Am späten Nachmittag erreichte Yasha das kleine Dorf am Fuße des ungarischen Pilisgebirges. Schon von weitem sah er ein Schild, auf dem eine Rose abgebildet war. Die halbgeöffnete Blüte umschlang ein geflügelter Drache. Darunter stand »Kyril Mayar, Alchimist und Gelehrter«.
Das Gartentor stand einladend offen. Fröhlich hüpfte Yasha den breiten Weg entlang, der durch den Garten zum Haus führte. Plötzlich hörte er neben sich eine Stimme, die murmelte: »Er riecht wie Erde an einem Junimorgen, wie der Duft der Blüten in der Luft, wie der heiße Atem des Feuers und wie der süße Geruch des Regens auf ausgedörrter Erde.« Neugierig blieb Yasha stehen. Ein alter, zierlicher Mann mit einem Strohhut auf dem Kopf stand in einem Beet und pflückte Salbeiblüten. »Wie der süße Geruch des Regens auf ausgedörrter Erde«, wiederholte er und ließ eine Handvoll Blüten ins Körbchen rieseln, das an seinem Arm hing. In diesem Moment entdeckte er den fremden Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte.
Onkel Kyril war sehr alt, aber seine Stimme klang erstaunlich jung und seine klugen Augen blitzten munter, als er Yasha in die Küche führte. Vor dem Herd stand eine kugelrunde Frau in einem langen dunklen Kleid. Yasha starrte fasziniert auf ihren breiten Rücken, den eine gigantische weiße Schleife zierte. Wie ein Dirigent hatte sich Frau Masa vor den dampfenden Kochtöpfen aufgebaut und schwang ihren Kochlöffel so elegant, als würde sie eine Staatsoper dirigieren. Ihre Füße steckten in klobigen Lederstiefeln. Auf dem Kopf trug sie einen fein geknoteten Dutt, den sie mit seltsamen Schleifchen geschmückt hatte.
»Frau Masa,
Frau Masa!
Schauen Sie, wir haben Besuch! Das ist Yasha, ein Freund von Anna und Georgy! Er hat sicher großen Hunger und ich auch!«, rief Onkel Kyril und stellte den Korb mit den Salbeiblüten auf dem Küchentisch ab. Mit einer erstaunlich flinken Bewegung wirbelte Frau Masa herum und strahlte sie an. Das Wort Besuch klang wie Musik in ihren Ohren und wenn das Wort hungrig fiel, lief sie zur Höchstform auf. »Frau Masa hilft mir im Haushalt. Sie hat bestimmt etwas Gutes gekocht. Hast doch Hunger oder, min Jung?«, flüsterte er Yasha verschwörerisch zu. Yasha lächelte, Onkel Kyrils Art zu reden erinnerte ihn an Anna. Frau Masa winkte die beiden an den Herd und lüpfte einen Topfdeckel. Yasha lief das Wasser im Mund zusammen. Voller Genugtuung zauberte Frau Masa ein Löffelchen aus ihrer schneeweißen Schürze. »In einer halben Stunde ist das Essen fertig. Aber du kannst schon mal probieren. Na, fehlt noch was?« Wie erwartet schüttelte Yasha den Kopf.
Während sie
auf das Essen
warteten, erzählte Yasha dem Gelehrten von den Vampiren, die den Pferdehändler Georgy fast getötet hätten, und vom Verdacht, dass seinen Eltern, der Ärztin Panna und ihrem Mann Androsh etwas zugestoßen sein könnte.
