Remy Unmensch


Der Feigling im Dunkeln





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Ich danke A.J Phoenix für das Probe lesen und Erdulden der Ergüsse meiner schreiberischen Frustrationen auf Skype.









Prolog.


Was wird aus einer Welt, wenn sie brennt? Was wird aus den Menschen und Tieren, wenn alle Pflanzen in Flammen aufgehen, wenn uralte Burgen bröckeln und glorreiche Schlösser zusammenstürzen wie Kartenhäuser?

Was würdest du tun?

Stell dir vor, du bist ein kleines Mädchen in einem Dorf. Das Dorf wurde aus Holz gebaut; was bleibt? Wird Wasser übrig bleiben?

Wird die Asche die Sonne verdunkeln und alles Leben mit einer dichten Decke aus schwarzem Nebel zudecken in einer ewigen Nacht?


Es ist also ein Tag wie jeder andere. Beinahe, du hast heute deinen zehnten Namenstag. Du hilfst deiner Mutter die Hühner zu füttern, dein Vater ist auf dem Feld und dein Bruder spielt auf dem Dorfplatz mit einem Holzschwert.

Auf einmal steigt dir Rauchgeruch in die Nase. Du denkst an den Ofen in eurer Hütte, doch der Wind steht falsch. Du blickst in Windrichtung und während du deinen Kopf hebst bemerkst du die feinen Rauchschwaden die vom strohbedeckten Boden aufsteigen. Du hörst das leise Sirren, als der Boden zu schwelen beginnt. Die Holzstreben eures Hauses knacken leise, die Lehmwand beginnt zu singen.

Dann ist es überall. Die Hitze steigt auf. Wo du auch hinsiehst ist Rauch, der Geruch wird beißend. Die Hühner geraten in Panik und versuchen auf zu steigen; Federn fliegen. Du wendest dich deiner Mutter zu; sie wird wissen, sie wird helfen. Nun erinnert sie dich an eins der Hühner, panisch flatternd und blind vor Angst. Du stehst noch immer wie angewurzelt da.

Mittlerweile ist die Hitze und das Singen unerträglich geworden, das Ausbrechen der ersten Flammen ist beinahe eine perverse Form der Erleichterung. Orange und Gelb und Rot züngelt an deinem Elternhaus empor. Windet sich wie eine Schlange über den Boden und leckt an den Ställen, dem gesamten Dorf. Deiner Welt.

Die Felder sind mittlerweile eine Hitzefront aus gleißend rotem Licht, durchzogen von tiefgrauen Rauchschwaden. In deinem Kopf erlischt dein Vater.

Die Erde, dort wo du stehst, beginnt zu schmelzen. Für den Bruchteil einer Sekunde bist du fasziniert. Noch nie hast du gesehen, wie Sand und Dreck ineinanderfließen wie Metall in der Schmiede.

Dann läufst du.

Deine Schuhsohlen halten kaum noch Hitze ab, doch sie auszuziehen wagst du nicht.

Du rennt zu dem Tümpel, voller Furcht. Nicht vor dem, was du hinter dir lässt, sondern vor dem Bild eines kochenden Tümpels in deinem Kopf.

Als du ankommst riechst du bereits wie richtig du lagst.

Du siehst das, was einmal deine Nachbarin gewesen war aufgedunsen auf der dampfenden Wasseroberfläche schwimmen. Das Fleisch hat eine Farbe angenommen, die dich an Essen denken lässt.

Also rennst du weiter, die Tränen auf deinen Wangen verdunsten in der sirrenden Luft. Deine Haut, von langer Arbeit unter der Sonne gebräunt, spannt straff über deine kindlichen Züge, deine Lippen sind aufgesprungen, die Augen tränen.

Du läufst durch brennende Felder, der Rauch füllt deine Lungen und steigt dir zu Kopf.

Nicht mehr Herr deines Körpers stolperst du weiter, ein gerodetes Feld. Du hattest zugesehen wie die Männer es abgebrannt hatten, es war ein Fest gewesen.

Dies war kein Fest.

Die Erde singt vor Schmerzen, aber Asche brennt nicht.

Also stehst du inmitten des schwarzbraunen Staubs und versuchst nicht aufzuhören zu atmen.

Du stehst atmend und blickst in die Richtung, aus der du gekommen warst. Du siehst alles brennen was du je gekannt hast.

Das Feuer hatte die Welt geholt.



Kapitel I – Beginn


*** 100 Jahre nach dem Feuer ***


Eins – Ygrun Yre


Es war ein Turm, weit oben, im Norden. Die Wände weiß und kalt und glatt. Kaum Ein-, kaum Ausblick, nur schmale Scharten verrieten von Dunkelheit im Inneren. Keine Zinnen zierten die Spitze, nur eine nüchterne Kante aus glatt poliertem Stein. Überall im Land fand man diese Türme. Wo immer die Erde sich den Sternen entgegenstreckte.

Wer wohnt hier? Ilfen. Kinder des Mondes, der Sterne. Aus der Erde kamen sie gekrochen, als die Männer des Metalls kamen. Augen wie Diamanten, Haut wie Bronze. Eisen in der Hand. Die Kinder des Silbers, der feinen Dinge, fanden sich chancenlos. Sie flohen.

Eine Welt aus Staub, aus Sand, aus Dreck. Nichts von Wert, nichts von Schönheit. Was sie fanden war die Hölle. Alles Leben brannte, mutierte, zerstörte sich selbst und alles um sich herum. Die Menschen waren verrückt geworden, in dieser brennenden Hölle. Der Himmel war verhangen, Asche und Gase versteckten das einzig schöne, das dieser Welt noch geblieben war. Die Ilfen fanden es dennoch, sie streckten ihren Geist aus, suchten und fanden. Silber und Licht und Reinheit, sie mussten es einfangen, es verstehen. Also bauten sie. Schneeweißer Marmor, das andere Schöne, das ihnen geblieben war. Ihr Volk verstreute sich, wo immer der Dreck sich in den Himmel erhob bauten sie, streckten sich den Sternen entgegen. Bald hatten sie die Erde vergessen, aus der sie gekrochen waren. Bald hatten sie die Erde vergessen, auf der noch immer Menschen schrien und starben und litten. Die Mondkinder, sie hatten ihre eigene Welt aus tiefem Blauschwarz und feinem Licht.


Den Turm an diesem Ort nannten sie Ygrun. Diese Ilfe nannten sie Yre. Eine junge Existenz, aber eine Ilfe dennoch. Ihr Geist war wach und offen, die Lehren ihres Volkes alles. An diesem Tag folgte sie einem Älteren, einem Lehrer, den Turm hinauf. Eine junge Ilfe musste lernen, die Karten studieren, um in den Sternen lesen zu können.

Schicksale. Die von Menschen, die von Ilfen und die von noch größeren Dingen. Die Wahrheit liegt in den Dingen, und die Dinge sind die Sterne.

Die Ilfen wussten. Ihr Geist war perfekt. Aber nichts in der Welt ist perfekt, also waren sie verrückt geworden. In einer Welt voller Wissen, mit der allesumfassenden, großen Wahrheit tief in ihrem Geist eingebettet, wie konnten sie ihre Gedanken noch kontrollieren? Supernoven aus purem Verstand und alles was sie brauchten war ein kleines Licht. Die Ilfen hatten einen Weg gefunden. Sie beobachteten. Wenn ihre Silberaugen sich fest auf ein Ding konzentrierten war es leichter die Wahrheiten abzurufen. Es war alles in ihrem Kopf, doch der Wahn war allgegenwärtig. Konzentration. Umleiten der Gedanken, einen Fixpunkt suchen, ihn festhalten, als wenn das Leben davon abhinge. Das war das wichtigste.

Die Ilfe namens Yre kletterte hinter ihrem Lehrer die schmale Steintreppe hinauf. Die vielen, filigranen Muster in dem Stein fingen ihr Auge, doch das war für ein anderes mal.

Heute war es Licht, das ihre Gedanken fesselte. Sterne, große Schicksale, epische Schlachten der Vergangenheit und der Zukunft. Alle lagen sie da, vor ihr ausgebreitet.

"Verrückte Tiere...", wisperte ihr Lehrer. Sie hörte es in ihrem Kopf, sowie mit ihren Ohren. Wieso sie die dreckige Luft benutzen sollte, um Töne zu tragen, verstand sie nicht, aber es war so Brauch in ihrem Volk. Wenn eins versagte konnte man immer noch auf die andere Methode zurückgreifen.

"Menschen.", antwortete sie und trat durch die kleine Öffnung hinaus in die kühle Nachtluft.

Der Himmel war klar heute.

Ihr Lehrer führte sie an den Rand der Plattform und wies nach unten, in den Dreck.

"Was siehst du?"

Yre ließ ihren Blick über die staubigen Hügel unter sich streifen. Durch die Asche in der Luft waren sie kaum zu erkennen.

"Nichts von Interesse."

Ihr Lehrer lachte innerlich und wies nach oben.


Sterne. Ein, zwei, tausend. Hell und fern, einer heller und ferner als alle anderen. Eine weiße Hand streckte sich nach ihm aus, griff zu und erschauerte. Unfassbar.

"Die großen Dinge-", wisperte ihr Lehrer und sie verstand.

Ihr Geist erblickte die Lichter und in ihr erwachten Leben, Existenzen, Schicksale. "Großartigkeit im Dasein einzelner Menschen... so viele."

Ihr Lehrer schüttelte langsam den Kopf und sie verstand. Selten.

Verrückte Tiere... alle...

Ilfen würde sie dort oben nicht finden. Sie waren die Beobachter, die Wächter. Passiv und wissend, nie handelnd. Das war ihr Anteil an der Welt.

Ihr Wissen war abstrakt, fern wie die Lichter, aus denen sie es bezogen. Namen und Orte waren bestenfalls angedeutet, aber was spielten die auch für eine Rolle für die Ilfen? Yre fragte sich oft, wie ihre Gesichter aussehen und ausgesehen haben mochten. Aber das war eine dumme Frage und sie stellte sie nie.


Der Alte hieß sie liegen, und sie betrachteten. Schnell zeigte sich der jungen Ilfe ein Schicksal, ein Leben von großer Bedeutung. Es waren keine hellen Sterne, vermutlich waren sie noch jung. Dies betraf die Gegenwart, möglicherweise die nahe Zukunft. Es war schwer zu sagen, was sie faszinierte, doch etwas an diesem schwachen Licht hielt sie gefangen, ließ sie nicht los, und bald fand sie weitere Lichtpunkte, noch fast verborgen von den unendlichen Weiten. „Es wird nicht gut enden“, sagte sie. „Einsamkeit, eine alte Schuld und viel, viel zu viel Macht.“

Ein anderer Aspekt offenbarte sich ihr mit ungekannter Heftigkeit und Deutlichkeit. „Der Retter der Welt, die letzte Hoffnung. Die allerletzte Hoffnung.“ Das war wichtig, selbst für eine Ilfe wie sie war dieses Schicksal von allerhöchster Bedeutsamkeit. Es zog sie zu sich, hielt sie fest. Sie musste folgen und so suchten ihre Augen weiter, tiefer.

Ihr Lehrer nickte langsam und lenkte ihren Blick auf die anderen, die alten Sterne. „Wieso?“, fragte etwas in ihr. „Es ist alles vergangen, alles vorbei... Asche.“

Der Alte blickte sie tadelnd an.

Ilfen sehen alles, nah oder fern. Was nützt es, zwischen neu und alt zu unterscheiden. Was für einen Unterschied macht es für uns?“

Doch in Yres Geist begann sich eine Wand zu formen. Das Vergangene und das Kommende, wer konnte sagen, dass das Kommende nichts für ihr Volk bereit hielt?

Innerlich zuckte sie unter dem Gedanken zusammen. Die Worte ihres Lehrers waren die ihres Volkes und sie kannte sie gut.„Beobachter, Wissende... es macht keinen Unterschied... für uns.“

Und wieder versuchte ihr Geist ein Gesicht zu finden, das zu dem Einsamen passte, der heute oder morgen für diese Welt von so großer Bedeutung sein würde. Der Retter der Welt.


Brav konzentrierte sie sich schließlich auf die leuchtenden Punkte vor sich. Ein großer Mann, ein grausamer Mann. Vermutlich ein König, er starb. Im Feuer. Wo sonst?

Und brav teilte sie ihrem Lehrer alles mit, was sie sah, und er nickte ihr zufrieden zu.

Irrelevant, sagte ihr Geist, ungehört von dem Lehrer, er ist tot, Asche, Staub- Wir könnten ihn gerade jetzt atmen, wie wir so in all dem Dreck stehen.


Als der Himmel blasser wurde und der Dreck unter ihnen eine rosa Färbung annahm kehrten sie zurück in die Sicherheit ihrer marmornen Wände. Yre hatte bis zum Schluss, immer wenn ihr Lehrer nicht hinsah, nach dem neuen Leben Ausschau gehalten, doch die Sterne gaben ihr nicht die Antworten, die sie sich wünschte.




Das Graubraun des Drecks unter ihnen war einem Rostrot gewichen, und schließlich war da nichts weiter als Grau. Yre hatte gewartet. Sie hatte die Sonne untergehen sehen, die ihnen stets den Blick auf alles wichtige verdeckte und hob nun den Kopf. Die ersten Sterne, die ihr erschienen, waren die alten, wie üblich.

Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis das kleine Sternensystem sich ihr offenbarte, das sie schon die Nächte vorher so gefesselt hatte.

Doch diese Nacht sollte es ihr schwerfallen, sich ganz den Lichtern oben zu widmen. Diese Nacht wurde sie in der Lichtsprache ihres Volkes unterrichtet.

Natürlich verließen Ilfen ihre Türme nie. Sie wurden hier geboren, sie starben hier. Es gab nur eine Möglichkeit mit ihren Verwandten in anderen Türmen zu kommunizieren, dies war eine runde Scheibe aus Kristall, die auf jedem ihrer Türme stand.

