Die Villa des Monsieur Barbagelata in Martigues: ich erinnere mich nicht an sie. Auch die beiden Schweizerinnen erinnern sich nicht, obwohl sie vor anderthalb Jahren oft an dieser Villa vorbeigekommen sind auf dem Weg zum Wasser, die Kinder mit ihren Schwimmbrettern, Taucherbrillen und Flossen, Eistüten, die Eltern tragen den Rest in den Badetaschen, Sonnencreme nicht vergessen, Familienurlaub, langweilig, aber schön; im nachhinein, weil die Urlaubsgeschichte geschlossen ist: eher schön als langweilig, mit Ausnahme des Tages in Avignon und des Malheurs mit der Brieftasche.

Sie erinnern sich: das Fest zum 14. Juli, das Feuerwerk abends, eine Paella und wie ihnen die Kleine abhanden gekommen ist, vierjährig damals, die Tochter der Brünetten, einfach weg, genau das, was jede Mutter in jedem Kaufhaus befürchtet, der weltweite Mütteralptraum: Kind weg, in der Menge verschwunden, auf dem Rummelplatz, beim Feuerwerk, bei der Seehundfütterung, im Straßenverkehr, die Kleine hat einfach die Hand losgelassen, da waren ganz viele rote und grüne Wunderkerzen am Himmel; ein Mistral, der aber erst später angefangen hat, das Salz aus dem Meer auf die Straße zu blasen; der salzige Belag auf der Straße ist in der Erinnerung untergegangen zugunsten der Suchgeschichte: Wo ist die Kleine hin. Ein Mutterherz hat sich vor Schreck kalt zusammengezogen, weil Kinder ins Wasser fallen oder von bösen Menschen gefressen werden können, am 14. Juli immerhin kaum Autos in der Nacht, die aber dann besoffen.

Ein Satz während des Urlaubs in Martigues: Die Jahre zwischen Dreißig und Vierzig mußt du irgendwie wegschaffen. Von der Frau des Obst- und Gemüsegroßhändlers nicht gesagt; nur gedacht, in Martigues, während in Bern die elektrische Sprenganlage alle zwei Tage abends den Garten automatisch versorgt, bei der Heimkehr Blattläuse auf den Rosen, aus irgendeinem Grund waren in diesem Jahr die Dahlien nicht gekommen, unerklärlich.

Der bozener Mann der Blonden in Martigues: noch keine Organistin aus Yverdon in Sicht, die dortige Kirche kämpft einen zähen Dauerkampf mit der Stadtverwaltung wegen der Finanzierung der fälligen Restaurationsarbeiten, infolgedessen schläft der Restaurator in diesem Sommer noch ausschließlich mit seiner Frau, nicht gerade am 14. Juli, wohl aber unter anderem am 16. Juli, und nicht eben mit Leidenschaft, aber für eine Schwangerschaft hat es gereicht, die Blonde berät sich mit ihrer Freundin, die unter drei Kindern stöhnt (um eins hat sie kurz zuvor so gebangt), und treibt noch Anfang September ab. Ohne ihrem Mann etwas davon zu sagen? Ohne. Ihr Mann ist aus Südtirol und folglich Katholik. Aber was ist mit der sprichwörtlichen schweizer Ehrlichkeit?

Natürlich haben die beiden Schweizerfamilien in Martigues nicht auf den hellgrauen Volvo geachtet, aus dem Monsieur Barbagelata ausstieg, als sie vorbeigingen. Der Mistral hatte angefangen, und die zweitjüngste Tochter, noch ohne die Plombe, die ihr kürzlich herausgefallen ist, vielmehr im Bonbon steckengeblieben, wovon ihre Mutter im Augenblick noch nichts weiß, hatte einen Wutanfall, weil ihr Eis voll Scheißsand war, Scheißwind, Scheißsand, das Eis landet auf der Straße, nicht weit von Monsieur Barbagelatas Schuhen. Unklar ist, warum die heutigen Kinder immer so schlecht gelaunt sind, schweizer Kinder, französische Kinder, deutsche Kinder; sogar schon der Kleine, sagt die Naturinspektorin, hängt mir dauernd ein Maul an, immerhin: seit der Scheidung geht es im großen und ganzen besser.

