30

Als Juliane am nächsten Morgen aufwachte, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Knie war so stark angeschwollen, dass sie es kaum schaffte, aus dem Zelt zu kriechen. An Weiterfahren war überhaupt nicht zu denken.

Einbeinig hüpfte Juliane zu einem nahegelegenen Gebüsch, um Zweige für ihr Kochfeuer zu sammeln. Der Kaffee, den sie sich kochte, gab ihr zwar neue Frische, aber gegen ihr Beinproblem half er natürlich nicht.

Oh je, was mach ich nur? Jede Stunde ist kostbar! Warum eigentlich? Ich hetze von Dorf zu Dorf und mein armes Bein kriegt einfach nicht genug Ruhe. Aber hätte ich in einem der Dörfer länger bleiben wollen? Nein, auf gar keinen Fall. Und unterwegs ist es auch nicht so toll. Vor allem, wenn der Proviant knapp wird. Letztes Mal ist mir das Essen ja unterwegs ausgegangen und einen Tag länger hätte ich gar nicht durchgehalten. Wie gut, dass Taliga mir soviel mitgegeben hat. Sonst müsste ich jetzt hungern mit meinem kaputten Bein.

Nach dem Frühstück legte Juliane sich wieder ins Zelt, denn sie wusste nichts anderes mit sich anzufangen. Zuerst dachte sie über ihre Situation nach, dann schlief sie wieder ein und träumte ein krauses Wirrwarr ihres Lebens im Schwarm vermischt mit den Erlebnissen in den beiden Dörfern. Als sie wieder erwachte, hatte sie schlechte Laune und ihr Knie war noch mehr geschwollen als am Morgen.

Sie wünschte, sie hätte die vor Ewigkeiten bestellte Wolle zur Hand und könnte die Zeit nutzen, um zu stricken.

Stattdessen verbrachte Juliane den Nachmittag damit, im Kriechgang ein paar Zweige zu sammeln und sich ausgiebig ein Süppchen zu kochen. Beim Kriechen hatte sie ein paar Wildkräuter gesammelt, die ihrer Suppe ein frisches Aroma verliehen. Dieser Kräutergeschmack war der Höhepunkt des eintönigen Tages.

Abends schmierte Juliane ihre mitgebrachte Sportsalbe auf ihr Knie und hoffte, dass diese so gut half, dass sie am nächsten Tag weiterfahren konnte.

Doch am nächsten Morgen tat ihr Knie so weh, dass Juliane nicht mal ihr Zelt verlassen konnte. Sie knabberte lustlos an ihrer Brotration und sehnte sich nach einem heißen Kaffee. Ihre Stimmung verschlechterte sich von Stunde zu Stunde, dabei war ihre Laune schon am Vortag miserabel gewesen.

Wär ich doch bloß im Schwarm geblieben, oder auch bei diesen Esoterikern. Alles ist besser, als hier zu liegen und nicht vorwärts zu kommen.

Zäh wie ein abgelatschter Kaugummi verstrich dieser zweite Tag der Untätigkeit. Zwischendrin nickte Juliane immer wieder ein und träumte weitere wirre Träume. Mit einer besonders dicken Schicht Salbe hoffte Juliane auf eine Besserung am nächsten Tag.

Wieder wurde Juliane am Morgen enttäuscht. Auch diesmal konnte sie kaum das Zelt verlassen. Sie pinkelte keine zwei Meter entfernt vom Zelt, denn weiter schaffte sie es nicht. Dann verfluchte sie sich ein ums andere Mal, dass sie nicht mehr Brennholz gesammelt hatte, als sie sich noch fortbewegen konnte. Ihr Essen teilte sie sich sparsam ein, denn ihre Vorräte wurden allmählich knapp.

Juliane war des Rumliegens so überdrüssig. Zu allem Überfluss war es auch noch kalt geworden und gegen Mittag fing es an zu regnen. Fröstelnd lag Juliane in ihrem Schlafsack und hoffte, dass der Tag schnell vergehen würde.

Dieses blöde Knie ruiniert mich noch. Wieviel Lebensfreude mich dieses elende Knie schon gekostet hat! Zuerst hat mich der Unfall meine Sportlerkarriere gekostet, dabei waren meine Erfolge so vielversprechend. Und als der Arzt dann die Operation verpfuscht hat, konnte ich mir sogar den Sportlehrerberuf abschminken. Am allersauersten bin ich aber auf Theos Vater, der den Pfuscharzt bei Gericht rausgepaukt hat, sodass ich keinen Cent Schmerzensgeld bekommen habe. Mit

Schmerzensgeld hätte ich mir wenigstens eine Wohnung kaufen und mich von den Zinsen ernähren können. Dann säße ich jetzt immer noch gemütlich in der Stadt und könnte meinen Hobbies nachgehen. Oh, wie ich ihn hasse! Und Theo, sein Sohn, ist genau so ein Mistkerl! Welch ein beschissenes Leben! Hier liege ich nun, kann mich nicht rühren und wenn nicht ein Wunder geschieht, werde ich hier verhungern! Oh, wie ich sie alle hasse! Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, mein Leben trotzdem zu meistern. Aber in diesen elenden Zeiten hat ja kaum jemand eine Chance. Nur die reichen Säcke können ein erfülltes Leben führen. Was ist nur aus der Welt geworden?

All ihr Elend brach über Juliane zusammen und sie weinte, bis ihr die Augen zuschwollen. Irgendwann bekam sie vom Schluchzen einen Schluckauf, der sich stundenlang nicht stillen ließ.

Zwischen Schluchzen, Hicksen und Fluchen begann Juliane, ihren Kummer in Töne zu fassen und hinaus zu singen. Das erste Mal in ihrem Leben war sie völlig allein und im weiten Umfeld gab es keinen anderen Menschen, der ihre Laute hören konnte. Wenn zufällig jemand in der Nähe gewesen wäre, hätte er wohl die Flucht ergriffen, weil ihm die heulenden Töne so unheimlich erschienen wären, doch dort wo Juliane in ihrem Zelt hockte, war niemand weit und breit.

Mitten in ihrem Leidensgesang ergriff Juliane ihr gepeinigtes, geschwollenes Knie mit beiden Händen und sang ihm ein Lied des Elends. Sie spürte, wie ihre Hände die Schwingungen des Gesangs in ihr schmerzendes Knie übertrugen. Dadurch schmerzte es noch mehr, aber das fand Juliane angemessen. Nach und nach wandelte sich der Kummergesang in aufmunternde Laute, mit denen Juliane ihrem Knie von Lebendigkeit erzählte. Nachdrücklich vermittelte sie ihrem Gelenk eine Geschichte von tapferen Fahrten durch die Landschaft und das Erreichen von fernen Zielen.

