Sofort war Juliane wieder hellwach. Ein Job, ein Job - vielleicht.
"Zeig mal, was du da hast!"
Auf dem Bildschirm erschien das Anschreiben von dem Callcenter. Es enthielt ein Passwort, mit dem Juliane sich auf dem Firmenserver anmelden konnte, um dort ihre Stimmproben abzuliefern.
Ein freundliches Computergesicht erschien auf dem Bildschirm und erklärte Juliane die Vorgehensweise. Dann folgte eine Reihe von kurzen Sätzen. Juliane las sie ab und versuchte sich dabei vorzustellen, dass sie zu einem Kunden sprach. Es war ungewohnt, sich der Stimme so bewusst zu sein. Nach einer Weile merkte sie, dass es ihr Spass machte, zu spüren, wie ihre Stimmbänder vibrierten und Klänge hervorbrachten.
Vor lauter Aufregung verhaspelte sie sich ein paar Mal, aber dann fing sie sich wieder und konzentrierte sich. Mach das jetzt ordentlich! Schliesslich geht es um deine Existenz.
Als sie fertig vorgelesen hatte, lehnte Juliane sich zufrieden zurück. Das hat doch eigentlich ganz gut geklappt. Vorher habe ich noch nie auf meine Stimme geachtet, außer im Kinderchor, aber das ist lange her. Ob ich wohl wieder von denen höre?
Am nächsten Tag kam keine Rückmeldung vom Callcenter. Am übernächsten Tag auch nicht. Juliane vergaß das kurze Intermezzo fast wieder und widmete sich weiterhin der Stellensuche in der Stadt. Die Motivation dazu ließ aber langsam nach, denn sie hatte die Stadt inzwischen weitgehend abgegrast und nirgendwo auch nur die geringste Jobchance gesehen.
Schließlich war wieder Sonntag und Juliane war ganz froh, nicht aus dem Haus zu müssen.
Sie beschloss, sich mal World 3000 anzuschauen, denn überall wurde davon geschwärmt. Juliane entschied sich, eine junge Kriegerin zu spielen und wählte eine mittelalterliche Welt.
Kaum hatte Juliane fertig gewählt, stand sie mitten in einem Wald, vor einer kleinen, aber stabil wirkenden Hütte. Sie blickte an sich herunter und sah praktische Lederklamotten. In einer Tasche ihres Hosenbeins trug sie ein Messer, das man schon fast als Dolch bezeichnen konnte.
Neugierig betrat sie die Hütte, die offensichtlich ihre eigene war. In einer der hinteren Ecken sah sie ein Bett, das frisch bezogen wirkte. Rechts vom Eingang stand ein kleiner Holzofen mit Herdplatte. Auf der Platte thronte ein altmodischer Wasserkessel. In einem Korb warteten Holzscheite auf ihren Einsatz. Daneben lud ein hölzernes Küchenbuffet zur Benutzung ein. Auf einem Tisch mit rustikalen Holzbänken stand eine Schale mit rotbackigen Äpfeln. Juliane schloss die Tür hinter sich und entdeckte dabei einen wuchtigen Schrank mit geschnitzter Verzierung. Gemütlich war es hier; klein aber fein.
Die Hütte lädt ein, es sich hier bequem zu machen. Aber mir steht der Sinn nach Abenteuern. Mal schauen, was ich hier an Ausrüstung auftreiben kann. Aah, wunderbar: im Schrank ist ein Rucksack. Sieht zwar archaisch aus, ist aber genau das Richtige für meinen Zweck.
Juliane packte Klamotten zum Wechseln in den Rucksack. Im Küchenbuffet fand sie mehrere
Scheiben Trockenfleisch und hartes Vollkornbrot. Eine Wasserflasche aus Leder nahm sie von einem Haken. In einer Schublade des Küchenschrankes fand sie Münzen verschiedener Größe, einige aus Kupfer und andere anscheinend aus Gold. Sie steckte eine Handvoll Münzen ein, ließ aber den größten Teil zurück als Reserve.
An der Wand hing ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen, der sich am Rucksack befestigen ließ. Anscheinend war das eine ihrer Waffen. Auf dem Tisch lag ein Schwert in einer Lederscheide.
Vorsichtig zog sie das Schwert aus der Scheide. Es blitzte im Licht, so glatt war es poliert. Mit dem Zeigefinger fuhr sie zaghaft über die Schneiden: erheblich schärfer als ihre Küchenmesser zuhause. Sie nahm das Schwert in die Hand und schwang das Schwert nach oben. Der Griff schien wie für ihre Hand gemacht zu sein, er schmiegte sich an, ohne auch nur an einer einzigen Stelle zu drücken.
Beim Schwingen des Schwertes fiel Juliane auf, dass es perfekt ausbalanciert war, wie eine Verlängerung ihres Armes. Wie für mich gemacht. Sie befestigte die Scheide an ihrem Gürtel, steckte das Schwert hinein und probierte aus, wie es sich ziehen ließ. Das Zücken des Schwertes lief glatt. Bogen und Köcher befestigte sie an ihrem Rucksack und schwang diesen auf ihren Rücken.
So, jetzt bin ich bereit.
Juliane verließ ihre Hütte und verschloss die Tür mit dem Schlüssel, der im Schloss steckte. Den
Schlüssel steckte sie in ihre Tasche. Dann blickte sie sich um.
Sie befand sich auf einer Waldlichtung, die nur ein paar Meter um das Haus herum Platz ließ. Dahinter wuchs ringsherum dichter Wald. Die Sonne nutzte die Lücke im Blätterdach, um ihre Strahlen auf die Hütte und Juliane zu richten.
Bei genauem Hinschauen bemerkte Juliane einen Pfad, der in den Wald führte. Sie folgte dem Pfad und wurde bald von Dämmerlicht umfangen. Der Pfad schlängelte sich an hohen moosbewachsenen Felsen vorbei, die schroff fast bis zu den Baumkronen reichten. Das dichte Unterholz versperrte den Blick aufs Innere des Waldes.
Nach kurzer Zeit stieß Juliane auf einen etwas breiteren Weg. In welche Richtung soll ich nur gehen? Rechts sieht es dichter aus, als würde es dort tiefer in den Wald hineinführen. Also wende ich mich lieber nach links. Wie fröhlich die Vögel zwitschern.
Sie schritt leichten Fußes voran und legte in kurzer Zeit eine ordentliche Strecke zurück.
Plötzlich sprang ein Ungeheuer vor ihr auf den Weg. Juliane erschrak. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Doch beim zweiten Hinschauen erkannte sie, dass es sich um einen dreckverschmierten, bärtigen Mann in Fellkleidung handelte.
"Geld her oder Leben!" der Mann fuchtelte mit einem rostigen Schwert, das nichtsdestotrotz gefährlich aussah.
"Geh mir aus dem Weg!" herrschte Juliane ihn an und zog ihr eigenes Schwert.
Der Wegelagerer ließ sich nicht beeindrucken und griff sie an. Oh je, hoffentlich kann ich mein Schwert bedienen.
Sie konnte.
Mit ungeahnter Geschwindigkeit ließ Juliane ihr Schwert gegen die Waffe des Anderen krachen. Ein blitzschneller Schlagabtausch folgte, doch bald war deutlich zu erkennen, dass Juliane mit ihrem zierlichen Schwert behänder war als ihr Gegner. Mit einem Schlag der Breitseite gegen den Kopf des Mannes beförderte sie ihn schließlich ins Reich der Träume.
Schon praktisch, wenn man eine Kriegerin ist. Juliane steckte das Schwert wieder ein und setzte ihren Weg fort.
Nur eine kurze Strecke später lichtete sich der Wald und der Blick weitete sich zu einer hügeligen Wiesenlandschaft. Mehrere Dörfer lagen wie Sprenkel in der Landschaft. Richtung Horizont glitzerte ein Fluss in der Sonne und ganz weit hinten konnte man eine Stadt erahnen. Juliane schlug den Weg zum nächsten Dorf ein.
Die Sonne schien freundlich vom Himmel und Juliane konnte sich nicht verkneifen, ein Liedchen zu pfeifen. Auf den Feldern sah sie Bauern beim Einbringen der Ernte.
Bald hatte sie das Dorf ereicht. Es wirkte sehr heimelig mit seinen kleinen Fachwerkhäusern. In der Mitte des Dorfes stand ein Brunnen auf einen Platz, der wohl ein Marktplatz war, worauf ein paar liegengebliebende Salatblätter hindeuteten. Juliane erfrischte sich am Brunnen, trank ein paar Schlücke und wusch sich das Gesicht.
