Hunderte male hatten die drei ihm berichtet, wie das Hauptland aussah. Der Himmel, den man nicht sehen konnte und die Sonne, die kaum mehr als ein glühender Ball hinter dichten Schleiern war.
Der Sonnenuntergang war allerdings phänomenal für Augen, die ihn noch nie in diesem Land erlebt hatten. Sicher, Nebel kannten sie zu Genüge. Aber zu sehen, wie sich rote Glut durch Staub und Wolken schlich, sie von innen ausleuchtete und einen Flammenvorhang aus Rosa und Purpur vor ihnen aufsteigen ließ war doch etwas anderes, als die flächigen Farbspiele, die ein Sonnenuntergang auf Phönixheim normalerweise bedeutete.
Wenig erpicht war also die Mannschaft darauf, diese letzten Strahlen des Tages mit dem Anlegemanöver zu verschwenden. Dies war eine einfache Angelegenheit, also verbrachten sie die letzten Augenblicke bis Dunkelheit über sie herein brach mit Andächtigem Staunen.
Sentimentalität war nichts, worauf Kilorn großen Wert legte. Doch dies hier mochte selbst er als Omen sehen.
Sie verbrachten die letzte Nacht noch auf dem Boot, was für einen Sinn würde es machen, im Dunkeln anzulegen und dort als erstes Zelte aufzuschlagen. Nein. Der erste Schritt des Königs auf seinem neuen Land sollte bei Tagesanbruch sein, das erschien ihnen alles als das einzig richtige.
Bis sie jedoch ihren Ochsenkarren, den Ochsen und allen Proviant erfolgreich auf festen Boden gebracht hatten stand die Sonne schon hoch am Himmel und so mochte Kilorn keine Zeit mehr für große Reden verschwenden und trieb seine Garde an, sich schnell auf den Weg zu machen.
Er würde ja zurück kommen, dies war kein Abschied für immer.
Trotzdem lag eine gedrückte Stimmung in der Luft, als sie sich auf machten und die Fischer, die sie über gesetzt hatten, am Strand hinter sich ließen.
Ein neues Kapitel, eine großartige Geschichte. Das war es, was sie erwartete, sagte Kilorn sich immer wieder.
Doch bei allem was er von diesem Land wusste, die Angst vor Versagen blieb.
Drei– Das Überleben des Fremden
Ein namenloser Fremder betrat die Überreste dessen, was einmal eine Stadt gewesen war.
Frustration.
Dies war der erste Auftrag seit Monaten, kein gutes Gefühl.
Er tat sein bestes, aber Feinde waren überall. Sie.
Mit dem Ordensblut, das seine Hände befleckt hatte, könnte er die gesamten nordischen Weiten bewässern.
Er lachte bei dem Gedanken, aber die Lage war ernst.
Schafe waren sie gewesen, schwache Dinger, die sich hinter ihren Feuern versteckten sobald er auftauchte.
Ja, er hatte sich einen Namen gemacht und nein, es interessierte ihn nicht.
Aber das Blatt hatte sich gewendet. Geläuterte.
Wer auch immer auf die Idee gekommen war, die angeblichen Sünder gegen ihren Willen zu brennen-
Unsinn, er wusste wer auf diese Idee gekommen war. Er war dabei gewesen, einer von ihnen gewesen, um ein Haar.
Viel erschreckender war jedoch die Tatsache, dass diese Leute dem Orden folgten, wie alte, zahnlose Wölfe, die entschieden hatten mit der Herde zu laufen, blökend.
Einer hatte ihn beinahe erwischt, das war der erste gewesen, den er getroffen hatte. Es hatte ihn gleich irritiert, dass die Schafe einen mit Kette und Leder bei sich hatten. Hätte er mal auf seinen Instinkt gehört, dieser war ein Söldner gewesen. Keiner, den er gekannt hatte, aber der Biss seines Schwertes war nicht zu verachten gewesen. Danach ging es wieder weg von der Zivilisation, wenn man sie als solche bezeichnen konnte.
Die Zeit im Norden war eine ruhige gewesen, eine friedvolle, und sie hatte ihm wieder gezeigt, dass dies seinen Grund hatte. Dort überlebte man nicht.
Keine ewige Einsamkeit für mich, kein Leben in den Dörfern. Was blieb?
Wolf sein.
Er hatte zu rauben begonnen.
Die Verachtung, die man seinesgleichen entgegenbrachte, hatte ihn dazu getrieben, sagte er sich. Eine leichte Antwort, dessen war er sich bewusst.
Die Geläuterten übernahmen viele seiner ehemaligen Aufgaben. Wilde, Banditen, Räuber. Egal wohin er kam, wo ihn früher eine Mischung aus Missmut und Erleichterung empfangen hatte, da sah er heute nur Lachen. Verächtlich oder mitleidig, es lag oft nah beieinander.
Sie hatten gehasst ihn zu brauchen, sie freuten sich, ihn nun offen verabscheuen zu können. Der Orden befürwortete es ja. Schafe.
Das erste mal war eine Wohltat gewesen.
Es war kurz nach dem ersten Zusammentreffen mit einem Geläuterten gewesen, das seine linke Schulter als blutigen Klumpen zurückgelassen hatte, als er in ein Dorf kam.
Flucht, ja... es war eine Flucht gewesen.
Ein verletzter Mann kam blutig und erschöpft in eine Taverne im Nirgendwo, die Menschen sahen einen arbeitsunfähigen Söldner und warfen ihn hinaus.
Kein Bett, kein Essen, keinen Heiler. Nicht einmal einen Sitzplatz am Feuer hatte man ihm geben wollen.
Sie hatten bezahlt.
Eigentlich war das das zweite mal gewesen, dass er ein Dorf angegriffen hatte. Aber das erste hatte ihn als Teufel gekannt, das war anders.
Von da an, und nachdem er sich erholt hatte, hatte er oft auf den Umweg über vorsichtige Anfragen verzichtet und sich genommen, was er brauchte.
Er hatte das Schwert, er wusste damit umzugehen. Die Schafe blökten und drängten sich in die Ecke, es war ihm gleich. Seine Klinge hatte schon genug Blut gesehen, um vor jeder Instanz als Sünder zu gelten. Himmel, schon vor all dem war er der Sünder gewesen. Sei's also drum.
Hier fand er sich nun in dieser seltenen und altbekannten Lage und jagte eine handvoll Wilde.
Sie starben. Einfach genug.
Die Auftraggeber waren ein paar Fischer von der Netsch gewesen, wie man die Uferregion des Fliegenden Flusses noch immer nannte, auch wenn der namensgebende Sumpf auf dieser Seite des Stroms längst ausgetrocknet war.
Ein Anflug von Wahnsinn muss es gewesen sein, der ihn hat den Grim überqueren und hierher kommen lassen.
Sicher, noch immer träumte ein Teil von ihm davon, in den Süden zu wandern. Dort hin, wo der Orden kaum Einfluss hatte und das Leben wohl dem Nahe kommen sollte, was vor dem Feuer einmal seine Heimat gewesen war: Die Berge des Wahnsinns, wie man sie nannte. Harte Stürme, Eis und Schnee. Nie gekannt für das Kind dieses Jahrhunderts, aber irgendwie spürte er, dass dies doch ein Teil von ihm war. Ein Teil seiner Identität oder eben das Gegenteil. Wir sind das Feuer. Trotz.
Tote Wilde bedeckten den Boden, sechs an der Zahl. Nackt und dreckig, ausgehungert. Gelbliche Haut spannte über die Knochen wie ein Wachstuch. Miserable Existenzen. Sie waren lange tot, es hatte ihnen nur niemand gesagt.
Er fand keine Freude in seiner Arbeit. Sie waren gefallen wie Fliegen, beinahe dankbar für sein Geschenk. Das war kein Kampf, das war keine Überlegenheit. Jedenfalls keine, die etwas wert wäre in seinen Augen.
Gemächlich machte er sich auf den Rückweg. Die Sonne hing wie ein fetter Leuchtkäfer hinter dem dunstigen Schleier aus Weiß, Gelb, und Grau.
Eisen, Lederriemen, Wetzstein, Essen. In Gedanken ging er die Dinge durch, die er als Belohnung verlangen könnte.
Das Dorf stand im sicheren Abstand zum Fliegenden Fluss, der seinen Namen nicht ohne Grund trug.
Wo der Grim nur gemächlich dahin plätscherte und das Land fruchtbar werden ließ, da stürzte er sich mit rasender Geschwindigkeit von einer Seite des Kontinents zur anderen und riss mit, was er kriegen konnte; bohrte sich an seinem östlichen Delta gar durch einen Berg, um zurück ins Meer zu gelangen.
Der lockere Boden hatte dieser Naturgewalt nichts entgegenzusetzen und regelmäßig brachen Stücke aus dem Land, ohne dass die mitgerissenen Sandmassen den Fluss auch nur annähernd langsamer werden ließen.
So war der Fliegende Fluss in dieser Region schon als das Fliegende Meer bekannt, das andere Ufer war schon seit langem nicht mehr sichtbar.
Das Dorf war leer zu dieser Zeit, die Bewohner auf den Feldern, um ihr jämmerliches Überleben zu sichern.
Als er die Taverne betrat war der Schankraum ebenfalls verlassen. Nur ein einziger Mann saß an dem langen Tisch, an dem sonst das gesamte Dorf zusammenkam.
Ein Krieger, das sah man auch von hinten sofort.
Die breiten Schultern wirkten durch die Plattenrüstung noch massiger und der bloße Anblick seines Zweihänders ließ auf enorme Kraft schließen.
Der Mann musste nicht aufstehen damit man sah, dass er ein wahrer Riese von einem Kerl war.
Und er war alleine.
Söldner. Er muss ein Söldner sein.
Die Geläuterten hatten immer ihre Schafe um sich herum.
Betont gelassen ließ er sich neben dem Mann auf einem der Hocker nieder und widerstand dem Drang, ihn gleich auch von vorne zu begutachten, so wie dieser es vermutlich gerade mit ihm tat.
"Söldner?"
Selbst seine Stimme klang irgendwie mächtig.
"Ja."
"Niemand ist Söldner heutzutage."
"Hm."
Wo er Recht hatte-
"Ich war Söldner."
Er begann sich zu fragen, warum er sich neben den Kerl gesetzt hatte.
"Und jetzt?"
Endlich warf er einen Blick auf den Mann neben ihm und das schnurgerade Brandmal auf seiner Kehle gab ihm die Antwort.
Beinahe panisch sprang er auf und fiel beinahe mitsamt des Hockers wieder zu Boden, doch der andere machte keine Anstalten es ihm nach zu tun.
Im Gegenteil, er lachte noch und deutete neben sich.
"Wenn der Herr Söldner sich mal wieder beruhigen würde. Setz' dich."
Mit einer Hand griff er nach dem Hocker und stellte ihn wieder an seinen Platz, präsentierte dem Fremden dabei noch einmal das Mal an seinem Hals.
Ein Geläuterter.
Er würde nie wieder den Fehler begehen einen von denen zu unterschätzen, erst recht nicht dieses Monstrum.
Aber dieser hier schien ihm tatsächlich nichts Böses zu wollen. Wusste er wer er war?
Langsam setzte er sich wieder, argwöhnisch.
"Ich war also Söldner, wie du. Ich habe eine handvoll schlimmer Dinge getan, aber im Grunde doch nur getan, was das gute Volk von mir wollte. Das weiß ich noch. Dann kommen die Leute vom Orden und auf einmal hält mir so ein schmächtiges, blondes Ding meine eigene Klinge an den Hals und eh ich mich versehe knie ich vor einem Feuer und sie hält mir die Eisenstange an die Kehle."
