Über die weite Einöde wehte ein eisiger Wind. Er pfiff durch den Steinhaufen neben Yasha und ließ die Gebetsfahnen flattern. Es klang so, als ob tausend Geister laut und klagend heulen würden. Yasha fror erbärmlich, aber noch schlimmer war das Gefühl, allein zu sein. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer. »Wie kann der kleine Lama so einfach verschwinden und mich, seinen Retter, allein lassen? Das ist gemein von ihm!«, schluchzte Yasha und Tränen rollten über sein Gesicht. In der Kälte erstarrten die Tränen zu funkelnden Eisperlen, die wie eine schwere Kette an seinem Hemd festfroren.
»Hallo, Yasha! Ich bin hier oben. Schau mal, die kleinen, bunten Fahnen! Die heißen bei uns in Tibet Windpferde. Die Wanderer, die hier vorbeikommen, legen einen Stein auf diesen Haufen und manche hängen auch ein Windpferd auf. Auf den Fähnchen stehen Gebete und Wünsche, die der Wind mitnimmt und hoch in den Himmel trägt! Ich habe noch eines in der Tasche. Wir hängen es für dich auf. Sag: Was ist dein größter Wunsch?« Fröhlich hüpfte der kleine Lama auf dem Steinhaufen herum, doch plötzlich stutzte er.
»Du weinst ja,
Yasha!«
Blitzschnell kletterte die kleine Heiligkeit zu Yasha herunter und umarmte ihn. »Entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken! Du hast mich doch in meine Heimat zurückgebracht«, murmelte der kleine Lama und zupfte die gefrorenen Tränen von Yashas Hemd. Leise klimpernd sprangen sie davon. »Jetzt sag, was du dir am meisten wünschst!« Schluchzend nahm Yasha das Stoffstück, das der kleine Lama ihm entgegenhielt. »Ich will meine Eltern finden und mit ihnen zusammen sein!« Die kleine Heiligkeit nickte: »Denk ganz fest an deinen Wunsch und häng das Windpferd auf!«
Leichter Schneefall setzte ein. Plötzlich deutete der kleine Lama aufgeregt nach vorne: »Da kommt er, der Lung-gom-pa! Es hat geklappt! Ich habe ganz fest an den Lung-gom-pa gedacht und ihn gebeten, eine Überraschung für dich hierher zu bringen!«, jubelte er.
Yasha kniff die Augen
zusammen. Weit weg,
an einem schneebedeckten Berghang, bewegte sich ein kleiner schwarzer Punkt mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Das konnte kein Mensch sein. »Bestimmt eine optische Täuschung, aber optische Täuschungen haben keine Schatten«, dachte Yasha verwundert. Als der Punkt näher kam, sah Yasha, dass der Lung-gom-pa ein tibetischer Mönch war. Sein gelbes Gewand flatterte um seine Beine und auf dem Arm trug er ein großes Bündel. Als er die beiden Freunde erreichte, war er kein bisschen außer Atem. Lächelnd verbeugte er sich vor der kleinen Heiligkeit.
Der kleine Lama segnete den schnellen Mönch. Dann steckten sie tuschelnd die Köpfe zusammen und entrollten das Bündel. Eine Fellmütze, eine wattierte Hose und ein schwerer Mantel, der mit Fell gefüttert war, kamen zum Vorschein. Kichernd halfen sie Yasha, die schwere tibetische Kleidung anzuziehen. »Yasha! Du hast mir geholfen nach Tibet zurückzukehren und dafür möchte ich dir etwas schenken. Ich weiß, dass du schnell nach Budapest möchtest, um deinen Eltern zu helfen. Das ist eine schwierige Aufgabe, und du hast zwar den magischen Schmetterling, aber die mächtigsten Kräfte wohnen in dir selbst. Ich werde dir zeigen, wie du sie erkennen und nutzen kannst. Vertrau mir!«, sagte die kleine Heiligkeit.
