund der Anzahl schätzte er, dass sämtliche Sklaven dieses Hauses aufgeführt waren. Er sah Salima über den Rand des Blattes hinweg überrascht an. Dass die Sklaven auf ihren Plantagen mit der Überschreibung an ihn, den Deutschen, der keine Sklaven besitzen durfte, ihre Freiheit erhielten, schien Salima in Kauf genommen zu haben. Doch offenbar hatte sie sich ihre eigenen Gedanken gemacht und schenkte ihren Leuten dieselbe Freiheit, die sie für sich selbst beanspruchte.

»Dass ich mich damit in der Stadt unbeliebt machen werde, spielt nun auch keine Rolle mehr«, hörte er sie, wie zu ihrer Rechtfertigung, heiser flüstern.

»Ich bringe dir die Papiere morgen zur Unterschrift vorbei«, versprach er, küsste sie auf die Wange und erhob sich.

»Heinrich.« In der Tür stehend, drehte er sich noch einmal um. »Übermorgen also?«

Er nickte. »Übermorgen Nacht.«

Salimas Inneres ballte sich zu einem harten, schmerzenden Klumpen zusammen, und unbewusst legte sie die Hand auf ihren gewölbten Bauch, wie um ihr Kind vor diesem inneren Aufruhr zu schützen. Übermorgen. Nach dem Kalender der Christen der 9. August des Jahres 1866.

»Ich hole dich gegen zehn Uhr am Abend ab und bringe dich nach Bububu.«

29

SeesternJohn Witt hastete durch die nächtlichen Gassen der Stadt. Ein Schauer prasselte hernieder, trommelte auf seinen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte, durchtränkte Anzugjacke und Hosenbeine. Bei jedem Schritt spritzte das schlammige Wasser von seinen Hacken die Waden hinauf, und er fluchte vor sich hin.

»Aufmachen!« Seine Faust hämmerte gegen das starke Portal des Hauses. »Aufmachen! Es ist dringend!«

Ein Türflügel schob sich vorsichtig auf, geöffnet von einem Diener, der verschüchtert um das Türblatt herumlinste, die Tür dann aufriss und sich tief verbeugte. Keuchend vom schnellen Gehen marschierte John Witt über die Schwelle, riss sich den tropfnassen Hut vom Kopf und schüttelte ihn aus.

»Guten Abend, Herr Witt.« Aus einem angrenzenden Raum trat Heinrich Ruete mit einer Miene der Verblüffung, die sich jedoch rasch verdüsterte. »Was ist passiert?«

»Ihr grandioser Plan ist soeben auch grandios gescheitert«, bellte sein Besucher, ohne sich lange mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten, und seine freie Hand gestikulierte wild in Richtung des O’Swald’schen Handelshauses. »Vor kaum einer halben Stunde sind zwei Männer des Sultans in mein Kontor geschneit und haben mich in rasend schnellem Suaheli und mit Händen und Füßen beschworen, dass Ihre Bibi Salmé nicht an Bord unseres Schiffes dürfe, was diese ja wohl zu tun beabsichtige. Der Sultan lasse deren Haus zwar bewachen, dennoch müsse ich unter allen Umständen dafür Sorge tragen, dass unser Segler ohne Ihre verehrte Braut in See sticht.«

»Dann müssen wir –«, begann Heinrich, doch John Witt fiel ihm ins Wort.

»Wir müssen gar nichts! Vor allem ich nicht!« Er hielt inne, als sei ihm soeben etwas eingefallen. »Hatten Sie schon alles an Gepäck an Bord bringen lassen?«

»Ein paar Kisten fehlen noch.«

John Witt überlegte kurz. »Gut. Dann lasse ich dem Kapitän eine Nachricht zukommen, dass er im Norden, vor Kokotoni, noch ein paar Stunden ankert. Wenn Sie wollen, können Sie dort noch etwas aufs Schiff bringen lassen. Alles – außer Ihrer … Ihrer Verlobten