Der Fremde begann unruhig hin und her zu rutschen, unbequeme Erinnerungen schlichen sich zurück vor sein inneres Auge, er konnte die Hitze des Brenneisens förmlich spüren.
Auch sein Nachbar fühlte sich sichtlich unwohl bei dem Thema, er setzte ein paar mal an bevor er schließlich tief Luft holte und fortfuhr.
"Sie hat mich gefragt... diese Sachen, die sie ihre Novizen fragen. Möchte ich ein Teil des Ordens werden? Gebe ich mein Leben? Lasse ich mich reinigen und fang' von vorne an?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ich weiß nicht wieso, aber ich habe gesagt was sie wollte. Ich habe ihr alles vorgebetet, alle wichtigen, heiligen Worte. Ich dachte es wär' danach vorbei, nach der Brennung. Ich meine. Ich bin kein Novize, ich bin keiner von denen. Ich hab nicht gedacht, dass sie mich immer in Ketten hinter sich her ziehen wollen. Eigentlich habe ich gar nicht gedacht. Alles war so... überwältigend."
Der Fremde blickte vor sich auf den Tisch, die Maserung des Steins verschwamm. Wie das Flimmern über einer Flamme. Er fragte sich wieder, was ihn davon abhielt einfach zu gehen.
"Das Brennen selbst war unglaublich. Ich kann das nicht richtig beschreiben. Der Moment, wenn jemand stirbt. Wenn das Leben in ihren Augen ausgeht. So ähnlich, aber anders. Und als ich aufgewacht bin war ich leer."
Er lachte kurz auf.
"Genau wie sie gesagt haben. Mein ganzes Leben war weit weg, als wäre das jemand anders gewesen, der dieses Leben geführt hatte. Und ich lag da, konnte kaum atmen vor Schmerzen, und innen drin war nichts mehr."
Wieso erzählt er mir das?
"Und dann kam dieses Mädchen, das mir all das eingebrockt hat, und redet mit mir, erklärt mir Dinge. Und auf einmal macht alles Sinn, weißt du? Ich war leer und sie hat mir neue Dinge gegeben, aus denen ich mein Leben bauen konnte. So ein Fundament, wo vorher nur Unordnung war. Seit meiner Brennung bin ich mit ihr gereist, wir haben gemeinsam Sünder gejagt und den Menschen geholfen und alles hat Sinn gemacht."
Sinn.
Die Aussicht auf so etwas wie einen Sinn in dieser Welt irritierte ihn fast noch mehr, als die Erinnerung an die weiß glühende Eisenstange.
Alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, die Auslöschung seiner Existenz. Ein Nichts, Leere.
Alles was ihn ausmachte, weg. Leere! Er sah die endlosen Weiten vor sich, der Norden.
Nein, nein, nein. Er wollte eine leere Welt, die Abwesenheit allen Lebens. Nicht seiner selbst. Unsinn!
Sinn. Verdammt.
Sein Unwohlsein war mittlerweile körperlich. Jeder Muskel im Körper angespannt und sein Kopf schien vor lauter Gedanken platzen zu wollen.
"Das...dass du dein ganzes Leben verloren hast macht dir nichts? Dass du nicht mehr du selbst bist?"
Seine Stimme klang beinahe gierig, er verfluchte sich dafür.
"Es ist schwer. Ich wurde hier geboren, ich wollte den Ort noch einmal sehen, um zu sehen, wo ich her komme. Ich kenn' das alles hier, aber es sagt mir kaum noch etwas. Ich erinnere mich an alles, aber es... spielt keine Rolle. Ich habe das alles hinter mir gelassen."
Leer, neu, unschuldig.
"Das Feuer ist jetzt in mir, und das ist etwas viel besseres, stärkeres und größeres, als ich allein jemals hätte sein können."
Gib ihm Feuer, Ord.
Plötzlich musste er weg. Raus, sich bewegen, weg von hier. Flucht.
Seine Beine verfingen sich im Aufstehen erneut in dem dämlichen Hocker und er ging rücklings zu Boden.
Diesmal streckte sich ihm keine helfende Hand entgegen.
Stattdessen kniete der andere jetzt über ihm und presste ihn mit einer einzigen Hand hart gegen den gestampften Lehmboden.
"Wo willst du denn hin?"
Hinter ihm waren Köpfe aufgetaucht, neugierige Gesichter. Dorfleute und... Orden.
"Ich werd' mich nicht brennen lassen. Niemals."
"Oh, du wirst. Ich habe gehofft dich umstimmen zu können, aber wenn du stur sein willst, so sei es. Jaris wartet."
Mit den Worten drehte er ihn mit einem Ruck an der Schulter herum und presste sein Gesicht auf die gestampfte Erde, eine massige Faust in die dunklen Haare gekrallt.
Er kämpfte, natürlich. Aber nichts was er dem Riesen entgegen zu setzen hatte, zeigte auch nur annähernd Wirkung. Er lag auf dem Boden und da blieb er. Seine Hände erreichten sein Schwert nicht, seine Beine traten ins Leere und immer war da die massige Hand, die ihn mit unmenschlicher Stärke hinunter gedrückt hielt, egal wie kraftvoll alle Muskeln seines Körpers sich sträubten und dagegen warfen bis es weg tat.
Schließlich spürte er den unnachgiebigen Griff an seinen Unterarmen, hörte das Klacken, spürte, wie sich kaltes Eisen um seine Handgelenke schloss und resignierte.
Unterlegen, besiegt... wieder.
Seine Gedanken rasten, aber in keiner der Szenarien, die sich vor seinem inneren Auge abspielten, ging es gut für ihn aus.
Wenn es eine Chance auf Flucht gab, dann unterwegs, entschied er. Es war ein weiter Weg bis zum Kloster, vorausgesetzt sie brachten ihn dorthin.
Wenn Jaris wirklich das große neue Oberhaupt des Ordens war würde sie sich sicherlich nicht mehr herablassen mit dem gemeinen Volk durch Dörfer zu ziehen, erst recht nicht hier.
Der Geläuterte entledigte ihn noch seiner Schwerter und begann dann ihn Stück für Stück aus seiner Rüstung zu schälen, bis er nur noch in dünne Unterkleider gehüllt vor ihnen hockte. Noch hilfloser. Warum schlitzt er mir nicht gleich die Kehle auf und bringt es hinter sich.
Er wurde in eine stehende Position gerissen und nach draußen gezerrt, wo ein Wagen wartete.
Ein klapperiges Ding mit einem noch klapperigeren Horntier, das ihn zog.
Das wird ewig dauern.
Die geringe Geschwindigkeit, mit der sie voran kommen würden, war nur ein kleiner Trost, als ihm eine weitere Kette um den Hals gelegt und diese anschließend hinten an den Wagen gebunden wurde.
Wie ein Sklave. Er wollte sie brennen sehen.
Dann setzten sie sich langsam in Bewegung.
Vier – Bube, König, Ass... Dame...
Es waren drei Tage vergangen als sie sich sicher waren: Die Dame war weg.
Kundschafterin, die sie war, hatte sich niemand gewundert, als sie von ihrem Weg abgewichen war. Sie würde zurück kommen, mit Neuigkeiten und vielleicht etwas zu Essen, sagte Kumrad.
Vargo selbst war misstrauisch.
Er hatte sich nie so recht daran gewöhnen können, dass das Mädchen einfach verschwand wann immer es ihr passte.
Noch beunruhigender fand er jedoch die Tatsache, dass sie sie immer wiederfand, egal wie schnell sie vorwärts kamen und selbst wenn sie während ihrer Abwesenheit vom Kurs abwichen konnten sie sicher sein, dass sie bald darauf vor oder neben ihnen auftauchte als sei nichts gewesen.
Kilorn Frostblatt schien sich nicht zu sorgen.
Es kostete Vargo all seine Überwindung seinem König gegenüber nicht ein weiteres mal die Treue der Dame anzuzweifeln. Kilorn vertraute ihr, er sollte es auch tun.
Nagender Zweifel blieb.
Besagter dritter Tag nach ihrem Verschwinden nun war es so weit.
Kilorn seufzte einmal in die Stille hinein auf und schüttelte den Kopf.
"Sie ist weg."
Kumrad und Vargo sahen sich an, verunsichert.
"Sie könnte aufgehalten worden sein.", versuchte Vargo einzulenken, doch sein König schüttelte den Kopf und lachte leise.
"Ich hätte es wissen müssen, es liegt ihr im Blut."
Nun war es an Kumrad den Kopf zu schütteln.
"Jeder von euch hat Wüste in sich, nicht? Das macht einen doch nicht zum Verräter!"
Vargo hatte beinahe Mitleid mit ihm. Gutgläubiger, naiver Kumrad. Er hatte der Dame näher gestanden als sonst jemand, es musste hart für ihn sein sich seinen Irrtum einzugestehen.
Kilorn verzog beinahe unmerklich das Gesicht, Vargo entging es nicht.
"Ich meine nicht die Wüste in ihrem Blut, ich meine den Norden."
Das verwirrte sie nun beide.
Vargo scherte sich nicht um die Angelegenheiten der Leute am Fuße des Berges, er legte noch Wert auf den alten Adel, den sie oben hatten.
Kumrad, der das Volk sicherlich besser kannte, hatte wiederum nicht viel Ahnung von den Ahnenreihen. Sicherlich kannte er die Geschichte von der Entstehung, aber wer nun von wem der Figuren aus der Geschichte abstammte interessierte ihn nicht, und zumindest unten im Volk wurde davon nicht gesprochen. Kein Wunder, waren es doch alles Verbrecher gewesen, die sich noch dazu gegen Ermond Frostblatt gestellt hatten.
Norden also.
Der Name Graehl von der Krom sagte ihnen allerdings allen etwas, der düstere Nordmann.
Und sie war weg.
Eine Weile saßen sie schweigend da, jeder ging seinen eigenen Gedanken nach.
"Ist sie zum Feigling?", fragte Kumrad schließlich, beinahe kleinlaut.
"Entweder das, oder sie wollte einfach nur nach Hause. Wo auch immer das ist.", antwortete ihm der König.
Vargo dachte düstere Gedanken.
"Ich habe ihr nie getraut, wir sollten strenger Wache halten, Kumrad."
Sein Blick wurde von traurigen, blauen Augen erwidert. Sein Vertrauen in Kameradschaft wurde erschüttert. So sehr Vargo es auch wollte, etwas in ihm hielt ihn davon ab zu triumphieren.
"Es hilft alles nichts, wir sollten einfach zügig weiter ziehen, denkt ihr nicht?"
Kilorn versuchte betont fröhlich zu klingen, es halft kaum die bedrückte Stimmung zu lockern, doch was blieb ihnen anderes übrig.
So zogen sie also weiter die Route entlang, die sie vor einer halben Ewigkeit schon einmal gewandert waren.
Die Küste hoch, der Passberg, mehr Küste, eine kleiner Durststrecke und dann der Grim.
In Gedanken ging Vargo die Strecke durch; dachte daran, was ihr König von ihrem neuen Reich zu sehen bekommen würde. Erfüllt von Sorge, dass ihm nicht gefallen würde was er sah.
Vielleicht waren sie ja doch auf ihrer Insel besser aufgehoben. Doch der Feigling lauerte, und er würde nicht vor ein paar Meilen Wasser zurückschrecken. Also zogen sie.
Fünf – Der Heilige und der Teufel
Akios dachte, es sei schwer gewesen, seinen großen Bruder zu begraben.
Er hatte es für schwer gehalten zuzusehen, wie sein eigen Fleisch und Blut in Brand gesteckt wurde, das panische Kreischen zu hören, als er in Flammen auf und schließlich unter ging. Zu sehen, wie ein Mann auf den brennenden Körper eintrat, der ihm all die Jahre lang mit Rat und Schutz zur Seite gestanden hatte.