Die dunkle Seherin klopfte ihrem Bruder aufmunternd auf die Schulter und deutete auf den Anfang der Liste: »Olav, auf der Insel Cabeluda leben der Riese, Steju, Marisa und ihr Sohn, der kleine Salvi-Co-Ilu. Glaube mir, es wird ganz einfach sein sie einzufangen! Die Menschen sind so dumm! Ständig wünschen sie sich Dinge, die für sie nicht gut sind. Du wirfst im richtigen Moment ein wenig Wexelstaub und schon hast du sie!«
Nachdenklich musterte Olav Zürban seine Schwester. Nach einer Weile nickte er seiner Schwester zu und rief: »Ich wexle den Ort in einem fort. Auf nach Cabeluda. Yashas Freunde in meine Hände, damit ich den Jungen an mich binde!«
Sekunden später
stand der
Schwarzmagier an einem kleinen Hafen. Ein verlassenes Segelboot dümpelte im Wasser. Olav Zürban ließ das kleine Fischerdorf hinter sich und steuerte zielsicher auf ein hübsches Gebäude zu, das etwas abseits vom Dorf direkt am Meer lag. Sonnenstrahlen schimmerten auf dem Tor, das ganz aus Perlmutt war. Darauf stand der Name Salvi-Co-Ilu. Es quietschte leise, als Olav Zürban öffnete. Vor ihm lag ein wunderschöner Garten. Aus einer Ecke versteckt hinter rosa blühenden Büschen hörte er leises Weinen. Der Schwarzmagier griff in den Beutel mit dem Wexelstaub. Sand knirschte unter seinen Stiefeln, als er leise näher schlich. Da sah er sie, Steju und der riesige Pirat standen direkt vor dem Gebüsch. Die Frau, die neben dem weinenden Kind kniete, war sicherlich die kleine Marisa. Vor ihnen im Beet war ein winzig kleines Grab zu sehen. »Es zerreißt mir das Herz, dass Salvi-Co-Ilu so traurig ist. Er hat seinen Hamster so geliebt!«, flüsterte Steju leise.
Der Riese legte ihm die Hand auf die Schulter: »Ja, ich wünschte in diesem Moment auch, dass unsere Herzen aus Stein wären! Dann würden wir die Trauer nicht fühlen. Wir werden dem kleinen Salvi-Co-Ilu einen neuen …«. Weiter kam der Pirat nicht. Auf genau so einen Wunsch hatte Olav Zürban gewartet. Rosa Blüten fielen auf den Umhang des Schwarzmagiers, als er ausholte und den glitzernden Wexelstaub auf seine Opfer warf.
Der Riese, Steju, Marisa und Salvi-Co-Ilu begannen zu leuchten. Langsam wurden ihre Körper durchsichtig, doch dort, wo sich ihre Herzen befanden, blieb ein dunkler Fleck zu sehen. Nach einer Weile waren sie ganz verschwunden. Wo sie gestanden hatten, lagen vier kleine Steine auf dem Boden. Olav Zürban grinste zufrieden und sammelte die Steine ein. Dann zog er die Liste aus seiner Tasche. Mit gerunzelter Stirn glitt der Finger des Schwarzmagiers über das knisternde Papier. Wer würde sein nächstes Opfer werden?