Das gebündelte Licht des Mondes reichte weit, wenn man wusste, wie man die Scheibe auszurichten hatte.

Yre hatte schon oft zugesehen, wie die Älteren kurze Abfolgen von Lichtblitzen in die Weite sandten, mal ebenso kurze, mal längere Lichter im Gegenzug erhielten, und danach wussten alle, was in den anderen Türmen vor sich ging.

Der kleinen Ilfe war dies immer wie ein Rätsel vorgekommen, heute sollte sie endlich lernen, wie diese Sprache funktionierte.

Ihre Mutter übernahm diese Aufgabe selbst. Sie war die Meisterin der Lichtsprache auf Ygrun und als solche war es nur gut und richtig, dass sie dieses so wichtige Wissen weiter gab.

Die Sprache zu lernen war nicht schwer. Konzentration war alles, was es brauchte, um in dem flackernden Licht Muster und Wellen auszumachen und diesen Bedeutungen zuzuweisen. Yre lernte. Doch das, was die anderen Türme ihnen mitzuteilen hatten, neue Dinge, die sie in den Sternen gefunden hatten, irritierten Yre.

Das Wissen war abstrakt wie nie. Sicher, Irrtum musste um jeden Willen vermieden werden. Aber war es denn besser, sich von den verschwommenen Botschaften aus Licht eine Grenze setzen zu lassen? „Gibt es nichts Sicheres?“, fragte Yre und erntete Unverständnis.

Unser Wissen liegt in uns, die Sterne helfen uns, es zu sehen. Was meinst du, Kind?“

Yre wusste um die Weltlichkeit ihrer Gedanken und sprach dennoch.

Das Wissen, das die Sterne uns geben können, ist so frei, abstrakt. Es ist leicht, sich in die Irre führen zu lassen. Wenn ich die Wand hier betrachte lerne ich mehr Konkretes, als von den Lichtern im Himmel. Ich bin neugierig, was es noch zu lernen gibt, draußen.“

Wut lag nicht in der Natur der Ilfen, sie war unsinnig. Aber das, was ihre Mutter verspüren mochte musste dem, was Menschen Wut nennen, nahe kommen.

Unser Weg ist der Weg unseres Volkes, der Weg des Wissens. Was für Wahrheiten denkst du, kann der Dreck dir geben? Dort wirst du nichts als Staub finden. Was willst du aus dem Staub lesen? Schicksale aus Dreck und Feuer und einen Haufen Wahnsinniger. Das ist, was du finden wirst. Wir verlassen diesen Turm nicht. Nie.“

Sie hieß sie hinein gehen und bei der täglichen Arbeit helfen. Yre gehorchte und fragte sich, wie Menschen wohl aussehen mochten.



Zwei - Jaris.


Sie trug ihre Robe stolz. Das dunkle Braun erinnerte an die verkohlte Erde, die rote Kordel an das Feuer, das die Welt bestraft hatte.

Geistesabwesend fuhr sie mit der Hand über ihre Kehle. Gleich.

Es war ein Jahr her, dass sie sich dem Orden angeschlossen hatte. Ihr Weg des Feuers, wie er sich ihr offenbart hatte, schien der größte Segen, den sie je erhalten hatte.

Ein Jahr, das war die Novizenzeit. Endlich war die Zeit gekommen, sie würde ihre Weihe erhalten. Die Brennung nannten sie sie. Ein Brandmal über die Kehle, zur Erinnerung, dass sie alle Eigentum der Götter waren und die große Rache jederzeit auf die Sünder herabfahren konnte.

Natürlich war das Feuer eine solche Rache gewesen. Aber nun, in diesem Land voller Sünden und Verbrechen, in dem ein Menschenleben so viel wert war wie eine handvoll Lederriemen und definitiv weniger als etwas zu essen, in solch einem Land würde es nicht lange dauern, bis das nächste Feuer kam.

Die Gruppe Ordensnovizen, mit der sie unterwegs war, stand unter der Leitung von Bruder Akios, einem bart- und haarlosen Mann mittleren Alters, der trotz der Nahrungsknappheit eine Statur wie ein Fass sein Eigen nennen konnte.

"Jaris, jetzt du!"

Er winkte sie zu sich. Jetzt. Zitternd vor Angst und freudiger Erwartung lief sie zu ihm, stellte sich neben ihn unter die Überreste eines Glockenturms.

Die Metallstange in dem Fleck schwelender Erde vor ihnen glühte weiß-rot.

"Jaris, zwanzig-und-drei Jahre, Novizin. Gibst du dein Leben für die Götter? Akzeptierst du dein Schicksal und stellst du dich dem Urteil, das uns alle erwartet?"

Sie hatt die Worte schon hunderte male gehört und die Antwort ebenso oft in ihrem Kopf wiederholt.

"Ich gebe mein Leben, meinen Geist und meinen Körper. Ich akzeptiere mein Urteil, denn die Götter sind allmächtig. Das Schicksal möge die Sünde aus mir treiben, denn ich vermag es nicht."

Sie überlegte, ob sie die Luft anhalten sollte wenn der Schmerz kam. Oder einatmen? Durfte sie schreien? Sie hatte viele vor ihr gebrannt werden sehen, jeder hatte auf seine Weise darauf reagiert. Was war der beste Weg? Wie sollte sie reagieren? Sie verfluchte sich dafür nicht früher daran gedacht zu haben. Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf und bevor sie zu einem Entschluss kam hatte Bruder Akios schon die weißglühende Stange in der Hand und hielt sie ihr nur eine handbreit von der Haut entfernt an den Hals.

Zum ersten Mal erfuhr sie, wie es gewesen sein musste, sich hilflos der Güte der Götter ausgesetzt zu sehen. Das Feuer. Die Hitze, nur Zentimeter von ihrer Kehle entfernt. Es brauchte all ihre Kraft nicht zurück zu zucken.

Dann war es soweit.

Das Glühen sandte einen Schrei durch ihren Körper, doch ihren Mund verließ nur stumme Luft.

Mit weiß aufgerissenen Augen kämpfte sie innerlich gegen die Ohnmacht, doch ihr Geist empfing den Schmerz, wie ein Geschenk der Götter. Sie hatte gehofft, dass es sich so anfühlen würde. Ihr Schicksal wurde vor ihr ausgebreitet, sie wurde erfüllt von Eifer und Rechtschaffenheit.

Gereinigt.

Akios hielt die Stange einige Sekunden, dann legte er sie zurück in die glühenden Kohlen und ließ Jaris zur Seite treten.

Wie in Trance schritt sie weg, jeder Atemzug schmerzte höllisch, die Welt war gleißend weiß vor ihren Augen und sie fühlte sich wiedergeboren.

Dann wurde sie ohnmächtig.


Als sie aufwachte lag sie auf der warmen Erde. Ein Ordensbruder kniete neben ihr und träufelte ihr Blutkrautöl auf die Kehle.

"Du warst sehr tapfer."

Er lächelte sie wohlwollend an.

Sie fühlte sich rot werden.

"Ich- "

Der Schmerz flammte wieder auf und drohte sie zu übermannen.

"Sprich nicht, du musst das Mal heilen lassen."

Sie wandte den Blick ab. Ohnmächtig zu werden hatte nicht zu ihrem Plan einer erfolgreichen Brennung gehört. Der Bruder sah ihren Blick und schüttelte lächelnd den Kopf.

"Als ich gebrannt wurde hab ich geschrien wie am Spieß. Dann bin ich ohnmächtig geworden ohne noch einen Schritt tun zu können. Akios wurde vor mir gebrannt, er hat zurück gezuckt und sein Mal ist schief geworden. Achte mal drauf!"

Vorsichtig legte er einen dünnen Streifen Leinentuch über ihren Hals.

"Keinen Laut von sich zu geben und dann noch ein paar Schritte zu tun bevor der Schmerz dich nimmt; so etwas habe ich noch nie gesehen. Du bist wahrhaftig stark."


Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie ließ sich vom Schmerz getragen in einen tiefen Schlaf gleiten.



Drei - Ein namenloser Fremder


Die Menschen in dieser Welt sind zerstört. Hundert Jahre nach dem Feuer scheint es, als seien nur Minuten vergangen, seit die Faust der Götter ihre Rasse in Dreck und Feuer zerschlagen, sie in alle Ecken des Landes verstreut hat.

Wie verängstigte Tiere waren sie auseinander gestoben und nur langsam rotteten sie sich jetzt zusammen, starrten mit großen Augen in die Welt, dicht aneinandergedrängt.

Die große Frage hing noch immer über der Menschheit wie ein Schatten. Warum.

Der tägliche Kampf um das bloße Überleben in dieser menschenfeindlichen Welt hatte sie stumpf werden lassen, und dann gab es noch die da draußen.

Die anderen. Die, die es nicht in diese kleine Gemeinschaft verängstigten Viehs geschafft hatten, in diese Farce einer Miniaturgesellschaft.

Die Freien.


Ein freier Mann verließ in diesem Moment ein kleines Dorf an der Ostküste des Landes. Ein freier Mann in Leder und Kette, dunkles Haar und dunkle Augen, die einem jeden eine Warnung waren, der sich in der Geschichte des Nordens auch nur ein wenig auskannte.

Dieser Mann war ein namenloser Fremder, wie es in dieser Welt zu viele gab. Doch der hier war anders. Seine Freiheit war selbst gewählt, seine Verdammnis ein Ideal und die gelegentliche Sicherheit eine notwendige Qual, die es zu ertragen galt, wollte man überleben.

Vogelfreiheit hatte ihn hart werden lassen und so war er im Gegenzug das notwendige Übel einer jeden kleinen Gemeinde, ein Söldner.

Dieses Dorf hatte ihn nicht gebraucht. Probleme hatten sie zwar zuhauf, doch sie hatten einen in ihrer Mitte, der mit diesen umzugehen wusste. Einen sesshaften Kämpfer. Das war selten und erfüllte den Fremden mit Unmut. Verräter, dachte er.


Seine Schritte trugen ihn zügig nach Osten, auf dem Weg zu der ehemaligen Küstenstadt Malden, einst einer der großen Knotenpunkte des Handels im Norden, doch die Flammen hatten auch hier nur schwarze Trümmer zurückgelassen. Den Wilden, die hier nun hausten, war das gleich.

Zwischen den alten Mauern sah er ihre Schatten huschen. Menschen, die kaum noch als solche erkennbar waren. In Rudeln rotteten sie sich zusammen wie Tiere, doch eine Gefahr waren sie kaum. Sie schlichen durch die Schatten, feige und schwach, buddelten im Dreck nach Essbarem und Wasser. Wenn sie einmal auf einen Wanderer stießen, der schwach genug erschien, kam es vor, dass sie ihn angriffen. Aber niemand so schwaches käme auf die Idee alleine die Sicherheit seiner Gemeinde zu verlassen.

Der Fremde gehörte sicherlich nicht zu denjenigen, die sich sorgen mussten.

Unter normalen Umständen würde er diese Schatten von dem, was einmal Menschen gewesen waren, nicht weiter beachten. Sie waren ihm nichts. Aber seine Suche nach ein wenig Ruhe und Einsamkeit hier in den Ruinen vertrug sich nicht mit dem Gedanken an panisch schnatternde Halbmenschen, also erlegte er sie.

Als das schrille Keckern verstummt war und Stille sich über die Überreste der Stadt gelegt hatte sank er erschöpft an einer Mauer hinunter zu Boden, ließ den Kopf nach hinten gegen den alten Stein fallen.

Der kurze Schmerz dämpfte die Stimmen, die ihm aus dem Dorf heraus gefolgt waren. Menschenstimmen. Sie reden, sie reden so viel.

Ein entnervtes Seufzen entfuhr ihm. Ruhe jetzt.

Die letzten Wochen waren friedvoll gewesen. Er war durch die menschenleeren Weiten des Nordens gezogen, weit und breit kein Zeichen von Zivilisation, und war seinem eigenen Rhythmus gefolgt. Leider hatte die Leere dieses Teils des Landes seinen Grund, er war ganz und gar lebensfeindlich. Wasser war rar und kaum etwas wuchs dort, also hatte er nur so lange bleiben können, wie seine Vorräte es zuließen.

Nach dieser vollkommenen Stille nun wieder zurück an die dichter besiedelte Küste zu kommen war grausamer, als er erwartet hatte.

Aber es half nichts, die nächste Zeit würde er damit verbringen sich von Dorf zu Dorf zu schleppen, in der Hoffnung auf Arbeit. Als Belohnung lockte neben Nahrung und einigen Gebrauchsgegenständen nur ein stetiges Pochen zwischen den Schläfen.


"Heh, Fremder.."

Der Söldner am Boden zuckte unter dem Klang der Stimme zusammen. Sein Blick fand den Mann hinter der unausgesprochenen Herausforderung und mit einem Satz war er auf den Beinen.

"Was?", die Hand ließ er auf dem Griff eines seiner Schwerter ruhen.

Sein Gegenüber war ein Kämpfer, wie er selbst. Gekleidet in Leder und Kette, wie er selbst. Doch dort, wo er bei sich an der Hüfte zwei Kurzschwerter hängen hatte, sah er bei dem anderen nur einen wenig beeindruckenden Dolch. Mit der rechten griff der Mann nun hinter sich und offenbarte seine eigentliche Waffe, einen mächtigen Anderthalbhänder aus dunklem Stahl. Das Monstrum war breiter als ein Schwert dieser Länge sein sollte und endete in einer groben Kante, die an ein missmutiges Grinsen erinnerte. Der vor Anspannung zitternde Arm des Mannes verriet sowohl das Gewicht des Schwertes, als auch die Tatsache, dass er es noch nicht lange zu besitzen schien.

Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Fremden.

"Sicher, dass du gegen mich kämpfen willst? Damit?"