»Herr Witt, ich –«

»Nein und abermals nein!« Seine Handkante schnitt in Abwehr durch die Luft. »Gepäck, so viel Sie wollen, Ruete, deklariert als Frachtgut – aber keine Personen! Ich hatte Ihnen angekündigt, dass unsere Abmachung hinfällig sei, sollte der Sultan Wind davon bekommen, und das ist hiermit eingetreten. Ich riskiere mit dieser Fracht schon genug für meine Firma – mehr kann ich nicht für Sie tun. Suchen Sie sich jemand anderen, der für Sie die Kohlen aus dem Feuer holt. Viel Glück!«



Salima kauerte in einer Ecke und ließ ihren Tränen freien Lauf. So nah war sie der Freiheit gewesen, doch noch ehe sie davon hatte kosten können, war sie ihr auch schon entglitten. Und nun war alles noch schlimmer als zuvor: Soldaten hielten Tag und Nacht Wache vor dem Portal, ließen sie nicht hinaus und ließen auch Heinrich nicht ein. Hoffnungslosigkeit hatte sich über das Haus gelegt wie ein Vogel mit düsteren Schwingen, und es wirkte mit seinen leeren Räumen noch trostloser, ohne Möbel und Zierrat, verlassen von den Dienern, die mit ihrer Urkunde der Freilassung und einem kleinen Geldbetrag gegangen waren. Nur zwei Dienstmädchen waren ihr geblieben – und Khaduj, die sich nun neben sie hockte und sie in ihre Arme nahm.

»Schhhh, nicht weinen«, murmelte sie Salima ins Ohr. »Alles wird gut.«

»Ich wüsste nicht, wie«, schluchzte Salima. »Ich sitze hier in der Falle! Ohne Heinrich. Ohne die Möglichkeit, hier wieder herauszukommen. Irgendwann wird Majid ungeduldig werden und mich drängen, zur Pilgerfahrt aufzubrechen. Viel länger werde ich ihn nicht mehr hinhalten können.«

Khaduj wiegte sie tröstend. »Noch glaubt Majid, dass ich ihm treu ergeben bin; er ahnt nichts davon, dass ich euch bei euren Fluchtplänen helfe. Das ist unser großer Vorteil.«

»Aber jemand muss hinter unsere Pläne gekommen sein und sie verraten haben«, schniefte Salima und wischte sich über die Wangen. In unvermittelt aufblitzendem Misstrauen versteifte sie sich in Khadujs Umarmung, versuchte sich von ihr zu lösen, doch diese hielt sie nur umso fester.

»Ich kann es dir nicht verdenken, Salima.« Khadujs Kinn rieb sanft über Salimas Schulter. »Selbstredend musst du zweifeln, ob ich nicht ein doppeltes Spiel spiele. Dass ich noch hier bei dir bin und dich nicht einfach Majid überlasse, müsste dir jedoch zeigen, dass ich ganz auf deiner Seite stehe.«

»Ich reiße dich womöglich auch noch mit in den Abgrund«, brach es aus Salima hervor. »Wenn Majid erfährt, dass du …«

»Das lass allein meine Sorge sein.«



»Nun, Mr Ruete.« Emily Seward, die Gattin des stellvertretenden britischen Konsulatsarztes, setzte behutsam ihre Teetasse ab. »Sie werden gewiss Verständnis dafür haben, wenn ich sage, dass Ihr Anliegen ein recht heikles ist, was die Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Sultan von Sansibar betrifft.«

»Dessen bin ich mir wohl bewusst, Mrs Seward.« Er hob in höflicher Ablehnung die Hand, als seine Gastgeberin den Teller mit dem Gebäck auffordernd ein Stückchen näher zu ihm hinschob. »Ich hätte mich auch nicht an Sie gewandt, wenn die Angelegenheit nicht derart dringlich und von höchster Wichtigkeit wäre. Wie ich annehme, ist auch Ihr Herr Gatte weitestgehend über die Notlage informiert, in der sich Bibi Salmé befindet.«

»Eine Notlage, an der Sie nicht ganz unschuldig sind, Mr Ruete«, bemerkte Mrs Seward. Doch dabei lächelte sie belustigt; ein Lächeln, das ihr frisches, rosiges Gesicht – unberührt von der Hitze Sansibars und britisch, wie es britischer nicht sein konnte – noch anziehender machte.

