Oder bedeutete es nur, dass er es nicht mehr halten konnte und es entwischt war?
Ratte sagte, dass letzteres der Fall war.
Diese Fremden sprachen von einer Wiederkehr des wahren Herrschers, von dem Phönix aus der Asche. Was sonst konnten sie meinen, wenn nicht die Rückkehr des Feuers.
Doch für die Kinder gab es nur einen wahren Herrscher, und der schlief leider in seiner Burg.
Sie würden ihn wecken und er würde sich dem Feuer erneut stellen, in der wachen Welt.
Sie wussten natürlich nicht, wie genau sie zu seiner Burg kommen sollten.
Noch weniger wussten sie, wie man einen Mann weckte, der seit hundert Jahren schlief.
Eins nach dem anderen, sagte Ratte. Erst einmal mussten sie die Stadt finden, dann würden sie weiter sehen.
Und immer hoffen, dass das Feuer nicht schneller war als sie.
Die Landschaft, durch die sie zogen, war noch trostloser, als die, die sie kannten.
Die Dornen wurden weniger, Felsen gab es auch nicht mehr so viele.
In den ersten Tagen hatte Ratte sie noch häufig zurückgelassen, um in nahe gelegenen Dornenfeldern ihren Wasserschlauch aufzufüllen.
Von seinen Diebeszügen war er damals auch häufig voll bepackt zurückgekehrt, mittlerweile waren sie froh, wenn sie nur ein Schälchen Dornmilch fanden, um sie durch den Tag zu bringen, ohne ihre Vorräte anzurühren.
Ratte war gut darin Dinge zu finden.
Er fand kleine Hütten, mit kleinen Feldern, und sie warteten in der Nähe, bis die Bewohner zu Bett gegangen waren und nahmen was sie konnten.
Manchmal fanden sie noch kleine Pufferpilze auf ihrem Weg.
Sie schafften es irgendwie, Rattes Beutel immer prall gefüllt zu halten, ohne dass sie selbst hungern mussten.
Ratte sagte, dass sie all das Essen in der Wüste brauchen würden und Maus wusste, dass sie Angst haben sollte.
Doch ihr Bruder war bei ihr, also würde sie tapfer sein, das versprach sie sich ganz fest.
Der Feigling war aus dem Himmel gefallen, sagte Ratte.
Deswegen ist er der einzige, der Türkis tragen darf, weil das die Farbe des Himmels ist.
Maus wusste nicht, was Türkis war. Der Himmel war blau oder grau oder gelb, eine von den Farben musste es wohl sein.
Der Feigling ist gut, sagte Ratte. Er tut immer das richtige, deshalb hat das Feuer ihn verschont.
Aber jetzt schläft er, müde vom Kampf gegen das Feuer. Deswegen müssen wir ihn suchen gehen und ihn aufwecken.
Ratte sagte das immer wieder. "Wir dürfen nicht vergessen wo wir hin müssen!", sagte er.
Maus war das Recht. Wenn Ratte ihr Geschichten erzählte verging die Zeit schneller. Das Wandern war anstrengend und beschwerlich, aber allem voran unglaublich langweilig. Es half gut, wenn sie redeten. Dann dachte Maus nicht mehr an ihren knurrenden Bauch oder ihre Füße, die ihr weh taten. Ratte erzählte von der Burg, in der der Feigling schläft. Ganz prachtvoll soll sie sein, wie alles in der Schwarzen Stadt der Könige. Ständig klingeln die Glocken überall in allen Tönen die es gibt. Silberne Glöckchen und große bronzene und sogar goldene, alle klingen sie anders und wenn man genau hinhört, kann man heraus hören, was für eine gerade läutete.
Maus konnte sich kaum vorstellen, wie so viele Häuser auf einem Ort sein konnten. Ihr Dorf hatte drei, und die standen weit auseinander. Verlief man sich da nicht?
"Ich nicht.", sagte Ratte immer, "Weil ich ein Schurke bin, und Schurken gehören in die Stadt, um den Reichen ihren Schmuck zu klauen."
Maus war wirklich froh einen Bruder wie Ratte zu haben, der so viel von der Welt wusste.
Als sie an diesem Abend ein Lager aufschlugen und rasteten war Ratte aber zu müde zum Geschichten erzählen, also aßen sie nur beide ein wenig und versuchten zu schlafen.
Maus wachte auf, als sie eine Hand an ihrem Arm spürte. Es war nicht Rattes Hand, das merkte sie sofort.
Als sie die Augen aufschlug sah sie Schatten, die um sie herum aufgetaucht waren. Große, gelb stichige Augen blickten sie aus eingesunkenen Höhlen an, wachsartige Haut spannte über hervorstehende Knochen, so mager waren die Gestalten.
Ratte schlief weiter, während sie ihren Beutel durchwühlten. Waren das Menschen? Sie sahen ein bisschen aus wie Menschen, aber sie sprachen nicht, sondern keckerten nur. Ab und an grunzte einer von ihnen. Maus trat Ratte mit ganzer Kraft in die Seite und bedankte sich bei allen Göttern, die es vielleicht gab, als er hoch fuhr.
Mit gezogenem Dolch sprang er auf und wedelte mit den Armen, schlug nach der einen Gestalt, die sie am Arm gepackt hielt.
Jaulend und wimmernd flüchteten sie und wurden wieder zu Schatten im Staub.
Maus begann zu weinen. Vor Erleichterung oder aus Angst wusste sie selbst nicht, ihr fiel nur auf, dass sie sowieso schon lange nicht geweint hatte.
Ratte nahm sie in den Arm und tröstete sie.
"Sie sind weg, du brauchst keine Angst mehr zu haben."
"Wer sind die?"
"Biber hat die immer Menschenschatten genannt. Das waren mal Menschen, die irgendwie anders geworden sind. Halbe Menschen, fast Tiere. Sie sind aber feige und schwach, sie klauen nur gerne und sehen gruselig aus."
Die heran kriechende Kälte der Nacht ließ sie ein wenig bibbern und sie kroch näher an ihren Bruder heran.
"Ich will nicht wieder einschlafen..."
Ratte lachte und hielt sie fest.
"Ich passe auf, dass sie dich nicht auch noch klauen kommen, keine Angst. Schlaf jetzt."
Stur riss sie die Augen weit auf, sie würde auch Wache halten, und zu kalt war es außerdem. Sie näherten sich der Eiswüste, hatte Ratte gesagt. Bald würden sie wärmere Kleidung brauchen. Woher sie die nehmen sollte wusste sie nicht, aber Ratte würde bestimmt irgendwo ein paar reiche Leute finden, denen er welche klauen konnte.
In Gedanken versunken bemerkte sie kaum, wie ihr die Augen zu fielen und bald darauf war sie eingeschlafen.
Sie hatten die Mauer durchbrochen, den Punkt überschritten. Jetzt waren sie mittendrin im Herrschaftsgebiet des Bösen.
Es warf ihnen kein Feuer entgegen, keine Flammen schlugen ihnen ins Gesicht. Das Böse brachte ihnen Kälte und Eis.
Zuerst war es nur langsam kälter geworden, kaum merklich. Aber seit sie an diesem Punkt angekommen waren war es schlimmer geworden.
Jede Nacht hörte Maus das Böse heulen und jaulen, jeden Tag versuchte es sie mit eisigem Wind zurückzudrängen.
"Es kennt unseren Plan!", rief Ratte in den Sturm.
Maus wollte antworten, aber als sie den Mund öffnete fegte der Wind rein und nahm ihr den Atem, also schwieg sie und griff nach Rattes Hand.
Sie waren zu zweit, das Böse konnte ihnen nichts tun.
Jeden Tag sahen sie mehr dieser unwirklichen Gestalten. Blasse Gesichter schienen durch die Wand aus Schnee und Eis, die sich vor ihnen aufbaute. Maus hörte ihr höhnisches Lachen durch das Heulen des Sturms, einmal glaubte sie Biber zu erkennen.
Aber immer wenn sie nahe genug heran kamen waren die Gestalten verschwunden, nur um einige Schritte vor ihnen erneut aufzutauchen.
"Sie spielen mit uns, sieh nicht hin.", sagte Ratte und drückte ihre Hand fester in seiner eigenen.
"Das heißt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, weißt du? Sie wollen nicht, dass wir ihn wecken."
Als sie an diesem Abend ihr Lager zwischen einigen Steinen aufschlugen, immer begleitet von dem ewigen Heulen und Sausen, wollte Maus eigentlich nur noch nach Hause. Weinen konnte sie nicht mehr, dafür war sie zu müde. Also rollte sie sich nur erschöpft an ihren Bruder gelehnt zusammen und versuchte zu schlafen.
"Möchtest du eine Geschichte hören?", fragte er und legte einen Arm um sie.
Maus nickte langsam.
"Vor langer, langer Zeit gab es einen Helden, der gegen das Feuer gekämpft hat-"
"Die Geschichte kenn' ich doch...", murmelte sie leise.
"Nein, das ist ein anderer Held. Kein großer Herrscher wie Cyron, sondern nur ein armer Bauer, ohne besondere Kräfte. Er war nicht vom Himmel auserwählt oder so etwas, er war nur ein Bauer wie jeder andere. Als aber das Feuer kam verlor er alles was er hatte und musste fliehen, um nicht verbrannt zu werden, so wie die anderen Leute im Dorf. Also rannte er zum Wasser."
"Wo war denn das?"
"Das war in der Nähe von unserem Passberg und jetzt unterbrich mich nicht.", er räusperte sich, "Also er wollte zum Wasser, ans Meer. Aber wegen all der Asche und all dem Rauch ging er in die falsche Richtung und fand sich auf einmal in der Wüste wieder. 'Oh nein!', dachte er sich, 'In der Wüste ist es ja noch heißer!', aber weil er schon einmal da war, dachte er sich, das hat schon seinen Grund, und ging weiter. Kurz nach dem Feuer war es so heiß, dass überall der Sand geschmolzen ist! Noch dazu war alles Wasser verdampft und er hatte nichts zu trinken, so dass ihm die Zunge vertrocknet ist und er stumm wurde. Der Mann aber gab nicht auf und betete und flehte lautlos die Götter an ihm zu helfen und auf einmal türmten sich überall dunkle Wolken auf und es begann zu regnen. Es wollte gar nicht mehr aufhören zu regnen, aber das Wasser, das runter kam, war schwarz von der Asche in der Luft, und bald war die ganze Wüste mit einem grauen Schleier bedeckt und der Sand war wieder ein wenig abgekühlt und fest geworden. Weil er geschmolzen und wieder fest geworden war sah der Sand jetzt aus wie ein Spiegel, in dem man sich selbst sehen kann. Fast so wie die Wasseroberfläche wenn überhaupt kein Wind weht. Der Mann konnte also weiter gehen. Aber vorher nahm er noch ein Stück vom Boden mit, weil er so einsam geworden ist und ein menschliches Gesicht sehen wollte.
Als er nach langer, langer Zeit endlich in der Schwarzen Stadt der Könige ankam sah er, dass auch hier alle verbrannt waren. Nur im Palast war noch jemand. Das war Zir Cyron. Er hatte das Feuer mit der Kraft der Götter zurückgedrängt, aber dann hatte ihn die Kraft verlassen und er war verrückt geworden. Als der Mann in den Palast kam tobte und schrie Cyron um Hilfe. 'Wer kann uns helfen?', rief er immer wieder. 'Wer? Wer kann die Welt jetzt noch retten?' Der Mann sah, dass Cyron verrückt geworden war, aber er hatte noch immer Vertrauen in seinen König und weil er nicht mehr sprechen konnte nahm er den Spiegel, den er aufgehoben hatte, und zeigte ihn ihm. Als Cyron sein eigenes Gesicht sah wurde er ruhig und dachte nach. Er sah seinen Untertanen, der den weiten Weg gekommen war nur um ihm zu helfen und daraus schöpfte er neue Hoffnung. Wegen dem einen kleinen Bauern ging er also in sich und nahm den Kampf gegen das Feuer wieder auf, und er kämpft noch heute."
Eine Weile schwiegen sie beide. Fast wäre Maus schon wieder eingeschlafen, aber dann sagte sie doch noch was ihr in den Sinn kam.
"Wenn so ein armer Bauer Cyron retten kann, dann können wir beide das doch erst recht."
Sie wollte selbstsicher klingen, sie fühlte sich gerade sehr selbstsicher, doch die Worte klangen nur noch müde.
Ratte lächelte dennoch und mit einem klein wenig Hoffnung im Herzen schliefen sie ein.
Maus setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Die Spiegel brachen unter jedem Schritt, ein leises Knirschen machte ihr beinahe ein schlechtes Gewissen.
Das ist ein Trick!, sagte sie sich, nur ein Trick, es versucht dich abzuhalten.
Stur trat sie noch fester zu. Die glatte Oberfläche knarzte und brach, der schöne, silbrige Spiegel zersprang in tausende kleine Stücke, der Wind nahm sie mit sich und wirbelte die glitzernden Teilchen durch die Luft.
Staunend blickte sie hinterher, als ein Schwarm winziger Glitzerfische vor ihr aufstob und durch die Luft schoss, Kreise drehte und Saltos schlug als wollten sie sie zum Spielen auffordern. Gebannt starrte sie ihnen hinterher. Ich hab den Zauber gebrochen und sie befreit, sagte sie sich stolz, jetzt wollen sie sich bedanken und mir den Weg zeigen!