Jetzt bin ich wohl komplett verrückt geworden. Kein Wunder in meiner Situation. Aber es fühlt sich irgendwie gut an, meinem Knie von seiner Heilung vorzusingen, also mach ich einfach noch ein bisschen weiter.

Als es dunkelte, wurde Julianes Kniegesang allmählich leiser und später fiel sie erschöpft auf ihre Isomatte, kuschelte sich in ihren Schlafsack und schlief ein.

Am Morgen wachte Juliane schon beim ersten Sonnenstrahl auf und stellte fest, dass die Schwellung ihres Knies zurückgegangen war. Vorsichtig machte sie sich auf die Suche nach Brennholz und kochte sich einen Kaffee, den sie unendlich genoss. Als die Sonne ihr Zelt getrocknet hatte, packte sie ihre Siebensachen zusammen und nahm ihre Reise wieder auf.

Im Gegensatz zu vorher jagte sich Juliane nicht mehr über die Straßen, sondern hörte ständig auf ihr Bein und passte ihm ihr Reisetempo an. Zur Entspannung machte sie viele Pausen und wenn sie an einen Bach kam, kühlte sie ihre Gelenke mit dem frischen Wasser. Zwischendrin nahm sie immer mal wieder ihr geschundenes Knie in beide Hände und sang ihm ein aufmunterndes Lied. Sie kam sich dabei zwar albern vor, aber irgendwie half es. Gegen Nachmittag fiel ihr ein, dass sie mal einen Bericht gesehen hatte, in dem beschrieben wurde, wie das Schnurren von Katzen die Heilung von Knochenbrüchen förderte. Ob mein Kniegsang wohl so ähnlich wirkt? Egal was da wirkt, Hauptsache es funktioniert, auch wenn es lächerlich scheinen mag.

Drei Tagesreisen weiter hatte sich Julianes Knie soweit gefangen, dass sie kurze Strecken in voller Fahrt zurücklegen konnte. Jauchzend genoss sie den Fahrtwind. Am letzten Tag hatte ihre Suppe zwar hauptsächlich aus den Kräutern bestanden, die sie unterwegs gefunden hatte und der letzte Brotkanten war auch schon längst aufgegessen, aber Juliane fühlte sich so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

Außerdem war ihr klar, dass sie sich dem Dorf näherte, wo die Menschen noch arbeiteten für ihren Lebensunterhalt und auf Maschinen verzichteten. Die Hoffnung auf dieses Dorf gab ihr immer wieder neue Kraft, bis sie es endlich am Horizont auftauchen sah.

Auf den Feldern vor dem Dorf sah Juliane Kolonnen von Arbeitern, die mit Hacken den Boden bearbeiteten. Sie rief den Leuten einen Gruß zu, der von allen freundlich erwidert wurde.

Als Juliane das Dorf erreichte, sah sie Menschen, die auf den Hausdächern rumkletterten und die Dachziegel erneuerten. An anderer Stelle wurde ein Haus frisch gestrichen. Auch hier wurde ihr Gruß freundlich erwidert. Ein Reiter preschte eilig an ihr vorbei und ließ dabei seine Peitsche knallen. Eh sich Juliane versah, hatte der Reiter das Dorf schon verlassen und befand sich auf dem Weg auf die Felder.

Wie in den anderen Dörfern sah Juliane niemanden untätig auf den Wegen des Dorfes. Sie fuhr wie gewohnt in die Dorfmitte und sah sich nach einem gemeinschaftlichen Speiseraum oder einem Wirtshaus um. Auch in diesem Dorf wurde sie schnell fündig und stellte ihr Fahrrad vor dem Speisehaus ab.

Diesmal fand Juliane schneller den Mut zu klopfen und einzutreten.

"Hallo, ist dort jemand?" rief sie in einen Raum mit vielen Tischen, der hier, wie bei den Esoterikern, sehr aufgeräumt wirkte.

Eine freundlich wirkende Frau mittleren Alters begrüßte Juliane und forderte sie auf, ihr Gepäck abzulegen.

"Du kommst gerade richtig, denn ich kann dringend Hilfe in der Küche gebrauchen."

31

"Komm nur rein. Du kannst beim Zwiebelschneiden helfen. Ich bin übrigens Sabina."

"Und ich bin Juliane. Gerne helfe ich bei den Zwiebeln."

"Gut, dann setz dich zu den anderen. Hier hast du ein Messer und ein Brettchen. Beeilt euch, Kinder! Ihr hinkt heute gewaltig hinterher."

Juliane setzte sich an einen Tisch, an dem schon ein knappes Dutzend andere Frauen Gemüse schnitten. Sie blickten kurz auf, als Juliane sich zu ihnen gesellte, doch dann wandten sie sich wortlos wieder ihren Messern zu. Nur eine hauchte "Hallo".

Ans Zwiebelschneiden war Juliane schon vom Schwarm gewohnt, daher ging ihr die Arbeit leicht von der Hand. Der Zwiebelberg vor ihrer Nase wurde zusehens kleiner.

"Kinder schaut mal her! Nehmt euch mal ein Beispiel an der Neuen! Seht ihr, wie fleissig sie ist? Sie hat schon mehr geschafft als die meisten von euch, dabei hat sie später angefangen. Also hopp, hopp, ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf."

Alle Blicke richteten sich auf Juliane. Die meisten der Blicke wirkten unfreundlich, wenn nicht gar feindlich. Juliane lief rot an und fühlte sich miserabel. Mit ihrem Eifer hatte sie den anderen nicht schaden wollen. Vor lauter Aufregung zitterten ihre Hände und sie schnitt sich in den Finger. Glücklicherweise war der Schnitt nicht tief, aber der Zwiebelsaft brannte in der Wunde.

"Lass dich nicht ärgern", flüsterte die Frau, die vorhin "Hallo" gesagt hatte.

Prompt stand Sabina hinter ihr und schlug ihr auf den Hinterkopf. Es war nur ein kurzer Stüber, aber Juliane war entsetzt. Wortlos schnitten sie und die geschlagene Frau weiter an ihren Zwiebeln.

Wo bin ich denn hier gelandet? Dabei machte bisher alles so einen positiven Eindruck. Na ja, warten wir erstmal ab, wie es weitergeht. Aber irgendetwas stimmt hier nicht.

Nach dem Gemüseschneiden wurden die anderen Frauen an die Töpfe und Pfannen geschickt, einige mussten auch Brot schneiden oder Messer spülen. Sabina kam mit einem honigsüßen Lächeln auf Juliane zu und fragte: "Möchtest du gerne die Tische decken?"

"Ja, gerne."

"Gut, das Goldrandgeschirr hier kommt an den Tisch des Meisters. Das ist der Tisch, der erhöht steht. Decke dort für fünf Personen. Zwanzig Gedecke mit dem normalen Geschirr kommen an den Tisch, der quer vor dem Meistertisch steht, für die Ritter. Die anderen Teller stelle bitte als Stapel an den schmalen Tisch an der Wand. Dort ist die Essensausgabe für alle anderen."