Nachdenklich drehte Onkel Kyril seinen Strohhut in den Händen. »Es klingt fast so, als würde es da einen Zusammenhang geben! Die Einladung zu der Kinopremiere war bestimmt eine Falle! Denk nach, Yasha! Was haben alle beteiligten Personen gemeinsam?«, fragte Onkel Kyril und sah Yasha aufmerksam an. »Sie sind mir alle wichtig!«, antwortete der Junge wie aus der Pistole geschossen. »Einen guten Verstand hast du, min Jung. Es sind Menschen, die du kennst und die dir wichtig sind! Wer also könnte den Menschen, die du liebst, schaden wollen? Wer?« Yasha lief es kalt den Rücken hinunter. Auf diese Fragen gab es nur eine Antwort: »Zürban, Olav Zürban!«, flüsterte er. Onkel Kyrils schmales Gesicht wurde eine Spur blasser und der gütige Gesichtsausdruck verschwand. Nach einer Weile fragte er: »Du meinst den Magier Olav Zürban aus dem Halbdunkelwald?«
Yasha nickte
und der alte Gelehrte
fuhr fort: »Gütiger Gott! Ich habe Olav gekannt. Das ist lange her. Wir studierten damals bei einem alten, sehr berühmten Meister Alchimie. Als ich Olav kennenlernte, hatte er sich noch nicht entschieden, ob er sich der weißen oder der schwarzen Magie zuwenden würde. Ich habe ihn damals sehr bewundert, denn er war unglaublich klug und wissbegierig. Er entwickelte die Olav-Zürban-Strahlentheorie. Unser Meister war sehr beeindruckt von dieser Leistung und unterstützte ihn in jeder Hinsicht. Am Anfang hielt sich Olav noch an die Regel, niemals alleine im Laboratorium zu experimentieren. Doch dann beobachteten wir, dass er sich nachts heimlich ins Labor schlich, um mit den OZ-Strahlen gefährliche Versuche durchzuführen. Etwa zu dieser Zeit veränderte sich sein Wesen. Olav wurde ein finsterer, unheimlicher Einzelgänger, dem wir lieber aus dem Weg gingen. Als er eines Tages verschwand, waren wir alle erleichtert. Yasha, aber nun erzähle mir, was du mit dem Schwarzmagier zu tun hast!«
Onkel Kyrils Gesicht wurde immer ernster und er unterbrach Yasha nicht ein einziges Mal. Als der Junge seinen Bericht beendet hatte, sagte der Alchimist: »Yasha! Ich glaube der große Kampf steht unmittelbar bevor, denn Zürban verstärkt bereits seine Kräfte, indem er Menschen, die du liebst, in seine Gewalt bringt. Komm mit, min Jung! Es ist höchste Zeit!«
Aufgeregt folgte Yasha Onkel Kyril in den Keller. Eine Glühbirne erhellte den weiß gestrichenen halbrunden Gang. Alles sah sehr sauber und gepflegt aus. Onkel Kyril öffnete eine grüne Holztür. In der kleinen Kammer hingen große Bündel mit Heilkräutern. Ihr Geruch erfüllte den Raum, als Onkel Kyril sie zur Seite schob und einen Ziegelstein aus der Mauer zog. Dann betätigte er einen kleinen Knopf. Schleifende, quietschende und schabende Geräusche ertönten. Diese Tür musste uralt sein. Es dauerte fast eine Minute, bis sich die Tür öffnete und ihnen ein leichter Lufthauch entgegenwehte. Eine grob in den Stein gehauene Wendeltreppe führte in die Tiefe. Der Talisman begann sanft zu glühen, als Yasha dem Alchimisten folgte.
»Niemand weiß,
wie alt die Gewölbe
dort unten sind. Sie wurden vor Urzeiten in den Fels geschlagen. Die alchimistische Werkstatt hat mein Urgroßvater eingerichtet. Damit das Feuer in den Schmelzöfen genug Sauerstoff bekommt, ließ er ein kompliziertes Belüftungssystem anlegen.« Hinter ihnen schloss sich die Tür mit einem lauten Knall. Die Treppe endete in einem hallenartigen Raum. Yasha sah sich um. Dies war also Kyril Mayars geheimes alchimistisches Laboratorium. Es gab mehrere Öfen, vor denen Blasebalge lagen. Neben den Öfen waren riesige Stapel Brennholz aufgeschichtet. In der Mitte des Raums standen seltsame Gefäße und Apparaturen. Manche waren mit Rohren verbunden. Auf den Arbeitstischen stapelten sich Bücher und Notizblätter. Liebevoll pustete Onkel Kyril die dicke Staubschicht von einer bauchigen Glasflasche und für einen kurzen Moment verschwand er in der aufsteigenden Dunstwolke. »Hatsch, Haaatschiii! War lange nicht hier unten!«, nieste er und suchte nach einem Taschentuch.