Sie zupfte an dem Ärmel ihres Bruders und gemeinsam liefen sie dem Fischschwarm hinterher, der vor ihnen durch die Luft schwamm, als sei es das Natürlichste der Welt.
Nach einer Weile drehten die silbernen Schuppentiere ihre Kreise immer höher und höher, bis die Geschwister sie nicht mehr sehen konnten.
Doch gerade als Maus sich beschweren wollte tauchte vor ihnen im Nebel ein großartiges Schloss auf. Maus sah unzählige Zinnen und Türme, die aus dem mächtigen Schemen ragten. Ein riesenhaftes Tor tat sich vor ihnen auf, als wollte es sie verschlucken, wie ein Ungeheuer, und Maus glaubte ganz oben sogar Fähnchen zu sehen, die von den Spitzen der Zinnen flatterten und ihnen in allen Farben des Regenbogens entgegen leuchteten. Weit entfernt hörte sie Trompeten, die zu Ehren ihrer Ankunft Fanfaren bliesen und unzählige Stimmen, die sich aufgeregt unterhielten.
So neugierig Maus auch war, das riesige Maul, das sich vor ihnen auftat, machte ihr etwas Angst.
"Komm schon.", sagte Ratte aber nur, nahm sie an die Hand und führte sie durch das schwarze Loch hindurch.
Kaum hatten sie die Schwärze hinter sich gelassen eröffnete sich ihnen eine Halle voller goldenem Licht. Tausende und abertausende Kerzen und Fackeln warfen ihren flackernden Schein auf unzählige Tische und Bänke, voll mit den tollsten Speisen. Ein Mann mit elegantem Spitzbart kam auf sie zu und kniete vor ihr nieder.
"Prinzessin!", begrüßte er sie, "Wir haben so lange auf sie gewartet!"
Er führte sie zu einem Podest, auf dem zwei Throne standen. Ratte setzte sich auf den einen und sie auf den anderen und dann begann auch schon das Fest.
Das Schlossvolk brachte ihnen ununterbrochen zu Essen und sangen und tanzten und bejubelten ihre Gäste.
Sie blieben eine ganze Weile und feierten mit den Leuten. Als sie müde waren kam der Spitzbärtige wieder und führte sie auf ihre Gemächer, die extra für sie besonders fein hergerichtet waren. Auch hier verteilten unzählige Kerzen warmes, goldenes Licht auf weichen Betten mit richtigem Bettzeug. Maus schlief sofort ein und träumte von Biber und der Hütte im Hügel und von der Sonne, die sie jeden Morgen begrüßte.
Als sie aufwachte war es eiskalt. Ihr wurde beinahe schlecht, so sehr zitterte sie und als sie aufstand fühlte sie sich so unbeholfen, als hätte sie ihre Beine wochenlang nicht benutzt.
Vom goldenen Schein war nicht mehr viel zu sehen und als Ratte aufwachte zitterte er genauso wie sie.
Er wickelte sich fester in seine Felle ein und richtete auch ihre ein wenig her, sodass außer ihrer Nase und ihren Augen nichts mehr hervorlugte. Dann nahm er sie an der behandschuhten Hand und zog sie hinter sich her.
"Wir können hier nicht bleiben, Maus. Komm, wir müssen weiter."
Murrend erhob sie sich und mit einem letzten Blick auf die Überbleibsel der goldenen Festlichkeiten hinter ihnen folgte sie ihm nach draußen in die Kälte.
Es war nach den Vögeln, nach den Fischschwärmen in der Luft und nach all den Gesichtern, die vor ihnen auftauchten und sie verhöhnten. Sie hatten die Schneestürme hinter sich gelassen und waren vor Höllenhunden geflüchtet, schwarze Ritter hatten sich ihnen in den Weg gestellt und alle hatten die Geschwister sie überwunden.
Hier standen sie nun, wie aus dem Nichts waren schwarze Berge aufgetaucht. Mehr Feinde? Was stellte das Böse ihnen jetzt in den Weg?
Schatten huschten im Dunst des Tagesanbruchs zwischen den dunklen Gebilden hin und her. Maus sah sie nur aus dem Augenwinkel, hörte ihr leises Schnattern. Das waren keine Höllenhunde und auch keine schwarzen Ritter. Die hier waren etwas anderes.
Ratte griff ihre Hand fester und zog sie vorsichtig hinter sich, dann zog er seinen Dolch und machte sich bereit zum Kampf.
Dummer Kerl, ein Schurke kämpfte doch nicht. Rennen mussten sie, flüchten! So waren sie davon gekommen und so würden sie wieder davon kommen.
Doch diese Schatten waren schwach, keckernd wichen sie vor der Klinge davon, diesem glimmernden Stück Metall, als sei es ein mächtiger Zweihänder.
Maus hielt den Atem an, noch war es zu früh sich zu entspannen. Der Nebel war undurchdringlich um sie herum, die Gespenster schienen überall zu sein.
Wichen sie zurück oder sammelten sie sich nur? Wenn sie hier angriffen-
Plötzlich spürte Maus eine eiskalte, knochige Hand an ihrer Schulter. Sofort schrie sie auf und Ratte fuhr herum, stieß zu.
Das Gespenst materialisierte sich innerhalb eines Wimpernschlags, es sah aus wie ein Toter. Wachsartige gelbe Haut spannte über hervorstehende Knochen, die trüben Augen schienen riesengroß in diesem ausgehungerten Gesicht. "Es ist tot!", schrie Maus Ratte zu. Ihr Bruder stach jedoch weiter zu. Wässriges Blut quoll aus den Wunden und das Ding stolperte jaulend zurück.
"Jetzt!", rief Ratte und zog Maus hinter sich her. Gemeinsam rannten sie so schnell sie konnten, versuchten irgendwie die Richtung beizubehalten. Nach hinten zu sehen wagte keiner von ihnen, doch sie hörten das Jammern und Heulen der Gespenster. Ratte hielt noch immer den blutigen Dolch vor sich ausgestreckt, sollten sie doch sehen, was er zu tun im Stande war. Niemand griff sie mehr an und so verlangsamten sie nach einer Weile ihre Schritte und lauschten. Kein Laut war zu hören, kein Schatten bewegte sich mehr. Wenn sie noch da waren versteckten sie sich gut.
Ratte hielt Maus Hand noch immer fest umklammert, während sie beide mühsam versuchten zu Atem zu kommen. Nach einer Weile in der sich noch immer nichts rührte begannen sie sich vorsichtig umzusehen.
Die riesigen Schatten entpuppten sich als Häuser. Viele waren eingestürzt und nur noch bröckelndes Mauerwerk blieb übrig, aber einigen war ihre ehemalige Pracht noch anzusehen.
"Ist das-"
Ratte tastete sich an einer der glatt polierten Wände entlang, als sein Fuß mit einem hohlen, metallenen Geräusch gegen einen am Boden liegenden Gegenstand stieß.
"Sind wir da? Die Schwarze Stadt der Könige?"
Er kniete sich hin und klopfte erneut vorsichtig gegen das Ding vor ihm. Es war eine Glocke, aus angelaufener Bronze und uralt.
"Wir sind da... wir müssen die Burg finden!"
Auf einmal war seine Stimme voller Vorfreude und auch Maus verspürte wieder dieses Gefühl von Abenteuer und Heldensagen, das sie am Anfang ihrer Reise begleitet hatte.
Die beiden irrten noch eine ganze Weile in der Stadt umher bis sie endlich auf ihr Ziel trafen.
Eine Schlucht tat sich vor ihnen auf, Dunst verdeckte ihnen die Sicht auf den Grund.
"Der Burggraben!", sagte Ratte.
Maus staunte nur lautlos.
"Sollte da nicht Wasser drin sein?", piepste sie schließlich.
Ratte ließ einen Stein in die Tiefe fallen, es gab ein trockenes, knirschendes Geräusch, als er auf dem Boden auftraf.
"Es ist nicht so tief, glaube ich... wir könnten springen."
Sie standen eine Weile vor dem Abgrund und starrten in den dicken, weißen Dunst. Schließlich seufzte Maus auf. "Bereit?"
"Bereit.", antwortete ihr Bruder und Hand in Hand sprangen sie ins Nichts.
Als ihre Füße den Boden trafen begrüßte sie das selbe Knirschen wie zuvor bei dem Stein.
Ratte wäre beinahe gestürzt, ärgerlich trat er gegen den Boden. Teile lösten sich und rasselten davon, bis sie ein Stück weiter zum Stehen kamen.
Maus bückte sich und hob eins davon auf. Knochen. Länger und schwerer als die meisten, die sie auf ihrem Weg gefunden hatten. Die Zeit hatte sie gebleicht und die Feuchtigkeit im Graben hatte sie modern lassen. Ratte bückte sich nun ebenfalls und untersuchte den Boden genauer.
"Maus, leg das hin!", rief er nach einer Weile entsetzt, "Das sind Menschen!"
Angewidert warf sie den Knochen von sich.
"Wie kommen wir denn jetzt auf der anderen Seite wieder hoch?"
Ratte schien die gleiche Frage zu beschäftigen.
Mühsam kraxelten die beiden über die Knochenberge unter ihren Füßen. Immer und immer wieder rutschte Maus auf modrigen Schädeln aus und musste sich an ihrem Bruder festhalten um nicht zu stürzen.
Als sie an der anderen Seite angekommen waren stießen sie im Nebel beinahe gegen die glitschige Mauer, die sich wie aus dem Nichts vor ihnen erhob.
Unglaublich hoch war sie nicht. Wenn sie also die Knochen ein wenig anhäufen könnten-
Ratte machte sich an die Arbeit und schon bald war der schaurige Hügel hoch genug.
Maus wurde zuerst hoch gehoben, ihr Bruder folgte sofort und dann standen sie schon direkt unter dem mächtigen Torbogen, der sich wie ein schwarzer Arm über ihnen erhob.
Aus den alten Gängen wehte ihnen ein scharfer Wind entgegen, sie hörten ihn jaulen und heulen.
Maus glaubte Stimmen zu hören, bleibt weg, bleibt weg, aber als sie genauer hin horchte verschwanden sie.
Es dauerte eine Weile bis die Geschwister all ihren Mut zusammen nahmen und das Schloss betraten.
Die Wände waren verwitterter Stein, der Frost hatte an einigen Stellen ganze Brocken heraus gebrochen und sie ihnen in den Weg geworfen. Es herrschte eine schaurige Stimmung. Seidenvorhänge in verblasstem Türkis wehten im eiskalten Wüstenwind und in der Ferne hörten sie das Scharren tausender kleiner Füße.
Ihr Weg führte sie durch zahllose dieser Gänge. Einige male hatten sie das Gefühl im Kreis zu laufen, aber immer wieder tauchte ein neuer Steinhaufen auf. Oder ein Wandbehang, den sie vorher noch nicht gesehen hatten, oder ein zerbrochenes Möbelstück lag ihnen im Weg. Sie waren kurz davor aufzugeben und zu rasten als sie endlich auf den Thronsaal stießen.
Hohe Säulen säumten ihren Weg, vor ihnen führte ein verschlissener Läufer zum Thron, dem mächtigem Marmormonument, das die Cyrons seit hunderten von Jahren über das normale Volk erhob. Auf ihm sah sie wehendes Türkis, er wartete auf sie. Die beiden liefen schneller. Maus sah die alten Gesichter, die Schatten aus vergangenen Tagen. Alle kamen sie ihnen entgegen, begrüßten sie und feierten. Oben unter der Decke glaubte sie Lichter zu sehen, Kerzen und Leuchtfeen. Der Wind brachte ihnen alte Lieder und Gesänge.
Ratte nahm ihre Hand und drückte sie, dann war der Zauber vorbei. Die Gesichter waren verschwunden, der Saal war dunkel. Nur noch ein paar letzte Lichtstrahlen fielen durch ein Loch in der Decke und ließen ein paar Sandkörner tanzen. Stille hatte ihre Welt ergriffen. Auf dem Thron hingen verblichene Knochen, zusammengehalten von einem edlen Gewand aus türkisfarbener Seide. Zir Cyron begrüßte sie mit einem Grinsen auf dem bleichen Schädel.
IX – Der Fremde
Eins – Die Burg Krom
Ein namenloser Fremder durchstreifte die steinigen Hügel im Nordwesten des Landes, kämpfte sich durch Geröll und Schutt.
Er war noch nicht lange in den Bergen, als er das erste mal auf Wilde traf.
Es war beinahe schwer zu glauben, dass sie noch immer nicht ausgestorben waren. Wenn er nur daran dachte, wie viele von ihnen er alleine schon getötet hatte-
Nur hier, in den menschenleeren Regionen des Nordens, am Fuße der Berge des Wahnsinns, tummelten sich noch einige verbliebene Grüppchen, huschten durch Ruinen alter Städte und schnatterten aufgeregt, als sie ihn näher kommen sahen.
Er stutzte.