"Alles klar!"

Vorsichtig balancierte Juliane das dünnwandige Geschirr mit dem goldenen Rand an den Tisch der erhöht in einer Nische des Speiseraums stand. Hoffentlich mache ich nichts kaputt. Sonst werde ich bestimmt einen Kopf kürzer gemacht. Sie hatte Glück und alle Teller blieben heile, obwohl ihr vor lauter Unsicherheit schon wieder die Hände zitterten. Dann deckte sie den Tisch für die Ritter und stellte am Schluss hohe Tellerstapel auf den Anrichtetisch. Eine andere Frau verteilte Würzsoßen auf alle Tische.

Als das Essen fertig war, trugen jeweils zwei Frauen die schweren Töpfe auf den Anrichtetisch. Sabina schlug auf einen Gong. Sofort strömten scharenweise Menschen in den Speisesaal und reihten sich geduldig beim Anrichtetisch auf. Mehrere Frauen aus der Küche füllten die hingehaltenen Teller, woraufhin sich die Leute mit den gefüllten Tellern an die Tische verteilten. Aber keiner begann zu essen. Als der letzte Hungrige in der Schlange mit seinem Teller einen Platz am Tisch gefunden hatte, schlug Sabina den Gong ein zweites Mal.

Eine Gruppe kräftig gebaute Recken betrat den Saal und stellte sich in zwei Reihen vor dem Eingang auf, sodass sich ein Gang bildete. Nachdem alle in Reih und Glied standen, öffnete einer von ihnen feierlich die Tür und machte Platz für einen untersetzten Mann mittleren Alters, der durch seine roten Wangen auffiel. Ansonsten erinnerte er Juliane an einen typischen Sachbearbeiter in einer Behörde. Hinter ihm kam eine Frau mittleren Alters mit sorgenvollem Gesicht, dann eine deutlich jüngere Frau mit blonden Locken und zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen im Grundschulalter.

Die Meister-Familie nahm am Meistertisch Platz, dann setzten sich die Krieger an den Rittertisch. Zwei der Frauen aus der Küche erschienen mit Rüschenhäubchen und weißer Schürze und servierten das Essen an den Meistertisch. Sabina brachte eine zusätzliche Platte mit gebratenem Fleisch für den Meister. Dann wurden auch auf den Rittertisch Schüsseln und Platten gestellt.

Immer noch aß niemand.

Als alle Tische mit Essen versorgt waren, stand der Meister auf und deklamierte mit Fistelstimme: "Lange währt, wer die Hände tüchtig rührt. Einen gesegneten Appetit!"

Alle anderen standen auf und antworteten: "Einen gesegneten Appetit, oh Meister!"

Erst dann begann die eigentliche Mahlzeit. Gierig verschlang das gemeine Fußvolk das Essen auf ihren Tellern. Auch die Ritter legten einen guten Appetit an den Tag. Oben am Meistertisch nölte das Mädchen, dass ihr das Essen nicht schmeckte. Daraufhin eilte Sabina herbei und brachte dem Mädchen einen Teller voll Kuchen, der huldvoll entgegengenommen wurde. Außer Gesprächen am Meistertisch fiel im ganzen Saal kein Wort.

Juliane war so sehr damit beschäftigt, die skurrilen Vorgänge zu betrachten, dass sie ihren Eintopf kalt werden ließ. Ihre Tischnachbarin stieß sie unauffällig an und deutete auf Julianes Teller. Da erinnerte sich Juliane an ihren Hunger und aß mehrere Löffel voll. Der Eintopf war einfach aber wohlschmeckend. Dennoch behielt sie das Geschehen im Saal im Auge. So entging ihr nicht, dass Sabina dem Meister etwas ins Ohr flüsterte.

Daraufhin stand der Meister auf und rief in die Menge: "Wir haben ein neues Dorfmitglied. Sei uns willkommen, Juliane! Komm bitte her, damit ich dich begrüßen kann!"

Juliane stand auf und ging zum Meistertisch. Ihr war nicht wohl bei der Sache. Der Meister betrachtete sie mehrmals von oben bis unten, dann kniff er sie vertraulich in die Hüfte und sagte: "Morgen abend werde ich dir eine Privataudienz gewähren. Du kannst jetzt gehen."

Bevor Juliane sich umdrehte, um wieder zurück zum Tisch zu gehen, sah sie, wie die Blondine, die am Meistertisch saß, ihr einen hasserfüllten Blick zu warf. Juliane beeilte sich umso mehr, wieder in die relativie Anonymität ihres Tischplatzes zu flüchten.

Was war denn jetzt das? Eine Privataudienz? Bei diesem schleimigen Typ. Wie der mich angesehen hat. Und warum hat er mich als Dorfmitglied und nicht als Gast begrüßt? Ich suche zwar ein Zuhause, aber doch nicht so plötzlich. Und was hat es mit der Blondine auf sich? Schade, dass die hier alle so schweigsam sind. Ich hätte tausend Fragen.

Nach dem Essen wurde Juliane zum Tischabräumen eingeteilt. Anschließend musste sie zusammen mit einer anderen Frau mehrere Töpfe mit verdünntem Eintopf in den Kinder-Speisesaal tragen. Dort saßen haufenweise Kinder still und brav nach Altergruppen geordnet an den Tischen. Jeder Tisch wurde von einer Erwachsenen dominiert, die am Kopfende saß und strenge Blicke auf ihre Schützlinge warf.

Der Eintopf wurde in Blechschüsseln gefüllt und auf die Tische gestellt. Die Aufseherin am Tisch der Ältesten stand schließlich auf und deklamierte den gleichen Spruch wie der Meister bei den Erwachsenen. Die Kinder antworteten rituell und dann begann die Mahlzeit - wortlos. Juliane war froh als sie wieder zurück in der Küche war und dort beim Abspülen helfen durfte. Dieses Dorf der fleißigen Arbeiter wurde ihr zunehmend unheimlich.

Als der Abwasch erledigt war und die Küche vor Sauberkeit blitzte, war es schon lange dunkel und zu spät, das Dorf noch zu verlassen. Also war Juliane ganz froh, dass ihr ein Schlafplatz im Gemeinschaftsschlafraum der unverheirateten Frauen angeboten wurde. Sie suchte nach ihrem Rucksack, musste sich aber mit der Anwort zufrieden geben, dass sie ihn momentan nicht brauchen würde.