Die Augen des anderen sprachen Wut, doch sein Gesicht blieb still, siegessicher.

"Du sollst dich fernhalten, das ist alles. Wenn du nicht freiwillig gehst, dann-"

Zwei Kurzschwerter wurden blitzschnell gezogen. Dieser Mann war also der Grund, dass man ihn abgewiesen hatte und jetzt würde der Kerl versuchen ihn, seinen Konkurrenten, auszuschalten.

Der Fremde zog mit großzügigem Abstand einen Halbkreis um den anderen, der noch immer versuchte, sich das Gewicht seiner Waffe nicht anmerken zu lassen.

"Du bist der, den sie kastriert und angeleint haben.", stellte er fest und ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.

Dieser war von der Feststellung wenig angetan.

"Ich hab Liebe gefunden in dem Dorf. Klar, dass ich dort bleibe und meine Familie beschütze."

Der Fremde lachte kurz und freudlos.

Der andere musste jünger sein als er, deutlich jünger. Man sah noch den Jungen aus den blauen Augen hervorlugen und die Tatsache, dass er mit einer unerprobten Waffe in den Kampf ging, sagte ihr übriges. Die Erfahrung lag auf seiner Seite, also wartete er, abschätzend.

Nur wenige Augenblicke vergingen und sein Gegner wurde sichtlich nervös.

"Ich kann dich nicht gehen lassen.", er versuchte Sicherheit in seine Stimme zu bringen.

... sonst merken sie, dass es andere gibt, sagten seine Augen. Die Daseinsberechtigung eines Kämpfers in einem Dorf reichte nur so weit wie sein unmittelbarer Nutzen für die Gemeinschaft.

Der Fremde empfand keinen Hass für seinen Gegner. Ein klein wenig verstand er ihn sogar, doch das machte es nur noch schlimmer. Er nahm ihm nicht nur die Lebensgrundlage, er wollte ihn weg sehen, selbst der einzige fähige Mann sein, der das Dorf schützen konnte. Und wenn er starb, was dann? Ein anderer Söldner kam immer früher oder später, aber nachdem man einmal so arrogant von einer Dorfgemeinde abgelehnt wurde, wie es dem Fremden wenige Stunden zuvor widerfahren war, wollte man dann noch helfen?

"Du tust ihnen keinen Gefallen, wenn du bleibst."

Der Junge hatte Angst, das Gewicht des schwarzen Monstrums in seinen Händen begann seinen Tribut zu fordern, doch er wich nicht zurück.

'Dummer Junge, seine blinde Überzeugung wird ihn bluten lassen.'

Der Fremde ging vorsichtig einen Schritt auf seinen unterlegenen Gegner zu, sah den Blitz aus Angst in seinen Augen.

"Sie ist es wert!", rief er nun, die Stimme zitternd, nur um etwas zu sagen, um die Stille zu übertönen, die über ihnen lag und wartete.

Doch er bekam keine Antwort. Der Fremde hob seine linke Schwerthand, herausfordernd. Komm oder lass es, schien er zu sagen, er hatte einen Kampf gebraucht, er hatte sich auf einen eingestellt.

Und der Junge griff an.

Als die schwarze Klinge auf das gewöhnliche Eisen traf erklang ein Singen, ein Klirren, das keiner der beiden Kontrahenten jemals gehört hatte.

Er hatte parieren wollen, doch die Wucht des Angriffs und das Gewicht dahinter waren zu groß, also geriet er ins Straucheln und stürzte.

Der Anderthalbhänder traf, gerade so abgewehrt, neben seiner Schulter auf graue Erde und wurde erneut gehoben.

Ein verirrter Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die Aschewolken am Himmel und ließ die Klinge aufleuchten wie schwarzes Feuer.

Dem nächsten Hieb wich der Fremde aus, der Junge verlor zunehmend Kontrolle über seine Waffe und einen Wimpernschlag später auch die, über seine Beine, als eine kurze, schartige Klinge aus gewöhnlichem Eisen sich von unten durch seinen Körper bohrte und ihn fallen ließ.

Er lag noch eine Weile zitternd da, sein Herz pumpte Blut in den Dreck, auf dem er lag.

Der Fremde nahm ihm das Schwert, das er noch immer in der verkrampften Hand gehalten hatte, ab und brachte es zu Ende.

Eine Weile stand er da, auf den Griff seiner neuen Waffe gestützt, und betrachtete den zerschlagenen Körper des jungen Mannes.

Er hatte ihn entwaffnen wollen, seine Überlegenheit demonstrieren. Doch schien ihm Zurückhaltung im Kampf nicht zu liegen. Spätestens der Moment, als die Klinge des anderen ihn am Boden hatte und um ein Haar aufgespießt hätte war es mit Zurückhaltung vorbei. Man kämpft, um zu überleben, nicht?

Leute wie dieser Junge waren genau so sehr Bedrohung für seine Existenz wie umgekehrt. Kurz dachte er an die Familie, die zu behalten der andere sein Leben geopfert hatte, und empfand letzten Endes doch so etwas wie ein klein wenig Stolz bei dem Gedanken daran, ihm wenigstens den Tod eines Kämpfers beschert zu haben.

Du bist wieder frei.

Was hatte er ihn auch angegriffen?

Kopfschüttelnd hob er das Schwert und führte vorsichtig ein paar Hiebe aus. Es lag selbst ihm schwer und träge in der Hand und er musste nach wenigen Augenblicken seine linke hinzunehmen, um es nicht fallen zu lassen. Es wog deutlich mehr als seine beiden Kurzschwerter zusammen und seine Arme waren auf Schnelligkeit trainiert, nicht auf Stärke.

Dennoch ging eine seltsame Faszination von der Waffe aus. Kurz blitzte ihm sein eigenes Spiegelbild entgegen, als er die Klinge in der Hand drehte. Das Bild gefiel ihm, also nahm er noch den Schultergurt an sich, sowie den linken, gepanzerten Handschuh des Jungen. Mit ein wenig Übung konnte er mit dieser Waffe absolut tödlich werden. Er war nicht so naiv seine alten Schwerter zurückzulassen, den gleichen Fehler wie der eben Getötete zu begehen, aber eine so großartige Waffe ignorierte man nicht einfach, wenn sie einem vor die Füße fiel.

Schnell befreite er die Leiche noch von den restlichen Gegenständen von Wert und machte sich auf den Weg zurück in das kleine Dorf. Etwas sagte ihm, dass sie seine Hilfe nun gebrauchen konnten und das wütende Knurren seines Magens war lauter als sein Stolz in diesem Moment.




Als der Fremde das Dorf erreichte war es bereits Nacht geworden. Nur schemenhaft erkannte er die ärmlichen Lehmbauten, die hier einen dichten Schutzwall bildend eng aneinandergepresst standen. Auf einigen der Dächer lagen Netze zum Trocknen und Ausbessern ausgebreitet und aus dem größten der armseligen Gebäude wehte dem Fremden der Geruch von gebratenem Fisch entgegen.

Er folgte ihm, nicht ohne das neue Schwert auf seinem Rücken gut sichtbar zurechtzurücken. Sie sollten wissen, was er getan hatte. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnten. Er war auf die Prozedur gefasst. Wut, Anschuldigungen, dann die verdiente Angst, schließlich würden sie akzeptieren, dass ihnen keine andere Wahl blieb als ihn um Hilfe zu bitten.

Als er die Gaststube betrat schlug ihm eine willkommene Hitze entgegen. Die Nächte waren kühl geworden. Mit der Hitze kam Essensgeruch und der Lärm von Menschen am Ende eines ereignislosen Arbeitstages. Als erstes nahm ihn die alte Wirtin wahr. Mit einem Schlag wurde es ruhig, niemand wagte als erstes zu sprechen.

Schließlich erbarmte sich einer, ein Fischer mittleren Alters, der ihn wenige Stunden zuvor abgewiesen hatte.

"Was tust du hier?", fragte er mit Nachdruck und zurecht, "Wir brauchen hier keinen von euch."

Angst schwang in seiner Stimme mit, auch er wusste, dass der andere längst hätte zurück sein müssen.

Der Fremde warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, auf den mit Leder umwickelten Griff des Schwertes, niemand schien es zu kennen. Sei's drum.

"Euer kleiner Soldat hat sich überschätzt. Ihr braucht mich."

Einen Moment lang herrschte Stille, dann heulte eine Frau auf, ein Raunen ging durch den Raum.

"Wir brauchen niemanden!", rief einer, noch jünger, als der gefallene Kämpfer. Mehrere ältere Männer hießen ihn schweigen. Sie wussten. Es gefiel ihnen nicht, aber sie wussten und senkten betreten die Köpfe.

"Also, worum geht es?"

Der Fremde schob sich mit dem Fuß einen Hocker an den Tisch und setzte sich neben das blasse, fürchterlich verängstigte Mädchen, das eben noch spitz aufgeschrien hatte. Die Hände, mit denen sie ihren Steinbecher umklammert hielt, bebten. Es erinnerte ihn an den verkrampften Griff des Jungen, den er mit Gewalt vom Griff des Schwertes gelöst hatte. Das musste sie sein, sein Grund sich dämlich grinsend in den Tod zu stürzen. Nun fixierte sie ihn mit ihrem tränenverhangenen Blick, die schmalen, blassgrauen Augen angstvoll aufgerissen. Sie wollte eine Bestätigung, Sicherheit. "Er ist tot.", brachte der Fremde nur hervor. Sollte er Mitgefühl zeigen? Triumph? Der Andere hatte ihn angegriffen.

Er riss sich, nicht ohne einen Anflug von Mitleid, vom Anblick ihrer zitternden Lippen los und suchte den Blick des Mannes, der scheinbar die Entscheidungen traf und ihn nun mit hohlem Blick betrachtete, abschätzte.

"Wir dulden keine Männer unter unserem Dach, die einen aus unserer Mitte ermordet haben.", sagte er nun langsam.

Sie beide wussten, dass dies eine Formalität war, nichts weiter.

"Er hat mich angegriffen.", sagte der Fremde dennoch und hasste den verteidigenden Unterton in seiner Stimme.

Der Meute hier war es gleich. Er war derjenige, der ihren eigenen Haus- und Hofsöldner getötet hatte. Jetzt standen sie ohne Wachhund da und waren wieder auf solche wie ihn angewiesen, die nicht erst versuchten so zu tun, als seien sie ein Teil der Gemeinschaft.

Die Blicke, die ihn trafen, trugen den Hass und die Verachtung von Angehörigen in sich, sie taten tatsächlich so, als sei er einer der ihren gewesen.

Also schüttelte der Fremde nur irritiert den Kopf und sah seinen Gegenüber erwartungsvoll an, dieser wand sich auf seinem Hocker. Wie er diese Spiele hasste, das Resultat war doch immer das selbe und sie alle wussten das. Sie brauchten ihn.

"Es ist mir nicht recht, dass du neben meiner Tochter sitzt. Er war ihr...", der Ältere seufzte und wandte sich ab, hilfesuchend.

Der Fremde schenkte dem Mädchen neben sich ein Lächeln. Sie war hübsch, auf eine schrecklich zarte und verletzliche Art und Weise. Kaum ein Wunder, dass sie einen dahergelaufenen Söldner einem der Fischerjungen aus ihrem eigenen Dorf vorgezogen hatte, ein Ding wie sie suchte Schutz. Selbst jetzt huschte ihr Blick über die stärkeren der Männer im Raum.

Ich bin der Stärkste hier, hör auf zu suchen.

Er machte keine Anstalten aufzustehen.

"Was dir recht ist oder nicht ist mir egal. Was kann ich für euch tun?"

Dem Mann bebten die Hände vor Wut, schnell zog er sie vom Tisch und versuchte dem Blick des Fremden standzuhalten. Er hasste diese Situation. Hasste, auf den Mann angewiesen zu sein, den er nicht unter seinem Dach wollte. Aber dem anderen hast du deine Tochter entgegen geworfen.

"P-Plünderer."

"Sag mir wo und ich erledige sie gleich morgen früh."

Je schneller er hier weg kam, umso besser. In den Blicken, die man ihm zuwarf, lag das Versprechen eines Messers an der Kehle, wenn er nicht aufpasste.

"Wir wissen nicht, wo sie sind. Wenn wir das wüssten, bräuchten wir keinen von euch in unserem Dorf, tagein tagaus."

Der Fremde lachte laut auf, das Mädchen neben ihm zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen. Nun hatten sie ihm doch bestätigt, was er längst wusste. Der Andere, nichts als ein geduldetes Übel, sein Preis ein Mädchen und ein Versprechen von Akzeptanz. Dummer Junge.

Er beschloss es auf sich beruhen zu lassen, ignorierte es. Je schneller er hier raus kam-

"Wann waren sie das letzte mal hier?"

"Über einen Monat her. Es müsste bald wieder so weit sein."

"Dann werde ich wohl ein paar Tage bleiben müssen.", verkündete der Fremde schließlich, unwillig, doch ein paar Tage mit gesicherter Verpflegung taten möglicherweise selbst ihm ganz gut.

Sein Gegenüber schluckte schwer, irgendwo hinten wurde ein Jungspund von einigen älteren, weiseren Männern zurückgehalten.

"Wir haben hier oben einen Raum für... Gäste.", er wies links von sich, wo neben der Theke mit der alten Wirtin dahinter eine Treppe nach oben führte.

Der Fremde nickte nur, stumm das Angebot annehmend, und zog sich zurück.