Ein Wirtshaus mit dem Namen "Zum goldenen Bierkrug" verlockte Juliane zum Betreten. Warum auch nicht, immerhin kann man dort Leute treffen. Sie öffnete die Tür und kam in eine schummrige Gaststube. Ausgelassenes Geplauder drang an ihre Ohren. Hinter dem Tresen stand ein einäugiger Wirt und zapfte Bier.
"Für mich auch so einen Krug Bier und einen Eintopf, wie hier auf dem Schild angepriesen, bitte", bestellte Juliane.
Der Wirt schob ihr einen frisch gefüllten Tonkrug über den Tresen und forderte eine ihrer Kupfermünzen. Juliane bedankte sich und wandte sich dem Gastraum zu, um nach einem Platz zu suchen.
Eine lautstark zechende Männergruppe lud sie ein, Platz zu nehmen: "Komm her Mädel, hier ist noch Platz für eine tapfere Kriegerin wie dich."
Warum nicht, schließlich kann ich mich wehren. Juliane setzte sich an eine freie Stelle an dem langezogenen Tisch, der mindestens einem Dutzend Männern Platz bot.
"Seid gegrüßt, ich bin Julia. Mit wem habe ich die Ehre?"
"Angenehm, mein Name ist Rufus. Wir sind der Begleittrupp für eine Handelskarawane."
"Wohin seid ihr unterwegs?"
"Unser nächstes Ziel ist Windsheim."
"Das ist bestimmt die Stadt, die man von den Hügeln aus sehen kann."
"Genau, meine Hübsche, schlau erkannt. Du bist wohl nicht von hier."
"Ich habe eine Weile im Wald gelebt und kenne mich hier noch nicht so gut aus."
"Im Wald gelebt - wie geheimnisvoll. Hier kommt dein Essen, damit du groß und stark wirst."
Die Männer klopften sich auf die Schenkel vor Lachen und Juliane drehte sich um. Tatsächlich kam der Wirt angehumpelt und brachte ihr eine Schale mit dampfendem Eintopf. Dafür kassierte er einen weiteren Kupferling, wie er die Münzen nannte.
Juliane widmete sich ihrem Essen und schwieg. Während sie aß, nahmen die Männer allmählich ihre Gespräche wieder auf. Das Hauptthema waren schwarze Reiter, die angeblich das Nachbarland in Angst und Schrecken versetzten. Die hiesige Bevölkerung war voller Angst, dass diese Reiter auch auf ihr Land übergreifen könnten. Überall wurden zusätzliche Wachen aufgestellt, der König ließ eine Armee ausheben, um dem Feind etwas entgegenstellen zu können.
"Sag an Mädel, du suchst nicht zufällig Arbeit?"
Juliane traute ihren Ohren kaum; diese Frage kannte sie nur andersherum.
"Nun, ein paar Tage könnte ich mich durchaus freimachen, zur Zeit habe ich keine dringenden Termine", es ist immer gut, wenn man sich nicht zu billig verkauft, denk ich mal.
"Gut, dann kannst du unsere Karawane begleiten und die Frauen beschützen. Wir haben ein paar mitreisende Frauen und Kinder dabei. Wenn die mal austreten müssen, haben wir uns schon öfters gewünscht, eine weibliche Kriegerin in unseren Reihen zu haben, denn das wäre dann nicht so peinlich und soviel Getue."
"Abgemacht. Wann gehts los? Wo gehts hin?"
"Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir auf. Zunächst gehts wie gesagt, nach Windsheim. Danach sehen wir weiter. Betrachte es als Probezeit - für beide Seiten. Schlafen kannst du in der Scheune. Da gibt es ein Lager extra für die Frauen."
"Gut! Dann werde ich es mir in der Scheune bei den Damen bequem machen."
Beim Wort "Dame" kicherte einer der Männer und versuchte, es als Hustenanfall zu vertuschen. Wahrscheinlich sind die Frauen alte Marktweiber oder Huren. Kein Wunder, dass er kichern muss.
Später, nachdem Juliane die Supenschale geleert und zwei Krüge des leckeren Bieres getrunken hatte, wurde sie neugierig auf das Lager der Damen und verabschiedete sich bei der Zecherrunde.
"Heute nacht musst du, wie alle anderen, Wache schieben. Lass dich vom Wachposten am Scheuneneingang einteilen."
"Geht in Ordnung."
Die Scheune war direkt neben dem Gasthaus. Der Wachposten grüßte sie kurz, als Juliane ihm erklärte, dass er sie zur Wache einteilen solle. Er gab ihr die Zeit ab fünf Uhr früh. Ist ja grässlich: um fünf Uhr aufstehen. Aber das gehört wohl zum Kriegerleben dazu.
In der Scheune sah Juliane dass eine Ecke mit Tüchern abgetrennt war. Sie rief vorsichtig "Hallo" und wurde herbeigebeten. Zwei Frauen und drei Kinder blickten ihr neugierig entgegen.
"Mein Name ist Julia und ich wurde beauftragt, Sie zu beschützen."
"Gut, das wurde auch Zeit. Ich bin Laura und das ist meine Schwester Betty. Wir sind Händlerinnen. Und das dort sind meine Kinder Gabriel, Sabina und Georg."
"Händlerinnen, ist ja interessant. Womit handelt ihr denn?"
"Mit Schmuck. Den wollen wir in der Stadt günstig einkaufen. So Kinder, jetzt aber eiligst unter die Decken. Die Frau wird uns beschützen."
"Das ist aber sehr mutig von dir, dass du uns beschützen willst, Julia", sagte die kleine Sabina artig und nickte huldvoll. Dann zog sie sich mit ihren Brüdern auf ihre Strohlager zurück.
Auch die beiden Frauen machten sich bereit zum Schlafengehen. Juliane achtete nicht weiter auf ihr Gespräch, aber zweimal schnappte sie ein gewispertes "Mylady" mit anschliessendem Zischen von Laura auf.
Wenn das wirklich Händlerinnen sind, fress ich einen Besen. Die sind viel zu sauber gekleidet, wenn auch schlicht. Und die beiden Frauen sehen sich auch überhaupt nicht ähnlich. Betty scheint mir eher eine Zofe zu sein. Und die Kinder sprechen eine gewählte Sprache, die ich hier nicht unter dem gemeinen Volk erwartet hätte. Vielleicht sind es aber auch einfach sehr reiche Händlerinnen. Das würde einiges erklären. Immerhin handeln sie mit Schmuck. Juveliere geben sich auch sehr nobel.
Was solls? Jetzt ist ein guter Moment aufzuhören für heute. Ich brauche unbedingt ein besseres Headset. Bei meiner alten Gurke verschwimmt manchmal sogar die 3D-Optik, so betagt ist es schon. Die neuen Headsets gibt es jetzt schon ziemlich billig und sie sollen sogar Geruchs- und Gefühlswahrnehmungen übertragen, ganz ohne Implantate. Müsste ich mir eigentlich noch leisten können.
Juliane setzte ihr Headset ab und war wieder in ihrer langweiligen Wohnung. Ihr Abenteuer hatte Appetit gemacht, darum angelte sie eine Dose Linsensuppe aus ihrem Küchenschrank und wärmte sie auf. Die erinnert am ehesten an den Eintopf in der Kneipe, der wirklich lecker aussah. Mir ist das Wasser im Munde zusammengelaufen. Mit dem neuen Headset wird das dann erst krass. Ich habe gehört, das soll dann wirklich lebensecht sein.
Als Juliane am nächsten Nachmittag mit dem erwünschten Headset aus der Stadt zurück kam, wurde sie von ihrem Computer mit der Nachricht begrüßt, dass das Callcenter sich wieder gemeldet hatte.
"Immer her mit der Nachricht."
Eine virtuelle Gestalt lud Juliane zu einem Interview ein. Anscheinend habe ich es eine Stufe weitergeschafft. Nicht schlecht - vielleicht wird das ja doch noch was.
Juliane machte sich im Bad kurz zurecht, bevor Sie das Interview-Programm startete. Dieselbe Gestalt wie in der Nachricht fragte sie nach unzähligen Kleinigkeiten aus ihrem Lebenslauf. Was die
alles von mir wissen wollen. Bestimmt nehmen die wieder Stimmproben. Oder sie wollen testen, wielange ich ihre Befragung aushalte. Denen werd ichs zeigen.