Yasha beugte sich neugierig über ein aufgeschlagenes Buch. Es war sehr, sehr alt. Der Junge runzelte die Stirn und blätterte vorsichtig die Seiten um. Er sah seltsame Buchstaben, Symbole und Zahlen, die für ihn keinen Sinn ergaben. Onkel Kyril kicherte: »Wir Alchimisten halten unsere Arbeit geheim. Damit nur Eingeweihte die Notizen lesen können, benutzen wir Geheimschriften. Das Buch, das du dir gerade ansiehst, wurde im Jahre 1584 von meinem Vorfahren Michael Mayar geschrieben. Er stammte aus Rendsburg. Das ist eine kleine Stadt in Norddeutschland. Michael war ein berühmter Mediziner. Doch irgendwann entdeckte er seine Leidenschaft für die Alchimie. Er lernte, wie man Metalle und andere Substanzen nach geheimen Formeln mischt und experimentierte mit Kupfer, Blei, Arsen, Schwefel und vielen anderen Substanzen. Tage und Nächte verbrachte er an den glühenden Schmelzöfen. Schließlich kam er einem Geheimnis auf die Spur. Es gelang ihm, den Stein der Weisen herzustellen. Sein Stein ist von einer ganz besonderen Art. Er riecht wie Erde an einem Junimorgen, wie der Duft der Blüten in der Luft, wie der heiße Atem des Feuers und wie der süße Geruch des Regens auf ausgedörrter Erde. Man kann aus einer winzig kleinen Menge viel Gold herstellen. Aber es gibt noch bessere Dinge, die ein solcher Stein bewirken kann. Der steinerne Schmetterling, den du um den Hals trägst, ist aus einem Stein der Weisen erschaffen worden, Yasha. Deswegen hat er, wie du weißt, magische Kräfte.«
Yasha
schaute Onkel Kyril
erstaunt an. Einen Geruch hatte er noch nie an dem steinernen Schmetterling bemerkt, sollte ihm da etwas entgangen sein? Der Talisman glühte noch immer sanft, als Yasha ihn laut schnüffelnd an seine Nase hielt. »Nicht alle diese Steine haben einen Geruch, Yasha. Aber jeder einzelne ist ungeheuer kostbar, denn das Rezept, wie man sie herstellt, ging verloren. Das heißt, ganz verloren ist es nicht. Ich habe es im alchimistischen Archiv verbummelt. Mein Vorfahre Michael Mayar hatte die Rezeptur in Geheimschrift auf ein Blatt Pergament geschrieben. Damit das lose Blatt nicht verknickt, habe ich es in ein Buch gelegt. Ich weiß nur nicht mehr, in welches! Na ja, vergessen wir das! Jedenfalls ist seit mindestens 177 Jahren kein Stein der Weisen mehr hergestellt worden. So, nun komm, min Jung! Wir schauen uns jetzt den Stein an!«, sagte Onkel Kyril und drückte auf einen kleinen grünen Knopf an der Wand.
Vor ihnen
öffnete sich
eine Tür, hinter der ein niedriger Stollen noch tiefer in den Berg führte. Nach wenigen Metern standen sie vor einer weiteren Tür, die sich geräuschlos öffnete. Yasha zählte insgesamt sieben. Sie glitten wie von Geisterhand bewegt zur Seite. Und dann sah Yasha ihn: Michael Mayars Stein der Weisen! Er sah aus wie eine kleine rötliche Bohne. Ein starker Duft von Erde, Blüten, Rauch und Feuchtigkeit durchdrang den Raum. Onkel Kyril rannte aufgeregt zu seinem Stein. »Hast du schon einmal Gold mit ihm gemacht?«, fragte Yasha neugierig. »Natürlich, min Jung! Aber wie du siehst, ist der Stein im Laufe der Jahrhunderte sehr klein geworden. Ich habe nur ein einziges Mal aus einem winzigen Stück Gold hergestellt, als jemand in großer Not war. Aber nun zurück zu dir und Olav Zürban. Wir machen jetzt ein Experiment. Sei so gut und lege deinen steinernen Schmetterling ganz dicht neben den kleinen Stein, Yasha!«, flüsterte Onkel Kyril.