Er wachte auf, als die Kälte des Morgennebels ihre Finger nach ihm ausstreckte. Sein Umhang, unter dem er schlief, hielt kaum noch warm und als er widerwillig die Augen aufschlug, sah er seinen Atem als Dunst in der Luft schweben. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, ein seltsames Halblicht erfüllte die kleine Kammer, in der er die Nacht verbracht hatte. Zeit aufzustehen, sagte er sich. Ein wenig Bewegung würde schon wieder Wärme in seine Glieder bringen und seit er gestern seinen Kampf gewonnen hatte, hatte ihn sein neues Schwert gereizt. Sieh, was du mit mir anstellen kannst. Zeig mir, dass du meiner würdig bist. Der mit Leder umwickelte Griff lockte ihn, reizte ihn. Also schwang er sich nicht ohne Überwindung von seiner Schlafstatt hoch und begann, seine Rüstung anzulegen. Hier in diesem Dorf sollte er keinen Moment lang Schwäche zeigen. Jeder Anflug von Verletzlichkeit könnte sein Ende bedeuten.


Die Sonne stand hoch am Himmel als der Fremde aufgab und sich erschöpft zu Boden sinken ließ.

Nicht lange nachdem er aufgestanden war und sein Training begonnen hatte war die Welt um ihn herum erwacht. Fischer waren losgezogen, um ihren ersten Fang für den Tag an Land zu ziehen, ihre Frauen machten sich an die Feldarbeit oder flickten zurückgelassene Netze. Lauter wurde es außerdem. Der Schäfer hatte seine spärliche Herde zurück ins Dorf getrieben, wo sie nun an den mickrigen Halmen knabberten, die hier und da am Fuß der Lehmhütten sprossen.

Den Fremden hatte niemand gewagt zu stören. Ob ihr eigener kleiner Söldner jemals im Dorf trainiert hatte? Er wusste um die beeindruckende Wirkung des Schwertes, das er zu kontrollieren gesuchte. Er fieberte dem Tag entgegen, an dem er es tatsächlich meistern und seine Gegner in Angst und Schrecken versetzen würde. Aber der müde Schmerz in seinem rechten Arm sagte ihm, dass es bis dahin noch eine Weile dauern würde.


Er verbrachte den Rest des Tages damit, die Umgebung ein wenig zu erkunden, einladende Schwachstellen in dem Aufbau des Dorfes ausfindig zu machen und sich mögliche Verteidigungsstrategien zu überlegen. Niemand hatte ihm genau sagen können, wie viele Männer er erwarten sollte. Angeblich waren es nie mehr Plünderer als Dorfbewohner gewesen, was in den Augen des Fremden nicht sonderlich optimistisch klang.

Gegen Abend schienen die meisten sich mit dem Gedanken angefreundet zu haben, dass er jetzt bei ihnen lebte, und so protestierte kaum noch einer, als er wie die heimkehrenden Fischer seine Mahlzeit forderte. Niemand hatte heute Angst haben müssen und Sicherheit hatte ihren Preis.


Es sollte noch einige Tage dauern, bis seine tatsächliche Fähigkeit, dem Dorf Sicherheit zu geben, auf den Prüfstand gestellt werden würde.

Sie kamen in der Nacht und sie kamen nicht lautlos. Ein Problem dieser Banden von Plünderern war schon immer ihre Siegessicherheit gewesen. Sicher, sie erwarteten Widerstand. Sie werden das Dorf ausgekundschaftet haben, ihn gesehen haben. Aber er war nur einer, sie waren viele.

Der Fremde wurde wach, als sie in das Dorf marschiert kamen und sich lauthals ankündigten. Das Grölen und Rufen klang nach mindestens zehn Männern und Frauen.

Die letzten Tage hatte er in seiner Rüstung geschlafen, nicht nur in Hinblick auf den nahenden Übergriff, und so dauerte es nur wenige Augenblicke bevor er, Schwerter in der Hand, das Gasthaus verließ, seinen Gegnern entgegen.

Er zählte sieben von ihnen und es brauchte all seine Kraft die freudige Erwartung angesichts eines bevorstehenden Kampfes zurückzuhalten. Es war zu lange her, dass er das letzte mal wirklich gefordert worden war.

Die Rüstung der Plünderer war mehr schlecht als recht zusammengeflickt und einige ihrer Waffen sahen aus, als seien sie schon halb geschmolzen gewesen, als jemand sie wieder gerade gebogen und geschliffen hatte. Glorifizierter Eisenschrott. Seine eigene Ausrüstung war nicht sehr viel besser, aber hier zeigte sich der Vorteil, für Dorfgemeinschaften mit echten, gelernten Schmieden zu arbeiten. So klein der Vorteil auch sein mochte, er war in diesem Moment nicht zu leugnen.

Die anderen musterten ihn mit abschätzendem Blick. Keiner von ihnen war willens, sich als erster in den Kampf zu stürzen und das erste Opfer zu stellen, bevor der Kampf richtig begann. Das würde auch nicht nötig sein, zwei der sieben fächerten aus, kamen leicht seitlich auf ihn zu.

Doch so einfach würden sie ihn nicht in die Zange nehmen können. Mit einem schnellen Blick ermittelte er den schwächeren der beiden und griff an. Das Moment der Überraschung lag auf seiner Seite und die Erkenntnis seines Todes schaffte es kaum in die Augen des Mannes bevor er fiel. Hinter sich hörte der Fremde die restliche Meute, die jetzt geschlossen auf ihn zu stürmte.

In dem Gerangel, das folgte, duckte und parierte er sich sicher durch die Hiebe, die sich ihm entgegen warfen und versenkte seine Schwerter in mehr als einem Rücken. Sie fielen schneller als erwartet und schließlich war da nur noch einer, der sich mit einem Sprung nach hinten rettete. Ohne das Chaos der ersten Augenblicke im Kampf standen die Chancen schlechter. Der Fremde lebte das Chaos, er profitierte davon. Nun, von Angesicht zu Angesicht mit dem Gegner, war er nackt, jede seiner Bewegungen so viel vorhersehbarer. Es war klar, wen er angreifen würde, doch davon durfte er sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Einige der Dorfbewohner streckten neugierig die Köpfe aus ihren Hütten, als der Lärm des ersten Kampfes verklungen war und Stille sich über den Dorfplatz gelegt hatte.

Sie sahen nichts als zwei Schatten in der Dunkelheit, der Mond hatte sich hinter einer Wolke versteckt und die Welt war nur noch schemenhaft zu erkennen.

Die zweite Herausforderung lag darin, den Mann am Leben zu lassen.

Er war sich sicher, dass in dem Lager der Bande noch mehr Plünderer lauerten, die andere Dörfer terrorisierten.

Er wollte sie alle auslöschen.


Den Göttern sei Dank übernahm der andere den unangenehmen ersten Schritt und griff an. Mit Langschwert und Schild stellte er eine Herausforderung dar und der Fremde hatte seine liebe Mühe die Hiebe zu parieren, ohne sich zurückdrängen zu lassen. Ein schnelles Ende des Kampfes durch Umrunden des Gegners schien unmöglich und der andere wusste hervorragend mit seinem Schild umzugehen. Er musste umdenken, und das schnell. Den nächsten Hieb des Langschwertes parierte er mit beiden Schwertern und rammte seine Schulter mit der Wucht seines gesamten Körpergewichts seitlich in den Schild des Gegners. Damit hatte dieser nicht gerechnet und fiel. Der Fremde, der schneller wieder auf den Beinen war trat die Waffe des anderen zur Seite hielt ihm die Spitze seines eigenen Schwertes an die Kehle.

Geschafft.

Langsam verebbte die Aufregung des Kampfes und während die Dorfleute ihre Hütten verließen und den entwaffneten Mann fesselten machte der Fremde die Runde und schenkte den restlichen Besiegten den Gnadenstoß.

Den Gefangenen nahmen sie mit in das Gasthaus und sperrten ihn ein, dann kehrten sie alle zurück in ihre Hütten und Betten, seit langer Zeit das erste mal sicher.

Der Fremde blieb zurück und beschloss, ein paar Fragen zu stellen. Der Plünderer blickte ihn hasserfüllt an, als er eintrat und die Tür hinter sich zu zog.

"Du hast dreckig gekämpft."

Der Fremde lachte daraufhin nur.

"Du hast verloren, nicht?"

Der Mann am Boden schwieg.

"Wo ist euer Lager? Wie viele von euch sind zurückgeblieben?"

Keine Antwort. Seine Faust traf den Mann nicht unerwartet, doch das minderte in keinster Weise die Wucht des Schlags.

Blut wurde ihm vor die Füße gespuckt, das war alles, was er an Reaktionen erhalten sollte.

Also kniete er sich hin, auf Augenhöhe mit dem anderen, und sie schwiegen sich an.

"Wieso hilfst du denen?"

Die übliche Frage, es war nicht das erste mal, dass man sie ihm stellte oder er sich selbst fragte, warum zur Hölle er das hier tat.

Dennoch hatte er eine Antwort parat. Eine, die er schon oft gegeben hatte.

"Was wird aus den Wölfen dieser Welt, wenn alle Schafe gerissen sind?", fragte er also und neigte den Kopf zur Seite.

Es war die kürzeste Antwort, die er geben konnte. Über die Jahre hatte sich dieser Satz als Essenz dessen herauskristallisiert, was den Gegenüber am ehesten erreichte.

In Wahrheit wusste er selbst nicht warum. Die gegebene Antwort hatte sein Verstand ihm genannt und er akzeptierte sie als die einzige Wahrheit, die er zur Zeit zu finden bereit war.

"Ich werde morgen wiederkommen. Dann wirst du mir sagen, wo euer Lager liegt."

Der andere schnaubte nur verächtlich und setzte an ihm weitere Beleidigungen an den Kopf zu werden, also schlug ihn der Fremde erneut, dieses mal deutlich kraftloser.

Langsam begann die Tatsache ihn einzuholen, dass man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen hatte, und ohne ein Wort zu sagen kehrte er dahin zurück. Das Blut der Gefallenen könnte er sich auch morgen noch von den Händen waschen und der Gefangene würde ihm heute auch nichts mehr geben.


Als er am nächsten Morgen jedoch lange nach Sonnenaufgang erwachte waren bereits andere Besucher eingetroffen.

Besucher in langen Roben mit schrecklichen Narben an den Hälsen.

Sie waren allesamt alt, doch wenig Weisheit schien hinter den bitter zusammengekniffenen Augen zu liegen. Der Orden, die Hoffnung der Menschheit, gekommen, um dem Volk ein klein wenig Sinn und höhere Bestimmung zu schenken, in einer Welt, die einem nichts gab außer Staub, Sand, Dreck.

Nun saßen sie hier wie Richter über die Menschheit und als er eintrat fanden ihn ihre Blicke und sie urteilten.


Der Gefangene saß an Händen und Füßen gefesselt auf einem Hocker an der Wand. Auch er drehte den Kopf, als der Fremde eintrat.

"Das ist er?", fragte einer der Ordensbrüder mit erhobener Augenbraue und erhielt im Gegenzug ein Nicken von einem der Fischer.

Dem Fremden war die Situation suspekt. Mit dem Orden verstand er sich nie sonderlich gut. Sie mischten sich in Angelegenheiten ein, die sie nichts angingen. So, wie es auch jetzt der Fall zu sein schien.

"Wir haben die Leichen begraben", sagte einer. Der Fremde sagte nichts, was gab es dazu auch zu sagen. Sie waren tot.

"Was ist mit ihm?", er wies auf den Gefesselten, "Hat er schon etwas gesagt? Zu seinem Lager und dem Rest seiner Leute?"

Der Fischer setzte zu einer Antwort an, doch einer der Ordensbrüder, der einzige, in einer roten Robe und somit der Höchste unter ihnen, unterbrach ihn.

"Du hast genug angerichtet. Wir verlangen, dass du das Dorf verlässt."

Selbsterhaltung hatte keinen Platz in den Köpfen des Ordens.

Er dachte an die anderen, die übrig gebliebenen Plünderer in ihrem Lager und lächelte. Dieses Dorf war verdammt ohne ihn.

"Ich gehe, aber nicht ohne meine Belohnung."

"Du hast Haus und Hof dieser Menschen beschmutzt, was verlangst du noch?"

Der alte Mann war sichtlich aufgebracht, sein Kopf rot angelaufen.

Die Autorität lag hier beim Orden, sie waren die spirituelle Instanz im gesamten Land und der Fremde hatte nicht vor, es sich mit ihnen vollkommen zu verscherzen.

"Was habt ihr mit ihm vor?", fragte er stattdessen mit einem kurzen Blick auf den Gefangenen.

Wieder setzte einer der Fische an etwas zu sagen und wieder wurde er unterbrochen.

"Wir werden ihn laufen lassen. Kein Mensch darf in Ketten gelegt werden, es ist Sünde. Das Feuer wird ihn richten."

"Das Feuer wird ihn richten.", kam leise das Echo der anderen Brüder und der Fremde lachte.

Es war tragisch, wie man hier mit einer unweltlichen Moral seine Arbeit nichtig machte, und doch blieb ihm keine andere Reaktion als Spott.

Und er ging. Ohne ein Wort, ohne einen Blick zurück.



Vier – Der Weg des Feuers


Das Mädchen Jaris war in einem kleinen Dorf am Ufer des Obergrim aufgewachsen. Der träge, aschbraune Fluss zog sich wie eine Lebensader von der Westküste aus tief ins Land und erfüllte die trostlosen Erdmassen mit einem klein wenig Leben.

Dort, wo sich der Grim in Ober- und Niedergrim aufspaltete lag Sauerfurt, einst eine der reichsten Städte des Landes, doch das war vor dem Feuer. Heute zeugten nur noch verkohlte Mauern von ehemaligem Wohlstand und Skelette von prachtvollen, mehrstöckigen Häusern erinnerten an dekadente Geister, die das Feuer einst über die Welt gebracht hatten.

Niemand lebte hier. Der Fluch, der noch immer auf dem alten Stein lastete, streckte seine goldenen Finger auch hundert Jahre nach dem Feuer noch nach den Menschen aus, die es wagten, diesen Ort zu betreten. Es war ihnen eine Lehre gewesen. Nie wieder würde die Menschheit sich einen solchen Hochmut anmaßen, wie es hier der Fall gewesen war. Sie hatten gelernt.