Früher hätte er keine Sekunde gezögert und sie alle getötet. Sie gejagt, bis auch der letzte von ihnen vor ihm auf dem Boden lag, in einer Lache von Blut. Rotem Blut, wie bei ihm selbst, wie bei jedem Menschen. Er hatte nie darüber nachgedacht, jetzt konnte er kaum an etwas anderes denken.
Seine Vorräte waren beinahe alle. Hier und da hatte er Räuberbanden auseinandergenommen und ihre Verstecke geplündert, doch die Beute reichte selten länger als wenige Wochen.
Hier präsentierte sich ihm eine Vorratskammer, die ihn den ganzen Weg bis in seine alte Heimat versorgen könnte.
Das Problem war, sie lebten noch.
Er hatte seinen Ekel vor dem Fleisch nach einigen Tagen bei Seite gefegt. Die Wilden waren tot, was half es, ihr Fleisch zu verschmähen. Im Nachhinein bereute er es, seine Vorräte trotz aller moralischen Einwände noch zu essen waren ein erster Schritt auf dem Weg zurück zu seinem alten Leben gewesen.
Jetzt, so er die Schatten huschen sah, wurde ihm das vollends klar.
Er dachte nicht wirklich daran sie zu töten, oder?
In dieser Gegend gab es keine Dörfer, keine Höfe, denen sie Schaden konnten.
Sie leiden, sie sind doch kaum Menschen... sieh sie dir an!
Alle Vernunft half nichts, diese dreckigen, nackten Gestalten waren was sie waren, menschlich.
Sie fühlen, versuchte er sich von dem abzuhalten, was er zu tun im Begriff war.
"Genau das ist ihr Problem. Das ist doch kein Leben... ", sagte die Vernunft in ihm, gepaart mit dem Hunger, der ihr den Rücken stärkte.
Schließlich gab er auf.
Nur einen, sagte er sich und pirschte sich in der Deckung einer verkohlten Wand an ihr Lager heran.
Aus einem wurden vier, drei weitere trugen Wunden davon, als sie keckernd das Weite suchten.
Der Blick in ihren trüben Augen ließ ihn nicht los. Ein Funken war erloschen, als er ihnen, einem nach dem anderen, das Leben genommen hatte.
Mit ungutem Gefühl in der Magengegend machte er sich an die grauenhafte Arbeit, aus den verrenkten Gliedmaßen der Leichen Nahrung zu machen.
Ironisch beinahe, dass er für diese Tat Feuer benötigte.
Altes und Neues vereint, dachte er und schüttelte sich. Er konnte nicht umhin die schwarzen Strähnen wahrzunehmen, die ihm die Bewegung vor die Augen fallen ließ.
Er hatte aufgehört sie zu schneiden.
Es fühlte sich falsch an noch zu leugnen wer er war, das Mal versteckte er auch nicht mehr.
Ein Geläuterter und ein Monster, vereint in einem Körper, einem Geist. Damit musste er fertig werden, es war wie es war.
Seine Brüder vermisste er nur noch selten. Wann immer er daran dachte wie es wäre, jetzt bei ihnen zu sitzen, musste er unweigerlich daran denken, was sie wohl zu ihm sagen würden, wenn sie ihn jetzt sähen.
Er konnte kaum sagen was schlimmer wäre. Die Enttäuschung von Akios und Wilhem oder der Triumph in Jaris Blick, ich hab es gleich gesagt.
Nein, er versuchte nicht mehr daran zu denken. Sie hatten ihm ein Gewissen gegeben, mit dem er die Gräueltaten, die er dennoch beging, wahrnehmen konnte.
Ein Teil von ihm hasste sie dafür. Ein Monster war er so oder so, ein Teufel, was nützte es, ihn es fühlen zu lassen?
Er scholt sich innerlich. Es war nie ihre Absicht gewesen ihm zu schaden. Sie konnten ja nicht wissen, dass Jaris recht hatte.
Es half nichts.
Am Ende des Tages war sein Beutel bis an den Rand gefüllt mit neuem Proviant, die Berge des Wahnsinns konnten kommen, ein langer Marsch nach Osten erwartete ihn.
Ein namenloser Fremder richtete den Blick nach Osten, wo eine ehrfurchtgebietende Burg inmitten von steilen, steinigen Hügeln auf einem der Gipfel vor ihm empor ragte, pechschwarz wie ein Scherenschnitt vor dem morgendlichen Himmel aus dramatischen Rottönen, durchzogen von tiefgrauen Wolken aus Asche und Staub.
Trotz ihrer beachtlichen Höhe schien sie beinahe von den umliegenden Bergen geschluckt zu werden. Wie ein schwarzes Monster lauerte sie inmitten der abstrakten Felsformationen, fast so als würde sie jeden Moment nach vorne preschen oder sich mit monströsen Schwingen in die Lüfte erheben.
Es war ein Gefühl von Unwirklichkeit, das ihn ergriffen hatte.
Wie lange war es wohl her das er das letzte mal hier war?
Er erinnerte sich noch gut an den Moment. Es war mehr eine Flucht, nur weg von allem. Rot und matschig.
Er schüttelte sich.
So versessen, wie er darauf war die düsteren Bilder seiner Vergangenheit zu verdrängen hatte er die Erinnerungen, die jener düstere Mann zu verdrängen gesucht hatte beinahe vollkommen vergessen.
War das die Antwort? Nein.
Es brauchte eine Weile bis er den Mut aufbrachte die Burg zu betreten. Zu viele Erinnerungen die der Anblick aus ihm heraus an die Oberfläche riss, einen Moment lang zweifelte er daran, das dies eine gute Idee war.
Als er den groben Torbogen durchquerte, der ihn wie ein fürchterlich aufgerissenes Maul empfing, fühlte er sich wie in der Zeit zurückgesetzt.
Die zerschmetterten Skelette im Hof zeugten von einer tiefen Verzweiflung, die in seinem Leben noch Ihresgleichen suchte.
Wer ist der Mann, der das hier zurückgelassen hat?
Eine legitime Frage.
Noch wichtiger: Wer ist der Mann, den diese Burg hervorgebracht hat?
Sein Leben lang hatte er darum gekämpft ihren Einfluss auf seine Person zu leugnen. Er war sein eigener Herr, sein Meister. Niemand hatte Macht über ihn, niemand.
Nicht einmal ich selbst, musste er sich nun eingestehen.
War das der Preis, den es zu zahlen galt? Unterwerfe dich einer höheren Macht, oder lebe damit, dass du nie Sicherheit in deinem Leben finden wirst?
Widerwillig wandte er sich von den alten Knochen ab und betrat den Haupttrakt, wie von selbst fanden seine Füße den Weg die Wendeltreppen hinauf, bis hin in das höchste Turmzimmer, kreisrund und zugig. Alles war genau wie er es in Erinnerung hatte.
Die Bilder vor seinem inneren Auge drohten beinahe ihn zu erdrücken, die Stimmen der Vergangenheit schrien ohrenbetäubend. Gib ihm Feuer, Ord. Er musste dem standhalten. Wer bin ich? Raus aus dieser Verwirrung, Klarheit schaffen. Wir sind das Feuer.
Es war zu viel, ihm wurde schlecht. Zu viel.
Er schaffte es gerade noch so zu einem der Turmfenster, bevor er sich übergab.
Unter sich sah er die Skelette liegen. Ord, Mutter... Sein Erbrochenes bedeckte Teile der Skelette, tief unter ihm.
Er konnte nicht anders, er musste lachen. Er konnte kaum aufhören, so absurd war das alles.
Es musste eine Ewigkeit her sein, dass Gelächter über den Burghof schallte, sich von einer Wand zur nächsten warf und die alten Steine mit Leben füllte.
Ich klinge wie ein irrer Burgherr, dachte er und war still.
Er war der Herr dieser Burg. Alles Recht besagte es, er war der letzte Erbe.
Ein Erbe, das er nicht anzutreten gedachte. Viel zu frisch waren die Wunden noch, heilen würden sie vermutlich nie.
Wie von selbst fuhr seine Hand unter dem Lederkragen seine Kehle entlang, fand seinen Weg über die zahlreichen Narben, die seine Brust und sein Gesicht bedeckten. Seine Miene verfinsterte sich.
Wir sind das Feuer.
Er war gebrandmarkt. Vernarbt, gezeichnet.
Sein größtes Heiligtum und die Zeichen seiner höchsten Erniedrigung, das erste mal fragte er sich, was die beiden denn unterschied.
Das Mal war für Legos, die Peitsche für-
Er stutzte. Mich hatte er hinzufügen wollen. Das missfiel ihm. Hatte er jetzt alles vergessen, was sie ihm beigebracht hatten?
Er dachte an die Sicherheit, die Geborgenheit, die er gespürt hatte, als das Feuer ihre Arme um ihn legte.
Warm war es gewesen. Aber das wunderbare Bild war gekippt, es hatte nicht sein sollen. Die Kälte seiner Seele hatte ihn eingeholt, das Dunkel Besitz von ihm ergriffen.
Nein, so war es nicht. Wer hatte ihm die Narben zugefügt? Wer hatte ihn ausgepeitscht? Wer-
Wer hatte es genossen ihn leiden zu sehen?
Er schüttelte irritiert den Kopf. Solche Gedanken halfen ihm ganz und gar nicht weiter.
Sein Weg führte ihn in den Thronsaal, auch hier stürzte die Vergangenheit nur so über ihn herein.
Er sah kleine Kinder auf dem Boden spielen, schwarze Haare, schwarze Augen. Sie waren alle tot, es war besser so, nicht?
Feuer...
Den Thron hasste er besonders. Er hasste den Mann dem er gehörte mit jeder Faser seines Körpers. Kein Ranmik dieser Welt würde jemals seinen Platz einnehmen können.
Ihm wurde beinahe schon wieder schlecht bei dem Gedanken an das zahnlose Grinsen. Wir sind das Feuer.
Ein Irrer, nichts weiter.
Ein Anflug von Trotz und Hass ließ ihn auf den Thron zu gehen und sich in den Sitz aus kaltem Stein werfen.
Siehst du mich!?
Ein hasserfülltes Knurren fand unweigerlich seinen Weg aus der Tiefe seiner Kehle.
Von dem Thron aus sah die Welt anders aus. Der Alte musste blind gewesen sein, blind und schwachsinnig.
Alte Wandmalereien bedeckten die Felsen an der gegenüber liegenden Seite und sie sprachen eine eindeutige Sprache.
Er hatte die Geschichten vom Feuer gehört, wie es den Schnee besiegt hatte.
Das Haus der Krom war immer ein Klan von Schnee und Eisen gewesen. Hart und kalt. Der Alte hatte das als Unsinn abgetan, die Geschichte hatte deutlich gezeigt, dass Hitze Kälte schlug.
Der Mann der nun im Thron saß war anderer Meinung. Eis und Kälte mögen hier in den Bergen besiegt worden sein, aber im Süden hatten sie eine neue Heimat gefunden.
Dies hier war der Sitz des Feuers geworden. Hier ist der Klan der Krom gestorben, zu Grunde gerichtet von einem Irren. Nein, wenn ich meinen Name trage, dann wo anders. Irgendwo, wo Eis und Schnee das Land regieren und jede Flamme im Keim erstickt wird.
Ein letztes mal lehnte er sich zurück und genoss den Anblick der bemalten Wand, die wahre Bestimmung seines Klans.
Seit langem verspürte er das erste mal so etwas wie Stolz ob seiner Herkunft.
Er war die Kälte, das Feuer hatte keinen Einfluss auf ihn. Es konnte ihn aus der Bahn werfen, aber früher oder später würde seine wahre Natur anderenorts schon wieder zu Tage treten.
Er lachte, spöttisch. Der Klang gefiel ihm, so klang er. So wie das Eis sich seinen Weg gesucht hatte, so war auch er auf dem Weg wieder er selbst zu werden und es fühlte sich großartig an!
Er war kein Opfer. Er war das Raubtier, das Monster, der Teufel. Das schwarze Dunkel, todbringend und mächtig. Macht! Er hatte Macht. Wie konnte er das vergessen? Er stand über allem. Wie hatte er sich die Sicherheit einer Herde wünschen können? Er fraß die Herde.
Ekstase ob seiner Rückbesinnung erfüllte ihn, als sich seine Finger fest in die verwitterte Steinlehne krallten und er seine Macht in den leeren Raum verkündete. Orden, ich komme.
Mit einem Ruck riss er sich den Kragen ab und schleuderte ihn mit einer Hand gegen die Wand.
Er würde das Mal stolz tragen, denn es war Zeichen seiner Macht über das Feuer.
Er fuhr sich mir den Fingern durchs Haar. Es war wieder beinahe so lang wie früher, und pechschwarz.
Ein wölfisches Grinsen schlich sich auf seine Züge und die düsteren Augen blitzten förmlich.
Oh ja, ich bin zurück.
Zwei – Wappen
Seine Nächte waren erfüllt von Schreien, seine Tage voll von Bildern einer ewigen Wüste aus Eis.
Das war sein Ziel, die Eiswüsten. Das war sein Element, seine Bestimmung.
Um ihn herum sah er weite Ebenen aus grauem Staub, die Berge hatte er schon vor einer Weile hinter sich gelassen und die letzten Hügel waren vor wenigen Tagen verebbt.