Monsieur Barbagelata hält einer Frau die Wagentür auf. Sie hat riesige silberne Ohrringe, Kreolenohrringe, und schwarz geschminkte Augen ganz ohne Müdigkeit drum herum, weil sie natürlich jung ist und erst anfängt, aber im Unterschied zu zwei Schweizerinnen, die gerade vorbeigehen, als sie aussteigt, benutzt sie von Anfang an kein Piz Buin mit Sonnenschutzfaktor sieben, sondern Sonnencreme von Shiseido. Die Jahre zwischen Dreißig und Vierzig sind ihr im Augenblick völlig egal, alles was zwischen Dreißig und Vierzig ist oder noch älter am Ende, ist ihr peinlich, hat vage mit den Wechseljahren zu tun und wird deshalb einfach nicht wahrgenommen, mit Ausnahme von Monsieur Barbagelata, der zwischen Dreißig und Vierzig ist und keinerlei sichtbare Vorzüge hat, weshalb man ihn leicht übersieht, keiner schaut so genau hin, und schon treibt er Waffen- und Immobilienhandel.

In Vienne sind sich die Inspektoren einig, den desolaten Zustand der Naturparks und Naturschutzgebiete, so lamentabel er ist, für sich zu behalten – alles behördenintern versickern lassen, anstatt Monsieur Barbagelatas junger Freundin eine teure Sonnencreme zu finanzieren, und wenn es nur das wäre: aber es hängt eine ganze Villa in Martigues daran, ein Privatflugzeug, eine Segeljacht. Palmen. Apéritifs.

Viszman, vom Gang kommend, sieht mich an.

Vielleicht ahnt er etwas.

Der Blick hat einen Widerhaken, weil das Müde um Viszmans Augen herum während des Blickes leise Fältchen macht, und natürlich weiß Viszman, daß ihm keine Frau widerstehen kann, wenn er so mit den Augen lächelt; der Mund dabei unbewegt. Blickweise von einem Mann wie Viszman angelächelt zu werden ist für jede Frau lebensgefährlich, weil dieses Lächeln sich mit ihr verständigen und verbünden will, ironisch kundtut, daß dieses Abteil hier in Wirklichkeit leer ist, keine Naturparkinspektoren, keine Schweizerinnen, niemand hier. Dieser Wir-zwei-allein-Blick ist offenbar blind für die Probleme des Naturschutzes und des Waffenhandels von Monsieur Barbagelata, er hat andere Abenteuer im Sinn; er ignoriert auch, daß einer Blonden noch heute abend von ihrem Mann eröffnet werden wird, daß er sie probeweise zugunsten einer Organistin in Yverdon ein bißchen verläßt, und was wird aus ihr und den Kindern.

Der Blick sagt, kümmere dich nicht darum. Ich mach das. Wir beide. Der Rest bleibt draußen. Was kümmern uns die. Natürlich fällt jede Frau darauf rein, und es ist völlig klar, wie das endet.

Er oder ich.

Es ist ein dummer Reflex, jetzt an meinem Rock zu ziehen, als würde er länger davon. Es ist überhaupt dumm, einen so kurzen Rock anzuziehen auf einer Bahnfahrt, weil man nie weiß, wer einsteigt, wenn einem die eigenen Leute schon auf den ersten Seiten schriftstellerisch entgleiten. Der Rock ist unanständig, und es ist unfaßbar, wie ich darauf gekommen bin, zu dem unanständig kurzen hellen Rock schwarze Strümpfe zu tragen, der Rock wird nicht länger durch Daranziehen, was Viszmans Blick selbstverständlich nicht entgeht: Eine Frau zwischen Dreißig und Vierzig beantwortet seinen männlichen Wir-zwei-allein-im-Abteil-Blick, indem sie ihren Rock über die Knie zu zerren versucht.

Ich weiß schon, daß das Augenlächeln jetzt auch noch spöttisch wird, weil mein Rock nicht über die Knie geht. Ich muß aufpassen, daß ich mir selbst nicht am Ende noch schriftstellerisch oder sonstwie entgleite.