Aber es war nicht dieser düstere Ort, der das Leben von Jaris bestimmt hatte.

Ihre Heimat war ein Dorf unweit der Ruinen. Der dunkle Fingerzeig Sauerfurts war hier ein ständiger Begleiter, ein Warnhinweis, und so waren die Bewohner dieses Dorfes umso mehr bedacht ein bescheidenes, redliches Leben zu führen.

Das war in einer Welt nach dem Feuer selbstverständlich so etwas wie die neue Dekadenz. Wer konnte sich Redlichkeit leisten, wenn der Hunger einen an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte?

Hier fand man keinen Hunger. Keine bettelnden Waisenkinder, keine zusammengebrochenen Wanderer am Wegesrand, selbst Räuberbanden und Wilde hielten sich hier zurück. Wandernde Söldner sorgten dafür, und die gingen immer dorthin, wo es etwas zu essen gab.

Reisende Händler und Söldner waren auch der einzige Kontakt zur Außenwelt, der Jaris blieb. Von ihnen hörte sie Geschichten, Erzählungen von dem Schrecken im Inland, weit ab vom Fluss. Diese Welt schien ihr beinahe so fern, wie die andere. Die, von der die schwarzen Ruinen erzählten.


Ihre Welt hatte Fische und Krebse und die gelblichen Schwämme, die am Ufer zuhauf wuchsen. Auf der anderen Seite des Dorfes erstreckten sich Felder von Weißgras so weit das Auge reichte. Die langen, blassgelben Halme ließen sich zu Kleidung und allen möglichen Gebrauchsgegenständen verarbeiten und aus den kleinen, schwarzen Kügelchen machten ihre Leute das beste Brot, das sie je zu Essen bekommen würde.

Die Hütten aus Lehm standen hier weit auseinander, zusammen gehalten wurden sie nur durch den großzügigen Dorfplatz in ihrer Mitte, auf dem Feste gefeiert und Handel getrieben wurde. Kaum ein anderes Dorf würde es wagen, so viel Angriffsfläche zu bieten. Doch Wilde, Hunger, Krankheit, all das spielte an diesem Ort keine Rolle. Man war froh, seine eigene kleine Welt zu haben und der dunkle Schatten Sauerfurts bestätigte einem jeden Tag wieder die eigene Bescheidenheit.


Es war erst der Tod ihrer Mutter, der Jaris Welt entscheidend verändern sollte.

Das Fieber hatte sie geholt, nachdem sie sich das Bein gebrochen hatte. Für Jaris war eine Welt zusammengebrochen. Die ersten Stunden war sie wie betäubt gewesen. Durch einen dichten Schleier vor ihren Augen sah sie ihre Freunde, ihre Bekannten herumirren, sich um sie sorgen, doch sie spürte nichts.

Sie sah die Leute vom Orden ankommen, die gerade in der Nähe waren. In ihrem Kopf sah sie sich als kleines Kind, als sie das erste mal Ordensbrüder gesehen hatte. Die Männer mit den schrecklichen Brandmalen auf der Kehle hatten vom Feuer gesprochen und die Rache der Götter über den Dorfplatz geschrien, während ein kaum fünfjähriges Mädchen sich hinter seiner Mutter versteckte, deren Hand fest umklammert. Damals waren sie ihr wie fremde Dämonen vorgekommen, die aus einer anderen Welt in ihre eindrangen, um ihr Angst zu machen.

Als sie sie jetzt sah, wie sie die Beisetzung ihrer Mutter vorbereiteten, musste sie sich davon abhalten, sie nicht zu verscheuchen. Auf einmal war es deren Schuld. Die waren gekommen, um ihr ihre Mutter zu nehmen. Sie floh, zog sich zurück und wartete. Die Gedanken drehten sich um immer die gleichen Dinge, immer und immer wieder. Sie ist nicht weg, sie wird wieder kommen. Als es so weit war, kamen einige ihrer Freunde und geleiteten sie sanft auf den Dorfplatz, wo ein blasser Körper inmitten von gespaltenen und getrockneten Dornenranken lag und darauf wartete zu den Göttern geschickt zu werden.

Die Worte der Männer drangen nur leise zu ihr durch, was sie erreichte waren die Bilder. Die Dornen wurden in Flammen gesteckt, das ganze Dorf muss sein Feuerholz für die nächsten Wochen zusammen getragen haben, um diese Beisetzung zu ermöglichen, dachte Jaris und erschrak ein wenig. Das gehörte nicht hier her.

Sie riss sich zusammen und starrte in die Flammen, die langsam an dem leblosen Körper leckten. Haare fingen Feuer, waren innerhalb von Sekunden verglüht und hinterließen ein dumpfes Gefühl von Ernüchterung.

Jaris sah zu, wie verirrte Funken an der fahlen Haut ihrer Mutter knabberten. Sie beobachtete fasziniert, wie das Fleisch von dem tanzenden Rot und Orange gefressen wurde, bis das was übrig war, an einen verkohlten Baumstamm erinnerte, der leise singend in einem Bett glimmender Dornen lag.

Sie spürte keinen Frieden bei dem Anblick, noch verstörte er sie. Als alles vorbei war drehte sie sich wortlos um und ging.

In dieser Nacht sprach das Feuer zu ihr.


Es war in den Körper ihrer Mutter gefahren und sprach nun durch das verkohlte Gesicht inmitten flammender Dornen, die ihr von draußen in den Traum gefolgt waren.

Eine tiefe Furcht hatte Besitz von ihr begriffen und eine eiskalte Hand versuchte sie an den Gedärmen ins Nichts zu zerren, doch ihre Mutter umhüllte sie mit dem warmen Schein des Feuers und die Flammen leckten alle Angst und Zweifel von ihrem Geist. So von Ruhe und Klarheit erfüllt lauschte Jaris den Worten, die der Mund ihrer Mutter lautlos formte und unter dem Knistern der Dornen hörte sie das leise wispern: "Ich bin deine Zukunft, ich bin dein Schicksal, der Weg des Feuers! Geh, Jaris, geh mit ihnen. Geh mit dem Feuer."


Sie erwachte mit einem Brennen in den geröteten Augen und Heiserkeit in der Stimme, doch ihre Sicht auf die Welt war noch nie so klar, ihre Stimme noch nie so sicher gewesen, wie an diesem Tag. Die Ordensleute waren über Nacht geblieben. Als Jaris ihre Hütte verließ sah sie sie zum Gebet am Dornenhaufen stehen, der nun schwarz und in kalter Asche vor ihr lag. Die Worte kamen ihr wie von selbst, als sie den Schwur der Novizen leistete und ihr Leben dem Orden und dem Feuer anvertraute.


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Die Novizenzeit wurde von den meisten ihrer Ordensbrüder als die schwerste Zeit ihres Lebens beschrieben.

Man verließ sein Heim und seine Familie, wenn man denn so etwas noch hatte, machte sich auf die Wanderschaft und täglich prasselten die neuen Eindrücke nur so auf einen ein.

Bei Jaris traf das mehr zu, als bei allen anderen ihrer Gruppe. Die anderen Novizen allein waren eine Sache für sich, keiner von ihnen konnte schreiben oder lesen, ihre Eltern hatten sie schon früh verloren oder nie gekannt.

Auch äußerlich sah man ihnen gleich an, dass sie aus unglücklicheren Umständen kamen.

Obwohl sie alle jünger waren als sie hatte keiner mehr all seine Zähne im Mund, einigen blieben nur noch braune Stumpen.

Hunger hatte sie anfällig für Krankheiten werden lassen und so waren sie allesamt dürr und schwächlich.

Ja, bei den meisten von ihnen war sie sich sogar absolut sicher, dass sie sich dem Orden nur angeschlossen hatten, weil man ihnen Verpflegung garantierte.

Ob sie wussten, was für ein Leben auf sie zukam? Sie würden keine Brüder werden, um zu bekommen, ihre Aufgabe würde sein zu geben.

Diese verrückte Welt... sie würde lernen, was sie bedeutete und Hoffnung verteilen an all die armen, verlorenen Seelen.

Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz und Eifer und so bat sie Bruder Akios an diesem Abend, als sie alle um das Feuer saßen, ein wenig zu erzählen, von dieser Welt.

Mein Kind,“, sagte er gemächlich, „es gibt nicht viel Gutes zu erzählen heutzutage. Ich kann dir nichts sagen von glücklichen und besseren Zeiten, von fettem Fleisch und klarem, blauen Himmel. Unsere Welt ist eine graue, traurige Welt und sie ist voller Verrückter.“

Er räusperte sich und nahm einen Schluck von seinem Dornensaft.

Man sagt die Götter haben das Feuer über uns kommen lassen, um die Menschheit von den Sündern zu bereinigen. Aber das ist nicht wahr!“

Auch die übrigen Novizen hielten inne und horchten auf, halb gegessene Ascheknollen noch in den Händen.

Wisst ihr, es ist so. Das Feuer hat nicht aufgehört zu brennen. Es brennt noch heute! Die Macht der Götter ist mit uns, egal was geschieht. Ich erzähle euch eine Geschichte.

Es war einmal ein König, der galt als der reichste von allen. Er war auch sehr großzügig! Er hat den Armen Kleidung und Brot gegeben, seinen Kindern und denen seiner Minister Spielzeug und Puppen geschenkt. Niemand musste hungern oder frieren, weil er einfach mehr Häuser gebaut und die Obdachlosen hat darin schlafen lassen. Er war ein feiner Mensch, könnte man sagen.

In der gleichen Stadt gab es auch einen Banditen, das war ein unverschämter Kerl. Wo immer der König etwas baute oder schenkte war er da, um davon zu profitieren, ob er es brauchte oder nicht! Selbst als er reich wurde hat er nicht aufgehört, an jeder Ecke zu stehlen und sich zu bereichern. Ein schlechter Mensch, sollte man meinen.

Dann kam das Feuer. Die Welt hat gebrannt und viele, viele sind gestorben. Wie es das Schicksal so will, haben jedoch sowohl der König als auch der Bandit überlebt. Das Volk hat fürchterlich gelitten, doch der König hatte nichts mehr, was er geben konnte. Mühsam überlebte er trotz aller Schwierigkeiten. Es begab sich nun, dass er einen kleinen Busch Ascheknollen fand. Einen recht mageren Busch, fünf Knollen waren daran. Er grub sie aus und legte eine sofort in die Glut und aß sie, die anderen nahm er mit.

Bald kam er an einem Geschwisterpaar vorbei, das seine Eltern verloren hatte. Sie hatten nichts mehr zu essen und hungerten ganz fürchterlich. 'Bitte, Herr König, bitte geben sie uns doch eine von ihren Ascheknollen ab!', bettelten sie. Doch der König dachte an die nächsten Tage und sagte: 'Nein, die brauch ich selber!'. Später am Tag kam der Bandit des Weges. Er kam an einem Strauch Ascheknollen vorbei, die schon jemand ausgebuddelt hatte. Wie er halt so war hoffte er auf sein Glück und tatsächlich hatte wer auch immer hier vorbeigekommen war eine winzige Knolle vergessen, die etwas abseits von den anderen wuchs. Er grub sie aus und nahm sich vor, die Knolle am Abend ganz in Ruhe zu essen, denn er hatte seit Tagen nichts zu sich genommen und wollte den Moment genießen.

Bald kam er an dem gleichen Geschwisterpaar vorbei, wie davor der König. Die Kinder blickten ihn mit großen Augen an und baten: 'Herr Bandit, Herr Bandit, bitte geben sie uns doch etwas zu essen!' Der Bandit sah die beiden mitleidig an, seufzte und gab ihnen die mickrige Knolle, denn sie war alles, was er geben konnte. Und so hatte das Feuer wirklich die Sünder von den Heiligen getrennt.“

Die Gruppe saß eine Weile schweigend da und alle sahen matt ins Feuer.

Wie so oft überlegte sich Jaris ob die anderen jemals wirklich über das nachdachten, was man ihnen sagte. Einige bissen schon wieder in ihre Knollen und schienen die Lektion bereits vergessen zu haben.

Sie jedoch verstand.

Das Feuer lebt noch.“, sprach sie nachdenklich, „Nicht nur die Flammen hier und da, die Rache lebt noch und sie wird die wahren Sünder holen kommen. Dann war das erste Feuer nur ein Test, alle Menschen sind jetzt gleich vor den Augen der Götter. Jetzt kommt der wahre Charakter eines jeden ans Licht.“

Bruder Akios sah sie wohlwollend an und nickte.

Sehr gut Jaris, es ist Zeit, dass du deine Brennung erhältst, nicht? Du wirst deine Sache gut machen.“

Schüchtern versuchte sie ein stolzes Lächeln zu unterdrücken, Bescheidenheit, erinnerte sie sich und dachte an den Fingerzeig der schwarzen Ruinen.

Akios fuhr fort, doch außer Jaris hörte niemand mehr zu.


Es gibt Menschen, das sind die schlimmsten Sünder. Es gibt solche, die rauben und würden sogar für eine einzige, mickrige Knolle töten. Das sind die Egoisten, schreckliche Sünder. Aber dann gibt es solche, die verneinen alles. Solche, die Freude am Unglück und Unwohl anderer empfinden. Es gibt einen Mann, der folgt unseren Brüdern in Städte und leugnet unsere Lehren, nennt uns Lügner und hat sogar schon Gaben, die für den Orden bestimmt waren gestohlen. Heutzutage gibt es viele Ungläubige, viele, die Fragen stellen, weil sie nicht glauben. Auch sie wurden vom Feuer bloßgestellt. Sie haben kein wirkliches Vertrauen und im Kern sind auch sie Egoisten. In guten Zeiten hatten sie ihre Götter und denen haben sie ab und an ein paar Brotkrumen zugeworfen. Geht es ihnen aber schlecht, so hören sie auf zu glauben; denken, die Götter hätten sie verlassen! Sie sind dumm und oberflächlich. Man muss den Kern der Dinge sehen, meine Kinder. Das ist der einzige Weg sie zu finden, die Sünder.“

Jaris dachte lange über diese Worte nach. Sie dachte an sich selbst, dachte sich in Situationen der Prüfung. Dennoch fiel es ihr schwer sich selbst frei von dem ihr innewohnenden guten Willen zu sehen, der sie auf diesen Pfad geschickt hatte. Der einzige Schluss, zu dem sie kam, war, dass sie großes Mitleid mit diesen Sündern verspürte.