Nein, das war nichts im Vergleich zu dem, was nun auf ihn zu kam.
Sie hatten den Teufel eingefangen.
Und lächerlich einfach war es gewesen. Es war schneller vorbei als Akios herbei eilen konnte um zuzusehen, da lag er schon in Ketten, das Monster, und wand sich wie ein Wurm in seinen Fesseln.
Das Stückchen schiere Angst, das er vor einiger Zeit in diesen dunklen Augen gesehen hatte, schien vergessen, als er nun die pure Hilflosigkeit des Mannes vor sich hatte, der sein Leben in den Grundfesten erschüttert hatte.
Winde dich nur, dachte er, winde dich. Du kannst nicht entkommen.
Doch das war das Problem, wie sich heraus stellte.
Wilhem hatte den Mann verunsichert. Als er da so am Boden lag waren die Erinnerungen an die Beinahe-Brennung wieder frisch und die Angst wieder an die Oberfläche getreten, aber sie hatten einen weiten Weg vor sich und das Blatt sollte sich bald wenden.
Es dauerte tatsächlich nur wenige Stunden, bis der Mann sich vom Schrecken erholte und seine alte, unausstehliche Persönlichkeit zum Vorschein kam.
Jedes Wort, das seine Lippen verließ, war ein Messer und er hatte ein ganzes Arsenal solcher Worte.
Die Novizen und die neu gebrannten Geläuterten saßen die meiste Zeit im Wagen und Akios tat sein bestes, sie in die Lehren des Ordens einzuweisen.
Äußerst störend, wenn wieder und wieder von hinten ein verächtliches Lachen oder eine giftige Bemerkung zu ihnen hinauf tönte.
Bald hatte er sie alle an den Rande des Wahnsinns getrieben mit seinem Gift.
Akios, der sich angewöhnt hatte hinten im Wagen zu sitzen, hatte oft den Blick auf den Gefangenen gerichtet, der angekettet hinter ihnen her trottete.
So sehr der Anblick dieses Teufels ihn auch schmerzte, alte Wunden aufbrach, so heilend war es auch ihn in Ketten zu sehen.
Macht über ihn zu haben.
Da nahm er die Beleidigungen und leeren Provokationen beinahe gleichmütig in Kauf.
Die Hölle kam später und als ein Teil seines Amtes.
Die Aufgabe des Heilers, das Behandeln von Wunden, körperlicher und seelischer Natur, war schon immer sein Leben gewesen. Die Lehren des Ordens zu verbreiten sah er lediglich als Erweiterung dieser Berufung an.
Natürlich verlangte niemand von ihm, sich um die seelischen Belange des Gefangenen zu scheren, aber der Auftrag war klar. Die Äbtin wollte das Monster lebend.
Wilhem übte sich in Zurückhaltung, so weit es ihm möglich war, aber spätestens als sie den Anführer einer Räuberbande gebrannt hatten wurden Akios Dienste zunehmend benötigt.
Der Kerl hatte sich schon wenige Stunden nach seiner Festnahme mit dem Teufel angelegt und als ihm beinahe beiläufig von den dessen Taten berichtet wurde hielt er es erst recht für seine heilige Aufgabe sich auf die entgegengesetzte Seite und mit seinen Wärtern gut zu stellen.
Als er dann aber tatsächlich mit der Brennung in den Orden aufgenommen wurde geriet der Konflikt zwischen dem Söldner und dem Räuber zunehmend außer Kontrolle.
Die erste Zeit war er wie bei frisch Gebrannten üblich: ruhig, in sich gekehrt, nachdenklich.
Bald jedoch begann der alte Streit wieder aufzuflammen und mit den Lehren des Ordens im Rücken begann er Akios Arbeit zu verschaffen.
Vereinzelte Schläge bedurften keiner Behandlung, doch der Gefangene ließ sich nie hinab die Misshandlungen mit mehr als einem Knurren zu würdigen.
Er gönnte ihnen diesen Triumph nicht und es irritierte selbst Akios, der sonst von Grund auf friedlich veranlagt war.
Bald hatte Ranmik, so der Name des neuen Geläuterten, auch die jüngeren Novizen angestachelt Steine zu werfen und zu versuchen den Gefangenen zum Stolpern zu bringen.
Der Mann, der seinen Bruder bei lebendigem Leib verbrannt hatte, stolperte hilflos und unter schallendem Gelächter hinter ihnen her, dem Spott und Hohn von ein paar Jünglingen ausgesetzt. Das war das Monster, das sie in Angst und Schrecken versetzt hatte? Akios mochte kaum glauben, dass dies der selbe Mann war.
Jeder Mensch kann tief fallen, versuchte er sich zu sagen, doch das Wort Mensch fühlte sich einfach falsch an.
Was war das für eine groteske Figur, die da ohne eine Miene zu verziehen hinter ihnen her hinkte? Es brachte Akios nicht mehr die Genugtuung, nach der er sich so verzehrte. Fast so, als sei sein Bruder einem niederen Schwächling zum Opfer gefallen, begünstigt von Überraschung und Zufall. Ein unwürdiges Schicksal. Diese Tage war ihm der Teufel lieber.
Sie hatten das sandige Gebiet der Netsch schon einige Tage hinter sich gelassen, als der Konflikt zwischen dem Söldner und der Ordensgruppe seinen Höhepunkt erreichte.
Das harte Zwischenland vom Fliegenden Fluss bis zum Grim machte die Reise beschwerlich und öde und so vertrieben sie sich die Zeit damit tiefer in die Lehren des Ordens einzutauchen.
Das leichte Schaukeln und Holpern des Wagens war ein ständiger Begleiter auf ihrer Reise und so auch heute.
Akios hatte sich einige der Novizen zur Seite genommen und unterrichtete sie, diskutierte mit ihnen.
Sie alle hatten gesehen, wie Wilhem Ranmik gefangen hat, wie der Mann anschließend gebrannt wurde und vor allen Dingen, wie es ihn verändert hatte. Natürlich wussten sie, dass die Brennung auch auf sie zu kam. Doch wie es einen Unwilligen so grundlegend verändern konnte war für sie alle unerklärlich gewesen. Also erklärte Akios. Er sprach von der Macht der Götter, von Jaris Vision und dem neuen Weg des Ordens. Er sprach schließlich davon, wie die Flamme das Herz reinigt und nur Gutes zurück lässt als ein raues Lachen ihm das Wort abschnitt.
Ein Blick hinter sich traf auf den zweier dunkelschwarzer Augen, die ihn verneinend ansahen, den Mund zu einer höhnischen Grimasse verzogen.
"Ich habe das Feuer genommen und deinen Säufer von einem Bruder getötet, dann habe ich es benutzt und ein Dorf damit abgebrannt. Versuch ihnen das zu erklären."
Akios spürte, wie sich kalter Schweiß auf seine Stirn schlich. Wage es nicht. Als er die den Mund öffnete um zu antworten klapperten seine Zähne vor Wut, also biss er sie zusammen.
Ruhig bleiben. Er spielt mit dir.
"Es gibt solches Feuer und solches. Es ist, was man damit tut."
Er hörte seine eigene Stimme wabern.
"Wir alle kennen deine Vergehen, du hast kein Recht hier zu sprechen."
Mit den Worten wandte er sich von dem Mann ab und wieder seinen Schülern zu.
"Wir haben eine große Verantwortung, wenn wir mit dem Feuer hantieren. Wir verehren es, weil es die Macht besitzt uns alle zu befreien. Aber wir müssen wachsam sein, denn wenn wir es nicht respektieren und achten-"
"Dann kann es euch mehr Macht geben, als ihr euch jemals erträumt habt. Missbraucht es und es wird eure größte Waffe im Kampf gegen die Heuchler. War es das, was du sagen wolltest?"
Die Stimme des Teufels war kaum mehr als ein Flüstern, seine Wirkung war die eines Schreis, der die Wolken am Himmel entzwei schnitt. Er verdrehte alles, woran Akios glaubte. Verkehrte alles Gute ins Gegenteil. Anti.
Akios zog scharf die Luft ein, ruhig bleiben, sei ein Vorbild.
"Dieser Mann hier...", er deutete mit anklagend ausgestrecktem Finger auf den Gefangenen, "... hat das Feuer missbraucht. Seine eigenen Sünden haben es verfälscht und ihm erlaubt grausame Dinge damit zu vollbringen. Er achtet das Feuer nicht, er verhöhnt es, und deswegen wird es ihm keine Gnade zeigen."
Lachen. Das Monster würde alles tun, um ihn zu provozieren, ihn zu zerstören.
Akios Stimme erhob sich, fand Festigkeit.
"Er wird gebrannt werden und dann werden wir sehen, was das Feuer zu ihm zu sagen hat. Wir werden gemeinsam mit der Macht der Flammen die schwarze, verrottete Seele aus diesem Körper brennen und zeigen, bei wem die Kraft liegt."
Hass warf sich ihm entgegen, gespickt mit Angst. Kein Hohn, kein Spott. Das war vorbei.
"Kannst du wirklich damit leben? Ständig mein Gesicht zu sehen, meine ich? Als einen von euch, braves schwarzes Schäfchen, das sich in eurer Herde versteckt hält?"
Jedes Wort eine Herausforderung, spiel mit mir, reagier auf mich.
"Wer sagt dir, dass die Brennung mich wirklich ändert? Wie sehr vertraust du deinem Feuerchen? So sehr, dass du einen Wolf wie mich zu deinen Lämmern lässt? Oder hast du vor mich zu brennen und ewig in Ketten zu halten?"
Natürlich nicht.
Keine Feindseligkeit, kein Hass kam mit diesen Worten; sie klangen ehrlich und die dunklen Augen waren voller Ruhe.
Und er hatte Recht. Das vor allen Dingen hinterließ ein dumpfes Gefühl von Kälte in Akios Innerem, er schüttelte es ab.
"Das werden wir sehen. Wir reden weiter, wenn du als leere Hülle vor mir sitzt und mich anflehst, dir die Welt zu erklären."
Spöttische Arroganz kaschierte das aufkeimende Entsetzen nur schwach.
"So leer, wie all deine kleinen Novizen sein werden? Solltest du ihnen das nicht erzählen, dass du sie auslöschen wirst? Rede ruhig von Neuanfang und Reinigung, aber es ist doch so: Deine so genannte Heiligkeit ist nichts als Kontrolle. Mich kann niemand kontrollieren."
Ranmik, der sich zu ihnen gesellt hatte, ließ den Blick zwischen den beiden Männern hin und her schweifen. Sah die Blitze, die in Akios Augen zuckten.
"Hör auf unseren Meister hier verrückt zu machen, du bist derjenige, der in Fesseln liegt. Für mich ist das Kontrolle genug."
Wie zur Bestätigung seiner Worte zog er einmal ruckartig an der Kette und ließ den Gefangenen überrascht nach vorne stolpern, der lachte.
"Deine Vorstellung von Kontrolle ist wirklich die eines Wilden. Ich habe tausende von deiner Sorte getötet, das nenne ich Kontrolle."
"Das nenne ich außer Kontrolle. Und ich bin nicht mehr dieser Mensch, ich bin ein Geläuterter."
Ein verächtlicher Blick.
"Ach richtig! Du hast jetzt eine Gemeinschaft hinter dir, die dich mit ihren Idealen füttert bis du erstickst!"
"Besser Ideale als gar nichts zu Essen."
Das brachte den Gefangenen erst recht zum Lachen.
Eine Antwort hielt er wohl nicht mehr für nötig und schüttelte nur belustigt den Kopf.
Akios musste an eine Unterhaltung denken, die er vor einigen Tagen mit Ranmik gehabt hatte.
"Warum lässt du dich auf Diskussionen mit dem Irren ein? Das führt doch zu nichts."