Ich hab dich schon, sagt der Blick, aber um keinen Preis will ich ihn sehen, sondern kneife den Mund zusammen, schlage die Beine übereinander und konzentriere mich darauf, blaustrümpfig auszusehen und vor allem nicht rot zu werden. Die Umgebung von Lyon ist nicht so, daß man rot werden muß, wenn man sie durch ein Zugfenster ansieht. Die Bäume haben die Füße im Wasser, links leuchten die Raffinerieanlagen, die Autos fahren mit Standlicht, es ist trüb und neblig.

Dieser Rock – ich kann nur hoffen, daß der Schaffner seine korsische Frau liebt und infolgedessen den kurzen Rock übersehen hat. Der Rock in seiner schriftlichen Zeugenaussage würde die Vergewaltigungstheorie meines Staranwalts mit einem Knall zum Platzen bringen, weil offensichtlich ein solcher Rock schon an sich eine Aufforderung ist. In Verbindung mit schwarzen Strümpfen kommt dieser Rock einem Delikt nahe, für das gesetzlich einmal ein Straftatbestand eingerichtet werden sollte, wonach männermordende Frauen nicht ohne weiteres frei herumlaufen sollten und öffentliche Züge benutzen. Der Schaffner seinerseits wäre alles andere als einverstanden, wenn seine schöne Frau in so einem Aufzug Eisenbahn führe, überhaupt ist er dagegen, daß seine Frau öffentliche Verkehrsmittel benutzt und allzu frei herumläuft, es hat einmal einen fürchterlichen Krach zwischen ihm und seiner Frau gegeben, als er nach Hause kam und sie mit heruntergerolltem Badeanzug auf dem Balkon erwischte; an sich zwar ist der Balkon von der Straße nicht einzusehen wegen des Oleanders und der Geranien, auch nicht vom Platz mit dem Kriegerdenkmal, an dem die Männer den ganzen Tag herumstehen und warten, ob es was zu sehen gibt; die Frau hat gesagt, was ist schon dabei, und ist auf korsische Weise stur geblieben, daß sie keine weißen Streifen auf den Schultern wollte, und schließlich ist er zum Baumarkt gefahren, hat drei Rollen Bastmatten gekauft und wortlos innen an den Balkonstäben festgemacht im vierten Stock. Manchmal hat er Blutdruck über 200.

Ich bin sicher: Er wird es sich nicht entgehen lassen, den Minirock in die Zeugenaussage zu nehmen, ihn gegebenenfalls auch zu beschwören.

Mein Verteidiger wird verwirrt sein, wenn er die schriftliche Aussage erhält. Sie machen mir Kummer, wird er sagen, als wäre er mein Verleger; zum Zeichen seiner Bekümmertheit wird er sich unter der Brille die Augen reiben, mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel einen Moment lang zusammendrücken, weil ihm zu meinem Minirock und den schwarzen Strümpfen nichts mehr einfällt. Die Brille ist neu, eine italienische Marke. Die alte Brille sah doch arg nach Referendariat aus und taugte nicht zum Einsatz vor der Presse und vor Gericht. Seine Strategie ist durch den Schaffner mehr als erschüttert, obwohl ich ihm von Beginn des Verfahrens an immer wieder gesagt habe, daß es nicht Notwehr war, klipp und klar, keine Nötigung, keine Gewalt, keine Vergewaltigung. Mein Anwalt glaubt erst dem Schaffner. Allmählich zieht er die Möglichkeit eines politischen Attentats in Betracht und überlegt, für wen ich gearbeitet haben könnte. KGB wäre ihm nicht recht, andererseits – CIA wäre im Grunde noch schlimmer, Doppelagentin würde am wenigsten Ärger machen, weil die so was telefonisch unter sich aushandeln. Letztens hat er zum x-ten Mal diesen Mata-Hari-Film mit Greta Garbo im Fernsehen gesehen, die allerdings nicht mit Minirock arbeitet. Hat sie gar nicht nötig gehabt.

Ich könnte mich umziehen. Ich habe einen langen schwarzen Rock und ein Paar Bluejeans in der Tasche, aber ich will nicht, daß Viszman denkt, mich hätte der Mut verlassen. Der Mut hat mich nicht verlassen, nur: die vielen Zeugen im Abteil waren nicht vorgesehen. Eine Komplikation, nichts weiter. Schriftstellerisch zu bewältigen.