Zum Schlafen erhielt Juliane ein Nachthemd, das denen der anderen aufs Haar glich. Zum Zudecken gab es eine kratzige Wolldecke, sodass sich Juliane nach ihrem Schlafsack sehnte. Morgen werde ich Sabina fragen, wo mein Gepäck ist. Diesen verschüchterten Frauen ist ja kein vernünftiges Wort zu entlocken. Von der anstrengenden Reise und der anschließenden Arbeit war Juliane so müde, dass sie trotz Sorgen einschlief, kaum dass sie die dünne Matratze berührte.

Am Morgen wurde Juliane zusammen mit den anderen Frauen durch lautes Klingeln geweckt. Nach einer kalten Dusche, der sich alle Frauen unterziehen mussten, landete Juliane blitzschnell wieder in der Küche, um beim Frühstückmachen zu helfen. Erst nach dem Frühstück bot sich eine Gelegenheit mit Sabina zu sprechen.

"Ich glaube, ich passe nicht in eure Gruppe, daher will ich weiterziehen. Wo ist denn mein Gepäck?"

"Weiterziehen? Du bist ja ein naives Liebchen! Hier kommst du so schnell nicht wieder raus. Bis zur Vorbereitung des Mittagessens habt ihr zwei Stunden Felddienst. Also spute dich, damit du den Anschluss nicht verpasst."

"Aber wo sind meine Sachen? Und mein Fahrrad?"

"Die wurden inventarisiert. Mach dir keine Sorgen um diese Dinge. Sie werden Würdigeren zugeführt. Ab an die Arbeit!"

32

Würdigeren zugeführt? Ich glaub, ich spinne! Die haben meine Ausrüstung geklaut! Und jetzt sperren sie mich hier zur Zwangsarbeit ein. Dagegen waren die anderen beiden Dörfer ja die reinsten Paradiese. Und sogar der Schwarm war besser. Viel besser! Was mach ich bloß, um hier wieder weg zu kommen?

Eine der anderen Frauen zog Juliane am Ärmel, damit sie ihnen zur Feldarbeit folgte. Widerstandslos ging Juliane mit aufs Feld, denn bisher hatte sie keinen Plan und wollte nicht als Rebellin auffallen. Jede erhielt am Feldrand eine Hacke von einem Aufseher und musste dann die gepflanzten Reihen von Unkraut befreien. Juliane fühlte sich scharf beobachtet, daher hoffte sie nicht auf eine Möglichkeit zur Flucht. Dabei befand sich das Feld in der Nähe eines Wäldchens, das sehr einladend aussah. Juliane sorgte dafür, dass sie möglichst nahe am Wald ihrer Arbeit nachgehen konnte und behielt den Aufseher im Auge wie dieser sie.

Ob ich ohne Ausrüstung überhaupt eine Chance habe? Irgendeine andere Ansiedlung wird es bestimmt in der Nähe geben. Zur Not gehe ich zu einem der vollautomatischen Bauern betteln. Oder ich raube Radieschen vom Feld, wenn ich welche finde. Und wenn ich nachts erfriere, so ganz ohne Schlafsack und Zelt? Dann wird eben nicht geschlafen. Ich muss sowieso soviel Entfernung wie möglich zwischen mich und dieses Kerkerdorf bringen. Und wenn ich auf einem Bein davonhüpfen muss. Hauptsache weg!

Der Aufseher war ein schmieriger Typ und als eine junge Frau mit ihrer Arbeit bei ihm vorbeikam, griff er nach ihr und knutschte sie ab. Juliane wollte gerade losrennen, um zu entkommen, da hörte der Aufseher mit dem Knutschen auf und schubste die Frau zurück an die Arbeit. So wiederholte sich das mehrmals. Bei jeder passenden Gelegenheit griff sich der Aufseher eine Frau und küsste sie. Doch das dauerte jedes Mal zu kurz, um Juliane eine Gelegenheit zur Flucht zu geben.

"Was glotzt du immer so blöd?"

Plötzlich stand der Aufseher vor Juliane und schaute sie herausfordernd an. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er sich ihr genähert hatte, weil sie sich auf die Feldreihe zu ihren Füßen konzentriert hatte.

"Du bist wohl neidisch und willst auch belohnt werden? Hä?"

Der Mann stank aus dem Mund als hätte er sich seit Jahren nicht die Zähne geputzt. Vor lauter Schreck fiel Juliane nichts anderes ein als den Kopf zu schütteln.

"Ah ja, ich seh schon, du bist ganz verrückt nach mir."

Prompt drückte sich der Aufseher an Juliane und steckte seine Zunge tief in ihren Mund. Sie bekam kaum noch Luft. Am liebsten hätte sie geschrien, aber der Mann verschloss ihren Mund mit seinem, sodass Schreien nicht möglich war.

Mit einem letzten Funken von Geistesgegenwart schnellte sie ihr Knie zwischen seine Beine, sodass der Mann von ihr abließ und nun seinerseits schrie und röchelte. Er brach auf dem Boden zusammen und krampfte seine Hände an die verletzte Stelle.

Juliane nutzte die Gelegenheit und rannte davon so schnell sie konnte. Sie hatte den Wald schon erreicht als die anderen Frauen aus ihrer Schreckstarre erwachten und begriffen, was geschehen war. Einige machten einen halbherzigen Versuch Juliane zu folgen, doch am Waldrand stoppten sie. Der Aufseher wälzte sich immer noch am Boden als Juliane den letzten Blick zurück warf. Dann schaute sie nur noch nach vorne, denn sie musste sich konzentrieren, um all den Ästen ausweichen zu können.

Immer tiefer geriet Juliane in den Wald, der größer war als erwartet. Bald konnte sie den Waldrand nicht mehr durchscheinen sehen. Von allen Seiten war sie vom Wald umgeben. Die Zweige schlugen ihr beim Rennen schmerzhaft ins Gesicht, doch sie rannte weiter und weiter - Hauptsache weit weg von dem Dorf. Nach einer Weile kam sie an einen breiten Waldweg, der bequemer aussah als ihr bisheriger Weg durchs Gestrüpp, doch Juliane wollte es eventuellen Verfolgern nicht zu einfach machen und blieb lieber auf unwegsamen Pfaden.

Ab und zu blitzte die Sonne durch die Baumkronen. Daran versuchte Juliane sich zu orientieren, um nicht im Kreis zu rennen. Schon bald begann ihr Knie zu schmerzen, doch sie biss die Zähne zusammen und lief weiter. Als sie an einen Bachlauf kam, hielt sie kurz an und tränkte ihr Hosenbein auf Kniehöhe mit dem kalten Wasser, denn Kälte half oft die Schmerzen zu vertreiben. Der Schmerz ließ auch gleich etwas nach. Weil sie nicht wusste, wann sie wieder auf Wasser stoßen würde, trank Juliane soviel Wasser, wie ihr Magen fasste, ohne sie beim Laufen zu sehr zu behindern. Dann rannte sie weiter.