Ranmiks Antwort war ihm noch frisch im Gedächtnis.
"Ich will wissen, warum er das gemacht hat. Ich will sehen, wie es in ihm drin aussieht."
Akios konnte in diesem Moment nicht umhin, den letzten Teil beängstigend wörtlich zu nehmen, als der Geläuterte, noch immer auf seine Antwort wartend, vom Wagen sprang und neben dem Gefangenen her lief.
"Redest du nicht mehr mit mir?"
Er stieß ihm gegen die Schulter. Gerade genug, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er erntete ein gereiztes Knurren.
"Ich habe alles gesagt, was es für mich zu sagen gibt, einer wie du hat mir nichts von Interesse zu bieten. Alles was du jemals hattest leugnest du jetzt. Sag mir, dass du nicht noch immer für den Augenblick lebst, wenn ihre Augen sich vor Angst weiten kurz bevor ihr Leben erlischt. Was ist so anders? Du tötest für andere Gründe, aber um die Gründe ging es dir doch nie. Du bist nicht anders als ich."
Der Fremde versuchte ein hämisches Lachen, doch ein Tritt in die Kniekehle ließ es ihm im Halse stecken bleiben. Eine Sekunde sah er aus dem Augenwinkel Angst in Ranmiks Gesicht aufblitzen, schnell ersetzt durch Mordlust. Er hatte es geschafft. Lieber tot als Jaris in Ketten gegenüber zu treten. Auch Akios zuckte zusammen, etwas war anders. Das war kein Spiel.
Ehe er sich versah sprang Ranmik schon einige Schritte zurück, hob seine Peitsche und versetzte dem Gefangenen einen Hieb quer über den Rücken. Überrascht sog der die Luft ein und griff mit den aneinander gefesselten Händen nach der Rückwand des Wagens um sich abzustützen.
Den zweiten Hieb würdigte er kaum noch mit einer Reaktion.
Akios ertappte sich dabei wie er den verhassten Mann genau beobachtete, nach jedem Anzeichen von Schmerz und Erniedrigung in seinem Gesicht suchte.
Mehr als ein Zucken im Mundwinkel war ihm auch mit den folgenden Hieben nicht zu entlocken, Ranmiks Augen schrien Wahnsinn. Er wollte den Mann schreien hören, und Akios wollte es auch. Er sollte es beenden, er sollte Ranmik sofort zurück pfeifen. Er musste, es war seine Pflicht, seine verdammte Pflicht-
Schließlich bekam er ein Wimmern, als der Teufel zwischen zwei Schlägen nach Luft schnappte. Dann einen feuchten Schimmer über den verhassten Augen, als er das Gleichgewicht verlor, nach vorne stürzte und sie kurz öffnete um Halt zu finden.
Akios sog den Triumph förmlich in sich auf. Er roch Blut in der Luft, einen subtilen, metallischen Hauch, sah feinen, roten Nebel auf stäuben, als der nächste Hieb traf.
Bald gelang es dem Monster nicht mehr, sein Wimmern mit tiefem Knurren zu übertönen und er schrie auf.
Kurz, nicht laut, aber bis zum Rand voll mit Schmerz. Bettelnd.
Ekstatisch.
Akios sah, wie der Schrei sich auf den Zügen des Mannes widerspiegelte. Hilflos hatte der den Kopf gesenkt, versteckte seinen Schmerz beschämt hinter seinen Armen und einem Vorhang strähniger, schwarzer Haare.
Doch die Schreie ließen sich nicht verstecken. Häufiger und vor allem lauter und höher kamen sie nun. Alle Muskeln im Körper des Mannes waren zum Reißen gespannt, als er versuchte die Kontrolle über seinen Körper zurück zu erlangen, nicht zu stürzen.
Akios war näher heran gerückt, ihm entging nichts. Kein noch so kleines Geräusch, kein Schweißtropfen, keine Träne. Er fühlte sein Herz rasen, seinen Atem schneller werden. Fahrig wischte er sich die feuchten Hände an der Robe ab, als der Gefangene erneut weiter gegen den Wagen getrieben wurde, aufschrie. In den Schmerz mischte sich Angst, seine Stimme flehte um Gnade.
Akios konnte nicht anders, er griff den Kopf des Mannes an den Haaren und riss ihn zurück, sah ihm ins Gesicht.
In die erschrocken aufgerissenen Augen, die bebenden Lippen, denen in regelmäßigen Abständen gequälte Laute entwichen. Akios erwiderte den Anblick mit einem triumphierenden Lächeln, dann ließ er ihn los und Ranmik fuhr fort mit seiner Tortur.
Es dauerte nicht lange, da brachen dem Mann die Beine unter dem eigenen Gewicht weg. An den Rand des erträglichen getrieben hing er nur noch mit den Handfesseln am Wagen, wandte seinen geschundenen Rücken instinktiv der Sicherheit des Gitters zu. In dem kurzen Moment seiner Drehung sah Akios das Massaker aus blutigen Striemen, das Ranmik auf der Haut des Mannes hinterlassen hatte und zum ersten mal meldete sich der Heiler in ihm, mit Entsetzen.
Dann setzte der Geläuterte auch schon erneut an.
Die Schmerzensschreie klingelten ihm in den Ohren, es hörte nicht auf. Selbst Akios zuckte nun unter jedem Knall des dünnen Leders auf der geschundenen Haut seines Feindes zusammen.
Nun beinahe widerwillig beugte er sich über den Wagenrand, sah auf den Gegeißelten hinab, der sich kraftlos in den Fesseln wand, nicht fähig den Peitschenhieben zu entkommen, die unerbittlich auf ihn einprasselten.
In dem Moment traf Ranmik ihn mit einem Hieb im Gesicht und ließ ihn aufjaulen, als Blut sein Kinn hinab sickerte.
Dann kam Wilhem.
Der Geläuterte hatte die gesamte Zeit über neben dem Wagen gestanden, beobachtend. Die Götter wissen, was er von all dem dachte. Seine Miene verriet nichts.
Nun trat er an Ranmik heran, legte ihm eine Hand auf den Arm und brachte ihn mir einem ruhigen "Es ist genug." zum Aufhören.
Aber es hörte nicht auf.
Die Peitschenhiebe verschwanden, aber noch immer war da das Wimmern und Winseln des hilflos am Wagen hängenden.
Seine Fäuste schlossen und öffneten sich in ihren Fesseln, ein vergeblicher Versuch ein wenig Kontrolle über seinen Körper zurück zu erlangen.
Akios wich instinktiv zurück, versuchte wieder zu Atem zu kommen.
"Ich glaube", seine Stimme zitterte und bebte, "... ich sollte ihn mir mal ansehen."
Wilhem half ihm, den fast leblosen Körper auf den Wagen zu hieven.
Von nahem sahen die Wunden noch verheerender aus. Es kostete Akios all seine Überwindung hin zu sehen.
Blut und zerstörte Körper war er gewohnt. Nicht aber, dass er das Zufügen dieser Wunden dermaßen genossen hatte.
Die Stimme zitternd vor kaltem Entsetzen und Scham bat er einen Novizen seine Utensilien zu bringen und begann mit der Arbeit.
Mit fahrigen Händen begann er die tiefen Striemen zu versorgen. Erst die auf der Brust, dann im Gesicht.
Es fiel schwer den Mann anzusehen dabei, also konzentrierte er sich so gut es ging auf die Wunde, versuchte den Blick in den Augen des Mannes auszublenden.
So hilflos, schwach, verletzt.
Der Körper fühlte sich heiß unter seinen Fingern an. Menschlich. Er zuckte bei dem Gedanken, ihm war schlecht.
Das Gesicht von dem Teufel lag größtenteils hinter einem Vorhang strähniger, schwarzer Haare versteckt. Akios war dankbar dafür, als er begann die Wunden weiter zu reinigen und zu verbinden.
Selbst der schwache Atem, der den Oberkörper des Mannes unter seinen Händen sich sachte heben und senken ließ schien ihm mehr, als er ertragen konnte.
Er sollte nicht leben.
Er sollte nicht atmen, das hier war kein Mensch.
Der Unmensch zuckte unter der Berührung von Akios Tupfer zusammen und ließ ein unverständliches Murmeln hören. Die dunklen Augen waren halb geöffnet und suchten verwirrt nach Anhaltspunkten seines Aufenthaltsortes, schlaftrunken und benebelt.
Schließlich waren sie fertig und banden ihn erneut gegen das Gitter, ließen ihm aber genug Platz um sich der Länge nach hinzulegen. Der würde vorerst nicht mehr laufen können.
Ranmik saß während der gesamten Prozedur auf der Rückwand des Wagens und beobachtete sie von seinem erhöhten Standpunkt aus.
"Das war Kontrolle, was?"
Seine Stimme troff vor Stolz.
"Er hat geschrien."
Der Kerl grinste.
Akios sagte nichts, niemand sagte etwas.
Sechs – Kupferkönig und sein Reich
Dass dieser Weg kein leichter werden würde hatte er geahnt.
Seine Garde hatte alles getan ihn darauf vorzubereiten, die guten wie die schlechten Dinge.
Doch das was er sah übertraf seine düstersten Vorstellungen.
Es stellte sich heraus, dass Kumrads Berichte nicht nur von dem Willen geprägt waren, Vargos Schönmalerei auszugleichen.
Jedes Wort davon war wahr gewesen.
Sie sahen ausgestorbene Dörfer, Räuberbanden, die sich ganze Gemeinden zu Sklaven gemacht hatten und immer wieder säumten Leichen ihren Weg.
Händler mit zerschlagenen Karren, alle auf dem Weg in den Norden.
All dies war südlich des Passberges gewesen.
Im Norden wendete sich das Blatt und ließ sie alle neue Hoffnung schöpfen.
Vargo hatte bereits von den Anstrengungen des Ordens berichtet, ihre Gruppen mit Kriegern auszustatten. Geläuterte, wie er sagte.
Doch was sie im Norden sahen ging darüber weit hinaus.
Mehrere male kamen sie in Dörfer, die die Ordensgruppen von Räubern, Wölfen und Wilden befreit hatten.
Sie machen das Land tatsächlich besser, dachte sich Kilorn wiederholt.
Vielleicht war dies doch eine Allianz, die den Weg wert war.
Entlang des Grims zeigte sich ihnen ein ähnliches Bild.
Nur einmal trafen sie auf ein abgebranntes Dorf.
Ein Fleckchen schwarzer Erde, in das eine Straße hinein und wieder aus ihm heraus führte.
Ein bedrückender Anblick.
Sie kamen nur langsam voran, immer wieder mussten sie halten und Menschen ihren Ochsen bestaunen lassen.
Wenn man ihnen sagte, dass Kilorn der König dieses Landes werden und sie in eine bessere Zeit führen würde lächelten sie freundlich und nickten ihm zu.
Dann widmeten sie sich wieder dem Ochsen, berührten seine langen, gebogenen Hörner und den Buckel in seinem Nacken und wichen lachend zurück, als das Tier ungeduldig schnaubte.
Als sie endlich am Ziel ihrer Reise ankamen fanden sie das Kloster in Aufruhr vor.
Kilorn hatte sich einen ruhigen Ort vorgestellt, einen Hort der Stille.
Was sie sahen, waren Hallen und Gänge angefüllt mit eifrigen Novizen, die von einem Ort zum anderen eilten, und bis an die Zähne bewaffnete Geläuterte, die im Hof trainierten.
Ein Kloster erfüllt von den Klängen aneinander schmetternder Schwerter. Nein, das war es wirklich nicht, was er zu sehen erwartet hatte.
Die Überraschung war aber keine negative, was sie am nötigsten brauchten war immerhin eine Armee. Phönixheim hatte kaum Einwohner. Wenn der Orden die Männer hatte dieses Land in seinem Namen zu ordnen, umso besser.