Der Südtiroler heute abend, wenn die Kinder wieder pünktlich im Bett sind, weil morgen die Schule beginnt, der Südtiroler gießt seiner Frau und sich Dôle ein; sie denkt, es ist, weil sie nach zwei Wochen Ferien wieder daheim ist, aber er sagt: Hör mir zu, Doro. Natürlich hört sie zu, obwohl sie eine Urlaubsgeschichte mit Steinpilzen und ohne baskisches Huhn zu berichten hat. Er klingt rauh in der Stimme, das heißt, es wird ernst. Es klingt nach Aussprache. Du hast es natürlich geahnt, sagt er. Etwas hat sie geahnt, aber Umzugspläne nach Yverdon liegen doch jenseits der Ahnung.

Ich bin froh, daß sie es hinter sich bringen, ohne sich monatelang zu drangsalieren mit Paartherapie, Einzelsitzung und gutem Willen. Doro empfindet als erstes eine gewisse Erlösung. In Pau, an der Steinbrüstung, Heinrich den Vierten im Rücken, Blick über die Berge, hat sie möglicherweise gedacht: 34, und das geht jetzt immer so weiter, entsetzlich; und etwas hat sie leer angegähnt von vorne, flau. Fluchtgedanken hatte sie keine. Bevor sie ihr Archäologiestudium aufgegeben hat, schien ihr, als könnte sie mindestens drei, vier Leben auf einmal hinkriegen, eins in Ägypten, eins in Karthago, womöglich auch eins in Bern, obwohl Bern das letzte war, woran sie dachte, aber plötzlich stand sie letzte Woche in Pau, der Gedanke an mehrere Leben lag mehrere Jahre zurück, und wenn sie recht überlegte, hatte sie sich nicht einmal ein Leben vorzuweisen, eines, vor dem ihr nicht flau wäre, so flau, daß sie immer häufiger morgens den Fernseher anmacht und sich regelrecht wegträumt nach Kalifornien und Miami Beach, und vielleicht war es in Pau schon Erholung, daß sie es überhaupt denken konnte. Wenn sie es denn gedacht hat, aber wer weiß schon, was jemand denkt, wenn er in Pau auf die Berge schaut.

Jedenfalls: Erlösung ist ein weiches Magenempfinden; aber dann, kurz darauf, wird sie sich sagen: Deshalb also die Pyrenäen; weil es rundheraus schäbig ist, daß sie in die Pyrenäen geschickt wird wegen eines Komplotts mit Organistin. Schäbig und banal. So schäbig und banal, daß sie nächste Woche das Frühstücksfernsehen einmal ausfallen lassen, ihren Fiat nehmen und während der Schulzeit der Kinder nach Yverdon fahren wird, um vor einer Adresse, die sie per Jackett-Durchsuchung aufgetan hat, oder auf dem Parkplatz vor der romanischen Kirche einen gelben VW-Polo mit waadtländer Kennzeichen zu suchen und rasch zu finden, da sie es nämlich kennt, weil ihr Mann mehrmals die Schamlosigkeit hatte, vor dem gemeinsamen Haus in ein solches Fahrzeug einzusteigen; vielmehr vor dem Haus, in dem ihre gemeinsame Eigentumswohnung im zweiten Stock genügend Fenster zur Straße hat, aus denen sich zufällig das Einsteigen ihres Mannes in einen gelben VW-Polo beobachten läßt: die Nummer notiert, weil sie so eine Ahnung hatte, sie könnte sie einmal brauchen. Hinfahren während der Schulzeit, das Auto finden und mindestens beide Hinterreifen aufschlitzen.