Sie lief und lief durch den endlos scheinenden Wald. Ob sie mich überhaupt verfolgen? Wäre ja eigentlich unsinnig, denn bis gestern sind sie ja auch gut ohne mich ausgekommen. Und meine Sachen haben sie sich ja schon angeeignet. Wahrscheinlich ist es dumm, wenn ich mir die Lunge aus dem Leib renne. Ich mach lieber mal wieder langsamer. Dann schaffe ich insgesamt bestimmt eine größere Strecke.

Kaum verzögerte Juliane ihr Tempo, spürte sie ihr Knie erheblich stärker als beim Rennen.

Langsamer gehen ist aber bestimmt trotzdem besser fürs Bein, selbst wenn ich es jetzt als schmerzhafter empfinde. Den Galopp hätte ich sowieso nicht mehr lange durchgehalten.

Nach endlos scheinender Zeit lichtete sich der Wald vor ihren Augen und innerhalb weniger Minuten hatte sie den Waldrand erreicht. Vor ihr lag ein riesiges Feld. Ein Weg war nicht zu erkennen, darum begann Juliane, querfeldein zu gehen.

Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und brannte Juliane unbarmherzig auf den Kopf. Ganze Ewigkeiten wanderte sie über das Feld. Ob ich überhaupt in eine sinnvolle Richtung gehe? Vielleicht liegt links oder rechts von mir die Rettung und ich marschiere gerade daran vorbei. Zu sehen ist im weiten Umkreis nichts außer ein paar weiteren Wäldern. Was solls? Bis zum Dunkelwerden marschiere ich immer weiter weg von dem bösen Dorf und morgen überlege ich dann, welchen Zielen ich mich zuwenden könnte.

"Da ist sie! Hossa!"

Von weitem hörte Juliane einen Mann rufen. Sie schaute in die Richtung aus der die Rufe kamen und sah zwei berittene Männer, die sich ihr schnell näherten.

Juliane rannte los, direkt zum nächstgelegenen Wald. Wenn ich den Wald vor den Reitern erreiche, kann ich sie vielleicht abschütteln. Durch das Unterholz können sie nicht reiten. Dann bin ich im Vorteil. Sie rannte, so schnell sie konnte. Lange war sie nicht so schnell gerannt. Obwohl die Luft in ihrer Lunge schon brannte und ihr Knie höllisch weh tat, beschleunigte sie noch mal, angefeuert durch die Rufe der Männer, die an der Jagd anscheinend Vergnügen hatten.

Im letzten Moment erreichte Juliane den Wald. Beim Weiterrennen lauschte sie, ob die Verfolger hinter ihr herkamen und war erleichtert als sie zornige Rufe hörte, die sich jedoch schnell von ihr entfernten. Ob sie die Verfolgung aufgegeben haben? Bestimmt nicht, aber schön wärs. Wie könnte ich ihnen nur entkommen? Bis mir was einfällt, laufe ich am besten einfach weiter.

Weil die Reiter ihr nicht mehr auf den Fersen waren, verlangsamte Juliane ihre Gangart wieder und achtete darauf, dass ihr möglichst wenig Zweige ins Gesicht schlugen. Das Dickicht dieses Waldes war dichter als im vorherigen Wald und Juliane musste manchmal regelrecht durch das Unterholz klettern, um weiter zu kommen.

Schließlich kam sie an einen breiten Waldweg. Sie ahnte, dass ihr dieser Weg gefährlich werden konnte, denn er war breit genug für Pferde. Daher spähte sie vorsichtig aus dem Gebüsch, um sicher zu gehen, dass dort kein Reiter auf sie wartete.

Sie sah niemanden, daher querte sie zügig die Waldstraße und verschwand wieder im Unterholz. Erleichtert nahm sie wieder Tempo auf. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass gleich nach dem einen Waldweg ein weiterer folgte und stolperte unversehens aus dem Dickicht, ihren Häschern direkt in die Arme.

"Ha, da haben wir es ja das Früchtchen. Ich bin Erster, denn ich habe sie erwischt."

"Na gut, aber beeil dich, ich will auch mal."

Juliane schrie und strampelte im Griff des Ritters, doch dieser war um Klassen stärker als sie. Juliane hatte keine Chance, sich seinem Griff zu entwinden.

Sie versuchte den Trick mit dem Knie, der ihr die Flucht ermöglicht hatte, doch der Ritter war auf solche Attacken gefasst und hielt Juliane so, dass ihre Knie ins Leere trafen.

Auch Beißen hatte keinen Erfolg außer dass der Mann fluchte, als Juliane ihn in den Arm biss. Umso grober riss er an ihrer Hose, die sich seinen Bemühungen tapfer widersetzte.

Ein Schnitt des anderen Ritters in den Stoff schwächte jedoch die Widerstandskraft der Hose und so konnte Julianes Häscher sie ihr ohne weitere Probleme vom Leib reißen.

Der Ritter warf Juliane grob auf den Boden und zwang keuchend ihre Beine auseinander. Juliane zappelte und wehrte sich mit all ihrer Kraft, doch der Ritter schlug sie brutal ins Gesicht, sodass ihre Abwehr für einen Moment nachließ. Der Ritter machte sich bereit, in Juliane einzudringen.

"Stop!"

Der Vergewaltiger blickte sich irritiert um, da sprang ein Fuß in sein Gesicht, sodass er taumelte. Sein Kollege kam ihm zu Hilfe und warf sich auf den Mann, der zu dem Fuß gehörte.

Doch blitzschnell landete eine Faust in seinem Gesicht, was ihn zurückweichen ließ.

Juliane konnte von ihrem Platz am Boden kaum erkennen, wie der Kampf weiterging. Sie sah nur, wie ein menschlicher Wirbelwind den beiden kräftigen Rittern so sehr zusetzte, dass sie nach wenigen Minuten am Boden lagen und sich nicht mehr rührten.

Nachdem die Ritter kampfunfähig waren, drehte sich Julianes Retter zu ihr um und fragte: "Bist du unverletzt? Kannst du aufstehen?"

In diesem Moment erkannte Juliane den kämpfenden Wirbelwind.

"Thomas, bist du es Thomas?"

33

"Ja, ich bin es", antwortete Thomas.

Juliane rappelte sich auf und ließ sich von Thomas aufhelfen. Spontan fiel sie ihm in die Arme und kuschelte sich an ihn. Sie zitterte am ganzen Körper. Thomas legte schützend den Arm um sie.

"Aber wie kommst du hier her und ausgerechnet jetzt?"

"Wie mir scheint, bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen."

"Stimmt! Ein paar Sekunden später und ich wäre um eine schreckliche Erfahrung reicher gewesen. Aber du hast dich ja richtig in Gefahr gebracht als du die beiden Hünen angegriffen hast." "Nicht wirklich. Schau, dort ist unser Wagen und dort kannst du meinen Kumpel Markus mit seinem Gewehr sehen. Wenn ich es nicht geschafft hätte, die beiden lahm zu legen, hätte er eingegriffen. Lass uns gehen, denn lange schlafen die beiden Holzköppe bestimmt nicht."