An einem Fluss gegenüber einem rauschenden Wasserfall machten Yasha und der kleine Lama eine Pause. Die Bergluft war glasklar und ein sanfter Wind wehte den Geruch von Kräutern zu ihnen herüber. Yasha legte seine Fellmütze neben sich auf den Boden, zog den Mantel aus und setzte sich darauf. Gerade hob die kleine Heiligkeit ihre Hand und sagte: »Yasha! Das Vertrauen in unsere inneren Kräfte macht uns sehr stark. Du hast mich gefragt, wie der Lung-gom-pa es schafft, so schnell und so weit zu laufen. Er beherrscht Körper und Geist so perfekt, dass er in der Lage ist, seinen Körper ganz leicht werden zu lassen. Dafür hat er viele Jahre die Technik Lung-gom geübt. Man darf ihn nie stören, wenn er läuft! Denn es kann tödlich für einen Lung-gom-pa sein, wenn seine Konzentration unterbrochen wird.« Yasha wiegte zweifelnd den Kopf, schließlich war er auch nie gestorben, wenn Mutter Gössler ihn bei den Hausaufgaben unterbrochen hatte. Doch der kleine Lama fuhr lächelnd fort: »Du hast dich darüber gewundert, warum Lung-gom-pa und ich in unseren dünnen Gewändern im Schnee sitzen können, ohne zu frieren. Wir beherrschen die Konzentrationsübung ›inneres Feuer‹. Wir lassen unsere Körpertemperatur ansteigen, bis uns schön warm ist. Mit Geduld und starkem Willen kann jeder Mensch ganz unglaubliche Dinge schaffen. Yasha! Bald findest du deine Eltern und musst bereit sein, gegen Olav Zürban zu kämpfen. Ich zeige dir jetzt die erste Übung, um den Weg zu deiner inneren Kraft zu finden. Setz dich bequem hin, schließ deine Augen und konzentriere dich ganz auf deinen Atem. Wenn deine Gedanken abschweifen, führe sie wieder zurück und bitte sie, sich noch ein bisschen länger auf deinen Atem zu konzentrieren!« Yasha schloss die Augen. Ganz wie der kleine Lama vorhergesagt hatte, schossen seine Gedanken mal hierhin, mal dorthin. Sie wollten so gar nicht bei dem langweiligen Atem bleiben. Da hatte Yasha eine Idee. Er stellte sich vor, dass die Gedanken niedliche kleine Hunde waren, die er immer wieder zu ihrer Mutter, dem Atem, zurückbringen musste. Als Yasha die Augen öffnete, fühlte er sich irgendwie gut. Begeistert erzählte er der kleinen Heiligkeit von seinem Erlebnis. Der kleine Lama pfiff anerkennend durch seine Zahnlücke: »Sehr gut gemacht, Yasha! Und weil es so gut geklappt hat, gleich noch eine Übung. Schau dort auf den Wasserfall! Wir erkunden mit unserem Geist, was dahinterliegt. Schließ die Augen und folge mir!« Der kleine Lama griff nach Yashas Hand. Gemeinsam konzentrierten sie sich auf den Wasserfall.
Yasha stellte sich vor,
wie der
Wasserfall über die Felswand stürzte und sich in das klare Wasser des Flusses ergoss. Kleine Strudel kreiselten über die Wasseroberfläche und wurden von der Strömung mitgerissen. Plötzlich sah Yasha den kleinen Lama durch den Fluss waten. Als wenn es gar kein Hindernis wäre, verschwand er in der Wasserwand. Ein paar Murmeltiere rasten, vor Vergnügen piepsend, hin und her durch den Wasserfall. Es gab also einen Weg auf die andere Seite. »Yasha! Nur Mut! Was die Murmeltiere können, das kannst du auch! Komm schon!«, hörte Yasha die Stimme der kleinen Heiligkeit aus weiter Ferne. In Gedanken balancierte Yasha über die nassen Steine und beobachtete die Murmeltiere. Kurz bevor sie den Wasserfall erreichten, stellten sich die Tiere auf die Hinterbeine, drehten sich mit einem Hüftschwung zur Seite und hielten sich mit ihren kleinen Vorderpfoten die Ohren zu. Und zack! Schon waren sie im Wasserfall verschwunden. »Du kannst, du kannst, du kannst! Seitwärts drehen! Ohren zuhalten und durch!«, flüsterte Yasha sich zu und holte tief Luft. Er fühlte, wie das eiskalte Wasser auf ihn herabprasselte. Es dröhnte in seinen Ohren. Der Wasserfall versuchte, ihn zurückzudrängen, aber Yasha stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Plötzlich gab das Wasser den Weg frei.