Tapfer lächelte sich Juliane durch das Gespräch, war aber ziemlich erleichtert, als es endlich vorbei war. Sie erinnerte sich kaum noch, was sie alles gesagt hatte.
In einer Woche wollen sie sich wieder melden. Bis dahin kann ich ja noch viele Damen beschützen.
Kräftiges Rütteln an der Schulter weckte Juliane. Boah, das ist aber wirklich lebensecht. Die Schulter tut fast weh vom Schütteln.
Sie sprang auf und blickte sich um - es war stockdunkel.
"Psst, du bist dran mit der Wache!"
"Ok, wo soll ich mich am besten postieren?"
"Draußen vor dem Scheunentor. Da hast du auch den besten Überblick."
Juliane folgte den schlurfenden Geräuschen und tastete sich vorsichtig um Hindernisse herum. Draußen konnte man schon einen schwachgrauen Schimmer am Horizont erahnen, daher fiel die Orientierung leichter.
Der Wachtposten, der sie geweckt hatte, deutete auf eine umgedrehte Holzkiste und zog sich ins Innere der Scheune zurück. Juliane machte es sich auf der Kiste so bequem wie möglich und ließ ihren Blick über das Tal schweifen.
Dort, wo Juliane den Fluss vermutete, stieg Dunst auf. Die Nebelfetzen sahen aus wie transparente Feen, die sich im Wind wiegten. Etwas weiter links, wo sich der Fluss in der Ferne verlor, leuchtete der Himmel in Bodennähe etwas stärker; dort musste Osten sein.
Es war ruhig - und kalt.
Verdammt realistisch! Es fühlt sich tatsächlich kalt an, vor allem wenn mir so eine Windböe um die Nase weht. Die Leute sind hier ja ziemlich vertrauenswürdig: lassen mich hier alleine aufpassen. Ich könnte schließlich alle abmurksen und mit der Beute fliehen. Daran merkt man wohl, dass es ein Spiel ist, denn als Einsteiger hätte man sonst wohl keine Chance. Oder die Wächter testen mich und bewachen mich heimlich im Hintergrund. So wirds sein.
Der östliche Himmel wurde allmählich heller. Eine Spur Rosa mischte sich in das Grau und nahm nach und nach an Stärke zu. Die Vögel zwitscherten um die Wette, so dass es schon fast laut war. Aus der Hütte neben der Gaststube drang der Duft von frischem Brot.
Die Nebelfeen am Fluss tanzten immer schneller, als wären sie in wilde Ekstase geraten. Die Sonne tauchte ihre Himmelshälfte inzwischen in leuchtendes Rot und schob sich über den Horizont. Das Vogelkonzert änderte die Tonart und die Feen eilten davon.
Die Wächter kamen einer nach dem anderen aus der Scheune, gähnten und rieben sich die Augen. Der Wirt trat aus seinem Gasthaus, warf einen Blick in die Runde und streckte sich. Das nahm auch Juliane zum Anlass, sich von ihrem Wachtposten zu erheben und zu strecken. Der Morgentau hatte sich feucht auf ihre Haare und Kleider gelegt, ließ sich aber leicht abwischen. Ob das die Reste der Nebelfeen sind?
Juliane versicherte sich beim Chef der Wächter mit einem Blick, dass ihre Schicht beendet war und ging zurück in die Scheune zu den Frauen. Dort half sie beim Zusammenpacken des überall verstreuten Gepäcks der kleinen Familie. Ihre eigenen Habseligkeiten waren mit zwei Handgriffen verstaut.
Anschließend gab es für alle im Wirtshaus ein herzhaftes Frühstück mit Haferbrei und dicken Scheiben des frischgebackenen Brotes belegt mit Schinken. Oh, wie das schmeckt und duftet! Es hat sich wirklich gelohnt, heute in die Stadt zu gehen. Die Sinneswahrnehmungen sind genial.
Bis die Reisegesellschaft abmarschbereit war, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Die Krieger saßen auf stolzen Rössern und die Damen reisten in einer Kutsche. Jeweils sechs Ochsen zogen mehrere schwere Lastkarren. Rufus brachte Juliane eine temperamentvolle Stute, deren braunes Fell von einer weißen Blesse geziert wurde. Die Stute stupste Juliane freundlich an die Schulter und senkte dann den Kopf zu Julianes Hand, in der sie einen Apfel trug. Der Apfel war schneller weg als Juliane Luft holen konnte, aber die Stute schien sehr zufrieden mit der Willkommensgabe und ließ Juliane bereitwillig aufsitzen.
Langsam setzte sich die Karawane in Bewegung. Durch die Ochsenkarren kamen sie nur langsam voran. Dennoch verlor sich das Dorf bald hinter ihnen in der Ferne.
Nach etwa zwei Stunden hielt die Kutsche unvermittelt an. Betty streckte ihren Kopf durch die Kutschentür und sagte: "Klein Georg muss mal."
Juliane sprang vom Pferd und half Betty und dem kleinen Jungen aus der Kutsche. Georg klemmte die Beine zusammen, also war es schon ziemlich dringend. Mit gezücktem Schwert begleitete Juliane die beiden in ein nahes Gebüsch.
Als hätten die Räuber nur auf diesen Moment gewartet, sprangen sie sofort aus dem Unterholz sobald Georg die Hosen runtergelassen hatte. Juliane wechselte das Schwert in die Linke, zog mit der Rechten ihren Dolch aus der Beintasche und warf ihn auf den entfernteren der beiden Räuber, der röchelnd zusammenbrach. Dann nahm sie das Schwert wieder in die gewohnte Hand und stürmte auf den anderen Räuber zu, der sich verwirrt umblickte. Juliane nutzte die Verwirrung und enthauptete den Unhold.
Erst danach bemerkte sie die erschreckten Schreie von Betty und Georg. Rufus und einige andere Krieger tauchten auf, steckten ihre Schwerter aber wieder ein als Juliane sagte: "Schon erledigt".
Rufus schlug ihr anerkennend auf die Schulter und wies seine Männer an, die Leichen zu entfernen. Einer der Männer brachte Juliane ihren Dolch zurück. Sie wischte das Blut an einem Büschel Gras ab und steckte ihn wieder ein. Schließlich zogen sich die Männer wieder zurück und überließen Georg seinem dringenden Geschäft. Echt einfach das Töten. Das liegt bestimmt daran, dass es ein Spiel ist.
Der restliche Tag verlief ohne Scharmützel und Juliane genoss das Reiten durch die rauhe Landschaft. Abends machten sie wieder Station in einem Gasthaus. Diesmal gab es sogar ein richtiges Gastzimmer für die Frauen. Juliane als Wächterin musste auf dem Boden vor dem Bett schlafen, aber das war ihr ganz recht, denn in den Matratzen vermutete sie Ungeziefer.
Ab und zu tauchte Juliane aus ihrer mittelalterlichen Welt wieder auf und überprüfte, ob sich ihr Computer auch brav bei jeder freien Stelle bewarb. Manchmal riss sie auch ihr knurrender Magen aus dem Spiel, wenn er mal wieder nicht aufhörte, obwohl sie gerade ein virtuelles Steak verzehrt hatte. Dann machte sie sich schnell eine Stulle, um möglichst bald wieder in der lebensstrotzenden Mittelalter-Welt einzutauchen.
Im Laufe der Woche schlug sie sich durch mindestens ein Dutzend Scharmützel, aus denen sie jedes Mal siegreich hervorging. Nach zwei Spieltagen in der Stadt, wo Juliane ihren Sold beim Würfeln verlor, ging die Reise weiter in Richtung Hauptstadt. Meistens zogen sie auf Nebenstraßen, sodass sie nicht viele andere Reisende, dafür umso mehr Einheimische trafen.
Der Verdacht, dass die Frauen keine Händlerinnen, sondern Adlige auf der Flucht waren, erhärtete sich von Tag zu Tag. Doch sie versuchten immer noch ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, auch gegenüber Juliane, sodass sie sich noch nicht sicher war.
"Juliane, du hast eine wichtige Nachricht!"
Die Stimme ihres Computers riss sie unsanft aus einem interessanten Gespräch über Schwertkampf. Juliane zog ihr Headset vom Kopf, um die Nachricht mit ihren normalen Augen entgegen zu nehmen. Für ernsthafte Zwecke war ihr die 3D-Welt des Headsets noch unheimlich und sie zog den Bildschirm vor.