Thomas führte Juliane zu dem Geländewagen und grüßte seinen Freund mit einem Schlag auf die erhobene Hand. Als vorübergehenden Ersatz für ihre Hose bot er Juliane eine Decke an, in die sie sich dankbar hüllte. Dann half er ihr auf den Rücksitz und setzte sich neben Juliane. Markus nahm hinterm Steuer Platz und fuhr los.

"Jetzt will ich aber wissen, wie du mich hier gefunden hast", sagte Juliane als sie es sich im Auto bequem gemacht hatte und sich in Thomas Armen geborgen fühlte.

"Das ist eine lange Geschichte. Das Ende ist jedoch kurz und schnell erzählt. Als wir feststellten, dass dein Minicomputer von jemand anders benutzt wurde und du dich im Lauftempo von ihm entferntest, wie deine ID anzeigte, ahnte ich, dass du in Gefahr warst. Da meine Leute sowieso schon neugierig auf dich waren und dich eigentlich längst bei uns im Dorf erwartet hatten, ließ sich Markus schnell überzeugen, nach dir zu suchen. Und dann kamen wir glücklicherweise gerade in letzter Sekunde."

"Unser Dorf? Meine Leute? Tausend Fragen auf einmal drängen sich in mein Hirn. Aber zuallererst: Hast du was zu trinken zur Hand?"

"Oh, na klar! Verzeih, dass ich dir nicht schon vorher etwas angeboten habe. Deine Kehle ist bestimmt ganz ausgedörrt vom langen Rennen. Hier nimm! Leider konnten wir dich vorher nicht erreichen, weil wir soweit weg leben."

"Danke! Das tut gut. Und jetzt würde ich gerne zu meinen tausend Fragen kommen. Zuletzt habe ich dich in deiner kleinen Kanzlei in der Stadt gesehen. Da war keine Rede von deinen Leuten."

"Ich seh schon, du willst alles von vorne wissen. Wusstest du eigentlich, dass du wunderschön aussiehst, wenn du so zerzauselt bist? Am liebsten würde ich dich küssen."

"Dann tu es doch!"

Thomas nahm Juliane beim Wort und beugte sich zu ihr rüber, um ihr einen langen Kuss zu geben.

Oh, wie süß er schmeckt. Hoffentlich dauert dieser Traum noch eine Weile an. Es ist einfach herrlich! Thomas küsst wie ein junger Gott.

Nach langer Zeit lösten sie sich widerstrebend voneinander.

"Kneif mich!" forderte Juliane Thomas auf.

Thomas kniff sie und schmunzelte: "Du glaubst wohl, dass du träumst. Keine Sorge, du bist wach und dies ist Realtität."

"Sehr gut, ich wage es kaum zu glauben. Doch jetzt erzähl! Wir waren bei deiner Kanzlei in der Stadt stehengeblieben."

"Kurz nachdem ich dich aus den Augen verlor, meldete sich ein neuer Mandant bei mir, der meine Unterstützung in einem kleineren Verfahren brauchte. Der Mandant hatte mich gewählt, weil er mich aus einem Computerspiel kannte, das ich in meiner Freizeit gerne spielte."

"War das etwa World 3000?"

"Ganz genau. Das gleiche Spiel, das du auch gerne spielst, wie ich weiß."

"Und wie hat das funktioniert, dass dein Mandant dich über das Spiel kennengelernt hat?"

"Er gehört zum Entwicklerteam dieses Spiels. Durch ein Hintertürchen beobachten die Entwickler die Spieler und picken sich manche raus, die ihnen gefallen. Auch du hast ihnen gefallen und sie wollten dich zu ihrem Dorf lotsen, aber irgendwie bist du ihnen immer wieder entwischt, wahrscheinlich ohne es zu ahnen."

"Wie jetzt? Das geht mir zu schnell. Also dein Mandant war ein Programmierer, der World 3000 programmiert hat?"

"Ganz genau."

"Aber ich dachte, das Spiel wird vom Staat finanziert, damit die Erwerbslosen beschäftigt sind."

"So ist es auch, aber es wird von einem freien Team entwickelt. Der Staat bezahlt sie nur dafür und davon leben die Entwickler und bauen ihr Dorf auf."

"Ihr Dorf? Das heisst, die Programmierer von World 3000 leben in einem Dorfprojekt." "Ja, genau so ein Dorf wie du es gesucht hast. Mit Landwirtschaft und allen Schikanen."

"Aber warum hat mir das keiner verraten, wenn ich in World 3000 war?"

"Als ihnen klar wurde, dass du den Schwarm verlassen hast, hat der Dorfmagier immer wieder versucht, dich in ein Gespräch zu verwickeln, aber du hattest es jedes Mal zu eilig."

"Du meinst, wenn ich mit Merlus ein Schwätzchen gehalten hätte, statt mein Fahrrad zu traktieren, dann wäre mir der ganze Kummer mit den schrecklichen Dörfern erspart geblieben."

"Ja, so ist es. Aber jetzt haben wir dich ja gefunden."

"Oh, was war ich doch für eine dumme Kuh. Dass Merlus mit mir schwätzen wollte, habe ich durchaus gemerkt, aber ich hielt ihn doch für eine Spielfigur."

"Meistens ist er auch eine Spielfigur, die nach Programm agiert. Aber wenn er will, kann der Programmierer von Merlus in dessen Haut schlüpfen, was er in deinem Fall mehrmals getan hat."

"Oh nein, wie blöd ich doch bin."

Trostsuchend kuschelte sich Juliane noch enger an Thomas an und gab ihm einen weiteren Kuss. Am liebsten hätte sie endlos so weiter geküsst, doch dann siegte die Neugier und sie löste sich wieder von ihm.

"Du hattest einen der Programmierer also als Kunden und dann bist du zu denen ins Dorf gezogen?"

"Ja, so könnte man das zusammenfassen. Sie konnten mich und meine Fähigkeiten gebrauchen und das Landleben hat mich gereizt."

"Und wie ist dieses Dorf so? Ich habe da inzwischen so einiges erlebt, was mich vorsichtig sein lässt. Aber wenn es dir dort gefällt, kann es eigentlich gar nicht so schlecht sein."

"Mir gefällt es in der Tat sehr gut. Alle dort haben ihre Aufgaben, die sie sich selbst gewählt haben. Manche arbeiten, wie schon erwähnt, mit Computern und andere betreiben Landwirtschaft. Teilweise ganz bodenständig mit mittelalterlichen Methoden. Für andere Aufgaben setzen wir jedoch hochmoderne Automaten ein. Ganz nach Bedarf."

"Und sind die irgendwie religiös dort in dem Dorf?"