Hinter dem Wasserfall
lag ein
zauberhafter Ort. Heller Sonnenschein fiel von außen durch den Wasserfall und schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Wie ein Samtteppich bedeckten dicke, grüne Moospolster den Boden. Die großen, mit Moos bewachsenen Steine ragten wie runde Skulpturen aus dem Boden. Dazwischen blühten rosa und hellblaue Blumen, die in einem kaum spürbaren Wind zitterten. Bunte Eisvögel flogen so nahe an Yasha heran, dass er ihre weichen Federn an seinen Wangen spürte. Es war so, als wollten sie ihn begrüßen. Zwei Tibet-Antilopen mit spitzen, weißen Ohren hatten ihre Köpfe gehoben und beobachteten Yasha neugierig. Die flinken Murmeltiere waren weniger zurückhaltend. Piepsend liefen sie auf Yasha zu. Sie stellten sich auf ihre Hinterbeine und zeigten grinsend ihre langen Zähne, dabei musterten sie den Jungen mit riesigen schwarzen Kulleraugen. Ein Murmeltier war besonders vorwitzig und stupste Yasha mit der Nase an. Yasha hob vorsichtig die Hand und strich über das weiche Fell. Genüsslich rollte sich das Murmeltier auf den Rücken und ließ sich ausgiebig den Bauch kraulen.
Hinter Yasha erklang ein leises Schaben. Aus einer Felsspalte starrten ein Paar leuchtende Augen. Sekunden später purzelte ein weißes Fellknäuel zwischen den Felsen hervor. Das Knäuel fiepte empört auf und kratzte sich verlegen am Ohr. Yasha lachte erleichtert. Es war nur ein kleiner, schneeweißer Wolf. Und da, noch einer!
Aus der Dunkelheit der Felsspalte schob sich ein Schnäuzchen. Die langen Tasthaare zitterten aufgeregt, als das Wolfskind den unbekannten Geruch vor der Höhle bemerkte. Neugierig tappte es aus der Höhle und warf Yasha und den Murmeltieren schräge Blicke zu. Eine Weile überlegte der kleine Wolf, was er von dem Menschen halten sollte, der die geheimnisvolle Welt hinter dem Wasserfall gefunden hatte. Yasha blieb ganz ruhig stehen, um den kleinen Kerl nicht zu erschrecken. Nach kurzer Zeit verlor der kleine Wolf das Interesse an dem langweiligen Neuling. Flach auf den Boden geduckt schlich er auf sein Geschwisterchen zu, um mit einem wilden Satz über den Ahnungslosen herzufallen. Fiepsend und knurrend rollten die beiden Wolfskinder über den Boden. Nach einer Weile fingen sie an, sich gegenseitig zu jagen. Yasha kicherte begeistert – was für ein wunderbarer Ort.