Die Wachen hatten gleich bei ihrer Ankunft eine handvoll aufgeregt schnatternder Novizen abgefangen und sie zur Äbtin geschickt, Kunde von ihrer Ankunft musste so schnell wie möglich die Anführerin erreichen.
König hin oder her, Kilorn konnte seine Aufregung kaum verbergen.
Es dauerte auch nicht lange, bis einer der rot gewandeten Ordensleute auf sie zu trat und sie mit einem freundlichen Lächeln bat ihm zu folgen.
Kilorn versuchte die Stufen und Gänge zu zählen, durch die sie ihr Weg führte. Er gab schon nach wenigen Minuten auf. Das war eine Festung. Mehr und mehr begann er den alten Spekulationen zu glauben, ihr eigenes Phönixheimer Schloss sei nur ein Sommerhäuschen für einen der Fürsten aus der alten Zeit gewesen.
Schließlich brachten die Korridore und Wendeltreppen sie in ein Turmzimmer mit einem spektakulären Ausblick über die gesamte Festung und ein gutes Stück Himmel. Das freundliche Rotgewand hieß sie warten und lehnte sich hinter ihnen an die Wand, ließ sie jedoch keine Sekunde aus den Augen. Es dauerte auch nicht lange, da trat ein Mädchen ein und begrüßte sie förmlich.
Jaris.
Mit ihren langen. honigblonden Haaren sah sie wirklich jung aus, jünger noch, als die Dame es gewesen war.
Doch ihre eisblauen Augen sagten ihm, dass der Eindruck täuschte. Das hier war eine Anführerin, und sie war nicht zu unterschätzen.
"Kilorn Frostblatt, aus Phönixheim."
Sie sprach seinen Namen mit Bedacht aus, ließ ihn sich auf der Zunge zergehen.
Er wusste nicht viel von den Taktiken eines Anführers, es lag in seiner Natur. Aber jetzt in dem Moment sprach sie Macht über ihn aus, das war ihm sofort klar.
Macht, die sie leider hatte. Er war auf ihre Hilfe angewiesen. Ohne sie war er nichts in diesem Land.
Vielleicht hatte Vargo recht, Phönixheim war ein bequemer Sitz gewesen.
Er versuchte den Gedanken abzuschütteln.
"Wir haben eines gemeinsam.", begann er ebenfalls mit Bedacht zu sprechen, wählte seine Worte vorsichtig.
"Wir lieben die Menschen und können nicht länger zusehen, wie irgendwelcher Abschaum sie mit einem Schwert in der Hand in den Ruin treibt. Ich habe dieses Land auf meiner Reise gesehen und ich muss sagen, es ist schlimmer als befürchtet. Der Orden hat großartige Dinge vollbracht, aber der Süden liegt noch immer in Trümmern und ist den Wilden vollkommen ausgesetzt. Ich kann nicht länger auf meiner Insel sitzen, ich will etwas tun."
Jaris, die bislang aufmerksam zugehört hatte, hob nun die Hand, gebot ihm Einhalt.
"Es ehrt dich, dass du helfen willst. Erzähl mir, was das Volk von dir hält. Wie haben sie auf dem Weg hier her auf dich reagiert?"
Vargo regte sich neben ihm, doch Kilorn legte ihm eine Hand auf den gepanzerten Arm und lächelte Jaris stattdessen offenherzig an.
"Es stimmt schon, dass das Volk wenig Interesse an mir zeigt. Sie mögen meinen Ochsen lieber als mich! Aber ich glaube, dass du von mir profitieren kannst und die Menschen sich mit der Zeit daran gewöhnen werden, dass es da jemanden gibt, der sich um sie kümmert. Der Orden kann vieles, aber nicht alles. Ich möchte dir Arbeit abnehmen. Dörfer strukturieren, stärken, vereinen. Nach altem Muster! Ich habe viele alte Dokumente in meiner Burg auf Phönixheim. Ich weiß, wie man ein Land ordnet, auch wenn ich nie eins hatte. Das ist es, was ich dir zu bieten habe."
Das Mädchen schien zufrieden, aber es fiel ihm schwer durch ihre Maske von Professionalität zu blicken.
"Deine Leute berichteten mir von dem Feigling Cyron und seinen Irren auf den Türmen. Was gedenkst du dagegen zu tun?"
Er widerstand dem Drang verlegen herum zu drucksen.
"Offen gestanden, das ist der Grund warum wir hier sind. Wenn wir eines nicht haben, dann sind das Krieger. Wir haben Vargo hier, wir haben Kumrad und auf Phönixheim haben wir noch einen uralten Mann, der schon mich trainiert hat, als ich noch ein Kind war."
Er versuchte sich an einem verlegenen Lächeln, als König und einem Mädchen dessen Großvater er hätte sein können gegenüber kein leichtes Unterfangen.
"Wir haben die Theorie und das Wissen, uns fehlen die Mittel sie umzusetzen. Mir ist bewusst, dass du deine Geläuterten für das Volk und zum Schutz deines Ordens brauchst, aber eine andere Möglichkeit als einen Teil von ihnen zu einer kleinen Armee zusammenzufügen sehe ich nicht. Vorerst sollten jedoch die Dörfer gesichert werden. Noch wissen wir nicht, wie weit fortgeschritten die Vorbereitungen des Feiglings sind."
Jaris nickte, ihre Miene noch immer undurchdringlich.
"Mir gefällt was du sagst. Eins aber noch, bevor ich mich auf eine Zusammenarbeit einlasse. Es sind meine Geläuterten, es ist mein Volk. Ich lasse zu, dass du mir bei der Rettung dieses Landes zur Seite stehst, aber mehr auch nicht. Dieses Land hat unglaublich unter Königen gelitten, ich werde nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholt."
So sehr es ihm auch missfiel, Kilorn war in keiner Position, in der er ihr widersprechen konnte und so nickte er nur kurz und stimmte zu.
Sie ist jung, sagte er sich, sie muss sich etwas beweisen, lass sie.
Sie würde mit der Zeit schon noch Vertrauen zu ihm fassen, hoffte er.
Sieben – Der Weg zum Kloster
Ein namenloser Fremder lag scheinbar leblos auf einem Karren voller Ordensleute, seine Handgelenke waren lose an die Seite des Wagens gefesselt und er war verletzt.
Ein Stein auf der Straße weckte ihn.
Nicht der Stein selbst, eher das Holpern des Wagens, als er darüber rollte.
Vielleicht war es auch kein Stein gewesen, aber der Stein war am wahrscheinlichsten. Alles war voller Steine hier.
Zersprungen und oft mit glänzenden, angeschmolzenen Rändern.
Die Ordensschäfchen sammelten sie gerne ein und freuten sich über die schimmernden Klumpen.
Zeichen des Feuers und so weiter.
Sein Kopf fühlte sich an als würde er jeden Moment zerspringen und das ewige Ruckeln des Wagens machte das alles nicht besser.
Die erste Woche hinter dem Wagen war wohl die angenehmste gewesen, sie waren im Bereich des Fliegenden Flusses geblieben und sogar er hatte regelmäßig Wasser bekommen. Der Boden war sandig und so weich, dass er bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln einsank.
Das war nervtötend und er hatte seinen Unmut darüber mehr als deutlich und oft genug Kund getan.
Hätte er gewusst was auf ihn zukommen würde-
Als nächstes waren sie nach Norden abgebogen, die kürzeste Strecke vom Fliegenden Fluss bis zum Grim, aber das war nicht sonderlich tröstend.
Die Erde war hart und steinig, die Sonne brannte erbarmungslos und sie lebten von dem bisschen, das die Ordensbrüder in ihren Wasserschläuchen mitnehmen konnten und den paar Krügen Dornsaft, die sie auf ihrer Reise bekommen hatten.
Der verhasste Gefangene ging oft leer aus.
Er verbrachte die Zeit mit Erinnerungen. Keine sehr weit entfernten, er begnügte sich mit den Gedanken an seinen Norden, die Ebenen, die Berge. Sogar an das Meer und an den Grim sehnte er sich zurück. Alles war besser als hier.
Die Wellen schwappten gemächlich an ihm entlang, an seinem Rücken spürte er den sandigen Schlamm des Grimufers. Der Himmel war gelb... oder rot, oder grün, oder blau, oder grau. Es machte eigentlich keinen Unterschied, es war jedes mal anders. Was zählte waren die Wellen und die Gerüche und das leise Plätschern.
Ruhe, Frieden. Seine kleinen, schmerzlosen Erinnerungen, so nichtig sie ihm auch waren, in dieser Hölle wurden sie zu dem kostbarsten Besitz des Besitzlosen.
Eine Hölle, an die der Fremde wieder einmal erinnert wurde, als der Wagen so vor sich hin holperte und sein Rücken schmerzhaft über den rauen Untergrund rieb.
Die Peitschenhiebe waren wohl der Grund für seine Fieberträume und gelegentlichen Schüttelfrost. Er hatte versucht so viel aufrecht zu sitzen wie ihm möglich war, um den blutigen Striemen auf Brust und Rücken nicht auch noch Grund für Entzündungen zu geben, aber an einem gewissen Punkt hatte die Erschöpfung überhand genommen und er war zu Boden und in einen unruhigen Schlaf geglitten.
Auch sein Gesicht zierte eine der Wunden, einige Streifen liefen ihm quer über die Wange bis hinunter ans Kinn. Noch mehr Narben, noch mehr Male.
Etwas in ihm war dankbar dafür. Würden sie ihn einfach so auslöschen können, wenn alles an seinem Körper ihn an ein anderes Leben erinnerte?
Er musste an dem Gedanken festhalten. Er würde nicht ausgelöscht werden, er war nicht wie die.
Man hatte ihn eine Weile rasten lassen nachdem Ranmik ihn so zugerichtet hatte.
Der rundliche Priester, Akios, behandelte ihn widerwillig, aber er tat es.
Er hatte immer wieder versucht den Blick des Heilers einzufangen, doch der wich ihm aus. Kein Wunder, er hatte das Entsetzen in den Augen des Mannes gesehen, als er die Wunde das erste mal genauer inspiziert hatte. Noch tiefer saß jedoch die Erinnerung an den Triumph, den Ausdruck von Überlegenheit, als man ihn ausgepeitscht hatte. Der gutmütige, rundliche Priester hatte jede Sekunde genossen. Das war schlimmer als der offene Hass von Ranmik. Der war ein Bastard, schon immer gewesen. Akios war... das was man als einen guten Menschen bezeichnete.
Er sollte sich ruhig unwohl fühlen, er verdiente es.
Bald darauf hatten sie ihn jedoch wieder hinter den Wagen gekettet, seine Füße funktionierten ja noch, blutige Wunden und Fieberfrost hin oder her.
Erst als auch seine Beine ihren Dienst versagten und er zu Boden stürzte, so weit ihn seine Fesseln denn stürzen ließen, erst dann erbarmte man sich und ließ ihn eine Weile im Wagen liegen.
Sie hatten mehrfach versucht ihn dazu zu bewegen wieder zu laufen, aber er war dazu übergegangen sich jedes mal sofort wieder in die Fesseln zu hängen.
Zum einen kamen sie so noch langsamer voran und zum anderen schien Jaris darauf versessen zu sein ihn zu brennen, lebend also. Das funktionierte gut genug und so lag, saß, hing er nur noch im Wagen und langsam begannen sogar seine Füße zu heilen.
Es war mühsam die Augen offen zu halten und was er sah, war die Anstrengung nicht wert. Sonne, Staub, Feinde, Hass.
Erschöpft schloss er die Lider und widmete sich weiter seinen kleinen Bildern, den Geräuschen, den Gerüchen eines besseren Ortes zu einer besseren Zeit. Weg von hier.