Heinrichs Augenbrauen hoben sich, als er halb schmunzelte, halb zerknirscht dreinblickte. »Auch das ist mir bewusst. Eine Schuld, die ich nur zu gerne auf mich nehme und für die ich voll und ganz geradestehen möchte. Wenn man mich nur ließe.«

Emily Seward lehnte sich ein wenig zurück und verschränkte die Hände im Schoß ihrer weiten, von Petticoats und einer Krinoline gebauschten Röcke aus zartem Musselin. Sie mochte Heinrich Ruete, der nur wenig jünger war als sie selbst. Bei den gesellschaftlichen Zusammenkünften sowohl in seinem Hause wie im britischen Konsulat hatte sie ihn als angenehmen Gentleman kennengelernt: charmant, ohne dass er leichtfertig oder gar oberflächlich wäre; mehrsprachig, mit herausragenden Fähigkeiten und mit vielversprechenden Zukunftsaussichten. Zumindest, bevor er durch diese unglückselige Liebschaft mit der Schwester des Sultans seinen bislang tadellosen gesellschaftlichen Leumund zerstört hatte. Die Gerüchte um ihn und Bibi Salmé waren auch durch das Tor des Konsulats hereingebrochen wie eine Feuerwalze.

Eine kleine stürmische Affäre wäre ihm in den Augen der Gesellschaft durchaus noch nachzusehen gewesen – man wusste schließlich, wie es sein konnte, wenn man jung war, unverheiratet und in der Fremde. Noch dazu auf Sansibar, wo alles derart üppig im Saft stand, dass eine für englische Verhältnisse schon beinahe unanständige Sinnlichkeit in der Luft lag. Doch nun hatte dieses Verhältnis Folgen gehabt. Was nie schön war und was immer Verwicklungen nach sich zog, die meist zulasten der betreffenden Dame gingen. Dieser besondere Fall jedoch konnte die europäischen Nationen leicht ihren einträglichen Kontakt zum Sultanshaus kosten; eine leichtfertige Liaison, die dabei war, zum Politikum zu werden. Abgesehen davon war Emily Seward weiß Gott nicht derart puritanisch eingestellt, dass sie einer Frau, die eine schwache Stunde gehabt hatte, zur Strafe für ihre Sünden den Tod wünschte; dafür war sie zu jung und selbst zu lebenslustig.

»Es ehrt Sie über alle Maßen, dass Sie sich Ihrer Verantwortung stellen wollen, Mr Ruete«, bekundete sie deshalb respektvoll.

Heinrich lachte auf, ein angenehmes, tiefes Lachen, das seine Gastgeberin noch mehr für ihn einnahm, und legte endlich den Silberlöffel auf die Untertasse, mit dem er während ihres Gespräches herumgespielt hatte. »Damit tun Sie mir eindeutig zu viel der Ehre an, verehrte Mrs Seward. Gewiss spielt es eine Rolle, dass ich die Verantwortung für mein Handeln und die Konsequenzen selbstredend übernehmen will, ebenso wie für die Gefahr, in der Bibi Salmé sich befindet. Aber das ist nicht der einzige Grund.«

»Sondern?« Emily Seward nahm ihre Tasse wieder auf.

Heinrich zögerte. Seine Gefühle zu zeigen oder sie zu äußern lag ihm nicht; so war er nicht aufgewachsen, so war er nicht erzogen worden. Seine Welt war die der Vernunft, rational und nüchtern und berechenbar. Zumindest war sie das gewesen bis vor einem Jahr. Salima hatte alles verändert. Sie hatte ihn verändert. Als hätte sie ihm mit ihren Küssen, mit ihrem Lachen, das ihre Augen glänzen ließ wie meerbespülte dunkle Kiesel, die Sonnenglut und die gewürzschwangere Luft Sansibars eingeflößt, die nun durch seine Adern strömten und ihn immer wieder zu ihr hinzogen. Ohne Salima in seiner Nähe war ihm sogar im heißen Sansibar kalt.

»Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen«, sagte er schlicht.

»Haben Sie sich das mit der Heirat auch gut überlegt?«, gab sie dessen ungeachtet zu bedenken. »Sie wird es schwer haben in Hamburg.«

Emily Seward wusste, wovon sie sprach, wusste, wie es war, in der Fremde zu leben. Kaum dass sie ihrem George das Jawort gegeben hatte, war sie dem frischgebackenen Doktor der Medizin vom grausteinigen, regnerischen Edinburgh nach Indien gefolgt. Die ersten Jahre dort waren hart für sie gewesen, blutjung, wie sie damals war, und rasch überfordert mit ihren Aufgaben als Ehefrau und bald auch Mutter. In einem Land voller Hitze und Staub, dessen reiche Ströme während der Glutmonate zu tröpfelnden Rinnsalen verdunsteten. Noch dazu in der Garnisonsstadt von Baroda, in der das Leben sich nach dem Rhythmus des Soldatenlebens richtete und Wünsche und Bedürfnisse der Frauen nur eine untergeordnete Bedeutung hatten. Im Vergleich dazu war Sansibar das reinste Paradies.

Heinrich atmete tief durch. »Es soll nur vorübergehend sein. Damit sie und unser Kind in Sicherheit sind. Bis ich meine eigene Gesellschaft aufgebaut habe, die uns ernähren kann. Die Welt ist groß, und ich bin bereit, mit ihr überallhin zu gehen.«

Emily Seward sah ihn aufmerksam über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Auch sie schätzte hoch aufwallende Emotionen und überschwängliche Gefühlsäußerungen nicht sonderlich, aber sie war romantischen Empfindungen gegenüber durchaus aufgeschlossen, wovon auch die überall in ihrem Salon liebevoll verteilten Spitzendeckchen Zeugnis ablegten. Und die Geschichte von Heinrich Ruete und Bibi Salmé, dem deutschen Kaufmann und der Prinzessin von Sansibar, die einander gefunden hatten und allen Widerständen zum Trotz zueinanderstanden, die gar ein Kind ihrer Liebe erwarteten und miteinander fliehen wollten, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen – das war das Romantischste, was sie je gehört hatte. Ein Märchen, wie es ein Dichter nicht zauberhafter und anrührender hätte ersinnen können.

Eines, dem nur noch das glückliche Ende fehlte.

30

MuschelRhythmisch in die Hände klatschend, zogen die Menschen durch die Stadt, uralte Volkslieder zum Nachthimmel schmetternd, die um Glück und Segen baten, das Leben und die Liebe priesen. Zu Turbanen gewickelte kangas der Afrikanerinnen wechselten sich mit den finsteren Überwürfen der arabischen Frauen ab. Kinder, die Augen riesengroß vor Staunen, wurden durch die Menge mitgezogen oder auf der Hüfte sitzend mitgeschleppt. Männer waren nur wenige unter den Scharen, die durch das Labyrinth der Stadt wogten, flackernd beleuchtet von mitgeführten Öllichtern und Laternen.

Heute Nacht weichten die Grenzen auf zwischen Herren und Sklaven, lösten sich die Araberinnen aus den Beschränkungen, die die Tradition ihnen auferlegte. Es war die Nacht vor dem Feiertag, an dem auf allen Feuern der Insel von den Frauen Reis gekocht werden würde, während die Männer Maniokblätter mit Kokosnussmilch und Nüssen zubereiteten, Maniokwurzeln mit Bohnen oder Fisch, alles kräftig und scharf gewürzt, genug, dass jeder, der des Weges kam, sich sattessen konnte. Sobald das Festmahl beendet wäre, würde das Feuer sofort mit Wasser gelöscht, der Aschebrei abgeschöpft und an Kreuzwegen ausgebracht, ins Meer gegossen oder an die Rückwand von Hütten oder Häusern geschüttet.

Heute Nacht galt es, Abschied zu nehmen, Abschied von Sünden und Zwietracht und Hader; ab morgen würde alles besser werden. Heute Nacht war ein muongo zu Ende gegangen, eine Spanne, die zehn Tage umfasste. Der sechsunddreißigste muongo von sechsunddreißig, und ab morgen würden die Tage wieder von vorn abgezählt werden.