Das zutrauliche Murmeltier schlief in Yashas Arme gekuschelt, während der Junge durch das weiche Moos stapfte und diesen wunderbaren Ort weiter erforschte. Überraschend sah er etwas Gelbes zwischen den Felsen leuchten. Es war der Lung-gom-pa. Der Mönch schwebte im Schneidersitz zwei Meter über dem Boden. Als Yasha dicht vor ihm stand, öffnete er seine Augen und fragte gütig: »Hat es dir hier gefallen, Yasha?« Der Junge lächelte verzückt und nickte. »Dann gehört dieser Ort jetzt dir. Besuche ihn, wann immer du Kraft sammeln möchtest. Aber nun musst du wieder zurück. Die kleine Heiligkeit lässt dir sagen, dass ihr weiter müsst, man erwartet euch im Kloster!«, sagte der Lung-gom-pa sanft und deutete auf die Rückseite des Wasserfalls. In diesem Moment verblassten die regenbogenfarbigen Lichtreflexe. Wie durch eine Glasscheibe sah Yasha den Fluss, die weite Ebene und die unendlich hohen schneebedeckten Berge Tibets. Da stutzte er. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses saßen zwei Gestalten und hielten sich an den Händen. Die eine war ein kleiner Mönch, die andere, Yasha staunte – das war er ja selber! Yasha fühlte, dass der kleine Lama noch immer seine Hände hielt. Ob das wunderbare Gefühl, das er in der Welt hinter dem Wasserfall gespürt hatte, bleiben würde? Vorsichtig öffnete Yasha die Augen. Die kleine Heiligkeit lächelte ihn an: »Ich sehe, du hast den Ort gefunden, an dem du deine inneren Kräfte sammeln kannst, Yasha. Das ist gut!«
Die beiden Freunde folgten schon seit Stunden dem sich windenden Flussbett. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Plötzlich zeigte die kleine Heiligkeit nach vorne und machte vor Freude einen Luftsprung. »Juhu, da ist er! Dort vorne, siehst du den Berg, der wie ein Smaragd leuchtet? Wenn wir uns beeilen, erreichen wir gegen Mittag ein kleines Dorf. Dort können wir etwas essen und uns eine Weile ausruhen, bevor wir hoch zum heiligen Wald aufsteigen!«, versprach der kleine Lama.
Der Berg war tatsächlich knallgrün, sogar dort, wo gar keine Pflanzen wuchsen. Er bestand aus Felsen, deren Adern grün schimmerten. Auf halber Höhe des Hanges erstreckte sich der heilige Pinienwald. Kleine Wege führten nach oben. Die niedrigen Häuschen des Dorfes standen eng zusammengedrängt am Fuß des Berges. Auf einem Acker versuchte ein Bauer gerade einen störrischen Yak vor den Pflug zu spannen. Dabei fluchte er leise vor sich hin. Als er die kleine Heiligkeit und Yasha kommen sah, ließ er alles stehen und liegen, um laut rufend ins Dorf zu laufen.
Als die beiden
Freunde die Häuser
erreichten, hatten sich die Dorfbewohner schon versammelt und verbeugten sich, die Hände auf Brusthöhe ehrfürchtig vor der kleinen Heiligkeit gefaltet. Der kleine Lama ging die Reihe der Menschen ab und segnete jeden von ihnen. Ein alter Bauer bat die beiden Freunde in sein Haus. Es roch nach kaltem Feuer und Weihrauch. Aus einer verbeulten Blechkanne schenkte der Alte zwei Schalen mit Buttertee ein. Mit leuchtenden Augen trank der kleine Lama das heiße Getränk. Yasha dagegen schnupperte. Es roch furchtbar ranzig, mit Mühe unterdrückte Yasha das Würgen, mit dem sein Magen versuchte, sich gegen diese zweifelhafte Köstlichkeit zu verteidigen. »Genau so soll er sein. In China haben sie immer ganz normale Butter hineingetan. In diesem Tee ist richtige Yakbutter. Lecker! Magst du ihn nicht?«, fragte der kleine Lama und leckte sich genussvoll über die Lippen. Bevor Yasha antworten konnte, öffnete sich die Tür und die Dorfbewohner betraten das Haus. Mit ihnen wehte ein appetitlicher Geruch herein. Schüsseln, gefüllt mit dampfenden Teigtaschen, getrockneten Fleischstreifen und kalten Bohnen wurden vor sie hingestellt. Zum Schluss brachte jemand eine Schüssel mit einem Brei, der verdächtig nach ranziger Butter roch. Misstrauisch ließ Yasha die Augen über die Schälchen wandern. Die kleine Heiligkeit langte zielsicher mit den Fingern in den Brei und formte geschickt eine Kugel nach der anderen, die er sich in den Mund schob. Die Dorfbewohner lächelten geschmeichelt und der alte Bauer schenkte Buttertee nach. Über Yashas voller Teeschale verharrte die Kanne. Unsicher schaute Yasha zu seinem Gastgeber auf. »Mein Freund hat ein Gelübde abgelegt!«, rettete der kleine Lama die Situation und schluckte schnell seinen Breiball herunter. »Er hat geschworen, so lange auf Buttertee zu verzichten, bis er seine Eltern wiedergefunden hat!« Fröhlich griff die kleine Heiligkeit nach Yashas voller Teeschale und zog den Brei, der tatsächlich mit Buttertee zubereitet war, zu sich heran. Die anderen Schüsseln schob er ein bisschen weiter zu Yasha herüber.