Ein namenloser Fremder schreckte aus dem Schlaf. Ein Schrei hatte ihn hochfahren lassen, oder er war mit einem Schrei hochgefahren, er wusste es nicht mehr.
Fragmente eines Fiebertraums hafteten noch an seinem Bewusstsein, als er kraftlos versuchte sich aufzusetzen. Seine Arme knickten sofort unter ihm weg und er sackte zurück auf die raue Oberfläche des Wagens, die Verletzung hatte alle Kraft aus ihm gesogen und ihn hilflos zurückgelassen.
Um ihn herum saßen die Novizen, quasselten glücklich vor sich hin. Sie hatten innegehalten und ihn angesehen, widmeten sich aber schnell wieder ihren eigenen Angelegenheiten. Sie waren seine Albträume gewohnt.
Akios kam herüber und kniete sich neben ihn, begutachtete die Wunden.
"Die müssten neu versorgt werden."
Er hatte sich wohl wieder im Schlaf hin und her geworfen.
Aus dem rundlichen Heiler wurde er nicht schlau.
In Ketten gelegt war es ein lohnender Zeitvertreib den Mann verrückt zu machen, es war ein leichtes ihn zu provozieren.
Doch seit dem Zwischenfall mit Ranmik war der innere Konflikt des Priesters förmlich greifbar geworden.
Akios hasste ihn, verabscheute ihn und wollte ihn tot sehen. Keine Frage.
Der Mann war anständig, grundgut. Seine Rolle in der Gruppe war die des Vaters, des Lehrers, des Vertrauten. Wie konnte ein solcher Mensch eine solch perverse Freude am Leid eines anderen haben? War es ein so starker Hass, den er in ihm auslöste, dass er all seine guten Eigenschaften über den Haufen warf um sich an seinen Schmerzen, seiner Hilflosigkeit zu ergötzen? Die Augen hatten sich unauslöschlich in seine Erinnerung gebrannt. Diese weichen, schlammbraunen Augen, voller Hass und hart vor Triumph. Als die Peitsche kam und ihm die Schreie nur so aus der Kehle riss, da war er da gewesen und hatte seinen Schmerz inhaliert, aufgesogen. Der Bastard war kein guter Mensch, er war ein Monster wie sie alle. Wieso berührte ihn das so? Weil er ein leichtes Ziel verloren hatte?
Es war immer so schön einfach gewesen. Legos. Ein Wort, und der rundliche Mann fauchte und spuckte. Kontrolle. Sie war ihm wieder genommen worden. Jetzt war Akios für ihn so hart wie die anderen, er hatte sein Innerstes gesehen. Instinktiv schüttelte es ihn bei dem Gedanken daran.
Der Mann hatte nach seinem Beutel gegriffen und kniete nun neben ihm, bereit mit seiner alltäglichen Tortur zu beginnen.
Eine Hand berührte ihn an der Schulter, griff zu und zog.
Er realisierte, dass er schon wieder im Begriff war zurück in den Schlaf zu driften, öffnete die Augen und zuckte vor der Berührung zurück.
"Setz' dich hin, lass mich deinen Rücken ansehen."
Widerwillig ließ er sich in eine aufrechte Position helfen, sofort wurde ihm wieder schwindelig und er schloss erneut die Lider.
Hinter sich nahm ihm der verhasste Heiler seinen Verband ab und schabte ihm die Maden aus den Wunden.
Götter sei dank, das Krabbeln hatte ihn wahnsinnig gemacht.
"Das sieht ganz gut aus, sie haben ihre Arbeit getan."
Er musste sich wohl auf sein Wort verlassen, vorne sah er keine wirkliche Besserung; vielleicht lag das auch daran, dass Maden in Wunden bei ihm normalerweise eher in die Kategorie nicht gut fielen.
Er musste jedoch sagen, dass die Wunde seit sie den Grim überquert hatten tatsächlich heilte und nicht nur von Akios in Schach gehalten wurde.
Ob es an den Maden oder an der besseren Versorgung lag konnte er nicht sagen, es interessierte ihn auch nicht sehr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie das Kloster des Ordens erreicht hätten.
Akios fuhr fort mit Tüchern und Tinkturen zu hantieren und verband die Wunden an seinem Rücken neu, bevor er sich den Striemen auf seiner Brust widmete.
Die Entzündung war zurückgegangen und als auch hier die sich windenden weißen Würmer entfernt waren sah das pinke Fleisch regelrecht sauber und gesund aus.
Während der gesamten Prozedur sah Akios ihm nicht ein mal in die Augen.
Wo war der unstillbare Durst nach seinem Leid und Schmerz? War die Angst vor ihm zurückgekehrt? Wohl kaum. So wenig beeindruckend und angst einflößend wie jetzt war er das letzte mal als Kind gewesen. Es irritierte ihn, wieso wurde er ignoriert?
Es brauchte all seine Kraft um die Hand zu heben und Akios auf sich aufmerksam zu machen. Für einen kleinen Moment trafen sich ihre Blicke und der Fremde sagte "Legos.".
Der Heiler wich nicht zurück. Er fauchte nicht und spuckte nicht, er blieb ruhig. Sein Blick war voller... Mitleid, als er seinem Feind die Hand auf die Schulter legte und ihn mit sanfter Gewalt zurück in eine liegende Position drückte.
"Schlaf weiter."
Hätte er die Kraft dazu gehabt, er hätte aufgeheult, um sich getreten und geschlagen. Aber er lag nur da und blickte am Wagendach vorbei in den Himmel, grau braun, und die Wolken verschwammen ein klein wenig, als seine Augen sich mit Tränen füllten.
Tränen der Wut, wie er sich zu sagen versuchte, aber Machtlosigkeit war alles, was ihm in den Sinn kam.
Als er das nächste mal aufwachte saß Akios noch immer an seiner Seite und tupfte ihm die Stirn mit einem süßlich riechenden Tuch ab. Es half, es beruhigte ihn.
Hatte er wieder geschrien? Er erinnerte sich nicht. Das Fieber war noch immer da, seine Kraft noch immer nicht zurückgekehrt.
Frustriert seufzte er auf, sein Blick fand den des Heilers, der ihn nachdenklich ansah.
"Es wird besser werden, vertrau mir."
"Es tut schon weniger weh."
Er zwang sich zu einem schwachen Lächeln und setzte ein kaum hörbares danke hinzu.
Akios schüttelte den Kopf.
"Nein. Nicht das.", er senkte die Stimme, blickte sich um, "Diese Schwäche, sie verschwindet. All die Angst, die Wut, das wird alles verbrannt und vernichtet und zurück bleibst nur du."
Nein, alles Lüge. Er schüttelte so weit es ihm sein Zustand erlaubte heftig den Kopf. Nein.
"Du... redest vom Feuer... ich hasse es, ich will nicht brennen, verschwinden."
Aufgebracht rang er um Worte. "Ich hab Angst... ich hab solche Angst."
Er zuckte unter seinen eigenen Worten zusammen, doch sie waren gesagt, das ließ sich nicht zurück nehmen. Also schloss er die Augen, machte sich auf heuchlerisch triefendes Mitleid gefasst.
Akios war selbst beinahe ein klein wenig zurück gezuckt, wohl ebenso überrascht von der spontanen Offenbarung. War es nicht genau das gewesen, was der Heiler hören wollte?
Er versuchte sich einzureden, dass der Mann nur nach weiterer Erniedrigung suchte, doch der Gedanke hielt dem mitleidigen Blick des Priesters nicht stand.
Verdammt, dachte er, nimm dein verdammtes Mitleid und verschwinde.
Wenn er erst einmal wieder zu Kräften gekommen war würde ihnen ihr Mitleid mit dem armen, schwachen Sünder schon vergehen. Er war der Wolf, sie waren die Schafe. Und er würde sie reißen.
Der Gedanke war in dem Moment alles, was ihn zusammen hielt.
Wenn er erst einmal wieder stark war würde er sie alle töten können, so leicht.
Ausgenommen Wilhem, das musste er sich wohl oder übel eingestehen.
Aber er war nicht stark. Er schaffte es nicht einmal sich aufzurichten, geschweige denn ein Schwert zu heben, wenn er eins hätte. Nicht einmal das hatte er.
Krank, nackt und schwach.
"Ihr werdet mich nicht brennen, niemals. Niemals..."
Er musste daran glauben, daran fest halten, und so klammerte er sich an seine eigenen Worte wie ein Ertrinkender.
Akios schüttelte ruhig den Kopf. Zu ruhig. Hab Angst vor mir, fürchte mich...
"Wir werden dich brennen, aber du brauchst keine Angst davor zu haben. Es wird besser werden!"
Lüge, nein.
"Weißt du,", er legte ihm wieder die Hand auf die Schulter, hielt ihn davon ab zu versuchen sich erneut aufzurichten, "... die Brennung ist deine letzte Chance hier auf der Welt."
Der Fremde zog die Augenbrauen zusammen, drohte er ihm jetzt? Brennung oder-
"Ich hab keine Angst vor dem Tod. Wenn ihr mir die Wahl gebt würde ich jederzeit die Hinrichtung wählen."
Lachen. Verdammtes, widerliches, freundliches Lachen.
"Nein, das meine ich nicht. Ich meine... sicher, du wirst nicht mehr lange überleben, wenn du so weiter machst wie bisher. Das steht außer Frage. Was ich meine ist, die Brennung gibt dir eine Chance neu anzufangen, als Teil des Ordens. Als Geläuterter sogar! Du kannst weiterhin kämpfen, der Unterschied ist, dass wir dir auch einen echten Grund dafür geben. Einen Sinn."
Der Fremde lachte kurz, freudlos. Es war entweder das oder ein erneuter Zusammenbruch. Sinn, er verbannte das Wort in die Tiefen seiner Seele. Es gab nur eins: "Überleben, das ist wofür ich kämpfe."
Er bemerkte Akios mitleidigen Blick.
"Sieh mich nicht so an! Das ist überhaupt das einzige, wofür es sich zu kämpfen lohnt! Erzähl mir nicht, dass du dein Leben wegwerfen würdest, für irgendwas. Nenn' mir ein Ding."
Der Mann seufzte und schüttelte wieder auf diese irritierend friedliche, weise Art den Kopf.
"Das ist traurig. Wenn man ein Teil von etwas ist, dann ist das eigene Überleben nebensächlich, weil es garantiert ist. Jeder achtet auf jeden, niemand stirbt."
Niemand stirbt.
Niemand stirbt.
Er unterdrückte ein Lachen.
Wenn er jetzt begann die Toten des Ordens aufzuzählen war er den Heiler sicherlich los. Die kalten Leichen schwebten vor seinem inneren Auge als sei es gestern gewesen, dass seine Klinge sie heimgesucht hatte. Und Legos-
Aber etwas an ihrem Gespräch ließ ihn schweigen.
Sinn, Neuanfang, Gemeinschaft, das waren alles verbotene Worte. Er kannte die Wahrheit hinter ihnen, sah durch den Schleier, den sie versuchten vor seine Augen zu hängen. Aber dennoch-
"Du bist doch jung, du hast noch so viele Jahre vor dir. Es gibt eine Geschichte, die vom Orden überliefert wurde. Das war kurz vor dem Feuer, als die Welt noch voll von alter Sünde war. Da ist ein junges Mädchen durch das Land gewandert, auf dem Weg zu ihrem Verlobten, einem Prinzen."
Was zum-
"Ein Märchen? Wirklich?"
Was glaubte der Kerl wen er vor sich hatte? Nur weil er hilflos wie ein Kind war hieß das nicht, dass er zulassen würde, dass man ihn wie eins behandelte.
"Nein, einfach nur eine Geschichte. Sie war also auf der Suche nach der Burg ihres Prinzen als sie in einen Wald kam."