Morgen war siku ya mwaka, Neujahr. Und heute war die Nacht, in der sich Sayyida Salima bint Sa’id aufmachen würde, viel mehr hinter sich zu lassen als nur das alte Jahr. Dreizehn endlose Tage hatte sie auf diese eine Nacht gewartet.

»Geh jetzt.« Sie drückte Khaduj so fest an sich, als wollte sie sie niemals mehr loslassen. »Geh hinüber nach Beit il Sahil wie verabredet.«

Khaduj lachte leise, ein Lachen, das von Schluchzern erstickt wurde. »Der arme Majid … Er wird nicht wissen, wie ihm geschieht, wenn ich ihn ausschelte, dass er dir erlaubt hat, bis morgen Abend das neue Jahr bei deiner Freundin zu feiern.«

Ja, der »arme« Majid, dachte Salima bitter. Der mich bis gestern hat warten lassen, um erst dann gnädig meine Bettelbriefe um ein sorgloses Neujahrsfest mit seinem huldvollen Einverständnis zu beantworten. Mein letztes Neujahrsfest auf Sansibar, ehe in drei Tagen die Segel des Schiffes gehisst werden, das mich nach Mekka bringen soll.

Nur widerstrebend lösten sich die beiden Frauen voneinander.

»Ich stehe tief in deiner Schuld, Khaduj«, flüsterte Salima, das Gesicht der Schwester mit ihren Händen umschließend. Der Gedanke, dass Khaduj den Tod durch das Henkersschwert erleiden würde, sollte Majid je erfahren, welche Rolle sie bei Salimas Fluchtplänen gespielt hatte, brach ihr das Herz.

Um Khadujs geschwungenen Mund zuckte es. »Für niemanden sonst hätte ich das getan. Nur für dich, Salima bint Sa’id – die mit dem unbezwingbaren Herzen. Schwöre mir …« Ihr Atem ging stoßweise, als bräche ihr die Stimme unter zu großer Seelenlast. »Schwöre mir nur, dass du dein Leben bis zur letzten Neige auskosten wirst. Gleich, welche Prüfungen Allah dir auch auferlegen mag.«

»Ich schwöre«, flüsterte Salima, und Ingrimm drängte sich in ihre Stimme. »Bei Allah – ich schwöre!«

Khaduj strich Salima zart über das Gesicht, über die schele, die ihr Haupt bedeckte. »Der Herr des Weltalls beschütze dich, Schwester.« Mit einem Ruck wandte sie sich um und lief aus dem Gemach.

Salima lauschte in die Nacht hinaus, und ihr heftiger Pulsschlag, der ihr selbst in den Ohren dröhnte, bildete den Rhythmus zu den kräftigen Stimmen unten auf der Gasse, wurde eins mit den Trommeln der vorbeiziehenden Musiker. Thadhung-gung. Tha-dhung. Tha-dhung-gung. Tha-dhung.

»Wollt Ihr nicht langsam aufbrechen, Bibi Salmé?« Das eine ihrer beiden Dienstmädchen, die ihr noch geblieben waren, war eingetreten.

Vergebt mir, dass ich euch so grausam belüge.

Salima setzte ihr breitestes Lächeln auf. »Aber ja!«



Die askaris, die Soldaten des Sultans, schenkten ihr ein karges Kopfnicken, als sie mit ihren beiden Dienerinnen über die Schwelle trat und ihnen scheinbar fröhlich ein gutes neues Jahr wünschte. Sie ließen die drei Frauen sich unter die Menschenmenge mischen, die sich durch die Gasse schob. Salima spürte förmlich, wie sich die verächtlichen Blicke der askaris in ihren Rücken bohrten.