"Das Callcenter hat geschrieben. Morgen nachmittag hast du ein Live-Gespräch mit einem menschlichen Personalchef."
"Sehr gut! Vielleicht nehmen die mich ja. Wenn die sich schon die Mühe machen, einen Menschen zu bemühen."
"Du solltest vorher aber ordentlich ausschlafen, was essen und vor allem duschen."
"Ist ja gut, ich weiß schon, dass ich mich erstmal wieder ansehnlich hinkriegen muss. Betüddel mich nicht so!" "Du hast aber meinen mütterlichen Modus aktiviert."
"Aber übertreib es nicht so, sonst deaktivier ich den Muttermodus!"
"Wie du wünschst."
Juliane setzte ihr Headset wieder auf und führte ihr Gespräch über Schwertkampf fort. Aber als ihr Magen das nächste Mal unstillbar knurrte, nahm sie sich den Rat ihres Computers zu Herzen und kochte sich eine ordentliche Portion Spaghetti. Anschließend duschte sie ausgiebig, was sie bitter nötig hatte. Ihre Haare hingen in fettigen Strähnen um ihren Kopf, so sehr hatte sie sich die ganze Zeit über in das Spiel vertieft.
Da hab ich mich schon ordentlich hinreißen lassen in der letzten Woche. Das Leben in World 3000 macht aber auch wirklich Spaß. Man wird gebraucht und hat Erfolgserlebnisse. Und es ist so lebendig dort. Nicht so grau und trostlos wie im echten Leben. Mich wunderts nicht mehr, dass manche Leute sich total in solchen Spielen verlieren und mit der Realität nichts zu tun haben wollen. Aber mir soll das nicht passieren!
Am nächsten Nachmittag saß Juliane schon ganz unruhig vor ihrem Bildschirm und wartete auf den Anruf. Hoffentlich schwätze ich kein dummes Zeug. Was der mich wohl alles fragen wird?
Als schließlich das Gesicht eines dynamisch wirkenden Mittvierzigers auf dem Bildschirm erschien, schlug Julianes Herz bis zum Halse.
Das Gespräch verlief jedoch schnell und schmerzlos. Schon nach wenigen Minuten sagte ihr Gegenüber: "Sie hören von uns", und noch bevor Juliane fragen konnte: "wann", verschwand er aus der Leitung.
Ob das jetzt ein gutes Zeichen ist oder eher ein ganz schlechtes? Wie schnell der jetzt plötzlich weg war. Und er wollte kaum etwas wissen. Ich werds wohl erfahren. Aber wann? Es ist zum Verrücktwerden. Na ja, dann kann ich genau so gut weiter durchs wilde Mittelalter reisen.
In der Mittelalterwelt wartete ein Scharmützel auf sie. Gleich ein Dutzend Räuber hatte es auf ihre Reisegruppe abgesehen. Einer der Verteidiger erhielt eine Fleischwunde am Arm, sodass er verbunden werden musste. Ansonsten kamen sie aber ungeschoren davon und konnten ihre Reise fortsetzen. Juliane genoss die raue Natur in vollen Zügen. Auch die derbe Kameradschaft unter den Kriegern behagte ihr, sie fühlte sich inzwischen wie ein Teil einer großen Familie.
Eines Abends saß sie mit den Kindern am Feuer und lauschte Sabinas Geschichten aus der Heimat. Sabina hatte gerade angefangen, von ihrem großen Haus zu erzählen, so dass Juliane hoffte, endlich Genaueres über die Herkunft der Reisenden zu erfahren.
"Juliane, du hast eine wichtige Nachricht!"
Das Gesicht des Personalchefs erschien als Aufzeichnung auf Julianes Bildschirm.
"Wir haben uns für Sie entschieden. Bitte kommen Sie morgen früh um neun in unser Firmengebäude und melden Sie sich im vierten Stock bei Herrn Trotzmann. Willkommen im Team!"
Das war alles. Im Anhang fand Juliane noch eine Wegbeschreibung. Als sie versuchte, sich ihre zukünftige Arbeit vorzustellen, merkte sie, dass sie kaum etwas darüber wusste. Eigentlich war ihr nur bekannt, dass es um ein Callcenter ging. Eigentlich sagt das ja schon alles. Dort muss ich halt mit vielen Kunden telefonieren. Und immer freundlich bleiben. Erstaunlich, dass die noch Menschen zum Arbeiten brauchen.
Zuerst saß sie eine Weile einfach da und starrte in ihren Bildschirm. Ihre Gefühle waren völlig durcheinandergeraten. Doch nach und nach begriff sie, dass ihre aussichtslos scheinende Arbeitssuche eine glückliches Ende gefunden hatte.
Schließlich sprang sie auf und tanzte durch ihre Wohnung. "Hurra, ich hab einen Job! Hurra!"
Pünktlich fünf vor Neun erreichte Juliane das mausgraue Gebäude des Callcenters. Davor stand eine Gruppe junger Frauen, die fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern zusammenstanden und Rauchkringel in die Luft bliesen. Ob ich hier wohl mit denen zusammen warten muss? Nein, jemand anders geht einfach rein. Vielleicht halten die noch eine Rauchpause bevor es losgeht.
Juliane ging an den Frauen vorbei und versuchte die scharfen Blicke zu ignorieren. Jetzt wissen sie alle, dass ich hinke. Da hab ich bestimmt gleich einen Spitznamen weg. Was solls? Beim Telefonieren braucht man keinen eleganten Gang.
Als sie gerade durch die Tür ins Innere des Gebäudes gehen wollte, hörte sie ein wütendes Zischen: "Verschwinde, du Jobkillerin!".
Meinen die mich? Wieso Jobkillerin? Ich will doch nur ganz normal meine Arbeit machen, wie andere auch. Wenn das gleich schon so feindselig anfängt, kann das ja noch heiter werden.
Der Aufzug brachte sie ins vierte Geschoss.
Sie trat in einen Vorraum, der ganz in dunkelblau gehalten war. Eine einzelne Tür durchbrach die glatten Wände; auch in dunkelblau. Daneben fand Juliane ein Schaltpanel, in dessen oberer Hälfte ein einzelner Knopf prangte. Ein Schild mit der Aufschrift "Bitte hier klingeln" machte deutlich, welchem Zweck der Knopf diente.
Merkwürdig! Bei den unteren beiden Geschossen konnte man bis in die Großraumbüros reinschauen, das dritte war leer und hier treiben sie so eine Geheimniskrämerei. Sehr merkwürdig.
Obwohl ihr etwas mulmig zumute war, klingelte Juliane ohne lang zu zögern. Schon nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür zischend und Juliane hörte eine Stimme.
"Ah, Sie sind es. Willkommen! Gleich die erste Tür links."
Wie geheißen, durchschritt Juliane den Eingang und nahm die linke Tür. Der Raum ähnelte einem Tonstudio. Ein jugendlich wirkender Typ lümmelte sich auf einem Armlehnendrehstuhl.
"Hallo, ich bin Sascha Trotzmann, genannt Trotzi und Sie sind bestimmt Juliane?"
"Ja, das bin ich. Guten Tag."
"Nehmen Sie Platz! Ich erkläre Ihnen jetzt erstmal wie der Laden läuft."
"Gerne!"
Juliane zog sich einen Drehstuhl heran und ließ sich darauf nieder. Irgendwie war es hier anders, als sie sich ein Callcenter vorgestellt hatte.
"Tja, also, wir nehmen hier Stimmmuster auf, für automatisierte Beantwortungssysteme. Du - ach ja, wir duzen uns hier - also, du bekommst dann eine der drei Kabinen weiter hinten im Gang und sprichst deine Texte, ähnlich wie bei der Bewerbung. Ich sitze hier drin und kontrolliere, ob ihr Drei euren Job gut macht. Die anderen beiden sind schon eine Weile dabei und müssten auch gleich kommen. Du kannst sie dann in der Mittagspause um eins kennenlernen. So, jetzt zeige ich dir deine Kabine."
Trotzi stand auf und bedeutete Juliane, ihm zu folgen. Zwei Zimmer weiter öffnete er die Tür. "Voila, deine Kabine."
"Ok, und was geschieht hier jetzt?"
"Der Computer wird dir alles sagen. Zuerst macht ihr wohl Sprachtraining und dann gehts los mit den Sätzen."