Erwartungsvoll beugte sich Yasha über den kleinen Stein, der vor ihnen auf einem Felsblock lag. Als der Talisman ihn berührte, leuchteten beide hell auf und tauchten den Raum in rötliches Licht. Die Luft füllte sich mit pulsierenden Wellen. Yasha schloss die Augen. Angeneh-
me Wärme durchflutete seinen Körper. Wie durch Watte hörte er Onkel Kyrils Stimme: »Die beiden Steine verstehen sich. Sie vereinen ihre Kräfte. Sie sprechen miteinander.« »Sie sprechen miteinander«, hallte der Satz in Yashas Kopf wider. Für eine Weile war es so, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Dann fühlte Yasha, dass die Energiewellen abebbten. Onkel Kyril hatte die beiden Steine getrennt.
Nachdenklich
verließen sie die
Kammer und verriegelten die sieben Türen hinter sich. Im Laboratorium schwebte, fast unmerklich, der zarte Geruch von Erde, Blüten, Rauch und Feuchtigkeit. Onkel Kyril setzte sich an einen der Tische und deutete einladend auf den Stuhl gegenüber, bevor er sagte: »Hast du gehört, was die Steine gesagt haben?« Yasha schüttelte den Kopf und beugte sich gespannt vor. »Ihre Stimmen waren überirdisch, hoch und sirrend. Der Raum füllte sich mit hellen Tönen. Es klang so, als wenn sich die Steine liebevoll begrüßten. Dann aber wurden die Töne lauter, aufgeregt, ja, fast so, als würden sie miteinander streiten. Nach einer Weile wurden sie wieder ruhiger, die Töne meine ich, und plötzlich verstand ich Wörter! Die Steine haben gesagt, wie wir Olav Zürban besiegen und so den Trennungsfluch, der auf dir und deinen Eltern lastet, aufheben können!
Ursprünglich erschufen Alchimisten
diese Steine der Weisen, damit sie ihre Besitzer schützen und ihnen in schwierigen Situationen helfen. Es liegt nicht in ihrer Natur, anderen Geschöpfen zu schaden. Doch mit Hilfe der Alchimie können wir sie verändern. Wird der Stein der Weisen in seine flüssige Form gebracht, entsteht das große Elixier. Es ist eine tödliche Waffe gegen das Böse. Für den Stein ist es ein großes Opfer, denn im Moment der Umwandlung stirbt er. Ich glaube, die Steine haben sich darüber gestritten, wer von ihnen es sein soll.« Erschrocken drückte Yasha den Talisman an sich. Sein Vater hatte ihm den steinernen Schmetterling anvertraut und nun sollte er ihn vernichten, um sie alle zu retten? Wie sollte er eine so wichtige Entscheidung treffen? Tränen liefen über sein Gesicht und tropften auf den Talisman. Der alte Alchimist hüstelte leise: »Schon gut, min Jung! Nicht weinen! Sie haben nicht gesagt, welchen wir nehmen sollen. Vielleicht reicht mein kleiner Stein! Es ist das erste Mal, dass ich das große Elixier herstelle. Ich erinnere mich, dass in meinen alten Büchern, die noch im alchimistischen Archiv der Michael-Mayar-Stiftung stehen, verschiedene Rezepturen erwähnt werden. Wir müssen sie alle studieren und uns gut überlegen, nach welchem Rezept wir das große Elixier zubereiten! Yasha, du musst nach Budapest reisen und diese Bücher holen!« Die Michael-Mayar-Stiftung mit ihrem großen Archiv war einst Onkel Kyrils Arbeitsplatz, aber das war lange her. Seit der alte Gelehrte nicht mehr in Budapest wohnte, kümmerte sich niemand mehr um das Gebäude. Die schmutzigen Fensterscheiben starrten Yasha an wie blinde Augen und der Kiesweg, der zum Haupteingang führte, war von Unkraut überwuchert. Yasha öffnete die Tür. Im Flur roch es muffig. Yasha zog die Nase kraus, das war ein ungemütlicher Ort. Vorsichtig pustete er eine Spinne vom altmodischen Lichtschalter und legte mit spitzen Fingern den kleinen Hebel um. Widerwillig flackerte eine Glühbirne auf und beleuchtete den langen Flur. Yasha las die kleinen Schildchen an den Türen: »Sekretariat – Büro Kyril Mayar – Alchimistische Bibliothek« Neugierig öffnete er die Tür. Die Bücherregale nahmen den ganzen Raum ein und reichten bis an die Decke. Im Gegensatz zur wohlgeordneten Bibliothek in Sibiu standen die Bücher hier nach Onkel Kyrils ganz persönlicher Idee von Ordnung in den Regalen. Yasha öffnet ein Fenster. Der Luftzug blähte die gestreiften Gardinen auf wie zwei Segel.