"Wald?"
"Bäume, viele Bäume. Wie ein riesiges Dornengestrüpp mit Grün dazwischen."
Er verdrehte die Augen.
"Deshalb hasse ich Geschichten von vor dem Feuer."
Akios ließ ein tadelndes tss hören und sprach weiter.
"Ihre Großmutter hatte ihr also schon von klein auf immer wieder von den Monstern und Dämonen im Wald erzählt und so hielt sie ihren Blick gebannt in die Baumkronen gerichtet. Bei jedem Knacken und Knistern zuckte sie zusammen und versuchte im Dunkel etwas zu erkennen, aber die Monster bekam sie nicht zu Gesicht. Bei Tage sah sie in einem Fort in die Ferne. Dort, wo auf einem Berg schon von Weitem das Schloss ihres Prinzen zu sehen war. Was glaubst du, was aus ihr wurde?"
"Ich bin keiner deiner verdammten Novizen."
Er schnaubte genervt, antwortete dann aber nach einer kurzen Pause doch.
"Entweder sie wurde nachts von einem der Monster gefressen oder sie kam sicher in dem Schloss an und heiratete ihren Prinzen, der sich als reicher, alter Sack herausstellte und sie in einen Turm sperrte, aus Angst, dass sie ihn mit einem seiner jungen Ritter betrügen könnte."
Akios überwand seinen kurzen Moment der Entgeisterung und schüttelte den Kopf, weise und verdammt, verdammt wohlwollend.
"Nein, sie ist verhungert."
Als der Priester keine Reaktion außer einem zwischen genervt und verwirrt hin und her schwankenden Blick bekam erläuterte er.
"Jeden Tag hat sie nach etwas unerreichbarem Ausschau gehalten, sich jede Nacht vor Monstern gefürchtet, die ihr nichts anhaben konnte weil sie nur aus alten Geschichten bestanden. In all dem hat sie das Lebensnotwendige vergessen. Du bist-"
Wage es.
Akios besann sich im letzten Moment, unterdrückte ein Kichern.
"Bei dir ist es ähnlich. Du hetzt durch das Leben, jagst unerreichbarem nach, dabei könnte der Weg so schön sein, wenn du dich nicht vor all den Monstern fürchten würdest."
"Ich bin das Monster in der Dunkelheit."
"Die Monster existieren nicht."
Er schnaubte.
"Nur weil das Mädchen durch die Geschichten ihrer Großmutter von ihnen erfahren hat? Glaub mir, die Monster gibt es... und sie warten."
Jetzt war es an ihm den Kopf zu schütteln. Keine weise Geste, eine simple, verneinende.
"Die Dinge lassen sich nicht einfach mit einer alten Geschichte erklären. Ich werde nicht zulassen, dass ihr mich brennt. Und wenn es mich umbringt. Ich werde nie gebrandmarkt durch die Welt laufen, ich bin niemandes Eigentum."
Akios seufzte, resigniert.
"Es geht nicht um Eigentum, es geht um Gemeinschaft, um geheiligte Existenzen. Aber das wichtigste bei all dem: Es ist deine letzte Chance auf dieser Welt. Nimm sie. Das ist alles, was ich dir sagen kann."
Der Fremde blickte in diese traurigen, mitleidig drein blickenden Augen und wandte sich ab.
Er hatte dieses Gespräch schon zu lange zugelassen, dies war der Feind. Nichts würde seine Meinung ändern, und die Brennung würde ihn nicht ändern.
Die Narben auf seinem Körper waren ein Versprechen, der Schmerz Beweis seiner Existenz. Niemand würde das je ändern können. Sein Schmerz war er selbst.
Acht – Ein Traum von Gold
Yre sah die Alten.Das war vermutlich nicht ihre wahre Bezeichnung, aber alt waren sie. Sie sah das Volk, das ihrem nicht unähnlich war. Sah die Menschen als Kinder, neu in der Welt und noch so hilflos und nackt. Sie sah die Alten, wie sie ihnen Dinge lehrten, sie in die Wege dieser Welt einführten. Sie sah die Menschen wachsen, groß werden. Und arrogant. Sie sah das Gold in ihren Augen, die Gier auf die weltlichen Dinge. Es gab nichts, was die Alten tun konnten. Hatten sie versagt? Nein. Es war gekommen, wie es kommen musste.
Sie sah die Menschen mit ihrer körperlichen Stärke, ihren Waffen. Wer hatte ihnen Waffen gegeben? Sie waren erwachsen geworden, gefährlich geworden.
Sie sah die Alten, wie sie sich in Löcher flüchteten. Höhlen, unter die Erde. Sie spürte das goldene Licht, das von ihnen ausging. Unter der Erde, wo die Sonne nicht schien, erblasste es. Silber. Ilfen. Sie sah die Geschichte ihres Volkes, die wahre Geschichte.
Yre schreckte hoch und schnappte nach Luft. Wie lange hatte sie aufgehört zu atmen? Es war ein Traum gewesen, aber seine Aussage war so klar, so rein. Das schien ihr anders als das, was sie üblicherweise in ihren Träumen sah. Mehr eine Vision, Synapsen hatten sich zusammengeschlossen, Verbindungen wurden geknüpft. Es war das erste mal, dass sie im Traum auf so etwas großes zugriff. Unbewusst hatte sie die Finger nach der großen Wahrheit in sich drinnen ausgestreckt und eine handvoll davon herausgerissen.
Etwas sagte ihr, dass das was sie gesehen hatte nicht für sie bestimmt gewesen war.
Aber wer bestimmte schon das Schicksal? Die Wahrheit hatte sich mit aller Heftigkeit in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Alten, das waren die Vorfahren der Ilfen. Gold. Es machte Sinn.
Aber wie sollte sie es sich erklären, dass in ihm... nein. Sie scholt sich innerlich. ...dass in dem Schicksal, dass ihr so aufdringlich zu folgen schien ebenfalls dieses Stück aus den Alten vorhanden war? War es das Volk der Ilfen, das sie sah? Kaputt, zerschlagen und allein. Eine getriebene Existenz. Nein, es fühlte sich anders an. Es musste er sein.
Und was hatte es denn überhaupt für eine Relevanz? Das was sie gesehen hatte war weit, weit vor dem Feuer gewesen. Die Alten waren möglicherweise die ersten auf dieser Welt, gefolgt von den Menschen, die sie schließlich vertrieben hatten. Aber was hatte das alles mit der heutigen Zeit zu tun?
Sollte sie tiefer bohren oder hoffen, dass ihr mit der Zeit schon weitere Stücke dieses Rätsels zugespielt werden würden?
Sie beschloss es vorerst auf sich beruhen zu lassen. Der Schlaf war kein erholsamer gewesen, und so entschied sie sich es heute langsam angehen zu lassen und Mensch zu spielen. Mensch spielen nannte sie es, wenn sie nichts von Relevanz tat. Das war vielleicht nicht das netteste den Menschen gegenüber, aber nach all ihren Beobachtungen dieser Rasse konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Menschen tatsächlich vollkommen irrelevant waren.
Töteten sich gegenseitig, kümmerten sich nur um ihr eigenes Überleben und ihre eigenen, winzigen Existenzen. Es gab nichts Großes an ihnen. Keine Großartigkeit, keine tiefere Bewandtnis in ihren Handlungen. Manchmal tat es gut dieses kleine Leben zu leben, aber auf Dauer konnte das doch einen wachen Geist nie und nimmer ausfüllen, oder?
Heute war ein Tag der kleinen Dinge, entschied sie. Der Traum hatte ihr genug Großartigkeit für eine ganze Weile beschert.
Neun – Jaris und der König
Ihre Hoffnung war eingetroffen, ihr Schwert aus Kupfer.
Jaris fühlte sich stark, es lief alles wie es sollte. Beinahe so gut, dass sie ihren Geläuterten vergessen mochte, den sie auf den Weg geschickt hatte ein Monster zu fangen.
Aber dieser Tag sollte sie mit aller Heftigkeit daran erinnern. Sie kamen.
Wilhem befehligte die einzige Ordensgruppe, die einen Wagen bei sich führte. Ein Privileg, das mit Pflichten verbunden war.
Ihr Weg war lang und entsprechend voll war der Wagen, als sie langsam die Serpentinen zum Kloster hinauf rollten.
Es waren eine handvoll Geläuterte unter den Neulingen, die meisten lagen jedoch noch in Ketten. Einige waren hinten am Wagen angebunden und schoben, die restlichen waren ebenfalls ausgestiegen und halfen mit.
Er saß im Wagen. Er hing, besser gesagt. Einen Moment lang schlich sich Erleichterung bei Jaris ein, als sie von einem der Wachtürme aus beobachtete, wie die Prozession den leblosen Körper mitsamt des Gepäcks den Berg hinauf hievte.
Dann jedoch fand ihr Blick Wilhem, der ihr nicht ohne Stolz entgegen blickte.
Sie hatten es wohl doch geschafft. Lebend. Er lebte.
Es war schwerer als es sein sollte, die Enttäuschung zu verdrängen als sie sich auf den Weg machte, die Prozession am Tor persönlich zu empfangen.
Sie wechselte einige Worte mit ihrem Geläuterten, wurde den Neuen vorgestellt. Doch während all dem wanderte ihr Blick immer wieder zu dem Körper auf dem Wagen.
Von nahem sah sie, dass er tatsächlich nur von den Fesseln um seinen Hals aufrecht gehalten wurde, seine Brust war ein Massaker aus halb verheilten Striemen und er war deutlich dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte. War er ihr damals nur so groß vorgekommen? War es das kleine, ängstliche Mädchen in ihr, dass diesen riesenhaften schwarzen Teufel gesehen hatte? Jetzt wirkte er schwach und hilflos, dieser Mann, der ihr ihr Feuer genommen hatte, es hatte kalt und schwarz werden lassen.
Noch schien es ihr zu früh, dies als Triumph zu empfinden. Es war so viel Zeit vergangen.
Also schluckte sie all ihre Zweifel zurück und flüchtete sich in ihre Pflichten, half den Neuankömmlingen sich zurecht zu finden und widmete sich Wilhems Berichten aus dem Land.
Sie vertraute auf Akios, sich um den Fremden zu kümmern. Etwas in ihrem Inneren wünschte sich beinahe, dass ihre anfänglichen Bedenken wahr würden und der Mann den Mörder seines Bruders dezent vergiften würde.
Aber er hatte ihn die lange Reise über leben lassen, warum sollte er jetzt, in ihrem Beisein, seine Rache üben?
"Wie war er?", wagte sie sich schließlich mit einem Kopfnicken in die Richtung ihres Gefangenen zu fragen.
Wilhem verzog kaum merklich das Gesicht, abfällig.
"Er hat alle in den Wahnsinn getrieben, sich geweigert zu laufen und mich am laufenden Band provoziert. Nachdem Ranmik ihn ausgepeitscht hatte wurde er ein wenig erträglicher, aber Akios sagt, dass sich die Wunden entzündet haben. Es wird also noch eine Weile dauern, bis du ihn brennen kannst. Er schläft die meiste Zeit."
"Ranmik?"
"Ein Anführer einer Räuberbande. Wir haben ihn schon unten an der Netsch gebrannt und er hat sich gut erholt. Er ist ein wenig... übereifrig in der Sache, aber ein guter Mann."
Sie konnte ihm kaum verübeln den Gefangenen in seine Schranken gewiesen zu haben, bedauerte sogar ein wenig, dass sie selbst nicht dabei gewesen war. Wilhem rechnete sie so oder so hoch an, dass sie den Mann noch lebend bekommen hatte.
"Werfen wir ihn erst einmal in eine Zelle, Akios soll sich um ihn kümmern bis er soweit ist."