Wäre sie in die Alpen gefahren, ans Matterhorn zu dem Pharmavertreter, dann hätte sie demnächst andere Sorgen. Dann wäre sie demnächst in die Waffenexporte eines vorgeblichen konstanzer Pharmavertreters verstrickt, der zwar nur ein Strohmann ist, aber wer sich in einer Villa in Martigues mit einem Monsieur Barbagelata trifft, kann als Strohmann leicht hochgehen. Besonders wenn es Photos gibt. Barbagelata selbst gehört nicht zu den Leuten, die hochgehen, aber die Frau, die blonde da auf dem Photo, die mit der sprichwörtlichen Ehrlichkeit im Gesicht, zur Tarnung eine biedere Freundin dabei, vorgeblich Touristinnen, Ferien in den Pyrenäen, was sucht die in Avignon. Die Dubuffet-Ausstellung, von der sie später erzählen wird, ist längst vorbei, am Nebentisch Monsieur Barbagelata, Berge von Papieren vor sich, im Café auf dem Platz vor dem Papstpalast. Man bedenke auch den Hotelgast von heute früh, der die beiden in seinem Wagen (hellgrauer Volvo?) zum Bahnhof gefahren hat. Und was ist mit diesem Photo: scheinbar heile Urlaubsfamilie, die Blonde spielt die Familienmutter aus Bern mit Badesachen, Taucherzeug, Kindern mit Eis vor einer bestimmten Villa in Martigues mit hellblauen Fensterläden, die zwischen den vielen Fischerhäuschen nicht direkt protzig aussieht, so dumm ist er nicht, sondern als Villa eher lasziv. Im Hintergrund Barbagelata, sein Volvo, seine Geliebte beim Aussteigen aus dem Volvo, er.

Was hat die Blonde mit Nahost zu tun? (Erste Kontakte womöglich während des vorgeblichen Archäologiestudiums? Überprüfen!)

Jetzt sollen sie aussteigen in ihre Zukunft. Wir sehen uns vor Gericht.

Wir sehen vor uns: die Schienen werden mehr und dichter, rechts die Hochhäuser von Lyon Part Dieu.

Sie steigen aus.

Ich bin weit davon entfernt, aus guten Gründen, die mir übermorgen mein Verleger nicht ersparen wird, mein schriftstellerisches Handwerk zu überschätzen; schriftstellerischer Größenwahn, jeglicher Größenwahn überhaupt ist ganz und gar nicht meine Sache, aber dies halte ich doch für genial: sie sind in Lyon Part Dieu tatsächlich ausgestiegen! Alle beide! Anoraks angezogen, draußen ist der Nebel fisselig geworden, beim Blick auf den Bahnsteig oktoberlich gefröstelt, Rucksäcke aufgesetzt. Gleich stehen sie auf dem Bahnsteig und suchen die Abfahrtstafel, Anschluß Gleis drei.

Zumindest ein Trumpf, den ich aus der Tasche ziehen werde, wenn mein Verleger auf die Personenführung, meine angeblich mangelnde Gewalt über meine Leute zu sprechen kommt, meine angebliche Unfähigkeit; sie zum Aussteigen in Lyon Part Dieu zu bewegen, wenn dieses Aussteigen für den Fortgang der Handlung erforderlich ist.

Wir sitzen, mein Verleger und ich, wie immer bei diesen Gesprächen, am Winterfeldtplatz, draußen fahren Kinder mit Skateboards, der Verleger beobachtet, ob ich unter der Wucht seiner Argumente noch wage, die ägyptischen Bohnen weiterzuessen, die ich am Winterfeldtplatz immer bestelle; seine Personenführung, im Gegensatz leider zu meiner, ist ausgezeichnet, irgendwann bin ich entwaffnet und lege mutlos den Löffel beiseite. Aber morgen, anstatt den Löffel beiseite zu legen, werde ich meinen Trumpf aus der Tasche ziehen, und es ist an ihm zu staunen, weil er mich unterschätzt hat und mir weder Personenführung noch einen Mord zutraut. Ich sage, Sie hören wohl keine Nachrichten, was?, weil ich polizeilich gesucht werde wegen der Viszman-Sache.

Die Naturparkinspektorin mir gegenüber ist eingedöst, nachdem sich alle einig darüber waren, daß es das Fernsehen ist, weshalb Kinder heute immer so schlechte Laune haben, aber gegen das Fernsehen ist nichts zu machen; der Zug fährt durch nasses Grau, keine Weinernte zu erkennen, Viszman tut so, als ob mein Rock knöchellang wäre, er liest Diderot. Eine Plastiktüte mit Mandarinenschalen und Yoghurtbechern liegt unterm Sitz, und die beiden Männer gehen die Ergebnisse der letzten Tischtennisturniere durch.