Von der Wand schaute
der Alchimist
Michael Mayar aus einem vergoldeten Bilderrahmen nachdenklich auf Yasha herab. Zwischen dem Bild und der Rückwand des Rahmens hatte Onkel Kyril ein kleines Heftchen versteckt. Darin hatte der Alchimist sein ganzes Wissen über geheime Schriften notiert. Yasha wischte sich die staubigen Hände an seiner Hose ab und blätterte es durch. Überall hatte Onkel Kyril geheimnisvolle Symbole notiert. Yasha seufzte: Es würde viel Zeit kosten, die in Geheimschrift geschriebenen Buchtitel zu entschlüsseln. Schnaufend schleppte er die schwere Leiter zum Regal, das gleich neben der Tür stand, und kletterte wieselflink hinauf zur obersten Bücherreihe. Systematisch zog er jedes Buch hervor. Nachdem der Buchtitel übersetzt war, verglich Yasha ihn mit der Liste, die Onkel Kyril für ihn aufgeschrieben hatte. Dabei schimpfte er ausgiebig über die Alchimisten und deren verflixte Geheimschriften! Als es dunkel wurde, hatte Yasha noch nicht einmal die Hälfte der Bücher gefunden, die Onkel Kyril brauchte, um das große Elixier herzustellen. Die Aussicht darauf, die Nacht in diesem verlassenen Haus zu verbringen, war nicht sehr verlockend.
Onkel Kyrils alte Wohnung befand sich ganz oben im Dachgeschoss der Michael-Mayar-Stiftung. Mit einer waghalsigen Kletteraktion über das Treppengeländer überwand Yasha ein paar zerbrochene Holzstufen und betrat die Wohnung. Die verrosteten Federn des alten Sofas quietschten empört auf, als Yasha sich todmüde darauf fallen ließ und sofort einschlief.
Zur gleichen Zeit standen draußen zwei Gestalten und beobachteten die Michael-Mayar-Stiftung. Oben im Dachgeschoss brannte Licht. Wer hatte sich dort eingenistet? Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie näher. Der Kies knirschte leise, als sich Yashas Eltern durch das offene Fenster in den Raum mit der alchimistischen Sammlung schwangen. Leise öffnete Laszlo Dvorach die Tür zum Flur. Trotz seines steinernen Fußes bewegte er sich fast lautlos durch die Dunkelheit.