»Pumbavu likipumbaa p’umbe«, sang Salima aus voller Kehle mit, »fit’u usilo nadhari n’gombe. Wenn der Narr ganz närrisch wird, ist er ein großer Narr, dumm gar wie ein Ochs’.« Die altvertrauten Verse lösten ihre Anspannung. »Wat’u hawendi tena P’emba – kuna nyama mla-wat’u simba. Wir werden nicht mehr nach Pemba geh’n; dort hat’s ein Geschöpf, das Menschen frisst: ein Löwe!«

Mir jedoch bringt mein Löwe die Freiheit! Salima war so leicht zumute, dass sie den Kopf zurückwarf und lachte, ihren Dienerinnen zuzwinkerte. Da gewahrte sie einen Mann, halb in den Schatten einer Hauswand verborgen, der mit zusammengekniffenen Augen herüberstarrte. In seiner Hand blinkte etwas metallisch auf. Salima blinzelte und wandte den Blick rasch ab. Das Lied war ihr auf den Lippen erstorben, und nackte Angst umklammerte ihren Magen.

War das ein Dolch gewesen?

Möglich, dass es Halunken gab, die den Trubel auf den Gassen nutzen wollten, um zwielichtige Pläne in die Tat umzusetzen. Vor allem jedoch fürchtete Salima mit einem Mal, dass Majids Erlaubnis, sie dürfe für das Fest das Haus verlassen, weder Gutgläubigkeit noch Güte geschuldet gewesen war. Sondern einer List, um sich seiner Schwester, die solche Schande über die Familie gebracht hatte, im Tumult, der jetzt, nach Mitternacht, unweigerlich durch die Stadt toben würde, ein für alle Mal zu entledigen.

Fester als nötig hakte sie sich bei ihren Dienerinnen unter und schritt hastig aus, drängte sich zwischen die anderen Menschen; je mehr Leiber sie umgaben, in umso größerer Sicherheit befand sie sich. Sie hoffte, mit ihrer schele unterzugehen inmitten all der anderen Frauen.

»Wat’u hawendi tena P’emba«, stimmte sie erneut mit ein, sang, so kräftig sie konnte, sang gegen Verfolgungswahn an und gegen Todesangst. »Kuna nyama mla-wat’u simba.«

Das Gassengeflecht löste sich auf, und damit lockerte sich der Menschenpulk, teilte sich in Grüppchen und in einzelne Personen, die vorwärtsströmten, hin zum Meer, um bekleidet hineinzuwaten, unterzutauchen und Sünde und Ungemach des alten Jahres abzuwaschen, wie es Brauch war. Der rötliche Schein der am Ufer entzündeten Freudenfeuer ließ Himmel und Hauswände glosen.

»Wo gehen wir denn hin?«, wollte eines der Dienstmädchen wissen.

»Wir sind gleich da«, gab Salima zurück und hielt auf die letzte Häuserreihe zu. Auf ein erleuchtetes Fenster im linken der beiden lang gestreckten Gebäude vor ihnen. Das vorletzte Stück auf ihrem Weg in die Freiheit und das gefährlichste: durch die breite Furt zwischen den Häusern, die kaum Schutz bot. Salima marschierte vorwärts, vermied es, sich umzudrehen, um nicht einem möglichen Verfolger zu zeigen, dass sie Grund hatte, ängstlich zu sein.

Ein Schatten glitt aus der Dunkelheit auf sie zu, eine Frau in den reichen Fältelungen geschickt gewickelter kangas, groß und stattlich wie eine afrikanische Königin. »Ein gutes neues Jahr, teure Freundin!«, rief sie ihnen entgegen. Eine Stimme, die Salima in den vergangenen zwei Wochen vertraut geworden war. Ihr Magen entspannte sich mit einem Schlag.

»Dir auch ein gutes neues Jahr!« Erleichtert fiel sie Zafrani um den Hals, der Amme im britischen Konsulat, die bei den Besuchen Mrs Sewards in Salimas Haus vom Englischen ins Suaheli übersetzt hatte und umgekehrt, wenn es nötig war. Zafrani, die ihnen auch als Botin gedient hatte, um Salima auf dem Laufenden zu halten, spielte ihre Rolle perfekt. Sie legte ihren Arm um Salimas Schulter und erkundigte sich in einem einzigen plätschernden Wortschwall, ob sie einen schönen letzten Tag des Jahres gehabt und gut hergefunden hätten, zählte auf, was es nachher und morgen alles an Köstlichkeiten zum Naschen geben würde und wer aus der Nachbarschaft noch alles eingeladen sei. Drohend fast bauten sich die beiden Häuser vor ihnen auf, je näher sie kamen, der schmale Durchgang dazwischen einem Schlund ähnlich, und doch wusste Salima, dass dies der Weg in die Freiheit war.