Die Dorfbewohner winkten ihnen noch lange hinterher. Die Sonne prallte auf den Felsen und es war heiß wie in einem Ofen. Yasha hatte seinen Fellmantel und die Mütze zu einem Bündel zusammengerollt und auf seinem Rücken befestigt. Sehnsüchtig blickte er zu dem schattigen Pinienwald hoch. Die kleine Heiligkeit hatte erzählt, dass dort Schneeleoparden lebten. Schwitzend und schnaufend stapften die beiden Freunde den steilen Berg hinauf. Dabei grübelte Yasha darüber nach, wie ein Schneeleopard diese Hitze hier aushalten konnte. Die Antwort kam prompt. Der Himmel wurde schwarz, riesige Wolkenmassen schoben sich über die Bergspitzen und es kam ein Sturm auf, wie es ihn nur im Himalaya gibt. Der Wind heulte, es hagelte und schneite so stark, dass Yasha und der kleine Lama fast nichts mehr sehen konnten. Sie stemmten sich gegen den Wind und kämpften sich zum Pinienwald hoch. An einem Baum mit großen knorrigen Wurzeln fanden sie Schutz. Schnell schoben die beiden Freunde die weichen Piniennadeln zusammen und schlüpften unter Yashas Mantel. »Vielleicht müssen wir uns heute noch mit der schwersten aller Übungen beschäftigen!«, prophezeite der kleine Lama verschlafen. »Welche ist das?«, gähnte Yasha zurück. »Die Bekämpfung der Angst!«, murmelte der kleine Tibeter und schlief prompt ein.
Mitten in der Nacht
wachte Yasha auf: »Ein Schneeleopard!«, dachte er erschrocken und rüttelte den kleinen Lama wach. Vorsichtig linsten die beiden unter dem Fellmantel hervor. Das Mondlicht warf gespenstische Schatten und im Wald waren unheimliche Geräusche zu hören. Yasha hielt den Atem an, als er den Schneeleoparden sah. Er hatte noch nie ein so schönes und zugleich majestätisch und gefährlich anmutendes Tier gesehen. Wie ein riesiger, weißer Kater stand der Schneeleopard zwischen den Bäumen. Seine Muskeln waren angespannt und die hellblauen Augen funkelten wie Bergseen. Das Tier entdeckte den Mantel, der zwischen den Baumwurzeln lag, unter dem die beiden Freunde verborgen waren. Die kleine Heiligkeit bewegte lautlos seine Lippen und schlüpfte unter dem Mantel hervor. Der Schneeleopard begann zähnefletschend, den kleinen Tibeter zu umkreisen. »Nein! Mein Gott, Talisman, hilf ihm!«, schrie Yasha und der steinerne Schmetterling glühte beunruhigt auf. Der Schneeleopard duckte sich zum Sprung. Da sagte der kleine Lama ganz laut und streng: »Du! Tier! Strömst aus meinem Geist. In meinem Geist wirst du versinken!« Dies wiederholte er immer lauter, bis es wie Donner durch die Dunkelheit hallte. Plötzlich wirbelte der Leopard herum und floh wie von Furien gehetzt in den Wald. »Knappe Sache!«, seufzte die kleine Heiligkeit erleichtert und rannte zu Yasha, um schnell unter den Mantel zu kriechen. An Schlaf war nach diesem Abenteuer nicht mehr zu denken, also warteten die beiden Freunde sehnsüchtig darauf, dass die Nacht vorbeiging. Beim ersten Tageslicht brachen sie auf.