"Und die Kunden, die ich bedienen soll? Um welches Produkt geht es eigentlich?"
"Um gar kein Produkt. Wie schon gesagt, wir nehmen Stimmmuster für automatische Beantwortungssysteme auf. Aus deinen Sätzen werden die Computer dann sinnvolle Gespräche mit den Kunden zusammenstellen. Du musst dich mit den Kunden überhaupt nicht rumärgern."
"So ist das also."
"Genau! Ach, und bevor ich es vergesse: bis heute abend müsste dein Vertrag aus der Verwaltung kommen."
"Ok, soweit alles klar."
Trotzi ließ Juliane alleine und sie machte es sich auf dem Stuhl vor der Bildschirmwand bequem. Der übrige Raum war mit dunkelblauem Schaumstoff ausgekleidet, so dass sich Juliane kaum atmen hörte.
"Hallo Juliane! Ich bin dein Arbeitsbegleiter. Wir werden gemeinsam einen Satz Stimmmuster aufzeichnen. Hast du verstanden, worum es geht?"
"Ja, ich habe verstanden."
"Sehr gut. Lass uns mit Stimmübungen anfangen, damit deine Stimmbänder warm werden. Setz dich aufrecht hin oder steh auf und sprich mir nach: Mimimi, Pipapipapo." "Mimimi, Pipapipapo."
Was für eine merkwürdige Situation. Da sitz ich hier und spreche "mimimi" mit einem Computer. Dabei dachte ich, ich müsste mit Kunden telefonieren. Darum haben die mich auch gar nichts fachspezifisches zum Produkt gefragt, weil die Stimme selbst das Produkt ist. Kein Wunder, dass die Frauen vor der Tür mich beschimpft haben. Jetzt bin ich tatsächlich eine Jobkillerin. Ich leihe dem Computer meine Stimme. Irgendwie unheimlich. Aber was bleibt mir anderes übrig? Das war schließlich der einzige Job weit und breit.
"Susosa Sasuso - Fischers Fritze fängt frische Fische."
Vor allem auf den "sch" ritt der Computer rum. Immer wieder musste sie "schön schaurige Schaumschläger" sagen. Juliane fühlte sich schon wie eine Dampfmaschine.
"So, deine Stimmbänder dürften inzwischen warm sein. Jetzt spiele ich dir einige Originalbänder von Callcenter-Gesprächen vor, damit du verstehst, worum es geht."
"Ok"
"Ääh, ja - also hier ist der Telefonservice. Was wollen Sie?"
"Telefonservice, guten Tag! Ihre Kundennummer!"
"Nö, da kann Ihnen keiner helfen."
Ein Potpourri nöliger und schlecht gelaunter Stimmen hallte aus dem Lautsprecher.
"Verstehst du? So wollen die Kunden nicht angesprochen werden. Jetzt hörst du ein paar Beispiele, wie es besser ist."
Wohlklingende, säuselfreundliche Stimmen erfüllten den Raum und überschlugen sich fast vor lauter Höflichkeit. Gegen Ende wurden sie etwas normaler, blieben aber ausgesprochen freundlich.
"Gut, dann wollen wir mal loslegen. Greif dir das Mikrofon, das von der Decke kommt und platziere es direkt vor deinem Mund."
Dann begann das Ablesen. Jeder Satz kam drei Mal dran, manchmal auch öfter. Zuerst gab es eine Reihe von Begrüßungssätzen, dann folgten Zahlen und später Buchstaben.
In einer kurzen Pause, in der Juliane ihre trockene Kehle mit Wasser schmierte, meldete sich Trotzi über Lautsprecher und bat um Wiederholung einiger Sätze und Buchstaben. Anschließend ging es wieder weiter mit kurzen Sätzen. Gegen Mittag fühlte sich Juliane schon ganz ausgedörrt im Mund.
"Ok, jetzt hast du dir eine Pause verdient. Am Ende des Ganges findest du einen Aufenthaltsraum mit Essensausgabe. Dort wirst du auch deine Kolleginnen kennenlernen."
Juliane stand auf, streckte sich und ging zum Aufenthaltsraum. Dort saßen bereits Trotzi und eine Frau in Julianes Alter an einem kleinen Resopaltisch.
"Darf ich vorstellen: das ist Martina. Martina, hier haben wir Juliane. Vera kommt bestimmt auch gleich."
Martina und Juliane begrüßten sich freundlich, aber abwartend. Martina zeigte Juliane, wie die Essensausgabe funktionierte. Dann kam die erwartete Vera und die Begrüßerei fing von vorne an. Sehen ja eigentlich ganz nett aus, die beiden. Ob sie auch nett sind?
Der erste Teil der Mahlzeit verlief weitgehend schweigend, weil alle zu sehr mit dem Essen beschäftigt waren. Juliane war auch froh, ihre Stimmbänder etwas schonen zu können.
"Kommst du mit, eine rauchen?" fragte Martina, als sie fertig gegessen hatten.
"Mitkommen?"
"Ja, wir müssen draußen rauchen."
"Unten vor dem Haus?"
"Nein, keine Sorge, wir haben unseren eigenen Balkon. Haben sie dich auch schon beschimpft?"
"Ja, zumindest haben sie gezischt."
"Daran wirst du dich gewöhnen. Wenn man erst kurz nach neun kommt, sind sie meistens schon weg. Auf, komm mit. Wir können draußen weiterschwätzen."
Juliane folgte den anderen auf den Balkon, wo ihnen ein frischer Wind um die Nase blies. Aus ihrer Handtasche kramte Juliane ein älteres Päckchen Zigaretten, denn obwohl sie nur ab und zu rauchte, hatte sie gerne immer welche dabei.
"Wie hat dir denn dein erster Morgen gefallen?", fragte Vera.
"Ganz gut. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich es auch gut gemacht habe, aber Trotzi hat sich nur einmal eingemischt."
"Bestimmt wars gut. Deine Stimme hat einen weichen Klang, klingt aber ansonsten normal - das wird grad gebraucht."
"Richtig", mischte Trotzi sich ein. "Das, was ich schon durchgehört habe, war soweit in Ordnung. Die Leute wollen eine menschliche Stimme hören, wenn ein Computer mit ihnen spricht. Da passt deine Stimme wunderbar."
"Freut mich zu hören. Bisher habe ich noch nie Sprachaufnahmen gemacht."
"Darum haben wir dich auch genommen. Zur Zeit werden unverbrauchte Stimmen gesucht."
"Und durch unsere Stimmmuster verlieren die Mitarbeiter in den anderen Stockwerken ihre Arbeit?"
"Ganz im Gegenteil, aber das kapieren die Damen da unten leider nicht, egal wie oft man es ihnen erklärt. Das dritte und vierte Geschoss wurden geschlossen, bevor wir mit den Stimmmustern angefangen haben. Und wenn das Stimmmustergeschäft die Damen nicht mitfinanzieren würde, wären sie ihren Job jetzt schon los. Langfristig werden sowieso keine Callcenter-Mitarbeiter mehr gebraucht. Das wird alles von Computern erledigt."
"Hm, also langfristig durchaus Jobkiller aber kurzfristig Jobretter. Merkwürdige Kombination."
"Auch was das Langfristige angeht, sehe ich das anders. Stimmmuster werden sowieso produziert. Ob es nun deine Stimme ist, oder die von jemand anders, macht im Prinzip nur für dich einen Unterschied, also freu dich einfach, dass du ausgewählt wurdest."
"Ja, das leuchtet ein. Ich bin auch ganz begeistert, dass ich genommen wurde."
"So, Leute! Die Arbeit ruft!"
"Krksiex - meine Kehle fühlt sich an wie ein Reibeisen. Was mach ich nur dagegen?"
"Das geht jedem so, spätestens am ersten Freitag. Aber bei den meisten vergeht das wieder."
"Und wenn es nicht vergeht?"
"Tja, dann bist du natürlich unbrauchbar für den Job und hast dann eben nur den kleinen Stimmmustersatz geschafft. Manchmal kommt das vor, aber selten."
"Wie krieg ich die Heiserkeit denn bloß weg?"
"Im Aufenthaltsraum haben wir Salbei-Bonbons. Rauchen solltest du natürlich erstmal auch nicht. Und gurgeln, wenig sprechen, später Stimmbandlockerung. Der Computer wird dir noch Details verraten. Er ist darauf vorbereitet."