Lampenschein am Ende des Durchgangs. Salima hörte Röcke rascheln, eine weibliche Stimme rief etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand, obwohl der Klang ihr wohlbekannt war. Im nächsten Moment fühlte sie sich an Mrs Sewards Brust gedrückt, mit liebkosenden Worten überschüttet, deren Tonfall ihr sagte: Du bist in Sicherheit. Alles ist gut. Du hast es geschafft.

Ihre Lider flatterten, und sie entdeckte über die Schulter der Engländerin hinweg eine Silhouette, die auf sie zulief.

»Heinrich.« Salima schluchzte auf, als er sie in die Arme schloss, ihr Gesicht mit Küssen bedeckte, die hart waren und viel zu fest und die sie doch so sehr genoss. Dann nahm er sie beim Arm und führte sie mit sich, hin zum Wasser.

Meine letzten Schritte auf dem Boden von Sansibar.

»Gib mir dein Taschentuch.«

»Wie bitte?«

»Gib mir dein Taschentuch!«

»Wozu brauchst du …«

»Gib es mir einfach!«

Als er es ihr reichte, wand sie sich aus seinem Griff und kniete sich hin, kratzte etwas von der dünnen Sandschicht zusammen, die den Fels der Insel bedeckte, und ließ es mit beiden Händen in das Tuch rieseln.

»Dafür ist jetzt keine Zeit, Salmé!«

»Gleich!«

Heinrich packte sie am Oberarm. Sie schaffte es gerade noch, aus dem dünnen Stoff ein Bündel zu knoten, das sie an die Brust presste, ehe er sie in die Höhe zog und weiterzerrte. Die Flut hatte ihren Scheitelpunkt beinahe erreicht, und am Rand der unregelmäßig gezackten Felskante schaukelte ein Boot, aus dem zwei Männer in dunklen Jacken sprangen; eine dritte Gestalt saß noch im Boot.

Hinter Salima und Heinrich schrie eine Frau, gellend, als jagte eine Klinge in sie hinein. Erschrocken fuhren sie herum. Es war eine der beiden Dienerinnen, die erkannt hatte, was hier vor sich ging, und die davonrannte, als ginge es um ihr Leben. Heinrichs Hand zuckte, als wollte er ihr nachsetzen; umso unerbittlicher jedoch zog er Salima vorwärts. Über ihre Schulter hinweg sah sie noch, wie Mrs Seward und Zafira das Mädchen aufhalten wollten. Wie die zweite Dienerin ebenfalls zu flüchten suchte, von einem der Matrosen aber gepackt und zum Boot geschleift wurde. Ihre Hilferufe erstarben gurgelnd hinter der Hand des Seemanns, die ihr den Mund verschloss.

»Nicht«, entfuhr es Salima, »lasst sie gehen!«

»Es muss sein«, presste Heinrich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du kannst nicht allein fahren.«

Nur ein Schritt trennte Salima noch von dem Boot. Der Seemann, der dort geblieben war, war aufgestanden und streckte ihr seine Hand entgegen.

Nur ein Schritt noch bis zur Freiheit.

Ein Schritt, und sie würde ohne Heinrich sein, auf ungewisse Zeit.

»Gib auf dich acht«, murmelte er. »Auf dich und auf das Kind.« Salima konnte nur nicken. Es zerriss ihr das Herz, als er sie an sich drückte, sie noch einmal küsste.

»Ich komme nach, sobald ich kann.«

»Ich liebe dich«, flüsterte sie den einzigen deutschen Satz, den sie kannte.