Jetzt sah er nur noch Ewigkeit. Menschenleere, tote Ewigkeit. Lebensfeindlich.
Es war schwer abzuschätzen wie weit es noch bis zur Ostküste war. Einige male hatte er sich schon den Geschmack von Salz in der Luft eingebildet und war schneller gelaufen, er konnte es kaum abwarten auf die Zivilisation zu treffen, seine Dominanz zu demonstrieren. Seine neu gewonnene Mach wollte ausgekostet werden.
Aber jedes mal hatte er nach einer Weile einsehen müssen, dass er sich geirrt hatte. Es kam kein Wasser, das einzige Meer war aus Asche und Dreck, die einzigen Wellen aus Staub, den der Wind ihm entgegen trug.
Heute war wieder ein solcher Moment. Er roch das Salz, schmeckte es in der Luft.
Sehen konnte er nichts, ein dichter Nebel hatte sich über seine Welt gelegt und alles verschluckt.
Das sprach dafür, dass er seinem Ziel nah war. Aber wie nah, das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Ein Tagesmarsch oder fünf, er hatte aufgehört sich Gedanken darüber zu machen. Das einzige was zählte war der Stand des glühenden Balls, dessen Licht nur schwach durch den Dunst sickerte um ihm die Richtung zu weisen.
Dennoch konnte er sich einem Gefühl der Aufregung nicht erwehrend, als immer mehr Anzeichen vor ihm auftauchten.
Ein Weg, von vielen Füßen in den Dreck gestampft, verlief vor ihm. Eine Handelsroute vielleicht?
Das Weiß um ihn herum war so nah an ihn heran gerückt, dass er bis auf wenige Schritte nichts sehen konnte. Die Sonne war kaum mehr auszumachen in dem Dunst.
Als ihn wenige Stunden später die ersten Höfe begrüßten, die hier dem ärmlichen Boden die letzten Früchte zu entlocken versuchten, war er sich sicher, er war nah.
Menschen sah er keine, aber darüber machte er sich keine weiteren Gedanken. Bei dem Nebel arbeiteten sie vermutlich lieber drinnen, in der Sicherheit ihrer vier Wände. Würde er sie leben lassen? Er war sich noch nicht sicher. Innerlich hoffte er darauf auf den Orden zu treffen. Der alte Feind, das perfekte Opfer um seine Rückkehr zu feiern. Er brauchte es, die Dominanz, die Macht. Kontrolle.
Er sah die Fackeln erst als er nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war.
Der Nebel schluckte jedes Geräusch und so bemerkten die Leute vor ihm ihn genauso wenig, wie er sie vor wenigen Augenblicken bemerkt hatte.
Jetzt hörte er Stimmen. Gerede über das Wetter, und Fisch.
Ein Küstendorf, was will man erwarten.
Vorsichtig schlich er sich näher an sie heran, tastete den Bereich ab, in dem sie ihn nicht sahen. Monster in der Dunkelheit.
In dem Moment fühlte er sich wirklich wieder wie das Raubtier, das seiner ahnungslosen Beute auflauerte. Ob er sie töten würde? Das kam darauf an, wie sie ihn empfingen. Er unterdrückte ein leises Lachen, seine Überlegenheit war ekstatisch, jetzt bloß nicht leichtsinnig werden.
Er zog sich zurück, es war Zeit das Spiel zu beginnen.
Dann stieß er gegen eine Mauer aus fein behauenem Stein. Was für ein Dorf war das?
Die Wachen standen nicht weit von ihm entfernt, gebannt hielt er den Atem an, aber der Nebel schien ihn auch dieses mal beschützt zu haben.
Geräuschlos tastete er sich an der Mauer entlang. Das war keine alte Burg, kein verlassenes Schloss. Das hier war neu.
Als er das Gebilde halb umrundet hatte, es dauerte eine Weile, stieß er auf ein zweites Paar Wachen, die scheinbar den zweiten Eingang der Stadt bewachten.
Richtig, dies hier war kein ärmliches Fischerdorf, es war eine ausgewachsene Stadt mit einer Stadtmauer und vier Wachen. Mindestens vier Wachen.
Der Fremde unterdrückte ein Seufzen. Was war hier geschehen?
Mit angehaltenem Atem schaffte er es, an den Wachen vorbei durch das Tor in die Stadt zu schleichen.
Ihn begrüßten eine handvoll weiterer Lichtpunkte, diese gehörten aber keinen Wachen, sondern den Häusern.
Und es waren viele. In einer langen Reihe aufgereiht führten die Fackeln in den Nebel, zwei, vier, sechs... zwölf. Zwölf Häuser, aus Stein und mit je zwei Stockwerken.
Wenn es nicht so beängstigend wäre hätte ihn der Anblick fasziniert.
Hier drinnen gab es kaum noch Schatten, die Fackeln bedrängten ihn mit ihren Lichtkreisen und alle Sicherheit war verflogen.
In seinem Kopf arbeitete es. Das hier war anders, es war groß. In Seitenstraßen zählte er weitere Häuser, seine Schritte klangen scharrend auf den rundlichen Pflastersteinen.
Wo bin ich hier?
Dann sah er zwei der Lichtpunkte sich lösen und auf ihn zu gehen.
Sahen sie ihn?
Er blickte sich gehetzt um. Wohin? Wieder raus aus der Stadt? Angriff? Flucht?
Es waren nur Wachen. Nur ein paar Dörfler mit Fackeln, versuchte er sich einzureden.
Aber er sah die schemenhaften Umrisse der Männer, das waren keine Bauern oder Fischer. Er wollte nach hinten ausweichen als sie immer näher kamen, weg, fliehen. Aber sein neu gefundener Stolz hielt ihn ab und er blieb wie angewurzelt stehen.
Es brauchte all seine Konzentration sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen, Raubtier zu bleiben. Schließlich waren die Wachen so nah, dass sie ihn einfach erkennen mussten.
Sie trugen die gleiche Rüstung aus Kette und Platte, darüber einen hellen Wappenrock mit einem roten Fisch, der in die Luft sprang.
Waren die Zeiten jetzt wieder ausgebrochen? Er dachte an Kilorn und seinen Herrschaftsanspruch. Ein König, er hatte ihn ausgelacht. Konnten die Menschen denn so dumm sein?
Zweifelsohne sahen die beiden ihn so klar wie er sie. Er sah den Schrecken in ihren Augen, als sie realisierten, wen sie da vor sich hatten.
Einer drehte sich um und rief nach Verstärkung, der andere zog sein Schwert, Fackeln noch in der Hand.
Mit einer geübten Bewegung fuhr der Fremde mit der linken Hand in seinen gepanzerten Handschuh, den er am Gürtel trug. Das hier würde eine Herausforderung werden. Mit der rechten zog er nun ebenfalls sein Schwert, verzichtete nicht darauf es ein wenig vor seinem Gegner tanzen zu lassen, wissend um die beeindruckende Wirkung, die die schwarze Klinge auf die meisten Menschen hatte. Besonders auf die, die etwas von Schwertern verstanden.
Hinter sich hörte er die Wachen des zweiten Tors heran eilen, er war sich sicher, dass die vom ersten bald folgen würden.
Sechs.
Das würde ein Spaß werden.
Der erste griff an. Im Licht der Fackel, die er ihm zur Ablenkung entgegen schleuderte, sah der Fremde für den Bruchteil einer Sekunde was er befürchtet hatte: Das Mal.
Es waren Geläuterte, die diese Stadt beschützten.
Er konnte ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken, als er beinahe beiläufig die Fackel mit der Hand bei Seite schlug und den folgenden Hieb blockte.
Der Mann hatte Kraft, aber sein Schwert wurde dem nicht gerecht, als es mit einem hohen Pling brach.
Die kantige Spitze des schwarzen Monstrums durchbohrte seinen Hals in der Mitte, hinterließ einen Blut gurgelnden Haufen Fleisch auf dem Boden.
Fünf.
Sein Kollege starrte zwischen ihm und dem Gefallenen hin und her, Entsetzen tief in seine Züge gegraben.
Beinahe zögerlich zog er seine Waffe. Er war ein Geläuterter, aber er war definitiv kein Kämpfer gewesen. Ein Dieb vielleicht, tödlich mit einem Dolch im Schatten. Aber dies war nicht sein Spiel.
Der Fremde griff an, legte sein Gewicht in den Hieb. Der Versuch des Mannes zu parieren bewirkte lediglich, dass sein Kopf nur halb durchtrennt wurde.
Dann waren die Wachen vom ersten Tor auch schon bei ihm. Diese beiden würden nicht so einfach untergehen und die Wut ob ihrer toten Kollegen würde die Sache nicht einfacher machen.
Der Hieb des einen trieb ihn mit seiner Wucht gegen die Hauswand in seinem Rücken, er musste die behandschuhte Hand zu Hilfe nehmen, um nicht seine eigene Klinge gegen den Hals gedrückt zu bekommen.
Mit einem Tritt entledigte er sich des Angreifers und verschaffte sich ein wenig Luft, die er nutzte um den Angriff des zweiten zu parieren. Dieser trieb ihn erneut gegen die Wand, aber diesmal hatte er geistesgegenwärtig seinen Fuß zwischen sich und die Steine setzen können und stieß sich mit ganzer Kraft ab, überwältigte den Gegner und ließ sie beide zu Boden gehen.
Innerhalb eines Augenblicks war der erste Angreifer bei ihm, zog ihn an den Haaren von dem anderen Mann weg und fand den Dolch seines Kollegen in seinem Hals wieder, den der Fremde in einem glücklichen Moment aus dessen Gürtel gezogen und mit dem Schwung der Bewegung, mit der man ihn hoch riss, in seiner Kehle versenkt hatte. Der Fremde nutzte den letzten Schwung der Attacke und warf den Toten auf seinen Kollegen, der im Begriff war sich aufzurappeln.
Anschließend durchbohrte sein Schwert sie beide.
Plötzlich ruckelte seine Welt, als sein Blick schwarz wurde und er drohte den Sternchen zu erliegen, die vor seinem inneren Auge kreisten.
Er fiel, hörte auf zu sehen, spürte nur noch die nassen, kalten Pflastersteine unter seinen Händen. Instinkt ließ ihn sich zur Seite rollen als neben ihm Stahl auf Stein schlug. Plötzlich fand er sich auf dem Rücken wieder, fand sein Schwert in seiner Hand.
War es denn überhaupt sein eigenes? Er war sich nicht sicher, er hob es dennoch und schaffte es nur knapp den Hieb zu parieren, der auf ihn niederfuhr. Ein zweiter zielte auf seinen Hals, das war nicht sein Schwert, das er hielt.
Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite, entkam nur knapp der Klinge. Mit einem blinden Tritt in Richtung des Angreifers links von sich brachte er den aus dem Gleichgewicht. Seine linke Hand wehrte eine weitere Attacke des anderen nur knapp ab, hielt das Schwert fest umgriffen während er versuchte sich aufzurichten. Es bescherte ihm immerhin einen Moment sich zu sammeln.
Im Schein der am Boden liegenden Fackel sah er sein Schwert, das ihn der Schlag auf den Hinterkopf hat fallen lassen.
Er Widerstand dem Drang dem altbekannten und gewohnten Griff zu angeln, zu weit. Stattdessen erblickte er aus dem Augenwinkel etwas am Gürtel seines Gegners, das im Licht der rollenden Fackel aufblitzte. Instinktiv griff er danach und fand sich mit einem Messer in der Hand wieder. Sein Griff um das Schwert des Gegners verlor stetig an Kraft und so tat er das einzige, was ihm in den Sinn kam. Er stürmte aus seiner knienden Position aufwärts, vorwärts und ließ den Mann unter sich zu Boden stürzen, nutzte die Kraft des Aufpralls und rammte ihm das Messer ins Gesicht. Er erwischte das Auge und der Geläuterte jaulte auf, als er das Schwert des letzten Angreifers spürte, wie es ihn im Rücken traf.
Es verfehlte die ungeschützte Haut seines Halses nur um eine handbreit und verbiss sich in das dicke Leder seiner Rüstung.
Der Gegner zog es mit einem Ruck zurück, der Fremde stürzte nach vorne und griff nach seinem Schwert, warf sich herum und schlug blind nach dem Angreifer. Er erwischte ihn an der Hand und sein Schwert flog zu Boden. Der Mann beging seinen letzten Fehler, als er sich danach bückte und ihn eine schwarze Klinge in die Kniekehlen traf, die ihm die Beine unter dem Körper wegbrechen ließ.
Der Fremde drehte den Mann auf den Rücken, sah die Panik in den Augen des Mannes dem klar wurde, dass auch er verloren hatte, und stieß zu.
Die Panik wich einer blanken Leere als sein Leben erlosch und der schwarze Teufel sich über ihm aufrichtete und die sechs Haufen toten Fleisches betrachtete, deren Leben er so eben genommen hatte.
Macht, Kontrolle, Dominanz.
Er atmete den Triumph, doch das Wort Glück schlich sich ein und er konnte nicht umhin erleichtert zu sein. Das hier war kein leichter Kampf gewesen.
Seine Hand fuhr zu seinem Hinterkopf, wo die schwarzen Haare blutgetränkt zusammen klebten.
Hätte er vollständig das Bewusstsein verloren wäre er tot, kein Zweifel.