Vor der Treppe
blieb er
stehen und lauschte. Alles blieb still. Laszlo schlich zurück in den Büchersaal und schaltete das Licht an: »Der da oben schläft bestimmt! Die Hälfte der Treppenstufen ist zerbrochen. Wir werden schon hören, wenn er runterkommt«, flüsterte er und strich seiner Frau beruhigend über den Arm. »Dass sich oben in der Wohnung jemand aufhält, macht mir Angst! Denk an die Falle im Kino, an Panna und Androsh. Die Armen! Wenn Olav Zürban uns zu fassen bekommt, wer kann Yasha dann helfen?« flüsterte Clara verzweifelt. Laszlo Dvorach zog seine Schultern unbehaglich nach oben. »Verfluchter Zürban! Er hat uns das alles eingebrockt!«, knirschte der Weißmagier und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sich seine Hände um den Hals des Schwarzmagiers legen und zudrücken würden! Claras Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken: »Schau mal, Laszlo! Die Bücher auf dem Tisch lagen gestern noch nicht hier! Wahrscheinlich hat der Unbekannte sie herausgesucht«, flüsterte sie leise. Laszlo Dvorach griff nach dem obersten Buch. »Universalwerk über die Transformation der Elixiere« stand darauf. Neugierig sah der Weißmagier den Stapel durch. »Das ist unglaublich! Wer auch immer dort oben ist, interessiert sich für das große Elixier. Wenn ich mich richtig erinnere, wird es aus dem Stein der Weisen hergestellt. Sollen wir uns bemerkbar machen, um den Unbekannten kennen zu lernen? Vielleicht ist es sogar Onkel Kyril?«, fragte Laszlo. Clara saß auf dem Tisch und baumelte eine Weile nachdenklich mit den Beinen, bevor sie antwortete: »Weißt du, wie alt er jetzt ist? Nein! Schon als Anna und Georgy heirateten, konnte er schlecht laufen. Er könnte niemals die kaputte Treppe überwinden. Jetzt sei leise und lass uns anfangen! Wir müssen Michael Mayars alte Rezeptur finden, damit wir endlich einen neuen Talisman herstellen können!«, entschied Clara.
Im Halbdunkelwald
saß die
dunkle Seherin auf der Bank vor ihrer Hütte. Zufrieden kuschelte sich sie sich in die weiche Decke aus Maulwurfsfell und schloss die Augen. Eigentlich lief alles perfekt. Das große Duell stand kurz bevor und Yasha hatte diesmal keine Chance. Bald würde er auf Knien darum betteln, ihrem Bruder in den Halbdunkelwald folgen zu dürfen. Natürlich würde sich der Bengel, sobald seine Eltern und Freunde außer Gefahr waren, wehren und ein furchtbares Theater machen. Die dunkle Seherin lächelte schelmisch. Bei ihnen stand dem Jungen eine goldene Zukunft bevor. Sie mussten ihn nur davon überzeugen, dass die schwarze Magie für ihn das Beste wäre. Und verwöhnen würde sie den Adoptivsohn ihres Bruders! Ha! Über diese Gedanken schlummerte sie ein.
Aus ihrem Schlaf glitt ein Traum davon und machte sich auf die Suche nach ihrem Bruder. Der Traum flog über die sanften, grünen Hügel des Schwarzwaldes und landete in einem kleinen Dorf mitten auf der Hauptstraße. Die dunkle Seherin schnarchte im Schlaf belustigt auf, als sie ihren Bruder entdeckte. Olav stand vor einem Trachtengeschäft. Er war dick wie ein Fass und die rote Weste spannte sich stramm über seinen Bauch. Auf dem Kopf trug er einen kleinen schwarzen Hut. Nicht weit von ihm schwirrten seine kleinen Spione. Einer der schwarzen Schmetterlinge flatterte direkt neben Olavs Ohr auf und ab. Scheinbar in Gedanken versunken schweifte der Blick des Schwarzmagiers über die Schaufenster. Ein Paar im mittleren Alter steuerte Arm in Arm auf das Trachtengeschäft zu. Das könnten die Gösslers sein. Neugierig schickte die dunkle Seherin ihren Traum näher heran. »Komm mit in den Laden!«, kicherte Frau Gössler. »Mein Schatz, schau dir diese entzückenden kleinen Trachtenpüppchen hier im Schaufenster an! Ich wünschte, wir würden so aussehen, ohne in das Geschäft zu müssen!«, brummte Herr Gössler gutmütig. Eine Gruppe Fußgänger verdeckte für einen kurzen Moment die Sicht. Über ihnen bemerkte die dunkle Seherin das verdächtige Glitzern des Wexelstaubes. Als die Menschen vorbeigeeilt waren, sah sie, dass ihr genialer Bruder zwei kleine Püppchen vom Boden aufhob. Ihr Bruder war wirklich immer für eine Überraschung gut: Olav hatte die Gösslers in Puppen verwandelt.