»Roho jangu«, war seine Antwort auf Suaheli. Seine Stimme war brüchig, wie wundgescheuert von zu heftigen, widerstreitenden Gefühlen. »Mein Atem. Meine Seele. Mein Leben.«

»Ya kuonana – auf bald.«

»Ya kuonana.«

Mit sanfter Gewalt schob er sie einem der Matrosen in die Arme, der sie in das Boot hob und danach selbst einstieg.

Sogleich stießen die Seeleute die Nussschale vom Ufer ab und ruderten los. Salima behielt Heinrich fest im Blick, blinzelte die Tränen fort. Seine Gestalt, die verwackelte unter dem Schaukeln des Bootes auf den Wellen, die kleiner wurde und sich zu einem Schattenriss verflachte, während sich die winkende Silhouette von Mrs Seward und Zafira im Schatten des Hauses verlor.

Dann war er nicht mehr zu sehen, aufgegangen in der Uferlinie aus Schemen und glühenden, tanzenden Lichtflecken. Johlen und freudige Rufe, Lachen und Gesang klangen von den Badenden herüber, die das alte Jahr von sich abwuschen; Trommelschläge, tha-tha-dhung, tha-tha-dhung. Das Meer rauschte, plätscherte gegen den hölzernen Rumpf des Bootes, gegen die Ruder, die schmatzend eintauchten und wieder herausglitten.

Ihre Dienerin hatte erschöpft alle Gegenwehr aufgegeben und hing in den Armen des Matrosen; hinter seinen Fingern drang gedämpftes Schluchzen hervor.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Salima zu ihr. Ihre eigene Stimme klang ihr fremd in den Ohren, schleppend und flach. »Sobald wir am Ziel sind, kannst du zurückfahren.«

Und ich? Werde ich je zurückkehren? Ihre Augen erfassten Beit il Sahil, ein heller Klotz vor dem Widerschein der Freudenfeuer. Beit il Sahil. Beit il Hukm. Beit il Tani. Mit ihrem Blick fuhr sie zärtlich über die Stätten ihres bisherigen Lebens. Beit il Watoro. Irgendwo weiter drüben Bububu. Beit il Mtoni. Und dahinter Kisimbani.

Die Sehnen ihrer Hand machten sich bemerkbar, sie schmerzten vom krampfhaften Festhalten des sandgefüllten Taschentuchs, und ihre Finger wurden taub. Aber loszulassen, das vermochte sie nicht.

Mehr Sansibar als das bisschen konnte ich nicht mitnehmen.

Finsternis hüllte das Boot ein, und Salima legte den Kopf in den Nacken. So nah schienen die Sterne, als ob der Himmel hier tiefer wäre, eins gar mit dem dunklen, ölig schwappenden Wasser.

hier tiefer wäre, eins gar mit dem dunklen, ölig schwappenden Wasser.

Ich werde sie vermissen, die Sterne über Sansibar. Ich werde alles vermissen.

In ihrem gewölbten Bauch regte sich etwas, so sacht und so leicht wie das Flattern eines Falters. Salimas Mundwinkel zuckten. Ihre andere Hand, die den Beutel mit ihrem Geschmeide unter dem Obergewand festgehalten hatte, legte sich sanft darauf.

Ich habe es gespürt. Heinrich, ich habe unser Kind gespürt. Wir werden leben. Das Kind und ich, wir dürfen leben.

Sie zwang sich, den Kopf zur anderen Seite zu drehen. Weg von Sansibar. Hin zu dem Schiff, das im tiefen Wasser vor Anker lag. Hell entfalteten sich die Segelflächen der drei Masten über einem Rumpf, der so dunkel war, dass er in der Nacht aufging und die vereinzelten Lichter darin in der Luft zu schweben schienen. Ein Kriegsschiff, hatte Mrs Seward gesagt. Vielleicht gar das Schiff, das damals seine Geschütze ausgefahren hatte, bereit, Barghashs Haus und Beit il Tani zu bombardieren – und das sie nun in Sicherheit bringen würde.

Ein letzter Blick zurück. Ich komme wieder, Sansibar. Ganz bestimmt. Ich komme wieder. Eines Tages.