Um ihn herum hatten sich Türen geöffnet, angstvolle Gesichter lugten ihm entgegen.
Irgendwo scharrten Schritte auf der gepflasterten Straße, Verstärkung kam.
Ein dumpfer Schmerz hatte sich in seinem Kopf ausgebreitet und auch die Stelle, wo das Schwert des letzten Gegners ihn beinahe enthauptet hatte schmerzte, sog ihm alle Kraft aus dem linken Arm.
Erschöpft torkelte er rückwärts, weg von dem Scharren, weg von den Gegnern, die auf einmal von überall herzukommen schienen.
Dann rannte er, stürzte und stolperte mehr vorwärts als dass er lief. Die Fackeln an den Häusern wiesen ihm den Weg zum Tor, der stürmte hindurch und hinaus in die Sicherheit des Nebels. Sie würden ihn suchen, ihn jagen. Wie viele waren sie? Er versuchte sich an den Klang der Schritte zu erinnern, doch der einzige Schluss zu dem er kam war zu viele.
Selbst einer war zwei zu viel in seinem Zustand.
Was war das hier für eine Stadt?
Neue Hochburg des Ordens? So sehr er auch darüber nach dachte, es machte keinen Sinn. Was sollte dieser Wappen? Wo war er da hinein geraten?
Er versuchte sich auf das Wesentliche konzentrieren, nur vorbei an allem und ab nach Süden. Aber der Anblick der Stadt ließ ihn nicht los. Was war in seiner Abwesenheit bloß mit der Welt geschehen?
Drei– Familie
Die Welt war im Wandel. Seine Welt, die es ihm noch nie einfach gemacht hatte. Nun war sie regelrecht unmöglich geworden.
Er war noch immer das Raubtier im Schatten, doch er war umzingelt von Jägern.
Die Stadt an der Küste war nur eine von vielen gewesen. Was er für eine neue Hochburg des Ordens gehalten hatte war tatsächlich nur ein Ableger gewesen. Ein kleiner Punkt auf der Landkarte, die jetzt übersät war von Punkten, Städten, und in ihnen der Orden.
Die Städte standen in starkem Kontrast zu zahlreichen ärmlichen, verlassenen Dörfern, die seinen Weg säumten. Es schien als hätten sie sich alle in den neuen Städten zusammengeschlossen. Das machte Sinn, das musste er zugeben. Der Orden zentralisierte seine Schäfchen, um sie besser vor den Wölfen beschützen zu können. Die Hirten, die kastrierten Raubtiere. Überall schwirrten die Geläuterten umher. Er traf noch immer auf Ordensgruppen, sich derer zu erwehren war noch einfach. Es war ihre Anzahl, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Die Straßen wurden von dem Orden patrouilliert, die Städte wimmelten von ihnen und es war nahezu unmöglich geworden noch unbehelligt die besseren Gebiete des Landes zu durchstreifen.
Er war ein Raubtier, und sie hatten ihn in die Ecke gedrängt.
So sehr er auch versuchte die Augen auf sein Ziel zu richten, Süden, nur immer nach Süden, so schwer fiel es ihm noch daran zu glauben, dass er den Weg dahin überleben würde.
Dieser Weg führte ihn vorbei an den Ausläufern des Grim, oder eben entlang an der Küste. Beide Regionen waren für ihn unpassierbar geworden.
Die erste Zeit hatte er noch gekämpft, daran geglaubt, dass wenn er nur genug von ihnen tötete sie doch irgendwann versiegen mussten. Doch dem war nicht so. Für jeden Geläuterten, den er besiegte, schienen drei an dem nächsten Wegekreuz auf ihn zu warten, Schwerter in der Hand.
Nach wenigen Tagen hatte er aufgegeben und war von der Straße abgewichen, wanderte im Niemandsland parallel zu den beliebten Handelsrouten entlang, in der Hoffnung seinem unausweichlich erscheinenden Schicksal zu entkommen.
Es war ein ewiger Kampf, der ihm die letzten Nerven raubte. Er wagte kaum noch sich schlafen zu legen, immer in Angst, mit einem Schwert an der Kehle aufzuwachen. Selbst in dem weiten Nichts durch das er wanderte suchte er stets Deckung hinter den seltenen Felsformationen, die hier und da das flache Land durchzogen. In den wenigen Momenten der Ruhe, der Sicherheit, träumte er von einer toten, kalten Welt, die ihn im Süden erwartete.
Diese Momente wurden jedoch rar, je weiter er seinem Ziel entgegen ging.
Als er das erste Objekt seiner Sorge erreichte war er ein nervliches Wrack. Sein Blick suchte gehetzt den Horizont ab, doch der aufgewirbelte Staub behinderte seine Sicht.
Er hatte den Zwischenweg gewählt. Die Küste wäre sein sicherer Tod und direkt am Ausläufer des Grim standen seine Chancen nicht besser. Die beste Möglichkeit schien zu sein, das gefährliche Niemandsland mittig zu durchqueren, in der Hoffnung dort auf keine Handelskarawane zu treffen.
Doch so viele, wie parallel zu ihm die Küstenroute entlang gezogen waren schien diese Hoffnung vermessen.
Die miserable Sicht machte die Lage nicht gerade besser, und so tastete er sich vorsichtig voran, behielt die graubraune Staubfront vor sich genau im Blick und hoffte inständig, dass sie ihn auf seiner Seite genauso gut verschlucken möge, wie sie es mit seinen möglichen Gegnern tat.
Wie groß war denn die Wahrscheinlichkeit, dass gerade an dem Punkt des Weges, den er überqueren wollte jemand war?
Er versuchte sich von der Unsinnigkeit seiner Angst zu überzeugen, oder aber davon, dass er eine Karawane ja sicher überwältigen konnte. Mehr als zwei Geläuterte sollten sie nicht dabei haben, oder?
Als er den gestampften Pfad erreichte und zu beiden Seiten nichts erkannte atmete er erleichtert auf.
Eine Station geschafft. Der Sandsturm war hier mittlerweile so dicht geworden, dass er kaum mehr als ein paar Schritt sehen konnte.
Er erinnerte sich gut an das letzte mal, das er diese Gegend durchquert hatte. Auch damals war er ein Wrack gewesen, hatte sich von einer längeren Verletzung erholt. So war es auch diesmal, nicht? Kein Schwert hatte ihn durchbohrt, aber er war verletzt gewesen, zerstört und aus der Bahn geworfen.
Aber er war wieder da, versuchte er sich zu sagen. Ganz gleich was sie ihm entgegen werfen mochten, er würde damit fertig werden.
Er dachte an die Städte, so viele Menschen, so viele Geläuterte. Und sie alle jagen mich. Das Raubtier in ihm wollte direkt Stolz empfinden, aber Schlafmangel und ewige Angst hatten ihn eines besseren belehrt.
Ekstatischer Triumph erfüllte ihn, als er den Weg aus gestampfter Erde hinter sich legte. Noch ekstatischer wäre es gewesen, wenn er einen echten Sieg davon getragen hätte, aber seinem Ziel zu Liebe hatte er aufgegeben sein Leben für billige Erfolge zu riskieren. Er war geschwächt, sein Willen zu überleben stärker als das Verlangen nach Sieg.
Beinahe übermütig beschleunigte er seinen Schritt, bloß raus aus dem Sturm, der ihm unaufhörlich Sand und Staub ins Gesicht blies.
Einen Arm schützend vor die Augen gehalten stolperte er voran, und dann war da das Lager.
Ein einzelnes Zelt tauchte wie aus dem Nichts vor ihm auf, nur mit Mühe konnte er einen Schreckenslaut zurückhalten
Von drinnen flackerte ihm der Schein einer kleinen Flamme entgegen, erhellte die Zeltwände von innen mit einem sanften Orange, leuchtend.
Der Anblick erinnerte ihn an die Sonne, wenn der gelbe Sandstaub im Norden dick in der Luft hing und sie als schwach glühender Ball im Dunst zu sehen war.
Sein Verstand warnte ihn, wie so oft. Gefahr.
Doch seine Neugierde war geweckt.
Das hier waren keine Händler, niemand mit Ware von Wert würde in einer so kleinen Gruppe reisen. Simple Wanderer vielleicht? Opfer.
Vielleicht war das Orden. Noch besser, nicht? Er könnte den Moment der Überraschung nutzen, sie abschlachten bevor sie überhaupt realisierten was vor sich ging. Ihre letzten Augenblicke würden sie nur einen schwarzen Schatten sehen, der aus dem Nichts über sie hereinbrach.
Er könnte auch das Zelt anzünden, das sollte ihnen doch gefallen. Er konnte sie förmlich beten hören da drin, Feuer gib uns Schutz in dieser Dunkelheit. Er kannte die Worte, sie waren ihm wie ins Gedächtnis gebrannt. Allein das war ein Grund es zu tun. Rache.
Würden sie das Zelt verlassen, schreiend? Mit brennenden Haaren und Kleidern, ihr Feuer anbetend sie zu verschonen. Er hatte begonnen das Zelt zu umschleichen, beobachtend, wartend, lauernd.
Scheiß auf Vernunft, er brauchte einen Triumph. Er war schon zu lange gerannt, zu lange geflüchtet. Einer wie er flüchtete nicht, er griff an.
Die offensichtlichste Taktik schien ihm die amüsanteste, und so hob er ohne weitere Umschweife die Zeltplane an, schlüpfte hinein und hockte sich inmitten der-
Orden, wie erwartet. Was er nicht erwartet hatte war die Prominenz, die ihm entgegen blickte.
Kilorn Frostblatt, er war alt geworden. Noch mehr Silber durchzog seinen kupferfarbenen Bart, doch die Augen blickten ihm noch immer wach, und sehr, sehr überrascht, entgegen.
Daneben Akios. Es war wie ein Schlag, den Mann zu sehen. Bruder war, was ihm zuerst in den Sinn kam. Mein Lehrer, mein Bruder.
Beinahe sofort scholt ihn seine innere Stimme und zeigte ihm den Akios, den er kennen gelernt hatte. Harte Augen, triumphal, sich an seinem Schmerz, seiner Erniedrigung ergötzend. Der Blick der ihn nun traf war ein sonderbares Gemisch aus Sorge und Zuneigung, mit einer Prise Angst. Zu Recht, wollte er rufen, fürchte mich! Aber er schwieg, starrte.
Dann lachte der Kupferkönig sein königliches Lachen.
"Da ist er ja wieder!"
Unverständnis begegnete ihm, als der Fremde ihm seinen wütendsten Blick schenkte. Die Worte hatten ihm kurzzeitig allen Wind aus den Segeln genommen.
"Ich-", begann er, nicht wissend was er überhaupt sagen wollte. Tausende Worte kamen ihm in den Sinn, eins unterschiedlicher und abstruser als das letzte.
"Was tust du hier?", fragte Akios, seine Stimme war frei von jeglichem Vorwurf. Neugierig, überrascht und beinahe unschuldig klang die Frage.
Der Fremde fand keine Antwort.
"Ich weiß es nicht.", gestand er, und kam sich unbeschreiblich dumm dabei vor. Es brauchte all seine Kraft die Bilder aufrecht zu erhalten. Ranmik, Peitsche, Orden, Jaris, Erniedrigung. Alles was er sah war der weiche Schein der Flamme, die zwischen ihnen glimmerte und ihr sanftes Licht auf ihn warf und die Narben in seinem Gesicht beinahe verschwinden ließen. Mit einem Ruck wandte er den Blick ab. Nein!
"Warum bist du weg gelaufen? War es wegen Jaris?"
Hör auf so verständnisvoll zu sein, verdammt...
Die sanfte Stimme irritierte ihn, hunderte Maden, die sich von innen in sein Fleisch wanden.
"Du weißt warum. Ihr habt mich gefangen und gebrannt, eure Tricks haben nichts gebracht. Ich bin noch immer der selbe."
Wie zur Bestätigung seiner Worte zeigte er sein gefährlichstes Grinsen, es kam ihm selbst wie eine Maske vor.
"Er macht seinem Namen alle Ehre..."
Kilorn.
Was bildete er sich ein?
Wut kochte in ihm hoch.
Akios warf dem König einen verärgerten Blick zu.
"Wir alle wissen, dass das nicht der Grund war. Du bist ein guter Mensch, Legos."
Lachen übertönte die Narbe, die der Heiler aufgerissen hatte.
"Das ist nicht mein Name.", er versuchte seine Stimme so gefährlich klingen zu lassen, wie er konnte.
Leiser fügte er hinzu: "Ich habe keinen Namen! Ich bin niemand."
"Du bist mein Bruder und als solchen werde ich dich niemals aufgeben, egal was du tust."
Vergebung.
Wahnsinn brachte sein Blut zum Kochen, er musste sich wehren... er brauchte etwas, irgend etwas... die Welt entglitt ihm, er entglitt sich.
Kilorn machte ihn rasend, der Blick... Er will mich durchdrehen sehen, meinem Namen alle Ehre machen...
"Ich bin ein Monster...", nichts als ein zittriges Flüstern, kaum hörbar.
"Es liegt dir im Blut."
Er hörte förmlich die Zufriedenheit in der Stimme des Königs, auch ohne dessen Gesicht zu sehen.