"Dann bin ich ja beruhigt, wenn er darauf vorbereitet ist. Warum hat mir denn niemand was gesagt?"
"Die Stimmübungen am Morgen dienen doch hauptsächlich dem Zweck, dass die Stimme möglichst gut durchhält. Glaubst du, wir würden sonst dieses alberne mimimi machen? Aber ein bisschen Verkrampfung bleibt fast immer und das rächt sich dann eben nach ein paar Tagen."
"Na, prima! Aber ich werde tapfer gurgeln, damit ich am Montag wieder eine samtene Stimme habe."
"Richtig so!"
Hoffentlich klappt das auch wirklich. Das wäre ein schöner Mist, wenn ich den neuen Job schon nach einer Woche wieder los wäre. Er ist zwar etwas eintönig, aber insgesamt macht er mir fast ein bisschen Spaß. Und wenn ich durchhalte, verdiene ich sogar ganz brauchbar. Auch die Tantiemen später sollte ich nicht unterschätzen. Ich muss die Stimme einfach wieder hinkriegen - unbedingt!
Julianes Arbeitscomputer merkte sofort bei der Begrüßung, dass sie heiser war. Wie angekündigt, gab er Juliane Tipps, wie sie der Heiserkeit am besten Herr werden würde. Anschließend schickte er sie ins Wochenende. Auf dem Weg nach Hause ging Juliane in einer Apotheke vorbei und kaufte sich Gurgelmittel.
In ihrer Kochecke wärmte sich Juliane eine heiße Milch mit Honig und setzte sich damit gemütlich vor ihren heimatlichen Bildschirm.
Ständig habe ich es mit Bildschirmen zu tun. Selbst bei der Arbeit sehe ich nur mittags echte Menschen. Aber ansonsten ist die Arbeit ziemlich in Ordnung. Eigentlich wäre es ja nett gewesen, jetzt am Wochenende mal wieder unter die Leute zu gehen. Diesen Thomas von der Party würde ich ganz gern mal wieder sehen - aber bei dem habe ich mich so dämlich benommen, dass ich es lieber bleiben lasse. Und Susanne rufe ich auch besser nicht an, denn mit der quatsche ich mir sonst nur die Kehle wund. Wie schön, dass man bei World 3000 nicht viel sprechen muss, wenn man nicht will.
Gleich nachdem sie ihre heiße Milch mit Honig ausgetrunken hatte, setzte Juliane ihr Headset auf und betrat die Mittelalterwelt.
Was für ein Gegner! Der ist anders als die anderen. Gewandter, schneller - viel schneller. Verflixt, jetzt hat er mich am Oberarm erwischt. Und wie der kleine Gabriel schreit - so voller Entsetzen. Ich muss die Deckung dieses Kampfteufels durchbrechen, sonst habe ich keine Chance. Ja, jetzt! Puh, das war knapp!
"Wacker geschlagen, Mestra Julia! Der Bursche war wirklich gefährlich. Fast hätte er Gabriel erwischt."
"Das war Sir Adrian, ich habe ihn genau erkannt. Ob er der Verräter war, der uns zur Flucht gezwungen hat?" Gabriel fand schnell seine Sprache wieder.
"Bist du dir sicher, dass es Sir Adrian war? Ja, wahrscheinlich schon. Du hast ihn schließlich gut gekannt", Rufus runzelte die Stirn.
"Er war mein Hauslehrer. Tag für Tag habe ich mit ihm verbracht. Und jetzt liegt er hier und das Blut läuft aus seinem Körper. Dass er mir nach dem Leben trachtet, hätte ich nie gedacht."
Tränen traten in Gabriels Augen. Er starrte fassungslos auf seinen toten Hauslehrer. Juliane steckte ihr Schwert ein und legte tröstend einen Arm um den Jungen.
"Ihr blutet ja, Mestra Julia."
"Das ist nur ein Kratzer, tut kaum weh."
"Aber es tropft!"
"Der Junge hat recht. Du solltest den Arm verbinden lassen. Gnardik ist recht geschickt dabei. Ich übernehme solange hier."
Juliane löste sich von Gabriel und schlug die Richtung ein, in die Rufus beim Namen "Gnardik" geblickt hatte. Unterwegs wurde ihr schummerig zumute und bis sie bei Gnardiks Pferd angekommen war, fing ihr Oberarm an, weh zu tun. Oh je, bloß nicht ohnmächtig werden. Sie lehnte sich gegen das Pferd, um aufrecht stehen bleiben zu können.
"Na Julia, hat er dich erwischt? Ich hole gleich mal das Verbandszeug. Hoppla, du bist ja ganz bleich. Setz dich besser auf den Boden. Ja, so ist besser. Und steck den Kopf zwischen die Knie."
Juliane gehorchte. Langsam verlor sich das Schwindelgefühl.
"So, jetzt leg dich hier auf die Decke, die ich ausgebreitet habe, damit du mir nicht umkippst beim Verbinden."
Wie peinlich! Nicht mal einen Kratzer kann ich mir verbinden lassen, ohne dass ich schwach werde. Aber Gnardik hat wohl recht. Besser ist es, wenn ich mich hinlege.
"Ein glatter Schnitt, aber ordentlich tief. Erstaunlich, dass du damit weiterkämpfen konntest. Den werde ich nähen müssen. Wird wohl etwas pieksen."
Es piekste - und zwar stark. Juliane atmete scharf aus, als der erste Stich sie durchfuhr. Beim zweiten Stich war sie schon darauf vorbereitet, daher ertrug sie ihn besser. Aber sie war sehr froh, als Gnardik nach einer Weile fertig war. Er wickelte noch einen strammen Verband um ihren Oberarm, dann schien er zufrieden.
"So Mädel, nimm noch einen Schluck aus der Pulle, damit du wieder zu Kräften kommst. Wir müssen bald weiter."
Juliane setzte sich auf und griff nach der Feldflasche, die Gnardik ihr reichte. Fast hätte sie den ersten Schluck wieder ausgespien, so stark war der Schnaps. Aber sie spürte, dass er sie belebte, darum nahm sie noch einen Schluck.
Der Arm tat inzwischen höllisch weh, aber der Schwindel war vergangen. Vorsichtig stand sie wieder auf. Ihre Beine fühlten sich etwas wackelig an, aber ansonsten fühlte sie sich stark genug zu reiten. Das Aufsteigen aufs Pferd fiel ihr schwer und Juliane war erleichtert als sie endlich oben saß. Als das Pferd loszuckelte, konnte sie sich allmählich entspannen.
Wie gut, dass die Kutsche uns bremst. Einen gestreckten Galopp würde ich jetzt wohl nicht durchstehen. Rätselhafte Geschichte mit diesem Sir Adrian. Welches Händlerkind hat schon einen Sir als Hauslehrer? Selbst Juweliere dürften nicht in diesen Genuss kommen. Und warum wollte der Hauslehrer Gabriel töten? Als "Verräter" hat Gabriel ihn bezeichnet. Zu gerne würde ich ja wissen, wer unsere Reisenden wirklich sind.
Gegen Mittag hielten sie an, um zu essen. Der Koch unter den Wächtern bereitete wie immer die Mahlzeit vor, während die meisten der anderen Männer nach Brennholz suchten. Juliane beteiligte sich diesmal nicht an der Brennholzsuche, weil sie durch den schmerzenden Arm in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Stattdessen setzte sie sich auf einen großen Stein und polierte ihr Schwert mit dem unverletzten Arm. Durch die vielen Kämpfe hatte das Schwert schon ein paar winzige Scharten bekommen, es war aber nach wie vor sehr scharf.
Nach einer Weile setzte sich Gabriel zu ihr und betrachtete Juliane beim Polieren.
"Es tut mir leid, dass Sir Adrian Euch verletzt hat. Tut es sehr weh?"
"Das braucht dir nicht leid tun, denn das Kämpfen ist schließlich mein Beruf. Der Arm schmerzt tatsächlich ziemlich, aber ich denke, er wird gut verheilen."
"Ihr kämpft sehr gut. Ich wünschte, Ihr wärt früher zu Hause meine Kampflehrerin gewesen. Mit graute vor dem Kampflehrer, den ich hatte."
"Du hattest zu Hause sogar einen Kampflehrer? In deinem Alter?"
"Mein Vater fand es sinnvoll und auch der Rat beschloss, dass ich möglichst früh eine umfassende Ausbildung benötige, um meiner späteren Aufgabe gerecht werden zu können."