Im oberen Stockwerk der Michael-Mayar-Stiftung knarrte der Holzboden und leise Schritte verrieten, dass sie sich beeilen mussten. Clara Dvorach stand neben dem Regal und rieb sich den schmerzenden Rücken. Sie war müde und unendlich enttäuscht. Nichts, aber auch gar nichts hatten sie gefunden, was ihnen helfen könnte, einen Stein der Weisen herzustellen.
Über ihr auf der Leiter blätterte der Weißmagier in einem Buch. Ein loses Blatt rutschte zwischen den Seiten heraus. Es segelte dicht an Clara vorbei und rutschte mit einem schleifenden Geräusch unter ein Regal. »So, das sind die letzten aus der Reihe! Lass das Blatt liegen, Clara! Hilf mir lieber, die Bücher nach Michael Mayars Geheimschrift zu durchsuchen«, stöhnte der Weißmagier und balancierte mit einem schweren Bücherstapel auf dem Arm die Leiter herunter. Clara kniete vor dem Regal und tastete über den staubigen Boden. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Laszlo, der mit tiefen Ringen unter den Augen die letzten Bücher durcharbeitete. Da war es ja. Mit den Fingerspitzen fühlte sie das Blatt. Es hatte sich in der Fußbodenleiste verklemmt. Mit einem vorsichtigen Ruck zog sie es unter dem Regal hervor. Auf dem vergilbten, brüchigen Pergament erkannte sie sofort die Geheimschrift Michael Mayars. Eine kleine Rose in einem Kreis war sein Symbol für das C.
Ein triumphierendes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie ihrem Mann den Bogen reichte. Oben in der Wohnung knarrte eine Tür. Laszlo und Clara wechselten einen kurzen Blick. Schnell stellten sie die Bücher zurück in das Regal. Der Weißmagier griff die Leiter und lehnte sie ans Regal neben der Tür. Im Flur polterte es laut. Hastig griff sich Clara das Pergament. Nach einem kurzen Blick zurück zur Tür kletterten sie aus dem Fenster. Mit einem feinen Lächeln zog es Laszlo hinter sich zu.
Yasha hatte schlecht
geschlafen. Das verdankte er dem Talisman, der mitten in der Nacht begonnen hatte, verrückt zu spielen, und sich noch immer nicht beruhigen konnte. Mal leuchtete er, mal zitterte oder pendelte er und zweimal verbrannte er Yasha sogar. »Was ist nur mit dir los? Mir gefällt es hier auch nicht. Sobald wir die Bücher für Onkel Kyril zusammenhaben, verschwinden wir von hier, versprochen!«, sagte Yasha, während er sich auf das Treppengeländer schwang. Mit einer gewissen Befriedigung sah Yasha die kaputten Treppenstufen an sich vorbeisausen. Mit Schwung landete er im Erdgeschoss und wappnete sich für den letzten Teil der Büchersuche. Erst zwei Tage später fand Yasha das letzte Buch. Vor Freude lachend hüpfte er durch den Raum. In Gedanken sah er vor sich, wie er und Onkel Kyril im Laboratorium an der Herstellung des großen Elixiers arbeiten würden. Triumphierend hob er den steinernen Schmetterling in die Höhe und jubelte: »Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, dass du mich und die Bücher zu Onkel Kyril bringst!«
Der Talisman leuchtete verärgert auf. Er war wütend! Die ganze Nacht hatte er versucht, Yasha zu zeigen, dass seine Eltern in der Nähe waren. Erbost schickte der steinerne Schmetterling einen scharfen Luftstrom voller Staub los. Aus dem formte er einen langen, fauchenden Lindwurm, der Yasha und die Bücher in die Höhe wirbelte.