"Nein...ich bin mein Monster...", er lachte leise.
Akios missfiel die Entwicklung zunehmend.
"Du bist ein guter Mensch, erinnere dich. Du brauchst das nicht zu tun, du kannst glücklich sein. Ich vergebe dir."
Der Fremde schüttelte heftig den Kopf. Seit still, sei still, sei still, sei still, sei still...
"Ich weiß was passiert ist, nach deiner Flucht. Es ist nicht deine Schuld, ich hätte sehen müssen, wie du leidest. Das war nicht dein Platz, ich hätte besser auf dich Acht geben müssen, mich um dich kümmern müssen. Glaub mir, du kannst glücklich sein. Komm her, komm her zu mir."
Der Fremde fühlte all seine Kraft schwinden, seine Wut verrauchen. Legos. Das warme Licht der Flamme, Akios... Vergebung, Geborgenheit.
Wo lief er hin? Wieso zur Hölle wollte er in die Eiseskälte der Wüste? Es machte alles keinen Sinn mehr in seinem Kopf, alles was Sinn machte war die Hand, die Akios ihm entgegenstreckte. Wenn er sie nahm, sich zu dem Priester ziehen ließ... Wenn er jetzt Schwäche zeigte würde es kein Zurück mehr geben, er sah sich weinend in Akios Armen hängen und es fühlte sich richtig an. Das war was er brauchte. All die Unsicherheit der letzten Monate würde vergessen sein.
Sein Geist verzehrte sich nach Trost, Hilfe. Mach mich besser...
Er öffnete den Mund, wollte widersprechen, beleidigen, von sich stoßen. Aber alles was seine Kehle verließ war ein schwaches Krächzen.
Wehr dich, wehr dich, wehr dich verdammt.
Die Bilder schienen fern, seine Hand fuhr zu seiner Kehle, dem Mal.
Ohne sein Zutun, wie es ihm schien, war er ein klein wenig näher gerückt, seiner Rettung entgegen.
Alles in ihm schrie, es nicht zu tun.
Doch er griff nach der Hand, die sein Bruder ihm entgegen streckte und mit dem letzten bisschen Kraft zog er den Mann zu sich und versenkte den Dolch, den er in der anderen Hand hielt, tief in seinem Körper.
Er hörte das überraschte Glucksen an seinem Ohr, als der Mann ihm in die Arme sackte, ihn umklammert hielt.
Langsam löste er seine Hände von der Waffe und der Hand des anderen und erwiderte die Umarmung, hielt seinen Bruder fest, während das Leben aus ihm heraus rann.
Sein Blick hielt er starr auf die Flamme gerichtet, die Augen füllten sich mit Tränen.
Keine andere Emotion fand ihren Weg auf sein Gesicht. Erst als der Körper in seinen Händen erschlaffte entwich ihm ein leises Schluchzen und er ließ die Leiche zu Boden gleiten. Entsetzt stürzte er rückwärts aus dem Zelt, hinaus in die Wirren des Sandsturms, und rannte.
Nur weg von dem Ort, an dem er soeben den einzigen Menschen in seinem Leben getötet hatte, der je an ihn geglaubt hatte.
Vier - Endzeit
Die folgenden Wochen fühlten sich an als würde er stürzen. Es gab nur eine Richtung, in die man stürzen konnte. In seinem Fall war das nach vorne. Weiter, weiter, immer nur weiter. Nicht stehen bleiben. Wenn du stehen bleibst bist du verloren, nicht nachdenken, nur weiter. Eigentlich hätte er ein Stück weit Frieden finden sollen, nicht? Er hatte seine Entscheidung getroffen. In einem Moment der tiefsten Schwäche hatte er sie getroffen und jede weitere Versuchung eliminiert. Was er eliminiert hatte war sein Bruder gewesen, wisperte ein Teil von ihm. Ein Bruder, ein Vertrauter, ein Freund. Der einzige Mensch, der je an ihn geglaubt hatte. Weiter, nur weiter. Es gab nur noch einen Weg, den er gehen konnte. Er sollte dankbar sein. Dankbar für den kurzen Moment, in dem er die Kontrolle wieder erlangt hatte, sich seiner Schwäche erwehrt hatte. Es gab kein Zurück.
Sein Verstand beschloss dies als Triumph zu werten. Es half nicht viel, wenn er aus seinem unruhigen Schlaf hochschreckte, das Gefühl des erschlaffenden Körpers noch so frisch, als habe er die Leiche eben noch in den Armen gehalten. Das Blut klebte noch immer an ihm. Das Leder seines Brustpanzers hatte es aufgesogen wie ein Schwamm und erinnerte ihn nun jeden wachen Augenblick daran. Triumph, er schmeckte bitter und schlecht.
Wenn er niemand war, würden seine Taten mit ihm verschwinden? Wenn er keinem Menschen etwas war...
Er würde verschwinden, in eine leere, tote Welt. Er musste nur durchhalten, ein Stück noch!
Der Passberg war nicht mehr weit.
Hier unten häuften sich die verlassenen Dörfer und Höfe, wurden ersetzt durch Metropolen hier und da. An diesem Morgen schien es nicht anders, als er im Dunst des Tagesanbruch auf ein Geisterdorf zu ging. Schatten hatten es heimgesucht, er sah die huschenden Gestalten hinter Türen verschwinden.
Nahrung war was ihm in den Sinn kam, und so hielt er direkt auf sie zu.
Es waren erbärmliche Gestalten, nackt und starrend vor Schmutz wichen sie vor ihm zurück, aber die Idee eines geschlossenen Gebäudes war ihnen neu, und so ließen sie sich lächerlich einfach zusammentreiben. Er schlachtete sie einen nach dem anderen, als er den stechenden Schmerz in seiner Schulter spürte. Zuerst realisierte er kaum was geschah, doch als ein warmes, nasses Gefühl sich zu dem Schmerz gesellte fuhr er herum. Hinter ihm stand einer der Wilden, so aufrecht wie er eben stehen konnte. Die knochige Hand hatte er erhoben, sein Blick war tot. Wie in Trance griff der Fremde hinter sich, seine Finger fanden den Griff eines alten Messers. Mit einem Ruck zog er es aus seiner Schulter, die Augen noch fest auf den Wilden gerichtet, der rührungslos da stand und gespannt den Atem anhielt.
Das Messer war ein simples Ding, die Dorfleute mussten es zurückgelassen haben. Wertlos, rostig, schartig. Doch noch immer quoll Blut aus der Wunde, die das jämmerliche Ding hinterlassen hatte. Schmerz, er erinnerte ihn. Wut ergriff von ihm Besitz und er schlachtete den Wilden, der ihn verwundet hatte. Das dreckige, nackte Ding kreischte und jaulte, als sein Schwert es traf und seinen Körper zu einem Blut spuckenden Haufen Fleisch reduzierte.
Der Fremde ließ ein hämisches Lachen hören, doch es klang hohl in seinen Ohren. Sein Verstand rief ihn auf sich an die Arbeit zu machen, bevor ihn noch jemand bei seiner grauenhaften Nahrungsbeschaffung entdeckte, doch sein Körper ließ ihn nicht. Eine tiefe Müdigkeit hatte ihn ergriffen und die Welt wurde dumpf, dunkel. Nur einen Moment ausruhen. Erschöpft wankte er zur Seite, tastete sich an der Rückwand des Hauses entlang und sackte schließlich gegen die Wand gelehnt in sich zusammen. Nur ein paar Minuten... nur ganz kurz. Er spürte wie sein Atem sich beschleunigte und dann flacher wurde, die Luft, die er atmete, schien ihm schwer und leicht zugleich. Er realisierte, dass er die Augen noch offen hielt, die Dunkelheit hatte sich über seine Welt gelegt und drückte ihm langsam die Kehle zu. Ich muss doch weiter, war sein letzter Gedanke und Leret von der Krom starb.
Fünf – Der unmögliche Tote
Sie hatte seine Seele schreien hören. Es muss über die ganze Welt zu spüren gewesen sein.
Aber das war schon lange her.
Yre hatte eine gewisse Sensibilität für seine Seele entwickelt. Wie genau ihr das gelungen war, war ihr nicht klar. Sie dachte an Gold und eine alte Verbindung.
Was ihr Sorgen machte war das leise Geräusch. So etwas wie ein flüpp. Eigentlich kein Laut im eigentlichen Sinne. Das Gefühl, wenn man eine Kerze auslöscht. Nicht ausbläst, es gab kein Flackern, keinen Rauch, kein gar nichts. Es war schneller, abrupter und absolut unspektakulär. Wie jemand, der im Vorbeigehen mit Zeigefinger und Daumen den Docht umschließt und innerhalb des Bruchteils einer Sekunde die Flamme verschwinden lässt. So ein Gefühl war das. Sie konnte es sich nicht weiter erklären. Das Schicksal, dem sie folgte, brachte ihr neue Erkenntnisse, beinahe jeden Tag vervollständigte sich das Bild. Es machte keinen Sinn, was sie nun in dieser ärmlichen Hütte sah.
Leichen. Die meisten sahen so aus, als seien sie schon lange tot. Aber ihre Erfahrung sagte ihr, dass sie auch lebendig nicht viel besser ausgesehen hatten.
Wilde.
Der Mann, der hinten an die Wand gelehnt hing, versetzte ihr einen Schock. Sie hatte gewusst, dass sie ihn wiedersehen würde. Es war Schicksal, nicht?
Er mochte einige Tage tot sein. Sie erinnerte sich, wie ihre Füße wie von selbst diesen Weg gewählt hatten.
Dünn war er geworden, und sein Gesicht war übersät mit alten Narben und dem Brandmal des Ordens. War er geheilt worden? Die Dornen aus seinem Fleisch gebrannt?
"Wer bist du?", fragte sie in die Stille und hörte ihre Stimme brechen, ihre Augen sich mit Tränen füllen.
"Du hast mir deinen Namen nicht genannt.", flüsterte sie.
Er war tot, verschwunden. Vor ihr lag ein leerer Körper, der sein Gesicht trug. Sie mit toten Augen anblickte, die einmal ihm gehört hatten.
Voller Angst und Wut waren sie immer gewesen, sie erinnerte sich an den Anblick. Jetzt schwiegen diese Augen. Sie sah keinen Frieden, keine Ruhe in ihnen. Nur nichts.
Niemand.
Eine namenlose Leiche.
Plötzlich wurde sie wütend, ein neues Gefühl.
"Ich wollte dich doch nur verstehen!"
Gerade noch hielt sie sich davon ab den leblosen Körper zu treten.
"Wieso seid ihr Menschen denn so dumm... das macht keinen Sinn, das macht alles keinen Sinn..."
Sie schluchzte auf, der Gedanke an Tod war zu abstrakt, zu unfassbar. Oder war es Verlust, den sie spürte?
Die Überreste vor ihr hatten den einen Mann beherbergt, den sie nie verstanden hatte. Es war irritierend, dass man ihr jetzt die Möglichkeit für immer genommen hatte. Sie würde ihn nie verstehen, ein ewiges Mysterium. Nie war kein Wort, das ihr sonderlich lag. Die Ungreifbarkeit dieses Wortes machte sie beinahe rasend.
So zwischen Mitleid für das Leben des Mannes und Wut über sein dummes, dummes Ableben schwankend verließ sie die Hütte. Was machte es für einen Sinn noch weiter totes Fleisch zu bestaunen, es war leer, zu Ende, aus.
Da war kein Frieden, das war kein ewiger Schlaf. Das war Tod und sie verstand es nicht.
X – Endzeit
Eins – Feuertaufe
Ein Meer aus Hitze und Licht ließ sie den Atem anhalten, Orange und Gelb und Rot leckte über ihre Haut, flackerte und spielte mit ihr. Das Knistern war ohrenbetäubend, die Hitze vollkommen. Schweiß rann in Sturzbächen ihren Körper hinab und als sie ihren Mund öffnete um es alles in sich aufzusaugen verschlug ihr der Geschmack nach purem Feuer beinahe erneut den Atem. Sie keuchte, versuchte sich an die Kehle zu greifen und ihre Hände glitten durch das gleißende Weiß, als sei es nichts. Hellblaue Krönchen saßen auf den unzähligen Flämmchen die sie umtanzten, nach ihr griffen, und sie spürte, wie das Mal auf ihrer Kehle hell rot aufglühte und sie mit einem neuen Gefühl der Heiligkeit durchdrang.
Dann war es vorbei. Kalt und dunkel war die Welt, in die man sie setzte. Ihr Bett schien ihr noch härter als sonst und die Kontraste schienen zu verschwimmen.
Nichts bewegte sich, nichts flackerte. Das Bild stand und mit ihm stand sie still. Die Welt schien wie eingefroren, in dieser Normalität in der sie ihr Traum zurückließ.
Alles was sie hörte war ihr Atem, der ihr kalt und schwer in der Kehle hing. Frustriert seufzte sie auf, als die Realität über sie hereinbrach, und mit ihr die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Tage.
Es war passiert.
Sie hatte es von Anfang an gesagt- Nein. Sie hatte es sagen wollen, aber Akios hatte sie überzeugt zu vertrauen.