Die Egoisten, das waren verirrten Seelen, denen war nicht mehr zu helfen. Aber die, die man vor die Wahl stellte zu sündigen oder zu sterben, die taten ihr Leid.

Wie sollte ein Mensch richtig von falsch unterscheiden, wenn alles was ihm blieb sein Lebenswille war?

Sie bereute es keinen Tag in den Orden eingetreten zu sein. Es war ihr unvorstellbar, wie sie all die Jahr unwissend ob der Leiden dieser Welt leben konnte.

Man musste es sehen, um es zu glauben. Und sie sah es täglich und sie sah den Funken von Hoffnung in den Augen, wann immer sie mit ihrer Gruppe in ein Dorf kam und den Leuten erzählte von den unsichtbaren Wahrheiten dieser Welt, in der sie lebten und litten.

Es gab mehr, für dass es sich zu leben und zu leiden lohnte. Sie fühlte sich berufen, den Menschen Hoffnung zu geben, ihnen Stärke zu geben, gegen die Sünder dieser Welt anzugehen und die eigenen Sinne für Sünde zu schärfen, um sich davon zu befreien.

Es war eine besser Welt, von der sie sprach. Ein jeder Mensch hatte das Potential, wenn er nur den Willen besaß, eine bessere Welt zu schaffen, seine eigene Welt, in die er keine Sünde hineinließ.

Das Feuer war ein Geschenk gewesen, es hatte sie alle geweckt. Und es war an der Zeit, dass die Menschen sich den letzten Schlaf aus den Augen wischten und sahen!


Diese Sünder, von denen Bruder Akios gesprochen hatte, waren blind. Sollte nicht jeder Mensch das Potential besitzen seine Augen zu öffnen und die Welt zu sehen als was sie war?

Diese Menschen waren verbohrte, arme Seelen. Alles was sie sahen waren weltliche Güter, persönlicher Besitz und oberflächliche Freuden.

Was für eine leere, was für eine traurige Welt das sein musste.

Der Mann, der den Orden verspottete wohin er kam, was für ein leidender Mensch er sein musste, ohne die überweltliche Bestimmung, die ihr innewohnte.

Ein düsterer Mensch war er, so hatte sie gehört. Einer, der es anderen nicht gönnte zu hoffen und zu sehen. Einer der alles Feuer wegnehmen wollte, alle Freude auslöschen und jede Flamme von Verständnis und Mitleid im Keim erstickte.

In ihrem Geiste bildete sich das Bild eines grimmigen, alten Mannes, mit hässlich verzerrtem Mund und bösen, zusammen zusammengekniffenen Augen.

Kein einziges Haar auf dem Körper und nur schrumpelige, faltige fahle Haut.

Egal wie er aussehen mochte, dies schien ihr seine Essenz zu sein. Sein fürchterlich verkommenes Inneres, eine tote Seele, gefangen in einem wandelnden Körper.

Sie betete zu den Göttern, dass sie ihm einen Funken geben mochten, doch tief in ihrem Inneren war ihr klar, dass diese Seele längst kalt und eingefroren war.

Ein Nordmann sollte er sein, dieser war nicht empfänglich für das Feuer, dass ihr Leben so mit Freude gefüllt hatte.

Keine Liebe, keine Freude, kein Mitleid, keine Wärme.

Sie fuhr sich über die glatte Haut ihrer Kehle, wenn man ihn nur brennen würde. Ihn und all diese Sünder, wenn man ihnen die Wiedergeburt durch das Feuer schenken könnte. Waren sie zu retten?

Sie musste daran glauben, es war alles was ihr blieb. Und ihr Glaube war stark.



Fünf- Eine Ilfe erwacht


Die Nacht war bald vorbei und im Turm kehrte Ruhe ein.

In dem Moment als ihr Vater sie Schweigen geheißen hat, hatte sie ihren Entschluss gefasst.

Still sammelte sie ein wenig Gepäck zusammen und schlich zur Basis des Turms. Es erschien ihr falsch, sich an den Vorräten ihrer Sippe zu bedienen, doch was blieb ihr übrig. Schnell füllte sie den restlichen Platz in ihrem Beutel mit getrockneten Pilzen und einem Strang Grünscheinflechten.

Sie trug ihre übliche Kleidung. Die schlichte Wolltunika und Beinkleider, hergestellt aus ihren eigenen Haaren und der, der anderen Turmbewohner.

Schuhe kannten die Ilfen nicht.

Schon als sie klein war hatte sie oft ein Jaulen aus dem Brunnen kommen hören.

Ein Junge, mit dem sie auch irgendwie verwandt war, hatte sie damit aufgezogen und ihr von dem Brunnenmonster erzählt. Ihr Großvater, zu dem sie weinend gerannt war, hatte ihr dann das Geflecht aus Gängen und Höhlen erklärt, dass die Berge unter ihrem Turm durchlief.

Mit Wehmut dachte sie an ihre Kindheitstage zurück, alles war einfacher gewesen. Immer hatte sie dem Tag entgegen gefiebert, an dem sie endlich von den Sternen lernen konnte. Und jetzt, wo der Tag gekommen und gegangen war, hatte sie feststellen müssen, dass es ihr keine Antworten auf ihre Fragen geben konnte.

Geschickt ließ sie sich in den schmalen Schacht hinab, tastete sich die Wände entlang auf der Suche nach dem ungewollten Zugang zum Höhlensystem.

Sie fand ihn und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass er hoch genug war, um problemlos auf allen Vieren kriechen zu können.


Nur wenige hundert Meter später sah sie ein Licht am Ende des Tunnels.

Das würde schwierig werden. Ihre Augen kannten nur die Nacht, tagsüber herrschte im Turm ein gedämpftes Licht. Nur wenige Sonnenstrahlen drangen durch die schmalen Scharten in den Mauern.

Also kroch sie langsam näher an den Lichtkreis, versuchte nicht direkt hineinzublicken und nahm sich Zeit, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen.

Es dauerte einige Stunden bis sie soweit war hinauszutreten.

Die Sonne stand mittlerweile als eine blutrote Kugel am Horizont, bald würde es Nacht werden.


Das erste was sie sah waren Berge. Vom Turm aus hatte alles so winzig ausgesehen, in Wirklichkeit gab es hier unten Höhen und Tiefen und viele kleine Steine. Das war nicht die rotbraune Hügellandschaft, die sie zu kennen geglaubt hatte.

Die sie zu kennen glaubten.

Langsam lief sie Schritt für Schritt weiter in diese beängstigende Welt. Sie fühlte sich, als sei der Boden so viel lebendiger als der im Turm. Manche Stellen waren wärmer, andere kälter. Unter ihren nackten Füßen spürte sie jeden Kiesel und als sie ihre Zehen in den Aschensand bohrte konnte sie nicht anders und quietschte wie ein kleines Kind. Neugierig hockte sie sich hin und betrachtete den Boden genauer.

Sie erinnerte sich an etwas, das ihr Großvater oft gesagt hatte: "Was die Ilfen gegenüber den Metallmännern so verletzlich gemacht hatte war die Tatsache, dass Ilfen alles genau untersuchen mussten, bevor sie sich eine Meinung darüber bilden konnten."

Sie sah die einzelnen Sandkörner, sah einen Mikrokosmos aus Staub und kleinen Wimmeltieren, die sie nie gekannt hatte. Verzückt nahm sie eine handvoll Erde und ließ ihn sich durch die Finger gleiten, rotgoldener Sand und braune, trockene Erde vermischt mit grauer Asche, die leicht aufstaubte. Auf einmal bekam Yre unglaubliche Angst. Diese Welt war unglaublich riesig. Wie sollte sie jemals alles sehen und verstehen können? Sie konnte ja kaum blind durch die Gegend laufen und nur das betrachten, was vielleicht wichtig sein könnte?

Der Sand lockte sie, doch sie zog es vor ihn später weiter zu untersuchen.

Erst einmal musste sie weg, bevor sie ihr Verschwinden bemerkten und ihr möglicherweise folgten.

Sie entschied sich nach Süden zu wandern. Dort vermutete sie das größte Potential für Entdeckungen. Aber erst gab es eine Sache die sie sehen musste: Das Meer.

Sie entschied sich für den Mittelweg und die Befriedigung einer weiteren Neugierde von sich: Der Turm Xan lag an der Ostküste, ein gutes Stück südlich von ihrer jetzigen Position.

Als ihr Vater ihr die Lichtsprache gelehrt hatte, hatte sie sich oft gefragt, ob die anderen Türme wohl wirklich existieren, alles was sie von ihnen je gesehen hatte waren Lichtblitze.

Manchmal stellte sie sich vor, wie irgendwo ein verirrtes Feuer all die Nachrichten sandte. Vielleicht auch Menschen, die sich selber Spiegelgläser gebaut hatten, immerhin hatte sie gehört, wie vernarrt einige von ihnen in ihr eigenes Spiegelbild waren.


Es war ein weiter Weg bis nach Xan. Die Koordinaten waren kein Problem, die Sterne waren ihr Metier. Sie hatte zwar nicht wirklich viel Zeit mit dem Lernen all der Sternbilder und ihrer Deutung verbracht, aber den Himmel kannte sie dennoch wie einen alten Freund.

Von hier unten sah er schlammig violett aus, wie durch einen Filter.

"Nicht wie durch einen Filter...", korrigierte sie sich. Von oben hatte sie die Erde kaum erkennen können vor lauter Staub und Asche in der Luft.

Kein Wunder, dass die Menschen hier verrückt geworden waren, wenn sie den Himmel nicht sahen.


Sie wanderte schon seit Wochen in die Richtung, die die Sterne ihr wiesen.

Anfangs hatte sie oft Pause machen müssen, ihr Körper war die Strapazen langer Wanderungen nicht gewohnt. Die Pausen ließen ihr Zeit sich mit den simplen Dingen vertraut zu machen, die ihr alle noch so fremd waren. Sie sah Sand und Erde, und wie die Erde anders wurde, wenn man in ihr grub. Einmal rastete sie neben einem Tümpel, der graugelb vor Asche und Schlamm war.

Das Wasser trank sie trotzdem, ihr blieb auch kaum eine Wahl. Ihr Wasserschlauch war auch beinahe leer gewesen.

Im Teich entdeckte sie viele Dinge, die der Brunnen mit dem klaren Wasser ihr nie hätte beibringen können.

Das war einer der angenehmeren Rastplätze gewesen, mit gekühlten Füßen und aufgefülltem Wasserschlauch und all dem.

Menschen hatte sie nach all der Zeit noch immer keine getroffen.

So langsam war sich die kleine Ilfe nicht mehr sicher, ob das nun gut oder schlecht war.

Es war nicht so, dass sie ihre Suche nach Wissen aufgeben wollte, doch eigentlich waren es ja die Menschen, die sie am meisten sehen wollte.

Zum Lernen der Lichtsprache gehörte auch das Abschätzen und Miteinbeziehen von Entfernungen, und die Sterne sagten ihr, dass sie dem Turm Xan schon nah sein musste. Wenige Tagesmärsche vielleicht?

Dann erreichte sie das Meer.

Schon von weitem hörte sie das Rauschen und roch das Salz in der Luft. Also, sie roch etwas in der Luft, einen Namen hatte sie nicht dafür. Also beschloss sie es roch nach Meer, was ja auch durchaus zutreffend war.

Als sie die graurosa Masse sah, wie sie hin und her schwemmte und sich warf und wand. Mit all ihren weißen Krönchen und spritzender Gischt, da fühlte sie sich wieder wie ein Kind, dass das erste mal einen Blick auf die Aussichtsplattform werfen durfte. Ein riesenhaftes Ding, das lebte und atmete und blubberte und sie hatte es all die Jahre nicht gekannt. Meer, das ist Wasser.

Wie im Himmel hatten sie ihr eine solche Lüge erzählen und es Wissen nennen können?

Mit jedem klammen Sandkorn, dass an ihren Zehen haften blieb wuchs ihr Unverständnis ob der Ignoranz ihres Volkes.

Sie blieb lange am Strand. Drei Tage, oder vier. Hier war es auch, dass sie ihre Tage von der Dunkelheit ins Licht verlegte.

Sie wusste ja, dass dies die Art der Menschen war. Wenn sie also welche treffen wollte, musste sie wohl mal sehen, dass sie sich anpasste.

Ihr Verlangen die Ilfen von Xan kennen zu lernen schwand zusehends, als sie gemächlich mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch die Wogen watete und sich langsam daran gewöhnte nicht zu schlafen, obwohl das Licht der aufgehenden Sonne schon jetzt gleißend erschien und sie erst recht verführte die Augen nur für einen Moment zu schließen.

Es brauchte noch einige Stunden und einige Runden durch das knöcheltiefe Wasser, bis die Vorteile des Tages sich ihr offenbarten.