Seine Schuhe passen nicht zum Rest von Viszman. Sie haben eindeutig etwas Rührendes. Geputzt sind sie auch nicht, aber es ist nicht das Ungeputzte, weshalb sie rührend sind; zudem sind sie alt und schon einigermaßen farblos, auch das nicht eigentlich rührend, aber während Viszman über Tahiti liest, sehe ich seine Schuhe irgendwo ohne ihn stehen, vor einem Sessel, vor einem Bett, vor einer Tür, irgendwo ausgezogen, wo sie hingehören. Viszman sehe ich nicht. Nur seine Schuhe.

Es ist sehr viel leichter, jemanden umzubringen, dessen Schuhe nicht so rühren, sondern nach Geld und Schick und Schuhladen aussehen, nach Schuhlöffel sozusagen, um in die Schuhe hineinzusteigen. Schuhe sind Rangabzeichen, hat meine Mutter mir beigebracht: bei einem Mann immer zuerst auf die Schuhe schauen, hat sie mir immer geraten, Schuhe und Hände sowie die Armgelenke eines Menschen mit der dazugehörigen Uhr daran sagen über den Menschen viel aus, besonders bei einem Mann, hat sie mir eingeschärft. Meine Mutter würde einen Träger solcher Schuhe, wie Viszman sie anhat, glatt übersehen, einfach nicht kennen wollen, wenn nicht sogar ausdrücklich meiden, dazu das demonstrative Fehlen der Uhr und der Uhrenmarke an der Uhr, von der Krawatte zu schweigen; sie würde den Kopf schütteln, wenn ich ihr mit Rührung käme wegen der offenkundigen Vernachlässigung des Schuhwerks. Natürlich kann jemand, der sich mit Diderot beschäftigt – eine konsequente Beschäftigung übrigens für einen Ex-Trotzkisten –, sich nicht um seine Schuhe kümmern: für jeden Diderot-Leser können Schuhe nichts anderes sein als reine Gebrauchsgegenstände, Schuhe haben so lange getragen zu werden, bis die Sohlen entzwei sind; das Tragen der Schuhe, bis die Sohlen durch sind, ist im Grunde angewandte Kulturkritik im Sinne der Enzyklopädisten.

Meine Mutter wird mir heute abend ihre Neuerwerbungen vorführen und beiläufig meine Stiefel mißbilligen, die sie vom Frühling schon kennt und vom vorigen Winter, sogar noch länger. Die hattest du schon in der letzten Saison an, sagt sie und zeigt mir ihre nagelneuen Schuhe für jede Gelegenheit: Straßenschuhe, Opernschuhe, Wanderschuhe, Turnschuhe, Berufsschuhe, davon gleich mehrere Paar, weil man nicht jeden Tag mit denselben Schuhen zur Arbeit gehen kann, während Viszman offensichtlich jeden Tag dieselben Schuhe anhat als praktizierender Diderot-Kenner und Enzyklopädist. Natürlich könnte seine Frau sich um seine Schuhe kümmern.

Meine Mutter kümmert sich nicht nur um ihre Schuhe, sondern auch um die Schuhe meines Vaters, der in seiner Jugend schließlich auch Trotzkist war, allerdings nach seiner Abkehr vom Trotzkismus nicht den Weg zurück gefunden hat zu den Anfängen europäischer Kulturkritik, sondern direkt in den Antikommunismus fortgeschritten ist, wie bekanntlich viele Kommunisten geradewegs nach ihrer Abkehr vom Kommunismus die entschiedensten Vertreter eines Antikommunismus geworden sind, der seinen kritischen Blick auf das Schuhwerk eines Menschen wirft anstatt auf die Anfänge europäischer Kulturkritik und Diderot. Meine Mutter hat meinen Vater trotz seines Trotzkismus geheiratet und ihn früh mit neuen Schuhen versorgt, die ihn den Weg in den Antikommunismus leichter haben beschreiten lassen. In ganz Europa gibt es allenfalls noch fünf Menschen, die die Lektüre von Diderot mit dem Boykott antikommunistischen Schuhwerks verbinden.

Sonderbar ist, daß zwei Fünftel davon in einem Abteil sitzen. Die anderen drei würden mich interessieren.