Ihr Gegenüber nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Zehn– Kilorn und das Monster unter dem Bett
Die klamme Kälte in den Tiefen der Festung machte Kilorn Frostblatt nichts aus. Er war die dichten Nebel gewohnt, die jeden Morgen seine Insel heimsuchten.
Was ihm zu schaffen machte waren die Geräusche.
Ein unterschwelliges Jammern und Stöhnen lag in der Luft, waberte ewig die dunklen, kalten Gänge entlang und hin und wieder lugte ein Schrei hinter den Eisengittern hervor, die den Gang säumten. Mal noch voll von Kampf, mal gebrochen. Immer verzweifelt.
Der, den er hier suchte, sollte ersteres sein. Bei einem ihrer ersten Zusammentreffen schon hatte Jaris von ihm erzählt.
Ein Monster, ein Teufel von einem Mann sollte er sein. Mörder, Spötter, Zerstörer des Ordens. Der Feind.
Ein junger Novize führte ihn durch diese 'Katakomben, wies ihm den Weg zur richtigen Zelle, am Ende des Ganges.
Die dicken Eisenstangen erzählten von der Gefahr, die hinter ihnen lauern mussten. Von der Angst, die Jaris noch immer vor dem Monster hatte, Verletzung hin oder her.
Als der Novize ihm die schwere Gittertür öffnete und ihn eintreten ließ, nicht ohne eine letzte Warnung nicht zu nah heran zu gehen, empfing ihn ein kalter Schauer.
Ob es hier drin tatsächlich kälter war oder die Geschichten ihn erzittern ließen vermochte er nicht zu sagen, und so schüttelte er die Nervosität ab und sah sich um.
Die Fackel, die der Novize mitgebracht hatte, war das einzige Licht in dem Raum.
Feuer ist Hoffnung, hatte er gesagt. Diese Männer hier unten hatten die Dunkelheit verdient, doch man wollte ihnen ab und an ein Licht zeigen, ihnen beibringen, dass das Feuer ihr einziger Lichtblick ist in der Dunkelheit, die sie selbst gewählt hatten.
Die Erklärung klang auswendig gelernt, aber so war es mit den meisten neuen Novizen.
Die Worte waren die von Akios, dem höchsten Ordensbruder, und so kümmerte Kilorn sich nicht weiter um die Darreichungsform.
Das flackernde Orange erhellte die enge Zelle kaum und so konnte er nur die Schemen eines Bettes mit einem leblosen Körper darauf ausmachen.
Als er näher heran ging hob der Mann den Kopf soweit die Fesseln es zuließen.
Der eiserne Ring um seinen Hals glimmerte gelb-orange im Licht der Fackel, ebenso die Ketten an seinen Hand- und Fußgelenken.
Der Orden fürchte diesen Mann tatsächlich.
Körperlich schien er Kilorn nicht überdurchschnittlich beeindruckend zu sein. Mager und ausgemergelt sah er aus, die Rippen zeichneten sich deutlich unter der bleichen, wachsartigen Haut ab und selbst seine Arme sahen nicht mehr aus, als könnten sie ein Schwert auch nur anheben.
Das Gesicht war ebenfalls eingefallen und seltsam leer, doch unter den strähnigen, schwarzen Haaren lugten die dunkelsten und gefährlichsten Augen hervor, die Kilorn seit langem gesehen hatte. Diese Augen waren Grund genug den Mann in Ketten zu legen, er kannte den Blick gut.
Die Dame war die letzte von ihnen gewesen, das Blut des Nordens war nur noch schwach in ihr. Doch in seiner Kindheit hatte Kilorn ihren Vorfahren gekannt und einen gesunden Respekt vor ihm entwickelt.
Dieser Mann hier war zum fürchten, keine Frage.
Die Verletzungen, von denen Akios gesprochen hatte, waren beinahe verheilt. Nur noch blasse Narben blieben von den Striemen auf seiner Brust und quer über sein Gesicht, doch er verstand Jaris Zurückhaltung ihn zu brennen, der Mann war geschwächt.
Was er nicht verstand, war die Brennung an sich. Der Orden nahm die Sünder, schenkte ihnen das heilige Mal ihres Kultes und brannten alle Sünde aus ihnen heraus, hinterließen leere, formbare Hüllen, die sie für sich kämpfen ließen.
Wie eine Wunde einen Menschen so verändern sollte war dem Phönixheimer nicht klar, und ehrlich gesagt hatte er keine großen Ambitionen es heraus zu finden.
Er schritt hier auf dünnem Eis. Seine Daseinsberechtigung war begrenzt und so zweifelte er nichts offen an und versuchte die Äbtin davon zu überzeugen, dass er ihr von Nutzen sein konnte. Man musste Opfer bringen für die Sache, selbst als König. Selbst wenn es der eigene Stolz war, den er begraben musste, er würde den Feigling zu Fall bringen, und sei es nur als ein Rädchen in einem größeren System.
Aber vorerst sah er sich dem größten Feind des Ordens gegenüber, dem Feind des Feuers, wie einige sagten.
Das stimmte so nicht, wie Jaris ihm anvertraut hatte. Ihre größte Befürchtung war wahr geworden, sie hatte ihn in einer Vision gesehen, ihren Krieger des Feuers. Sie musste ihn brennen.
Kilorn bezweifelte, dass schon jemand gewagt hatte ihm die frohe Botschaft mitzuteilen
Die Idee, dass er der auserwählte Krieger des Ordens war, den er so zu hassen schien, belustigte ihn. Doch auch ihm war der Gedanke an die Reaktion des sogenannten Teufels nicht geheuer.
Er hatte den Mann nur mit eigenen Augen sehen wollen, aber jetzt war seine Neugierde geweckt und er wagte sich einen weiteren Schritt näher heran.
Der Fremde zuckte in seinen Ketten, wohl ein vergeblicher Versuch sich gegen die Fesseln zu werfen um ein klein wenig bedrohlicher zu wirken. Es schlug fehl.
Kilorn verkniff sich ein Lachen, er war klüger als das.
"Weißt du wer ich bin?", fragte er stattdessen so neutral wie ihm möglich war.
"Nein."
Selbst die Stimme klingt nach ihm.
"Kilorn Frostblatt, Sohn des Feuers und König von Phönixheim."
Er bekam ein Lachen als Antwort.
"Sohn des Feuers! Hatte das Mädchen wieder eine ihrer Visionen?"
Kilorn lächelte kalt, der Mann testet dich.
"Kennst du die Geschichte des Feuers? Ich denke schon. Es gab nur zwei Könige, die überlebt haben."
"Ich kenne nur die vom Feigling. Bist du der Feigling?"
"Nein. Ich bin der andere. Der Feigling ist mein größter Feind, er hat meine Vorfahren ins Exil auf eine winzige Insel geschickt, mit einem Haufen Gefangener aus seinen Kerkern. Einer von deinen Leuten war auch dabei."
"Einer von meinen Leuten?"
"Du bist doch einer von der Krom, oder? Graehl? Du hast die Haare, die Augen."
Der Mann auf der Pritsche zuckte, als hätte er ihn geschlagen.
Man sah, wie es in seinem Kopf arbeitete.
"Was ich bin hat dich nicht zu interessieren. Ich bin niemand, aber sie lassen mich nicht niemand sein."
"Das liegt wohl daran, dass niemand niemanden tötet und keine Dörfer abbrennt. Jemand tut das."
Er bekam ein freudloses Lachen, gefolgt von einem abfälligen Schnauben.
"Wenn sie mich in Ruhe mein Leben leben ließen hätte ich keins dieser Dinge tun müssen."
Kilorn schüttelte den Kopf, irritiert.
"Das glaube ich kaum, aber ich bin nicht hier, um mit dir über deine Taten zu sprechen."
"Ach. Du bist hier um das Monster zu bestaunen, das sie sich gefangen und in Ketten gelegt haben."
Wie zur Bestätigung seiner Worte rasselte er mit dem Eisen an seinen Händen.
Kilorn lachte leise.
"Ich wollte sehen, ob wahr ist was sie sagen. Ob sie tatsächlich den letzten deines Klans gefangen haben. Ich hatte eine von euch bei mir auf der Insel, aber sie ist mir... abhanden gekommen. Ihre Augen waren grün, das Erbe des Wüstenvolkes. Ihr Blut war lange nicht so rein wie deines."
Die Miene des Mannes verdunkelte sich.
"Ja... mein Blut ist so rein wie es nur sein kann. Komm näher, sieh es dir an und ich beiß' dir die Kehle heraus."
Er fletschte gefährlich die Zähne und Kilorn zweifelte keine Sekunde an seinem Versprechen. Er widerstand dem Drang einen Schritt zurück zu weichen, näher heran wagte er sich aber auch nicht.
Stattdessen versuchte er es mit einem versöhnlichen Lächeln.
"Das ist auch gar nicht weshalb ich hier heruntergekommen bin. Ich wollte sehen, was für ein Mann das ist, den Jaris für noch gefährlicher als den Feigling hält."
"Der Feigling ist eine alte Geschichte, was soll das Gerede von Gefahr?"
"Was glaubst du denn, was der Feigling in der Sicherheit seiner Burg macht, all die Jahre?"
"Sterben, das Feuer ist lange Jahre her."
"Was ist mit Kindern? Ich hab ihm zuerst auch keine weitere Beachtung geschenkt, aber die Zeichen haben mich eines besseren belehrt. Die Türme, die kurz nach dem Feuer aus dem Boden schossen und sich immer weiter nach Norden ausbreiteten. Die Finger des Feiglings. Der Mann hat seine Hand um uns gelegt, er beobachtet uns und wenn er zugreift, dann müssen wir vorbereitet sein."
Der Gefangene sah ihn skeptisch an.
"Irgend jemand muss König sein. Dieses Land lag lange genug brach und es ist nur eine Frage der Zeit bis er seinen Anspruch geltend macht. Ich habe den selben Anspruch, und ich kann versprechen, dass ich besser für das Land bin als ein bleiches Gespenst, das seit hundert Jahren seine Burg nicht verlassen hat."
"Wie auch immer. Wenn ich Glück habe bin ich bis dahin längst tot."
Kilorn stutzte.
"Sie haben nicht vor dich zu töten, du wirst gebrannt werden."
Hatten sie ihm das nicht gesagt? Der Mann auf der Pritsche erwiderte mit einem genervten Blick.
"Ich habe nicht vor kampflos unter zu gehen und mich einzureihen. Ich werde mich wehren bis ich untergehe, dann bin ich eine kalte Leiche mit einem Brandmal, das nie heilen wird. Damit kann ich leben."
"Dann bist du tot."
"Na und? Besser tot als einen treudoofen Geläuterten meinen Körper tragen zu lassen."
Er seufzte.
"Ihr Leute hattet schon immer ein Problem mit der Obrigkeit, nicht?"
Ein todbringender Blick traf ihn, er fegte das Thema bei Seite.
"Wie dem auch sei. Ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Es wäre schade, wenn die Blutlinie einfach so aufhören würde."
Der Gefangene schnaubte verächtlich.
"Ich habe in den letzten Monaten genug von meinem Blut fließen sehen, es ist rot wie jedes andere. Du darfst dir gerne nach meinem Tod die Augen aus meinem Schädel löffeln und aufheben, wenn du möchtest. Die sind wenigstens einzigartig."
Ein düsteres Grinsen lag auf dem Gesicht des Mannes und Kilorn fühlte sich beinahe wieder in seine Kindheit zurückgesetzt, als er dem alten Graehl gegenüber stand und seiner Version der Geschichte lauschte. Keine schöne Erinnerung.
Ohne letzte Worte, aber nicht ohne das Grinsen zu erwidern drehte er sich um und ging, und mit ihm ging das Licht.