Hier am Meer war ein jeder Morgen tausendmal kälter als die Nacht, dichte Nebel trugen die Kälte in jede Zelle ihres Körpers und ließen sie beinahe erstarren. Trotzig setzte sie dennoch einen Fuß vor den anderen, versuchte das Gefühl abzuschütteln. Wenn Menschen das schafften, warum dann keine Ilfe? Der Nebel war gleißend genug, doch nachdem sie sich an ihn gewöhnt hatte stellten auch die ersten wahren Sonnenstrahlen ihres Lebens kein wahres Problem mehr da. Zaghaft bohrte sich das Licht durch den Nebel, verteilte ihn immer weiter, bis er schließlich aufgab und über das Meer hin entfloh. Mit der Sonne kam auch Wärme in ihre Welt und während sie noch immer ihre Runden drehte, um nicht einzufrieren, stellte sie fest, dass sich eine warme Schicht auf ihre Haut gelegt hatte. Ilfen kannten Wärme nur von unten. Erdwärme, die träge den Turm empor kroch. Dies hier war anders. Das war konzentrierte Wärme, viel erfüllender und erstrebenswerter als die dunkle Hitze unten im Turm.

Als Yre damit fertig war diese neuen körperlichen Eindrücke zu erforschen begann sie mit den optischen, der Welt im Licht des Tages.

All die Farben, die so viel heller und leuchtender waren, als unter dem Schleier der Nacht. Selbst der Ascheteppich, der ihr den Blick in den Himmel verwehrte, hatte seine eigenen Farben und Strömungen, goldene Sonnenstrahlen ließen die dicken Wolken von innen erglühen und sachter Wind kreirte kleine Wirbel und ließ gelegentlich Goldstaub von oben herab rieseln.

An diesem Morgen entschied sich Yre, als einzige Ilfe, die je einen Sonnenaufgang erlebt hatte, dass es kein Zurück gab.

Nie wieder würde sie einen Fuß in einen Ilfenturm setzen, ob Xan oder Ygrun, ihren eigenen, nie wieder.

Das Gefühl von Verrat und Vorenthaltung schmeckte bitter, doch die Sonne verwandelte auch diese schlechten Dinge in gute, gab ihr Kraft. Nie wieder, sagte sie sich.



* * * * *


Wir machen eine Reise in ein weit entferntes Land zu einer weit entfernten Zeit. Der Tag, den wir erleben werden, ist von höchster Bedeutsamkeit und eine großartige Person wird hier zum ersten mal sein wahres Gesicht offenbaren und für immer in die Geschichte eingehen als Symbol der Arroganz verlorener Jahrhunderte.



Sechs - Die Wüste und das Feuer.


Das Land des Herrschers Zir Cyron war Sand und Wind. Im Süden des Landes, direkt nördlich von den Obsidianbergen des Südkap gelegen.

Das Volk der Kristallwüste war stolz. Ihr Gang, ihr Ritt und selbst wenn sie nur standen oder saßen strahlte selbst der niederste Bettler eine Zuversicht und Überlegenheit aus, wie kein anderes Volk dieser Welt es vermochte.

Ihre glänzend schwarzen Haare trugen sie meist lang, besonders unter Männern waren kurze Haare ein Zeichen niederen Standes.

Ihr Herrscher Zir Cyron war mit seinen hüftlangen, tiefschwarz glänzenden Haaren und der olivgrünen, blassen Haut der Inbegriff eines Wüstenkönigs und wurde von seinem Volk oft als Sonne am Nachthimmel voller Sterne bezeichnet.

Ein Bild von Macht und Wohlstand. Sein Gesicht glich in seinen Grundzügen dem seiner Leute, scharfe Linien und hohe Wangenknochen verliehen ihm eine majestätische Eleganz. Die gelbgrünen Habichtsaugen blickten wach unter müden Lidern hervor und seine fein definierten Augenbrauen schienen stets angehoben zu sein. Die schmale, hakenförmige Nase war ein Merkmal seiner Familie und gab ihm das zusätzliche bisschen Adel, eine Majestät, wie sie im Buche stand.

Seine Burg saß am Rande seiner Hauptstadt und war wie die gesamte Stadt ganz und gar aus schwarzem Stein erbaut, den das Volk mühsam von den Bergen abgetragen hatte.

Jedes Wohnhaus war ein kleiner Palast für sich und selbst wenn es nur ein Zimmer hatte, das sich eine Großfamilie teilen musste, so wurde trotzdem nicht auf Zinnen und einen eigenen Glockenturm mit der sogenannten Familienglocke verzichtet.

Der Boden im Wohnraum war von bunten Teppichen bedeckt. Seide oder Wolle, je nachdem wie viel sich die Familie leisten konnte.

Türkis fand man allerdings nur im Palast, in der Burg der Cyrons.

Der Himmel über dem weißen Wüstensand war von türkisen Schlieren durchzogen, es war nur gerecht, dass dem Höchsten des Landes die Ehre zuteil wurde sich in den Farben des Himmels zu kleiden.


Es war eine unruhige Zeit.

Im Norden bekriegten sich die Könige, fünf an der Zahl.

Man sprach schon jetzt von der Zeit des Königskampf, denn noch nie waren die Teile des Landes so zerrissen und bis aufs Blut verfeindet gewesen.

Zir Cyron scherte das nicht.

Grad erst hatte er einen jungen Aufrührer aus dem Außenland verbannt, die Könige des Hauptlandes wussten, dass man sich nicht mit ihm anlegte.

Sein Volk war ihm ergeben, absolut.


An diesem Tag fand das Sonnenfest statt. Die Stadt schmückte sich in Gold und Kupfer, rote Banner und Tücher wirbelten umher und Lampions und Girlanden schmückten die pechschwarzen Häuser im weißen Sand.

Irgendjemand aus dem Volk brach immer wieder spontan in Gesang aus und der Rest stimmte ein, die Straßen und Gassen kochten förmlich.

Zimt- und Nelkenaromen stiegen von zahlreichen Kohlebecken auf und verteilten sich über die feiernden Massen, es war ein Fest für die Sinne.

Zir Cyron betrat zur Feier des Tages seinen Balkon am Herrschaftsgebäude inmitten der Stadt und blickte hinab auf sein Volk; die Masse verstummte und lauschte ihrem Herrscher, wie er ihnen mit donnernder Stimme, wie sie nur ein König haben konnte, die Geschichte der Sonne erzählte.

Dies war eine jährliche Tradition und läutete die Feierlichkeiten erst richtig ein.

Unter den Massen war auch Tib, nach Brauch des Landes hatte sein Name nur drei Buchstaben, Frauen gestand man immerhin vier zu.

Tib war niederen Standes, er half einem reichen Gartenbesitzer seine Früchte auf dem Markt zu verkaufen, doch heute arbeitete niemand. Auch morgen würde niemand arbeiten, doch das wusste Tib genau so wenig wie alle um ihn herum.

Er trug heute die gelbe Mütze, die er sich zur Feier des Tages gekauft hatte.

Er hatte lange dafür sparen müssen, umso stolzer hob er den Kopf als Zir Cyron von dem Licht der Sonne sprach, dass sie alle ernährte.

Als ihr Herrscher zu ende gesprochen hatte verteilte sich die Menschenmasse auf all die kleinen Gassen, der Rest des Sonnenfestes würde in gemütlicher Runde begangen werden. Die Tavernen hatten Hochkonjunktur.

Tib machte sich auf den Weg in die kleine Kaschemme in der Nähe seines Hauses, dort warteten schon seine besten Freunde auf ihn.

"Wein!", brüllte er beim Betreten des Innenhofs.

"Gebt mir von dem Goldenen, mir und meinen Freunden!"

Seine Freunde fand er schnell in ihrer Stammecke.

Lot der Hausdiener und Uci der Kerzendreher waren da, der Rest steckte wohl noch in den Gassen oder auf dem Festplatz fest.

Überschwänglich begrüßte er die beiden und griff sich etwas zu essen und den Wein, den die füllige Kellnerin brachte.

Die Mittagssonne brannte heiß auf ihre Köpfe und der Alkohol entfaltete schnell seine Wirkung.

Das allgemeine Johlen hatte seinen Höhepunkt erreicht, als Tib das erste mal auffiel, dass es selbst für die Mittagszeit unglaublich heiß war.

Der Wein kochte bald und der Lehmboden fühlte sich selbst durch seine Sandalen, die Wüstensand gewohnt waren, an wie heiße Kohlen.

Es war auch Tib, dem die Rauchschwaden an den Lampions zuerst auffielen. Die Luft schien zu stehen und flimmerte gleichzeitig, aufgeladen, wie vor einem Jahrhundertgewitter.

Auch den anderen Gästen fiel mittlerweile auf, dass etwas nicht stimmte.

Der Lehmboden, auf dem sie standen, begann zu singen und zu sirren, an einigen Stellen verbreiteten sich Risse, wie überdimensionale Spinnenweben.

Dann brannte die erste Girlande und brennende Stofffetzen wirbelten durch die Luft, entzündeten Lampions, Banner und alles, was sonst noch brennbar war.

In den Weingläsern stiegen immer mehr Bläschen auf, die Oberfläche begann zu blubbern und fast zeitgleich begannen alle Gläser zu bersten, heißer Wein und Glassplitter verteilten sich im Raum.

Dann wurde aus ungläubigem Verharren Panik und alles rannte auf die Straße.

Tib sah Menschen fallen und sah, wie sie aufschrien als ihre Haut den sengend heißen Boden berührte. Andere Menschen rannten panisch über die Gefallenen, weg, nur weg.

Auch Tib rannte. Er hatte Lot hochgezogen, als dieser zu betrunken war um die Situation zu begreifen, doch dann hatte er ihn aus den Augen verloren.

In den Straßen sah er offene Feuer, gesprungene Hauswände und Leichen, über die die Menschen liefen. Verwundete mit fleischig glänzenden Verletzungen lagen im Staub und schrien wie am Spieß, es war unbegreiflich.

Tibs Gehirn versuchte ihm zu sagen, dass dies nur ein Traum sei. Nur ein Traum, nur ein böser Traum. Es war zu grausam, zu surreal um Wirklichkeit sein zu können.

Während er rannte, sein Fuß stieß sich vom Gesicht einer toten, jungen Frau ab, fragte er sich, seit wann er von so wenig Wein schon einschlief.

Sein Weg führte ihn zurück zum Festplatz.

Vor seinem inneren Auge schwebte das Bild seines Herrschers. Zir Cyron, mit seinem türkisen Seidengewand, er würde sie retten. Er hatte die Macht, mehr Macht als alle anderen.

Vom Festplatz aus lief er weiter zum Palast. Von weitem schon sah er Massen von Menschen schreiend um den dampfenden Burggraben versammelt stehen.

Dann sah er die Zugbrücke. Flammen züngelten an dem Konstrukt aus Holz und Eisen, aber das war nicht das Problem. Er sah Zir Cyron in wehendem Türkis auf den Zinnen stehen und die Diener anbrüllen, die die Zugbrücke an den glühenden Eisenrädern hochzogen.

Tib kämpfte sich durch die Menge bis an den Rand des Grabens. In dem trüben Wasser sah er Leichen treiben, krebsrot und mit geplatzten Augäpfeln.

Sein Herr trieb die Dienerschaft weiter an, doch das Getriebe versagte und die Brücke stürzte mit lautem Getöse hinab und brach. Brennende Planken trieben auf der dampfenden Wasseroberfläche.

Tib sah seinen Herrscher und sprang. Er traf die erste Planke und sein Festtagsgewand fing Feuer.

Mit den Armen rudernd hielt er mühsam die Balance, er fühlte, wie seine Haut zu wässern begann.

Mit nichts als wehendem Türkis vor Augen rannte er von Planke zu Planke, unverschämtes Glück ließ ihn bis auf wenige Meter an das Tor herankommen bevor die Lanze ihn traf. Gleichzeitig brach das Holz unter seinen Füßen und er stürzte in die brodelnden Fluten.

Er fühlte für einige Sekunden wie seine Haut begann Blasen zu werfen und sein Fleisch aufschrie, dann ging er unter und kochendes Wasser füllte seine Lungen. Sein Gehirn drohte zu bersten, vielleicht hatte es das auch bereits getan.

Ein letztes mal sah er vor seinem inneren Auge seinen Herrscher, Zir Cyron auf den Zinnen stehen, die Angst und Wut in seinem Blick und das rohe Fleisch an den Händen seiner Diener und mit ihm starb das einzige, an das er je geglaubt hatte. "Feigling.", dachte er.

Und dann fühlte er gar nichts mehr.



Sieben - Ein Fremder allein


Ein namenloser Fremder schritt betont gemächlich durch einen Haufen Ruinen, die einmal eine Stadt an der Ostküste des Landes dargestellt hatten.

In ungewohnt angespannter Manier ließ er den düsteren Blick über Überreste einer Zivilisation streifen, die jeder andere Wanderer fürchtete und mied.

Etwas hatte ihn festgehalten, als er mit so unfassbarer Arroganz aus dem Dorf geworfen wurde, dem er geholfen hatte. Trotz. Er hatte kein Bedürfnis den Dorfleuten zu helfen, sie verdienten, was auf sie zukommen würde. Aber trotzdem bereitete es ihm Probleme tatenlos dabei zuzusehen. Ein Teil von ihm verlangte noch immer nach der Anerkennung, die ihm zustand. Also hatte er gesucht. Ruinen wie diese waren beliebte Orte für Plünderer. Kein anständiger Mensch verirrte sich hierher, zu tief saßen die alten Geschichten noch. Dies war eine kleinere Stadt als die, in der er dem anderen Söldner begegnet war. Das Feuer hatte hier mit weniger Macht gewütet, als in den größeren, die brachiale Gewalt der Flammen hatte trotzdem deutliche Spuren hinterlassen.


Anfangs hatte er sich wieder auf die Suche nach Arbeit begeben, als sei nichts passiert. Sein Stolz hatte ihn dazu gedrängt. Lass dir nichts anmerken, du solltest das gewohnt sein.

Eigentlich gab es genug zu tun, für einen Söldner wie ihn. Die Gruppen wilder Menschen wurden in dieser Region immer dreister und Diebesgruppen verwaister Kinder waren so zahlreich geworden, dass keine Gemeinde sie noch mitleidvoll gewähren lassen konnte.