Schwachsinn! Sie war wütend. Wütend auf Akios, wütend auf sich, am wütendsten auf Legos, wie sie ihn genannt hatten.
Es war eine Farce ohnegleichen, ihm den Namen des Mannes zu schenken, den er vor ihren Augen getötet hatte.
Und jetzt war er weg, einfach weg. Sie hatten die gesamte Klosterfestung abgesucht, aber er war nicht aufzufinden gewesen.
Ein Teil von ihr erwartete noch immer jeden Morgen die Meldung, dass ihren Brüdern im Schlaf die Kehle durchgeschnitten worden war. Doch nichts dergleichen geschah. Er war wohl wirklich einfach nur weg.
Es machte keinen Sinn, nichts von all dem machte Sinn.
Akios gab sich selbst die Schuld, das machte sowieso am wenigsten Sinn, ihrer Meinung nach.
Er hätte ihn beschützen sollen, hah! Sie hatten dem Monster ein Schwert in die Hand gedrückt, ihn frei unter ihren Schützlingen wandern lassen- Sie hätte es alles verbieten sollen, sie hatte das Recht, die Macht das zu tun. Aber nein, sie hatte sich überzeugen lassen. Nicht nur von Akios, auch ihr treuer Geläuterter hatte Gefallen an seinem neuen Spielzeug gefunden. Er wirkte ja auch so unbedarft und freundlich. Sie hatte gesehen, was hinter diesem braven Lächeln vor sich ging. Sie hatte die Gefahr gesehen, die Wut, die ihn noch immer fest im Griff hatte. Sie hatten nicht hören wollen. Beinahe bedauerte sie, dass er nur geflüchtet war und niemanden auf dem Weg getötet hatte. So musste sie sich anhören, dass sie ihn vertrieben hatte, mit ihren Zweifeln an seiner Besserung und ihren ewigen, misstrauischen Blicken. Pah.
Er hatte sein altes Schwert mitgenommen. Das war aller Beweis, den sie brauchte. Der Mann war schlecht, kein Feuer der Welt könnte das ändern.
Keins, das sie bisher zur Verfügung hatten, heißt das.
Sie hatte geahnt, dass es so kommen würde. Sie hatte Vorkehrungen getroffen.
Eigentlich hatte sie vor es noch an ihm auszuprobieren, aber daraus wurde wohl nichts.
Die konventionelle Brennung war ein passiver Vorgang. Die Geläuterten hatten in der Regel nicht einmal eine andere Wahl, als sich brennen zu lassen.
Sie wirkte meist trotzdem, zweifelsfrei, aber es musste mehr geben. Einen Weg, sich vom Feuer testen zu lassen und es aus eigener Kraft zu überstehen.
Sie hatte gerade erst erneut davon geträumt. Es war zu früh um den Traum als Prophezeiung ausrufen zu lassen, aber die Bilder dieser Nacht und der vorherigen waren keinen Augenblick von ihrer Seite gewichen.
Sie erinnerte sich genau an die Hitze, den Schweiß, der ihr Gesicht hinunter lief und die Stärke, die sie im gleichen Moment durchströmt hatte.
Das war es, ihr Test.
Sie hatte sich so sehr gewünscht dieses Monster damit zu testen, er hatte sie sogar darum angebettelt, aber dafür war es nun zu spät. Sie würde diejenige sein, die durch das Feuer wandeln und in ihm aufgehen würde. Sie würde eine neue, eine höhere Stufe des Menschseins erreichen, einen Schritt näher an den Göttern.
Wilhem war nicht gut auf Prophezeiungen zu sprechen seit Legos ihm weg gerannt war. Er hatte sich verraten gefühlt. Nicht nur von dem Monster, auch von ihr. Das schmerzte am allermeisten. Wilhem gab ihr die Schuld an allem, ihre Prophezeiung hätte sie alle in die Irre geführt, doch dieses mal nahm Akios sie in Schutz.
Man wisse nie, wie eine Prophezeiung sich verwirklichen würde, welche Gestalt sie annehmen würde. Es sei gut möglich, dass alles so lief wie vorhergesehen, sie einfach noch nicht in der Lage waren das zu erkennen.
Jaris war ihm dankbar dafür. Sie hatte an sich selbst gezweifelt, und Selbstzweifel ertrug sie nicht. Sie war zu weit gekommen, um sich noch immer selbst im Weg zu stehen. Dummes, kleines Mädchen.
Kilorn stand der neuen Prüfung ebenfalls skeptisch gegenüber, aber Kilorn freute sich auch über ihre Unfähigkeit, den Teufel zu brennen. Kilorn war ein Problem geworden. Er bedrohte ihre Macht, triumphierte wenn sie scheiterte und die beiden Leibwachen, bewaffnet bis an die Zähne, die ihm nicht von der Seite wichen, halfen auch nicht dabei, ihr Vertrauen in ihn zu stärken.
Sie musste sich beweisen, es war die einzige Möglichkeit die Kontrolle zurückzugewinnen.
Feuertaufe, nannte sie es. So hatte es sich angefühlt in ihrer Vision, gebadet in Licht, eine höhere Existenz. Neu und besser.
Sie musste es haben, und bald.
Zwei - Die Ilfe und der Feigling
Es zog die Ilfe in den Süden. Gerede vom Feigling machte die Runde. Ein Mann, von dem sie schon viel gehört hatte, seit sie ihren Turm hinter sich gelassen hatte.
Er schien überall zu sein. Die vom Orden sahen in ihm den Feind, andere sahen in ihm den Retter.
Doch für die meisten war er einfach nur ein Relikt aus der Vergangenheit, das irgendwie in dieser verrückten Welt überlebt hatte.
Er lebte, während um ihn herum die Welt brannte, sein Volk in Asche und Rauch aufging.
War das gerecht? Nein. Aber eins war es sicherlich, menschlich.
Wenn Yre bislang etwas über die Menschen gelernt hatte, dann war es deren Wille zu überleben.
Auch in sich selbst hatte sie diesen Drang festgestellt. War er schon immer da gewesen und sie hatte ihn nur nicht bemerkt, weil sie vorher nie in Gefahr geraten war?
Sie konnte es nicht sagen.
Die meiste Zeit versuchte sich sich auf ihr Umfeld zu konzentrieren statt auf sich selbst.
Egozentrik war so etwas... menschliches.
Auch er hatte diesen Willen gehabt.
Niemand.
Ilfen kannten nur ein Ziel im Leben: Die Ansammlung von Wissen.
Es fiel ihr schwer sich andere Gründe für Existenzen vorzustellen. Manche lebten scheinbar einfach nur weiter, weil sie es so gewohnt waren. Andere lebten für kleine Momente des Glücks, wieder andere lebten ausschließlich für ihre Mitmenschen.
Er, er schien keinen Grund für sein Leben zu haben, außer dem Leben an sich.
Yre hatte viel darüber nach gedacht, was es mit ihm auf sich haben möge. Er hatte sich geweigert mit ihr zu reden, aber was sie wusste war, dass sein Leben kein schönes sein konnte.
Beim Aufeinandertreffen mit dem Ordensmädchen hatte sie Hoffnung geschöpft, doch die war bald zunichte gemacht worden. Und nun war es eh alles vorbei.
In ihrem Kopf ordneten sich die Gedanken neu. Sie war sich sicher gewesen, so sicher. Er war so besonders gewesen. Er, der Retter, das hätte seinem Leben einen Sinn gegeben und wäre gleichzeitig eine gute Erklärung für seinen Wahnsinn gewesen. Aber es hatte nicht sollen sein.
Sie war nach einer Weile zu seiner Leiche zurückgekehrt. Nun, in seinem Tod, hatte sie endlich die Gelegenheit mehr über ihn zu erfahren. Was sie fand war das Blut des Nordens, Schnee und Eisen. Kein Gold, nichts Altes. Seine Linie mochte reiner sein als die, der üblichen Menschen, aber sie war dennoch nur das, menschlich.
Was sie gefühlt hatte, was sie gesucht hatte, war mehr als das. Das Blut der Alten floss in den Venen des Erlösers.
Sie musste weiter suchen, das war alles, was ihr blieb.
Und es gab nur noch eine Richtung, in die sie gehen konnte.
Süden. In die Schwarze Stadt der Könige, wo ein einsamer Mann als einziger das Feuer überlebt hatte, das die Alten über die Welt gebracht hatten.
Vielleicht hatten ihre Vorfahren mehr auf der Welt hinterlassen, als nur die große Katastrophe. Die Linie von Königen war reiner als alles andere auf der Welt, und der Klan der Cyron galten schon immer als gottgesandt. Wer sind diese Götter, die den Mann auf den Thron gebracht und dort gehalten haben?
Es gab nur einen Weg das herauszufinden.
Also machte Yre sich auf, den Feigling zu suchen.
Drei – Traum vom Phönix
Es herrschte Aufruhr in ihrem kleinen Reich. Ihre Kinder brauchten ein Wunder, eine Bestätigung. Die Flucht des Teufels hatte sie alle verunsichert. Fast mehr noch, als seine bloße Anwesenheit es schon getan hatte.
Wenn sie nun durch die Gänge ging, waren die Blicke, die ihr begegneten, hilfesuchend, ängstlich. Das Vertrauen war erschüttert und es lag an ihr, es ihnen zurückzugeben. Auch ihre eigene Schwäche, ihr eigenes Versagen, war ein ewiger Begleiter. Sie hatte es vorhergesehen, sie hätte handeln müssen. Aber sie hatte sich auf Wilhem und Akios verlassen. Das durfte nicht passieren, nie wieder. Sie war die Äbtin, sie hatte die Verantwortung und die Leute hatten den Glauben in sie verloren.
Was gab es in dieser Welt denn, wenn nicht den Glauben an etwas?
Schon immer hatte sie sich in Zeiten der Not dem Feuer zugewandt, aber gerade in letzter Zeit verzehrte sie sich regelrecht danach. Die Welt schien ihr kalt und tot, nur im flackernden Feuer fand sie Trost.
Akios stand ihrer Vision der neuen Taufe kritisch gegenüber, riet ihr abzuwarten, sicher zu sein. Aber das Verlangen nach dem Feuer war zu stark, wozu noch warten? Es lag doch direkt vor ihr, wartete nur auf sie. Ihre Kinder brauchten eine starke Anführerin, eine, die ihnen gerecht werden konnte. Sie brauchten ein wenig Göttlichkeit in ihrer Mitte.
Sie hatte Akios vor einigen Tagen auf Reisen geschickt, auf die Suche nach neuen Geläuterten und um ihr von dem Stand ihres Reiches zu berichten. Sie konnte nicht riskieren, dass er ihre Pläne vereitelte, es musste bald geschehen.
Es fiel ihr schwerer als sie zugeben mochte, ihren Vertrauten und Freund weg zu schicken, aber sie hatte sich schon zu lange auf ihn verlassen. Das hier musste sie allein tun. Schon einmal war aus ihrem Ungehorsam Großes hervorgegangen. Sie war fest entschlossen, die Geschichte sich wiederholen zu lassen.
An diesem Abend waren die Vorbereitungen schon in vollem Gange.
Seit Tagen wurde eifrig Holz zusammengetragen und im Hof gesammelt. An diesem Tag sollte es geschehen, das Material würde reichen, dessen war sie sich sicher.
Einige Geläuterte schichteten die Dornenzweige in zwei Reihen auf, verhakten die Äste hoch über ihrem Kopf, sodass ein mehrere Schritte langer Gang entstand.
Noch sah es aus wie eine sehr armselige Hütte, aber wenn sie es erst einmal anzündeten-
Jaris konnte es kaum erwarten.
Zur Hervorhebung der Taufe hatte sie erneut ihre dunkelbraune Novizenrobe angelegt, dies hier war ein Neubeginn und alle sollten es sehen.
Sie würde aus dem Feuer hervorgehen als eine höhere Existenz. Ob es dieses mal bei ihr bleiben würde, das Feuer? Oder würde es sie bloß erneut in dieser kalten Welt zurücklassen? Gestärkt zwar, aber kalt. Nein, an so etwas durfte sie nicht denken. Sie konzentrierte sich lieber auf die Bilder aus ihrer Vision, die Flammen, die sie begrüßten, wie ein alter Freund. Die Hitze, die sie umschmeichelte... so würde es werden.
Als die Sonne zu sinken begann rief sie ihre Kinder zu sich.
Sie erinnerte sich gut an das letzte mal, das sie alle auf dem Hof versammelt standen. Diese Zusammenkunft würde das traurige Ereignis der gescheiterten Brennung bei weitem übersteigen, sie war sich sicher.
Hinter ihr wurden die Dornen in Flammen gesetzt, sie hörte das aggressive Knistern in ihrem Rücken. Spürte, wie die Wärme an sie heran kroch.
"Dies ist ein großer Tag!", verkündete sie, als sie die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatte.
"Wir haben großes vollbracht, die Welt verändert, aber es ist nicht genug! Ich werde die höchste Taufe vollziehen und euch in eine bessere Zeit führen!"
Jubel.
"Das Feuer, das in uns allen lebt, muss gestärkt werden, es darf nie erlöschen, sonst sind wir verloren. Darum werde ich euch teilhaben lassen an meiner Wiedergeburt in den Flammen und gemeinsam werden wir erneut erstarken."