"Damit du später ein guter König wirst?"
"Genau!" Gabriel erbleichte schlagartig, als ihm klar wurde, was er zugegeben hatte. "Woher wisst Ihr davon?"
"Ich habe es mir von Anfang an gedacht. Aber keine Sorge: das Geheimnis bleibt unter uns. Offiziell bist du weiterhin Gabriel der Juwelierssohn für mich."
"Gut, dass Ihr schweigen werdet. Meine Mutter wäre sehr verägert, wenn sie es erführe."
"Und? Wie fühlt man sich so auf der Flucht?"
"Nun, es ist wirklich merkwürdig, denn so Manches an dieser Reise gefällt mir gut. Zuhause habe ich kaum etwas anderes zu sehen bekommen als unseren Palast, und selbst von dem nur einige Räume und den Hof. Na ja, von behüteten Ausritten mal abgesehen, aber die sind in letzter Zeit ausgefallen, wegen der Überfälle. Jetzt sehe ich wenigstens mal etwas von der Welt. Das ist erheblich aufregender als zu Hause. Am liebsten würde ich mit euch reiten, anstatt immer in der Kutsche zu sitzen. Aber das würde meine Mutter nie erlauben."
"Tja, für einen Knappen bist du noch zu jung. Aber vielleicht fällt uns ja noch was anderes für dich ein."
"Manchmal beneide ich die Jungs auf der Straße. Die haben zwar ein hartes Leben und müssen auch in meinem Alter schon arbeiten, aber sie werden wenigstens ernstgenommen. Vor allem werden sie nicht ständig von einer Kinderfrau betüddelt."
"Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es dich stört, wie ein Kind behandelt zu werden."
"Normalerweise bin ich ja auch ein artiger Junge, meine Mutter hat schließlich genug Sorgen. Außerdem ist Betty eine liebe Frau. Warum sollte ich sie ärgern?"
"Stimmt. So ist es auch leichter für alle Beteiligten."
Die Heiserkeit war übers Wochenende glücklicherweise verflogen, doch Juliane war nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache, als am Montag die Arbeit wieder anfing. Mit der anderen Hälfte ihres Verstandes dachte sie darüber nach, wie sie Gabriel zu Ritten unter freiem Himmel verhelfen konnte, ohne ihn zu gefährden.
"Juliane, bitte mehr Konzentration! Lies den letzten Satz noch dreimal!"
"Sorry, ja mache ich."
Mist! Jetzt versaue ich mir wegen eines nicht existenten Jungen noch meinen Job, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Pass bloß auf, Mädchen!
Der Rest des Tages verlief fehlerlos - auch in den nächsten Tagen und Wochen gönnte sich Juliane kaum eine Unaufmerksamkeit, wenn sie am Mikrofon saß. Sie hatte den Eindruck, dem Computer alles sagen zu müssen, was es auf der Welt zu sagen gibt. Von den einfachen Standardsätzen war sie längst in das Dickicht fachspezifischer Gespräche vorgedrungen. Mal ging es um das Funktionieren technischer Geräte, ein ander Mal um örtliche Gegebenheiten, dann wieder um Handelsgespräche. Besonders die umfangreichen Listen mit Firmennamen und Produktbezeichnungen waren ihr ein Dorn im Auge. Aber das entspannte Betriebsklima war ein erholsamer Ausgleich für lästige Sprachfetzen.
Bald war der Tag gekommen, an dem Martina ihr Stimmmuster abgeschlossen hatte und Abschied nahm. Trotzi spendierte eine Flasche Champagner, den sie nach Feierabend gemeinsam schlürften. Martina wirkte eher traurig als in Feierstimmung.
"Was machst du eigentlich anschließend, Martina?"
"Das gleiche, was die meisten von uns tun: versuchen, von den Tantiemen zu leben."
"Ist das denn soviel?"
"Wenn man sehr bescheiden lebt, soll es angeblich eine Weile reichen. Ich habe eine Mitbewohnerin in meine Wohnung aufgenommen, damit die Miete nicht so teuer ist."
"Meine Wohnung eignet sich leider nicht, um darin zu zweit zu wohnen, schade. Aber dafür ist sie auch nicht sehr teuer. Aber ob das reichen wird?"
"Ich weiß auch noch nicht, ob ich mit dem Geld auskommen werde. Vielleicht mache ich nebenher Büroarbeiten, wenn ich Aufträge kriege. Und nach einem neuen Job suche ich natürlich sowieso."
"Weißt du eigentlich, wie es unseren Vorgängerinnen so ergeht, nachdem sie hier fertig sind?"
"So arg viele sind das noch gar nicht, weil die Stimmuster-Produktion hier bisher nicht mal ein Jahr lang läuft. Mit Silvia, deiner Vorgängerin telefoniere ich öfter, aber die ist ja erst einen Monat draußen. Sie kennt aber welche, die schon ein halbes Jahr und länger fertig sind. Manche leben wohl immernoch von den Tantiemen, andere haben einen neuen Job und es gibt wohl auch welche, die sich finanziell übernommen haben und jetzt im Schwarm wohnen."
"Dann drück ich uns die Daumen, dass wir zu denen gehören, die es schaffen. Meldest du dich mal, damit wir hören, wie du klarkommst."
"Logisch! Wir können uns auch nach Feierabend mal treffen."
"Gerne!"
Am nächsten Tag kam Nora: verunsichert, aber mit einer schönen Altstimme. Juliane fühlte sich schon sehr alteingesessen in ihrem Job, als sie Nora die Details des Arbeitsalltags erklärte.
Zu Hause versuchte Juliane mehrmals, ein Treffen mit Susanne zu verabreden, doch Susanne war so beschäftigt, dass sie den Termin immer wieder hinausschob. Auf dem Bildschirm sah Susanne völlig verändert aus: schick geschminkt, mit eleganter Frisur und einem seidenen Halstüchlein, aber gut gelaunt. Juliane war schon sehr neugierig darauf, wie es Susanne im Detail ergangen war. Aber die kleinen Abenteuer am Rande ließen sich einfach besser bei einem gemeinsamen Kaffee austauschen.
Ob sie wohl einen neuen Freund hat? Arbeit alleine hält einen meistens nicht so beschäftigt, dass man nicht mal am Sonntag seine beste Freundin besuchen kann. Na ja, ich hab ja meine Mittelalterwelt. Da warten sie schon auf mich.
In World 3000 schlug sie zahlreiche Scharmützel, lernte bukolische Städte kennen und befreundete sich immer enger mit ihren Mitreisenden. Der Weg zur Hauptstadt schien endlos, aber sie genoss jeden Tag der Reise.
Oft fiel es ihr spätabends schwer, sich aus der Abenteuerwelt loszureißen und schlafen zu gehen. Doch nachdem sie gemerkt hatte, dass sie für die Arbeit ihre volle Konzentration brauchte, zwang sie sich meistens rechtzeitig ins Bett.
Im Supermarkt achtete Juliane inzwischen sorgsam auf die Preise ihrer Einkäufe. Denn sie wollte so lange wie möglich von ihren späteren Tantiemen leben und ihr war klar, dass sie dazu ihre Ausgaben auf ein Minimum reduzieren musste. Noch gönnte sie sich ein paar ihrer kostspieligeren Lieblingsspeisen, aber die wollte sie nach und nach gegen billigere Produkte austauschen.
Sie stand vor der Kasse und überschlug die Kosten des Einkaufs, als sie mit ihrer eigenen Stimme angesprochen wurde.
"Bitte schieben Sie Ihren Wagen durch die Kasse!"
Verwirrt blickte Juliane sich um. Wie ist das möglich? Warum spreche ich mit mir? Habe ich schon Halluzinationen? Von hinten drängelte eine Frau.
"Machen Sie schon! Gehen Sie endlich durch die Kasse!"
Endlich verstand Juliane, was vor sich ging. Ihr Stimmmuster wurde bereits praktisch eingesetzt. Zügig ging sie durch die Kasse.
"Vielen Dank für Ihren Einkauf!"
Die automatische Kasse hat tatsächlich meine Stimme angenommen. Erstaunlich, dieser Effekt! Dabei habe ich das mit dem Wagendurchschieben doch nie gesagt, zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Das ist wohl des Geheimnis des "Stimmmusters". Aus meinen Worten werden beliebige Sätze gebildet.