Selbst für simple Hofarbeit wäre er sich nicht zu schade, doch es lief wie so oft: Man ignorierte ihn.

Es war nicht so, dass sie nicht auf ihn angewiesen wären, doch der unterschwellige Hass auf Söldner als Aasgeier und Ausbeuter saß tief. Niemand war willens das wenige, das sie hatten, einem Fremden zu geben. Noch weniger ihm.

Er hatte schon früh in seinem Leben als freier Mann festgestellt, dass man seinesgleichen nicht traute.

Freiheit war ein gefährliches Ding in einer Welt mit festen Regeln. Sie brachte ihm Unabhängigkeit, fernab aller Sicherheit und Geborgenheit, und der Preis den er zahlte waren das Misstrauen und der versteckte Neid eines jeden, kleinen Menschen.


Früher hatte er mehrmals versucht in südlichere Regionen auszuwandern, wo es den Leuten besser ging und sie eher zu geben bereit waren.

Aber mit dem kleinen Wohlstand kamen die Massen und es war unmöglich ein klein wenig Ruhe zu finden. Für sich, alleine. Also war er wieder geflüchtet.

Er hasste Menschen. Sie waren einfach überall.

Die letzten Tage waren trotz der spärlichen Besiedlung in der Region anstrengend gewesen und gebracht hatten sie ihm nichts, außer einem stechenden Schmerz zwischen den Schläfen und einer großen Unruhe in seinem Inneren.

Diesen verhassten Leuten hinterher zu rennen, sie um Arbeit anzubetteln, das war beinahe schlimmer als von ihnen umzingelt am Grim zu sitzen und auf ein klein wenig Stille zu hoffen.


Hier fand er nichts als ein paar Wilde.

Vielleicht hätte er die Plünderer doch im Inland suchen sollen. In bequemem Abstand zu so vielen Dörfern wie möglich, um jederzeit leichten Zugriff zu haben. Es half nichts. Jetzt war er hier, da konnte er genauso gut Rast machen. Die Sonne stand schon tief in dem Staubdunst der Ebenen im Westen.

Schnell entledigte er sich der Menschenschatten mit wenigen Hieben seines schwarzen Anderthalbhänders. Drei erwischte er, die restlichen fünf flohen keckernd.

Nachdem er das Blut von der Klinge gewischt hatte lehnte er sich schwer seufzend gegen eine der rußbedeckten Steinmauern.

Atmen, einfach weiteratmen.

Der Adrenalinschub des Kampfes war, was er gebraucht hatte. Aber er hatte auch die alte Frustration in ihm wachgerufen, die er in dem seichten Auf und Ab der letzten Tage zu ertränken gesucht hatte. Wem machte er etwas vor? Er würde das Lager nicht finden und im Grunde wollte er das auch nicht. Es war ein Ziel gewesen, auf das er zusteuern konnte. In diesem Augenblick gab er es auf.

Er sehnte sich in frühere Zeiten zurück.

Sein Trümmerhaufen einer Seele hatte es ihm schon damals schwer gemacht, doch die Welt, in die er kam, war leer gewesen. Er erinnerte sich an unendliche Weiten braunen Staubs und daran, dass keine Menschen außer ihm mehr existierten.

Er hatte sich auf Felsen stellen und schreien können so laut er wollte, niemand würde ihn hören außer dem Himmel und der Erde.

Es war sein Paradies gewesen.

Jetzt lehnte er hier gegen das, was einmal die Behausung eines Menschen gewesen war. Menschen mit ihren Beziehungen und Träumen und dummen, kleinen Leben.

Sein Kopf fiel zurück, traf die harte Wand in seinem Rücken und er schloss die Augen.

Sanft lächelnd verfiel er in Phantasien einer leeren Welt, einer toten Welt.


Stille, bleiche Knochen im Staub und alles leblos, weit und breit. Er glitt langsam an der Wand zu Boden und legte erschöpft seine Stirn auf die Knie.

Alles was er jetzt noch sehen musste waren die Sandkörner und Staub und Asche auf dem Boden, eingerahmt von einem Vorhang strähniger dunkler Haare. Er genoss den Mikrokosmos seines eingeschränkten Blickfelds und seufzte noch einmal tief.

In seinem Kopf nur der ein Gedanke: "Ich will nach hause."

Bei dem Gedanken lachte er leise und driftete in einen unruhigen Schlaf ab.

Er träumte von seiner Heimat.


Stunden später wachte er zum Geräusch seiner eigenen Schreie auf.

Orientierungslos presste er sich instinktiv gegen die alte Steinwand und sah sich gehetzt um.

Sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren, seine vor Angst geweiteten Augen sahen nichts. Die Dunkelheit der mittlerweile eingetretenen Nacht ließ nur Schatten.

Schwer atmend verharrte er und wartete darauf, dass die Schrecken des Albtraums nachließen, doch die Bilder waren tief in sein Gedächtnis gebrannt, und nun flammten sie auf, wie eine frische Wunde.

Gib ihm Feuer, Ord...

Der Mann tastete sich am ganzen Körper zitternd an der Wand hoch, kalter Schweiß rann ihm den Hals hinunter.

Schatten, nichts als Schatten. Schatten unbelebter Dinge vor seinen Augen und bloße Schatten der Vergangenheit in seinem Kopf. Er war frei, er war sein eigener Herr.

Ich bin mein eigener Herr.

Diese Worte hatten schon einmal besser geholfen.

Schnaubend trat er gegen die Wand und machte sich daran, ein Feuer zu machen.

Götter, er hasste Feuer. Götter, er hasste die Götter!

Aber ein wenig Licht und Hitze waren ein notwendiges Übel, wenn man kein rohes Fleisch essen wollte.

Seine Vorräte waren schon vor einer Weile versiegt. Er hatte versucht zu fischen, aber er musste sich nach wenigen Stunden eingestehen, dass ihm das Handwerk nicht lag. Geduld war nie seine Stärke gewesen. Er wusste, wo seine Stärke lag.

Die Leichen der drei Wilden, die er getötet hatte, lagen noch immer wenige Schritte von ihm entfernt. Sein Messer war stumpf und sein Schwert wirklich zu lang für solche Arbeiten, er brauchte dringend einen Dolch, entschied er.

Entnervt seufzte er auf, schon wieder Menschen also.

Aber zuerst würde er essen. Vielleicht half es ja ihn zu beruhigen.


Satt und erschöpft gelang es ihm schließlich wieder in einen unruhigen Schlaf hinüber zu gleiten, bevor die Kälte des Morgens seine Raststätte heimsuchte.



Acht - Die Ilfe und ein seltsamer Mensch


Es war ein solcher Morgen voll Nebel und kriechender Kälte, die Sonne hing noch träge in den weißen Schwaden über dem Wasser als Yre auf der anderen Seite ein flackerndes Licht entdeckte, das durch den Dunst drang.

Feuer. Sie hatte schon oft von weitem Feuer gesehen; manchmal brach es plötzlich aus, verschwand aber schnell wieder, wenn es merkte, dass es auf dem trockenen Boden keine Nahrung fand.

Dies hier war ein anderes Feuer, kleiner und lebhafter. Die Ilfen nutzten es nicht, aber Menschen taten das, nicht?

Himmel, würde sie ihren ersten Menschen treffen?

Auf einmal war sie so nervös wie beim ersten Schritt aus dem Tunnel, doch die Neugierde war stärker. Schließlich fasste sie sich ein Herz und ging langsam in die Richtung, in der das Licht flackerte.

Als sie näher kam bemerkte sie Schatten von hohen Gebilden, aber Felsen waren es nicht. Hatte sie eine Menschensiedlung gefunden? Vorsichtig ging sie näher heran und besah sich die Steine genauer. Nein, die waren alt und verkohlt, das meiste eingestürzt. Als sie sich wieder der Lichtquelle zu wandte wäre sie beinahe gestürzt, als ihr Fuß an einem Gegenstand auf dem Boden hängen blieb. Weicher als Stein. Der Nebel hing so dicht zwischen den alten Mauern, dass sie sich hinknien musste um zu erkennen was es war. Als sie verstand wogegen sie da getreten hatte stockte ihr der Atem. Es war die nackte Leiche einer Frau, einer jungen Frau. Ihre Augen waren offen und starr und ihr gesamtes Gesicht hatte eine andere Form als das der Ilfen. Ansonsten sah sie in ihren Grundzügen einer Ilfe recht ähnlich, stellte Yre fasziniert fest. Doch ihr ausgemergelter Körper war bedeckt von Narben und einer Kruste aus Dreck und Blut, das schien Yre seltsam. Die Frau lag da als würde sie schlafen, doch ihre Körperhaltung schien unnatürlich. "Das muss so unbequem sein.", dachte Yre mitleidig und rollte den Körper auf die Seite, so wie sie selbst immer zusammengerollt schlief.

Ihr Großvater hatte einmal gesagt, dass der Tod wie ein ewig andauernder Schlaf sei, aber weil man nichts mehr essen und trinken kann geht der Körper kaputt. Deswegen wirft man ihn weg, so traurig das auch war. Yre hatte nie jemanden sterben sehen, aber das die Person zu ihren Füßen nicht schlief, war ihr klar. Das hier war kein Ilf, der im hohen Alter einschlief, das war eine Frau mit einer klaffenden Wunde auf der Brust.

Irgendetwas war hier geschehen, das war offensichtlich. Vorsichtiger als vorher ging sie wieder dem Feuer entgegen, jeden Fuß leise vor den anderen setzend, um bloß kein Geräusch zu machen und erst recht nicht wieder gegen einen Körper zu treten.

Am Feuer war die Sicht besser, sie wünschte sich es wäre nicht so.

Zwei Körper. Eins war ein nackter Mann, der ebenso ausgemergelt schien wie die Frau vorher. An seiner Kehle klaffte eine blutige Wunde, aber jemand hatte zusätzlich große Stücke Fleisch aus seinem Bein getrennt, es war ein Massaker, wie sie es noch nie gesehen hatte, und es faszinierte sie mehr als sie zugeben mochte.

Die Farbe, die den dreckigen Körper bedeckte war so stark und rein, ein so kräftiges Rot existierte in ihrer Welt nicht. Rotbrauner Staub, ja... aber dieses Rot war von einer Qualität und Leuchtkraft, es nahm ihr den Atem.

Gedankenlos streckte sich ihr Finger nach der Wunde am Hals des Mannes aus und sammelte etwas von dem Rot ein, tupfte es sich auf die Lippen und die Augenlider. Jetzt verstand sie ein wenig, wieso Menschen ihre Spiegelgläser so mochten, sie wünschte, sie könnte sich nun sehen, mit dem Rot. Ein ungewohntes Gefühl.

Die dritte Leiche war noch bekleidet, in Eisen. Ob das wohl einer von den Metallmännern war, von denen ihr immer erzählt wurde? Eisen und seltsamer, dicker Stoff, sie hatte so etwas noch nie gesehen. Es fühlte sich hart und merkwürdig glatt an, wie die Haut unter ihren Füßen, aber anders. Nein, sie fand einfach keinen Vergleich.

Der Mann selbst lag da als würde er schlafen. Die langen, dunklen Haare hingen ihm ins Gesicht und sein Gesicht war ein wenig stoppelig. Ihr Blick fiel auf eine Pfanne neben ihm, aber es war nicht mehr ersichtlich was da einmal drin gewesen sein mochte. Eine Wunde sah sie nicht, vielleicht verdeckte aber auch all das Zeug, dass er an hatte das Blut.

Drei Leichen um ein noch brennendes Feuer herum. Sie kannte das Feuer nur als flüchtiges Ding, die Menschen fütterten es zwar und machten es haltbarer, aber lange konnten die Leute hier noch nicht tot sein. Sie entschied sich lieber zurück zum Strand zu gehen, das erste mal seit sie aus dem Turm geflogen war verstand sie, was Gefahr bedeutete.

Und sie saß ihr im Nacken, mit eiskalten Fingern um ihre Kehle gelegt. Nervös beschleunigte sie ihren Schritt, die Eile hatte ihren Preis und so stieß sie wieder, diesmal noch heftiger, gegen die Frauenleiche und stürzte direkt in eine der alten Steinwände hinein.

"Au!"

Erschrocken hielt sie inne, bewegungslos, und lauschte.

Stille.

Nichts als dicker weißer Nebel. Aber hatte sie nicht etwas gehört, noch während sie im Affekt aufgeschrien hatte?

Das Feuer war wieder nichts als ein gelber Fleck in dickem Weiß.

Dann durchschnitt eine Stimme die Stille. Eine düstere Stimme.

"Wer ist da?"

Mit der Stimme waren auch andere Signale aufgeflammt. Sie hörte seinen Geist. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte sie einen Menschen denken, ungefiltert und chaotisch. Ilfen wussten, wie sie ihre Gedanken zu ordnen hatten, konnten ihre Telepathie gezielt einsetzen. Dieser Mensch hier konnte es nicht. Er schrie ihr regelrecht entgegen, doch sie verstand kein Wort, so durcheinander und verwirrt war alles.

Ansonsten, Stille. Sie wagte kaum zu atmen, die silbrigen Augen weit aufgerissen ins Nichts starrend.

Er kam vom Feuer.

"Bist du aus dem Dorf? Ich weiß, dass du da bist. Antworte!"

Die Stimme hatte etwas an sich, dass sie beinahe hätte gehorchen lassen.

Es gab ein Dorf in der Nähe? Wenn sie überlebte sollte sie da vielleicht einmal hingehen.

Sie hörte, wie sich jemand schwerfällig aufrappelte und dann ein metallisches Reißen.

Ein Schatten im Nebel, er kam auf sie zu.

Ihr Herz raste, doch ihre Hände waren ganz ruhig, als sie sich langsam an der Wand hoch tastete, die Augen gebannt auf den dunklen Umriss geheftet.

"Es waren Wilde, die da liegen. Keine aus deinem Dorf!"

Schritt.