Sie sitzen jedenfalls nicht im Abteil, obwohl die Inspektion der Nationalparks und Naturschutzgebiete der Kulturkritik Diderots im weiteren Sinne nicht ganz und gar fern steht. Natürlicherweise ist, wer die Nationalparks vor ihren Direktionen zu schützen versucht, ob wissentlich oder nicht, Rousseauist, also Kulturkritiker an sich. Was sonst sollte unter Naturschutz im Sinne Rousseaus zu verstehen sein als Kulturkritik an den Direktionen der Nationalparks und ihren Potemkinschen Dörfern wie auch an den dunklen Geschäften eines Monsieur Barbagelata, mit dessen Waffenexporten die endgültige Zerstörung Tahitis vollzogen wird, die bereits Diderot für unwiderruflich gehalten und prophezeit hat. Die Inspektoren tragen entsprechend Naturschützer-Schuhwerk, robust und dick eingefettet, mit dem sich die europäischen Sümpfe beschreiten lassen.

Ich werde Viszman nicht wegen seiner Kulturkritik töten, die ich, im Gegensatz zu seiner trotzkistischen Jugendsünde, mit ihm und noch drei anderen Europäern teile.

Im Grunde ist es ein Jammer, mit der Person Viszmans ein Fünftel der europäischen Kulturkritik zu erledigen, ein Fünftel derer, die die Lektüre Diderots mit dem Boykott antikommunistischen Schuhwerks zu verbinden bereit sind, weil eine Theorie umgesetzt werden muß in eine vernünftige Praxis. Diese Praxis kann schließlich nicht sein, Schuhe als solche radikal zu boykottieren und beispielsweise barfuß durch die europäischen Sümpfe zu schreiten, nicht einmal Diderot ist es ums Barfußgehen an sich gegangen, und ob es Rousseau darum ging, müßte ich nachschauen oder Viszman fragen, an den Inspektoren ist immerhin festzustellen, daß Rousseau verwässert in den staatlichen Naturschutz Eingang gefunden hat: Digitaluhren, Uhren überhaupt, die Zeittaktigkeit des Lebens sowie des staatlichen Naturschutzes muß jeder konsequent zu kulturkritischer Praxis entschlossene Diderot-Leser boykottieren, darin bin ich mit Viszman und den drei anderen Fünfteln der europäischen Kulturkritik einig. Meine Schuhe sehen entsprechend aus.

Ein Blick auf meine Schuhe, und jedes Gericht der Welt wird mir meinen Antikapitalismus umstandslos glauben, den ich bereit bin, auf meinen Eid zu nehmen. Keiner soll mich für einen Strohmann des Monsieur Barbagelata halten, der bekanntlich nicht nur von der Trockenlegung der Sümpfe im ganzen Land profitiert, sondern an der Zerstörung Tahitis aktiv beteiligt ist und den zu erledigen wahrscheinlich sinnvoller wäre, als ein Fünftel der europäischen Kulturkritik auszuschalten.

Meinem Verleger morgen ist es ziemlich egal, wen ich ausgeschaltet habe. Sogar seine Bedenken gegen mein schriftstellerisches Handwerk entfallen, wenn er hört, daß ich polizeilich gesucht werde. Plötzlich duzt er mich. Wir haben uns wegen seiner Bedenken immer gesiezt, weil es leichter ist, einer schlecht verkäuflichen Schriftstellerin bei Gelegenheit einmal das Handwerk zu legen, wenn man »Sie« zu ihr sagt und ihr »Sie«-sagend beibringen kann, daß ihr konsequenter Antikapitalismus auf der Basis von Diderot ein kostspieliger Luxus für einen Verleger ist, der sich einen solchen Luxus zwar sehr gern leisten würde, aber um ihn sich leisten zu können, müßte er hin und wieder ein Buch verkaufen. Er findet es lächerlich, wenn ich ihn auf die vier der fünf Kritiker europäischer Kultur aufmerksam mache, die sich nicht nur konsequenten Antikapitalismus, sondern auch meine Bücher leisten können, Zahlen, sagt der Verleger, Ihre Verkaufszahlen. Morgen abend ist von betrüblichen Verkaufszahlen nicht mehr die Rede, sondern von Mord.