"Du denkst bestimmt an die Esoteriker-Kommune, in der du kurz warst? Nein, keine Sorge, so sind wir nicht. Jeder ist religiös nach seiner Fasson. Es gibt zwar auch welche, die täglich Bachblüten nehmen, aber keiner wird zu irgendeiner Weltanschauung gezwungen. Es gibt eigentlich nur eine feste Regel."

"Und die wäre?"

"Jeder soll sich eine erfüllende Aufgabe suchen und diese zuverlässig ausführen."

"Das klingt gut. Genau danach habe ich ja auch gesucht, denn ich wollte eine erfüllende Aufgabe haben. Ob ich dort wohl eine finde?"

"Bestimmt! Du musst auch nicht ewig bei der gleichen Aufgabe bleiben. Du solltest nur niemand hängenlassen, wenn du dich zu etwas verpflichtet hast. Diese Verpflichtung dient nämlich der seelischen Gesundheit jedes Einzelnen."

"Das leuchtet mir ein, denn diese seelische Gesundheit hat mir gefehlt, weil ich mich so überflüssig fühlte."

"Siehst du, genau deshalb nehmen wir unsere Aufgaben ernst. Ob du wohl in der Brauerei landen wirst oder in der Molkerei?"

"Oh, du weisst, was ich in World 3000 getrieben habe?"

"Ja, ich konnte mir nicht verkneifen, Merlus auszuquetschen, als ich erfuhr, dass du bei ihnen auf der Kandidatenliste standst."

"Du Schelm!"

Juliane gab Thomas einen weiteren Kuss. Diesmal ließ sie sich mehr Zeit, denn ihre wichtigsten Fragen waren geklärt.

"He, ihr Turteltäubchen dahinten! Wir sind gleich da."

"Sehr gut! Juliane will bestimmt auch duschen, sich frisch anziehen und etwas essen, oder nicht Süße?"

"Doch, sehr gerne. Wenn du mir zeigst, wo ich das alles tun kann." "Aber immer doch. Duschen kannst du erst mal bei mir und ein paar Klamotten kann ich dir auch geben, bis wir neue für dich organisiert haben."

Der Geländewagen näherte sich einem Dorf, das von Ferne ähnlich aussah wie viele andere. Auf einigen der umliegenden Feldern konnte man Landwirtschaftsmaschinen sehen auf anderen arbeiteten Menschen, die den Ankömmlingen fröhlich zuwinkten. Die Häuser des Dorfes waren frisch gestrichen und auf den Dächern funkelten Solarzellen. Der Wagen fuhr bis zur Dorfmitte und hielt auf einem Parkplatz in einer Seitenstraße.

"Danke Markus für deine Hilfe!" rief Thomas seinem Kumpel zu als dieser den Wagen verließ.

"Bitte, gern geschehen. Ein kleines Abenteuer ist immer nach meinem Geschmack."

Dann hob Thomas Juliane aus dem Wagen und trug sie über die Straße.

"Lass nur, ich bin dir doch bestimmt zu schwer."

"Oh, ich könnte dich stundenlang tragen, aber ich wohne gleich hier."

Mit dem Ellenbogen öffnete Thomas eine Haustür und trug Juliane über die Schwelle. Im Flur ließ er sie hinab, sodass sie aus eigener Kraft stand.

"So, hier sind wir. Dort kannst du duschen. Ich suche dir inzwischen ein paar Klamotten zusammen."

Dankbar betrat Juliane die Dusche und wusch sich den Dreck ihrer Flucht vom Leib. Mit dem Schweiß floss auch die ausgestandene Angst in den Ausguss und sie fühlte sich nach kurzer Zeit noch besser als zuvor. Doch sie war froh, als sie mit dem Duschen fertig war, denn sie sehnte sich schon nach Thomas Nähe.

Thomas klopfte an und reichte ihr Kleidung durch die Tür. Die Klamotten waren ihr zwar ein wenig zu groß, aber passten ohne zu rutschen. Sauber und zivilisiert gekleidet verließ sie das Badezimmer. Sie fand Thomas in einem geräumigen Wohnzimmer wieder und gab ihm gleich einen erneuten Kuss.

"So, jetzt bist du bestimmt sehr hungrig, nach deiner langen Hetzjagd."

"Oh ja, ich könnte einen ganzen Bären essen."

"Gut, dann gehen wir am besten ins Wirtshaus. Dort wird exzellent gekocht."

"Gerne!"

Juliane hakte sich bei Thomas ein und verließ mit ihm das Haus.

"Du hinkst ja, hast du dich verletzt?" fragte Thomas mit einem Blick auf Julianes linkes Bein.

"Ja, aber das liegt viele Jahre zurück. Ist dir das nie aufgefallen, dass ich hinke?"

"Wart mal, bei unserem ersten Treffen hast du sowas erwähnt, erinnere ich mich dunkel. Aber es ist mir nie aufgefallen."

"Unser erstes Treffen? Ach ja, bei dieser unsäglichen Juristen-Party, wo ich mich dir gegenüber so unmöglich benommen habe. Wie peinlich!"

"Schwamm drüber. Immerhin habe ich dich bei dieser Gelegenheit kennengelernt. Und deine Knieprobleme hast du schon viele Jahre?"

"Ja, genau. Ein Sportunfall am Ende meiner Jugend. Und dann eine verpfuschte Operation. Seitdem hinke ich, zumindest oft."

"Weisst du was? Dann schauen wir unterwegs noch geschwind bei unserem Doc vorbei. Das geht ruckzuck und dann verrät er dir, ob er dir helfen kann."

"Du meinst, wir gehen jetzt zum Arzt, um mein Knie untersuchen zu lassen? Das haben schon viele getan und konnten mir nicht helfen."

"Warts nur ab, unser Doc ist besonders gut und es geht wirklich schnell. Du wirst in der Zeit bestimmt nicht verhungern."

"Also gut, geben wir deinem Wunder-Doc eine Chance."

Nur ein Haus weiter hielt Thomas an und klingelte. Ein jugendlich wirkender Mann im weißen Kittel über seiner Jeans öffnete die Tür.

"Oh, wen bringst du mir den da, Thomas? Welch bezaubernde Lady? Hast du dich bei deinem Abenteuer verletzt?"

"Nein, ich komme wegen meines Knies, das schon seit Jahren kaputt ist. Aber es hat keine Eile, immerhin bin ich jahrelang damit klargekommen." "Keine Sorge, ich habe gerade Zeit. Kommt nur herein."

Sie betraten eine gemütliche Arztpraxis, die eher traditionell als hochmodern eingerichtet war. Juliane nahm auf einem Patientensessel Platz und musste ihr weites Hosenbein hochkrempeln. Der Arzt befühlte das Kniegelenk umsichtig und drückte an mehreren Stellen.