»Da vorne
ist der schwarze
Punkt, der zwischen zwei weißen Riesen leuchtet!«, rief die kleine Heiligkeit glücklich. Der Ausblick auf die gigantischen Bergriesen war wunderschön, aber das Schönste war, dass sie nun ihr Ziel sehen konnten. Vor ihnen zwischen zwei weißen, schneebedeckten Gipfeln lag eine dunkle Klosterburg. Die kleine Heiligkeit hatte erzählt, dass es ein einfaches Gebäude war, denn es wurde nur wenige Wochen im Jahr bewohnt. Sobald der Schnee taute, pilgerten heilkundige Mönche hierher, um Kräuter zu sammeln. Bunte Gebetsfahnen wehten vor dem Kloster. Außen in die Mauer waren große, üppig verzierte Gebetsmühlen eingelassen. Der kleine Lama ging mit ausgestreckter Hand an ihnen entlang und drehte sie im Uhrzeigersinn, bevor sie durch das Tor schritten. Die Sonne schien warm in den Innenhof und es duftete nach Kräutern, die in großen Bündeln zum Trocknen aufgehängt waren. »Genau wie bei Panna in der Praxis. Dieser Ort würde ihr sicher sehr gefallen!«, schoss es Yasha durch den Kopf, als er der kleinen Heiligkeit ins Innere des Klosters folgte. Hier war es dunkel und still. Suchend tappten die beiden Freunde durch die Räume. Im Gebetssaal roch es nach Weihrauch. Butterlampen brannten und beleuchteten die bunten Wandmalereien, Fratzen schneidende Götter, Fabelwesen und geheimnisvolle Ornamente. Auf einem Altar am Ende des Raumes stand eine goldene Buddhastatue. Zielsicher durchquerte der kleine Lama den Raum. Durch eine kleine Tür gelangten sie in einen Nebenhof. »Schade! Es sieht so aus, als wenn alle auf den Hochwiesen sind, um Heilkräuter zu ernten. Wir holen uns jetzt aus der Küche etwas zu essen und dann habe ich eine Überraschung für dich!«, sagte die kleine Heiligkeit.
Es roch durchdringend nach Schwefel. Zwischen den Felsen neben dem Kloster gab es eine warme Quelle, Dampf stieg aus dem natürlichen Felsbecken auf. Yasha und die kleine Heiligkeit tobten so doll im Wasser, dass sogar die Handtücher, die am Beckenrand lagen, klitschenass wurden. Nun saßen sie auf den bemoosten Felsen an der Quelle und Yasha fühlte, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen. »Wo warst du eigentlich, als wir im Reich hinter dem Wasserfall waren? Ich habe doch gesehen, wie du vor mir hineingegangen bist?«, fragte er. Der kleine Lama kicherte: »Ich war die ganze Zeit bei dir! Du hast mich gestreichelt und mich herumgetragen!«
Der strahlend blaue Himmel verdunkelte sich. Ein Schwarm Schwalben, die auf dem Weg in wärmere Gefilde waren, flog heran. Der Talisman glühte. Yasha sah erstaunt auf den steinernen Schmetterling herab. Er hatte sich doch noch gar nichts von ihm gewünscht. Unter Yasha begann das Moos zu wachsen. Wie kleine Fühler reckten sich die winzigen Stängelchen in die Höhe. Sie wuchsen und wuchsen, verschlangen sich miteinander, bis sie Yasha umgaben. Langsam erhob sich das kugelrunde Geflecht in die Luft. Verblüfft sah Yasha, dass die Schwalben Moosfäden im Schnabel hielten und ihn in seiner Kugel forttrugen.
Unter ihm stand die kleine Heiligkeit in ihrem gelbroten Gewand und winkte. »Danke! Danke, kleiner Lama! Danke für alles!«, schrie Yasha begeistert und winkte zurück.