Die Blicke, die sie trafen, waren voll Eifer, voll Vorfreude auf das, was sie ihnen zu zeigen im Begriff war. Das pure Feuer, ihren Gott in Reinform, sollte sie berühren und sie sollte hervortreten und triumphieren. Es war Zeit.
Sie drehte sich um, die Hitze schlug ihr ins Gesicht. Beinahe einschüchternd, aber sie fegte den Gedanken bei Seite.
Du bist kein Kind mehr, das Feuer ist in dir. Hab keine Angst vor seiner Großartigkeit, es kann dich nicht verletzen.
Sie umrundete das lodernde Gerüst und sah ihre Kinder durch die Flammen. Sie glauben an mich. Es gab ihr Kraft.
Als sie einen weiteren Schritt in Richtung des Feuers tat flammten die Erinnerungen an die Vision erneut auf, es war genau wie sie es sich vorgestellt hatte, es war alles richtig.
Das Blut rauschte, kochte in ihren Adern und die Hitze, die sich ihr entgegen warf, lockte sie. Es war ein Test, es war Überwindung, zweifellos! Niemand hatte gesagt, dass es einfach werden würde.
Sie sog ein letztes mal tief die Luft ein und ging den nächsten Schritt, in die Flammen.
Gelb streckte die Finger nach ihrer Robe aus, leckte daran. Schmerz, richtig. Das gehörte dazu, sagte sie sich. Die Großartigkeit, die Göttlichkeit betritt deinen Körper, widersteh dem Schmerz!
Einen weiteren Schritt.
Sie stand in der Mitte des flammenden Konstrukts, Rauch füllte ihre Lungen, sie unterdrückte gerade noch ein Husten. Nimm es in dich auf, alles... keine Angst. Die Rufe ihrer Kinder waren weit entfernt, ihre Gesichter hinter den Flammen kaum auszumachen.
Der Schmerz war kaum noch auszuhalten, als die Flammen ihre Robe vollkommen verschlangen, doch ihr entwich kein Laut. Der Geruch brennender Haare stieg ihr in die Nase und im selben Augenblick fiel ihr der Flammenvorhang ins Gesicht, verging so schnell wie er gekommen war. Die Hitze testete sie mit voller Macht, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sei stark, kein Laut wird deine Lippen verlassen... Sie wankte, griff zur Seite und erfasste einen schwelenden Dornenzweig. Gerade noch hielt sie ihren Fall auf, stolperte und fing sich. Voll Wunder betrachtete sie ihre Hand, die Haut warf glänzende Blasen und das Fleisch begann an einer Stelle abzufallen. Es ist stark, sein Test ist stark... Sie scholt sich innerlich, genau das hatte sie doch erwartet, jetzt hieß es stark sein, nicht schreien, bloß nicht schreien. Du bist ihre Anführerin, sei stark.
Äste fielen jetzt aus dem Gerüst und trafen sie, sie hielt den Blick starr nach vorne gerichtet. Wenn ich jetzt nach unten sehe- Sie spürte, wie ihre Haut krebsrot wurde und Blasen warf. Ihre Hand, die durch die Hitze glitt kam ihr ins Gedächtnis. Eine Vision, eine Prophezeiung.
"Komm!", schrie sie, "Erfüll mich!"
Die Luft brannte in ihrem Rachen, erfüllte sie mit Schmerz. Blut pumpte durch ihren Körper und sie spürte die Kraft, die sie durchströmte.
Dann ließ der Schmerz nach. Er war noch immer da, aber ihr Geist war hellwach und über all dem. Transzendental, über allem! Sie atmete den Schmerz, bei jedem Zug. Schwindel ergriff Besitz von ihr. Ja! Ihr Kopf wurde leicht, alles wurde leicht. Die Farben verschwammen, ihre Orange, Gelb, Rot. Weiß nahm ihren Platz ein. Dann brachen ihre Beine weg, sie stürzte. Die Hitze des Bodens war unbeschreiblich, es schmerzte kaum noch. Über sich sah sie die Flammen lodern, hörte ihr Brüllen und Kreischen. Das Gerüst wankte, immer mehr Äste stürzten auf sie hinunter. Kommt nur, erfüllt mich-
Sie empfing das Feuer, mehr Hitze, mehr Licht, mehr Schmerz. Sie sah sich unter den brennenden Ästen liegen, ein Lächeln auf dem verbrannten Gesicht. Aller Schmerz war gewichen, eine tiefe Heiligkeit hatte sie erfüllt. Eins ihrer Augen war mit einem Zischen geplatzt, die Flüssigkeit rann ihre Wange hinunter und verdampfte beinahe sofort. Die Flammen schlugen noch immer hoch, voller Wut und Eifer. Sie stieg höher, eins mit dem Rauch, hinauf in den dunkelroten Himmel. Sie verging, wie die grauen Schwaden mit denen sie aufgestiegen war, und war nicht mehr.
Vier – Yre und das Erbe ihres Volkes
Die Spiegelwüste mit ihren eisigen Weiten aus spiegelndem Sand und ihren Winden, die die Kälte tief in den Körper trieben und alle Hoffnung auf Wärme im Keim erstickten, das war ihr bislang größter Test. Die grausamen Ebenen hatten sie unerbittlich geprüft, doch Yre hatte allem widerstanden, was sie ihr entgegen schleuderten.
Sie hatte aufgehört die Tage zu zählen. Was machte es schon aus. Die Sterne sah sie hier selten. Doch wenn die Sand- und Schneestürme einmal nachließen, dann sah sie sie so klar wie lange nicht. Klarer noch, als daheim von ihrem Turm aus. Abertausende Brillanten glitzerten ihr von dem pechschwarzen Himmel entgegen, erzählten ihr Geschichten, neue und alte, und luden sie ein, sich doch einfach auf den Rücken zu legen und in sie einzutauchen.
Doch Yre hatte widerstanden und war weitergegangen. Danach erlaubte sie sich kaum noch einen flüchtigen Blick in das funkelnde Meer über sich, zu groß war die Versuchung.
Die Zeit, die sie in der Wüste verbracht hat, war so lang wie tausend Leben. Menschen mochten geboren und wieder gestorben sein, Dynastien empor gestiegen und wieder zu Staub zerfallen. Ewigkeiten waren ins Land gegangen, als Yre sich mitten in einem Schneesturm plötzlich vor einer bröckelnden Mauer aus dunklem Stein wiederfand.
Wie in Trance schritt sie durch die alten Gemäuer, stolperte über gefallene Konstrukte. Einmal trat sie gegen eine der mächtigen Glocken, die mit ihrem Gebäude gestürzt war und der Klang schmetterte durch die Geisterstadt wie Donner.
Kurz bildete Yre sich sogar ein, dass der Schneesturm von dem Schall gebrochen wurde und abflaute, doch das musste Einbildung sein.
Eine weitere Ewigkeit, in der sie durch die Trümmer irrte, verging, bis sie endlich ihr Ziel erreicht zuhaben schien.
Just in dem Moment verging der Sturm tatsächlich und gewährte ihr einen grausamen Blick in den Burggraben mit seinen Bergen aus Knochen.
Totes Material, sonst nichts, sagte sie sich und schritt mutig voran, hinein in die mächtige Burg, die noch immer ein beeindruckendes Bild abgab.
Sie fand ihren Weg durch Gänge und Korridore und schließlich stand sie vor dem Ziel ihrer Reise.
Wie den Kindern vor ihr zeigten sich Illusionen und Träume einer früheren Zeit, fast hörte sie Zir Cyron zu ihr sprechen, doch sie wusste, dass es Traum war und schüttelte es ab.
Am Fuß des Thrones hockten zwei Gestalten, erfroren. Ihre Gesichter zeigten keinen Frieden, sie schienen leer.
Verwesung fand hier nicht statt, sie waren verdammt Ewigkeit um Ewigkeit hier zu wachen.
Sie wirkten so winzig neben dem mächtigen Monument, nicht einmal das Skelett Cyrons konnte den Sitz wirklich ausfüllen.
Endlich fand Yre den Mut sich von den Kindern abzuwenden und die bleichen Knochen näher zu betrachten.
Auf dem blanken Schädel hatte sich Rauhreif gebildet und ließ ihn glitzern wie einen gefallenen Stern. Fehlplatziert wirkte er hier. War er wirklich...?
Yre ließ ihren Blick tiefer in die leeren Augenhöhlen sinken, suchend.
Natürlich fand sie die Alten. Sie hatten ihr Erbe in einen Menschen gepflanzt und ihn die Zeit überstehen lassen, das Erbe hing noch immer in seiner Mitte, wie ein leuchtender Ball. Sie fühlte es.
Kein Wunder, dass er vom Feuer verschont geblieben war. Das war also der Plan gewesen.
Yre lachte, sie konnte nicht anders.
Die Alten hatten die Menschheit auslöschen und durch Cyron eine neue Ära der Alten ins Leben rufen wollen.
Was war der Welt geblieben?
Ein Haufen verrückter Menschen, eine handvoll Ilfen auf ihren Türmen und ein Skelett auf einem Thron.
Die Alten hatten versagt.
Eine weitere kleine Ewigkeit lang saß Yre vor dem Thron und betrachtete ihn.
Sie verspürte so etwas wie Hass auf die Kinder, eine seltsame Art von Neid.
Sie war nicht die einzige, die ihre Hoffnung in den Feigling gesetzt hatte. Sie war nicht besser als zwei dreckige, kleine Menschenkinder.
Es war fürchterlich ernüchternd.
Nein, sie würde nicht gehen, ohne wenigstens ein wenig Wissen erlangt zu haben.
Es kostete sie alle Kraft sich zu erheben und sich ein weiteres mal Zir Cyron zu nähern.
Die Alten, erzähl mir von ihnen. Ich brauche-
... mehr.
Sie ging tiefer, griff nach dem Ball aus Licht und zog. Das Erbe, tief in den Knochen des Mannes vor ihr, war widerwillig, doch schließlich gab es doch nach.
Sie fand pechschwarze Zähne, spitz wie Dolche. Sie fand Hass, von so elementarer Reinheit, dass es sie beinahe wieder abstieß, doch sie hielt fest. Das Gefühl der Rache der Alten, das sie in dem toten Ilf gefunden hatte, hier war es stärker, heftiger. Es war ein Hass auf alles Lebende, sie empfand Abscheu und Widerwillen bei dem flüchtigen Gedanken an das weiche, warme Fleisch der Menschen und ihre kleinen, gemütlichen Leben und beschränkten Gedankenwelten. Die Retter der Welt. Einen kurzen Moment lang war sie dieses Wesen, dann riss sie sich los und fuhr zurück.
Die Macht der Empfindungen ließ sie zurück stolpern und fallen.
So lag sie auf dem Boden, den Blick auf das filigrane Stuckwerk der Decke gerichtet und lachte, lachte schallend.
Nach einer Weile stand sie auf, ein irres Grinsen noch immer auf ihr Gesicht geheftet, und verließ diesen Ort.
Sie kommen.
Epilog
Staub und Asche wirbelten durch die Luft und mit ihnen der Geist eines Mädchens, das höher aufgestiegen war, als alle anderen vor ihr.
Sie sah eine Welt im Wandel, ihr Werk, sah ihren ehemaligen Verbündeten, wie er ihr Werk weiterführte. Kupferkönig, sie hatte ihn unterschätzt.
Sie sah ihren Lehrer, ihren Vertrauten, wie er ihre Worte den Novizen verkündete.
Und sie sah den Teufel, wie er zurückkehrte, an Stärke gewann und ein weiteres mal drohte, sie alle ins Unglück zu stürzen. Hatte sie es nicht voraus gesagt?
Akios, tot.
Ermordet durch die Hand des Mannes, dem er den Namen seines toten Bruders geschenkt hatte. Die Gedankenfetzen, die mit der Asche wirbelten, waren nicht mehr fähig die Ironie zu sehen. Mitleid war alles was blieb. Der Zorn, der ewige Drang und der Eifer waren mit den verkohlten Knochen zurückgeblieben. Eine friedliche Existenz. Der Leiche inmitten der Schatten in einer kleinen Hütte unweit des Passberges blieb nicht einmal das. Nichts war aufgestiegen, nichts entwichen. Das sanfte Seufzen, das Akios im Moment seines Todes entfahren war, hier war es nicht. Alles was blieb war totes Fleisch, und sie empfand Mitleid mit dieser armen Seele.
Yre stand auf einem Hügel und sah die Asche fliegen, wirbeln und eins mit Himmel und Erde werden.
Sie empfand nichts.
Alles was sie wissen wollte hatte sie herausgefunden und sie blickte auf die Welt, wie sie so still und friedlich vor ihr lag, und sah, dass sie verdammt waren.
Sie sah die Menschen in ihren kleinen Hütten, unter dem schützenden Flügel eines Ordens von Eiferern, die alles taten, um diese Welt zu einer besseren zu machen und sie sah, dass sie verdammt waren.
Sie sah Kinder, die tot geboren wurden und strampelten und schrien als seien sie am Leben. Sie sah die Kinder wachsen, sah sie essen und schlafen und leben und sah, dass sie verdammt waren.
Mit totem Blick wandte sie sich ab von der Welt und begann ihren Turm zu bauen.