Dann holte er ein kleines Gerät aus seiner Kitteltasche und bewegte es rund um Julianes Knie. Anschließend betrachtete er die dreidimensionale Darstellung stirnrunzelnd auf seinem Bildschirm. Schließlich nickte er und wandte sich Juliane zu.

"Ok, das sieht eigentlich recht vielversprechend aus. Die alte Vernarbung ist relativ gut verheilt und die Fehlstellung hast du ganz gut im Griff. Was dich wohl am meisten quält, ist eine Arthrose, die eine Folge der anderen Probleme ist. Wir haben also zwei Möglichkeiten."

"Und die wären?"

"Die eine ist die Hightech-Variante: wir könnten einen kleinen Eingriff vornehmen, die Fehlstellung korrigieren, das Narbengewebe abschleifen und neuen Kunstknorpel auf die Gelenkflächen auftragen. Dank der modernen Technik wäre das relativ risikolos."

"Das hat der Arzt damals auch gesagt, bevor er mein Knie verpfuschte. Und die andere Möglichkeit?"

"Das wäre die Naturheilvariante: du nimmst regelmässig Gelatine gegen deine Arthrose. Dadurch bildet sich neuer Knorpel und du wärst die schlimmsten Probleme los."

"Das klingt erstmal vertrauenserweckender. Damit werde ich anfangen. Und über den anderen Vorschlag denke ich in Ruhe nach."

"Eine gute Wahl! Hier hast du eine Packung Gelatine-Kapseln für den Anfang. Und gönn dir öfter mal Gummibärchen und hin und wieder einen Wackelpudding."

"Das hilft auch?"

"Na klar! Denn da ist auch Gelatine drin. Melde dich wieder, sobald du zur Ruhe gekommen bist, damit wir weitersehen können."

"Vielen Dank!"

Juliane und Thomas verließen die Arztpraxis. Die Untersuchung hatte keine fünf Minuten gedauert.

"Das ging ja wirklich flott. Und anscheinend gibt es echte Perspektiven für mein Knie."

"Klar! Unser Doc macht eine hervorragende Arbeit, denn er ist mit vollem Herzen bei der Sache. So, und jetzt gibt es was ordentliches zu Essen."

Sie betraten ein Wirtshaus, das dem Gasthaus in World 3000 zum Verwechseln ähnelte. Juliane fragte sich mal wieder, ob sie träumte und kniff sich diesmal selber, nur um festzustellen, dass sie wach war. Wie oft schon hatte sie im virtuellen Gegenstück zu diesem Wirtshaus gesessen und sogar beim Bedienen oder in der Küche geholfen.

"Da staunst du, was? Das haben die Jungs als Gag so gebaut wie im Spiel. Lass uns Platz nehmen."

Die beiden setzten sich an einen gemütlichen Platz und grüßten die anderen Gäste, die sich neugierig nach dem Neuankömmling Juliane umschauten.

Der Wirt kam an ihren Tisch und brachte gleich zwei Krüge Bier, die sie dankbar entgegennahmen. Thomas bestellte zwei Tagesgerichte für sie, denn er versicherte Juliane, dass die Tagesgerichte immer besonders lecker waren.

Tatsächlich. Das Essen, das der Wirt ihnen vorsetzte war das reinste Gedicht. Es schmeckte noch besser als in den leckersten Simulationen in World 3000. Das Fleisch war zart und saftig und das Gemüse knackig. Juliane leckte sich zwischen zwei Bissen immer wieder die Lippen, um ja nichts von dem guten Geschmack zu verpassen. Mit einem tiefen Seufzer schob sie den Teller zur Tischmitte als sie ihn bis zum letzten Krümel leergessen hatte. Sofort kam der Wirt und brachte ihnen einen Nachtisch, der die Geschmacksnerven aufs Neue entzückte.

"Da ist ja unser verlorenes Vögelchen endlich. Und wie ich sehe, hast du dich schon eingelebt Julia! Wirt, bring mir einen Humpen von deinem Bier!"

Ein junger Mann mit Spitzbart hatte das Wirtshaus betreten und sich vor Juliane aufgebaut. Mit einem Nicken foderte Thomas ihn auf, sich zu ihnen zu setzen, was der Ankömmling sich nicht zweimal anbieten ließ. Bei genauerem Hinschauen erkannte Juliane, dass die Augen des Mannes denen von Merlus aufs Haar glichen, aber er war weder alt, noch hatte er einen Kahlkopf.

"Bist du etwa Merlus?"

"Aber sicher doch! Stets zu Diensten! Du hast uns ja ordentlich an der Nase rumgeführt, junge Dame."

"Das war nicht beabsichtigt. Wenn ich gewusst hätte, was du zu bieten hast, hätte ich mir die anderen Dörfer bestimmt nicht zugemutet."

"Vielleicht waren deine Erfahrungen ja gar nicht so schlecht. Denn so kannst du wenigstens verstehen, worauf es ankommt. Weder die totale Freiheit, noch die totale Knechtschaft ist die Lösung. Genauso wenig wie absolute Abhängigkeit von Maschinen oder der völlige Verzicht auf sie. Man muss den richtigen Mittelweg herausfinden und dann geht es einem gut."

"Stimmt! Vor meinen Erlebnissen wäre mir das wohl weniger deutlich gewesen, aber jetzt ist es sonnenklar. Heisst du wirklich Merlus?"

"Hier nenne ich mich so, denn normalerweise heiße ich Egon und damit war ich nie sehr glücklich", dabei kicherte er in seinen Spitzbart, sodass ganz deutlich wurde, was er von seinem ursprünglichen Namen hielt.

"Ok, dann werde ich dich Merlus nennen. Und wer weiss? Vielleicht braue ich dir ab und zu mal ein Bier, zum Dank, dass du mich ins große Buch hast schauen lassen."

"Das wäre wunderbar! Aber jetzt lasse ich euch Turteltäubchen mal alleine. Ich habe den Eindruck, ihr habt euch eine Menge zu erzählen."

Merlus nahm seinen Bierkrug und setzte sich zu anderen Besuchern des Wirtshauses und verwickelte sich schnell in ein Gespräch.

"Oh, Thomas, es ist wirklich wunderbar hier. Ob ich hier wohl bleiben kann? Und wo werde ich leben?"

"Natürlich kannst du bleiben. Du hast dich schon im Spiel bewährt, durch deine zuverlässige Arbeit. Und selbst wenn nicht, würde ich mich für dich verbürgen. Zum Leben finden wir bestimmt ein Häuschen oder eine Wohnung für dich. Oder, wenn du willst, kannst du auch gerne bei mir leben. Ich hätte noch Platz für dich."

Bei diesen Worten lief Thomas tiefrot an. Juliane nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn.

"Gerne ziehe ich zu dir. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen."

--- Ende ---