Sie drehte sich zu der Frau um, die gedrängelt hatte und sagte: "Entschuldigen Sie bitte meine Verträumtheit".
Jetzt war die Reihe an der Frau, sich verwirrt umzublicken.
Juliane genoss diesen kurzen Moment und machte sich dann auf den Heimweg.
Zu Hause fand sie eine Nachricht von Susanne vor. Susanne hatte am Sonntag endlich Zeit für ein gemütliches Schwätzchen. Juliane freute sich sehr, denn trotz der Kollegen im Callcenter und ihren virtuellen Freunden in der Mittelalterwelt, fühlte sie sich oft einsam. Sie konnte es kaum erwarten, dass es Sonntag wurde und sie endlich wieder eine echte Freundin treffen würde.
Doch zuerst war sie befremdet, als sie Susanne endlich im Café gegenüber stand. Susanne hatte sie in ein teures Etablissement eingeladen, das sich Juliane noch nie hatte leisten können.
Ob das überhaupt Susanne ist? Sie sieht überhaupt nicht mehr wie Susanne aus. Weder wie die fröhliche, normale Susanne aus Jugendtagen, noch die freudlose Susanne aus dem Schwarm. Wie geschniegelt sie aussieht. Ob man überhaupt noch normal mit ihr reden kann? Na ja, wenigstens die Augen erkenne ich wieder.
Trotz Julianes Befürchtungen sprang Susanne fröhlich auf und nahm ihre Freundin herzlich in den Arm. Beim Hinsetzen verhedderte sie sich mit einer ihrer langen Ketten an der Stuhllehne. Betreten kichernd befreite sie sich wieder und warf einen spöttisch amüsierten Blick auf ihr Geschmeide.
"Ich seh es dir schon an: du wunderst dich über meine aufgetakelte Erscheinung, oder?"
"Ertappt! Wie bist du denn zu den ganzen Klunkern gekommen? Und was hat der Friseur gekostet?"
"Theo hat es offenbar gefallen, mich nach Strich und Faden zu verwöhnen."
"Theo? Der ist doch jetzt dein Boss. Du meinst..., nein, das meinst du nicht, oder?"
"Doch, ich meine."
"Du und Theo? Nein - unfassbar. Ich hab mich schon gewundert, warum du überhaupt den Job bei diesem Schnösel angenommen hast."
"Das war der reine Fluchtimpuls. Ich hätte fast alles angenommen, was mich aus diesem trostlosen Kasten rausgeholt hätte."
"Gut, das konnte ich ja auch noch nachvollziehen. Aber, dass du dann gleich..."
"... mit Theo anbandelst. Sag es ruhig, auch wenn sich dir dabei bestimmt der Magen rumdreht. So schlecht ist der Theo gar nicht. Dieses ganze Schnösel-Getue ist nur Fassade. Eigentlich ist er ein ganz anständiger Kerl. Und einsam war er in dieser Schnösel-Welt. Ich glaube, dort sind die meisten einsam - egal wie es aussieht."
"Und du hast jetzt ein wenig Herz in sein Leben gebracht. Dafür überhäuft er dich mit unnützem Tand - na prima."
"He, he, ich wollte schon immer gerne Tand im Überfluss haben, schicke Kleider, elegante Schuhe, glitzernden Schmuck und teure Frisuren. Schon als ich ein kleines Mädchen war, wäre ich gerne eine Prinzessin gewesen. Wie könnte ich da jetzt widerstehen?"
"Das leuchtet ein. Als Kind hatte ich auch meine Prinzessinnen-Phase, aber jetzt reizt mich das kaum noch."
"Genau so dachte ich auch noch vor kurzem. Aber inzwischen denke ich, dass das nur ein Psychotrick ist, damit man sich nicht vor lauter Neid verzehrt. Bestimmt werde ich diese Nobelklamotten auch irgendwann leid, aber es ist klasse, das Luxusleben mal ausleben zu können."
"Mag sein, aber zur Zeit stelle ich mich eher auf das Leben eines Sparweltmeisters ein. Mein Job ist ja bald schon wieder vorbei und dann will ich versuchen, so lange wie möglich mit den Tantiemen auszukommen."
"Tantiemen? Klingt ja interessant."
"Ist es auch. Die zahlen mir Prozente auf die Lizenzverträge für die Nutzung meines Stimmmusters. Inzwischen finde ich das durchaus angemessen, denn es ist ziemlich merkwürdig, wenn Maschinen mit der eigenen Stimme sprechen."
"Wo du es grad erwähnst: seit ein paar Tagen spricht unser Aufzug mit deiner Stimme. Beim ersten Mal war ich ganz erschrocken und habe mich umgeschaut, ob du plötzlich im Aufzug erschienen bist. Aber da war niemand. Gespenstisch fand ich das, bis mir einfiel, dass du ja diese Stimmmuster produzierst."
"Und dann hat dich der Aufzug immerzu dran erinnert, dass wir uns mal treffen wollten?"
"Da habe ich sowieso oft dran gedacht, aber ich muss gestehen, dass die letzten Wochen oft wie ein Rausch waren. Theo und ich waren auch sehr miteinander beschäftigt. Heute hat er aber ein langweiliges Meeting und da habe ich die Gelegenheit gleich genutzt."
Im Verlauf des Gespräches fühlte Juliane sich wieder vertrauter mit Susanne, obwohl ein gewisser Graben bestehen blieb. Susanne in der Welt der Reichen angekommen und Juliane, die immer noch um eine würdige Existenz kämpfte.
Nach Nora kam Sarah und ehe sie sich versah, war Juliane die Dienstälteste bei der Stimmmuster-Aufzeichnung. Der letzte Arbeitsmonat diente dem Auffüllen von Lücken und eventuellen Korrekturen. Juliane telefonierte in dieser Zeit mehrmals mit Martina, der es sehr gut zu gehen schien.
Immer wieder hatte Juliane durchgerechnet, wie lange sie ohne Job durchhalten könnte, war aber noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Drei Monate würde sie mit Sicherheit schaffen, denn der erste Monat wurde ja noch vom Callcenter finanziert. Für zwei weitere Monate hatte sie genug angespart, um die Miete im Voraus zahlen zu können. Danach hing Julianes Leben aber davon ab, wie sparsam sie lebte.
Den ersten freien Monat genoss Juliane in vollen Zügen. Ihren Computer hatte sie natürlich beauftragt, weiterhin nach Jobs zu suchen, außerdem hatte sie sich als Anbieter von Bürodienstleistungen registrieren lassen. Aber da keine Angebote reinkamen, hatte sie den ganzen Tag zur freien Verfügung.
Im Gegensatz zum letzten Mal grauste sich Juliane jedoch nicht vor jedem neuen Tag, der sie vermeintlich dem Schwarm näher brachte, sondern konnte den kommenden Monaten entspannter entgegensehen.
Sie verbrachte ganze Tage in der Mittelalterwelt. Inzwischen hatten sie die Hauptstadt längst erreicht und die Königsfamilie war wohlbehalten der Obhut des hiesigen Königs anvertraut worden. Juliane hatte sich einer Kriegertruppe angeschlossen, die das besetzte Nachbarland befreien wollte. So erlebte sie die weite Reise noch einmal in der umgekehrten Richtung, diesmal jedoch mit mehr Erfahrung.
Als der zweite freie Monat anfing wurde Juliane unruhiger, obwohl das Callcenter ihr mehr Tantiemen überwiesen hatte als erwartet. Sie beschloss, sich aktiver um Büroaufträge zu kümmern. Dazu richtete sie sich eine seriös wirkende Webseite ein, auf der sie sich vorstellte und ihr Angebot detailliert beschrieb. Sie opferte sogar etwas Geld, um sich in Verzeichnisse eintragen zu lassen. Doch diese Maßnahmen brachten keinerlei Resonanz.
Ob ich vielleicht doch mal bei diesem Thomas anrufe, den ich damals auf der Party kennengelernt habe? So ganz ohne Sekretärin sammelt sich bestimmt einiges an Arbeit an, trotz der tollsten Computerprogramme. Oh, es ist mir aber so peinlich, wie ich mich damals aufgeführt habe. Ach was, ich tu einfach so als wär nichts Peinliches gewesen. Er kann ja schließlich auch absagen. Ob ich es wirklich wagen soll? Gib dir einen Ruck, Mädel!
Lange feilte Juliane an einer Nachricht, um sie Thomas zu schicken. Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, lief sie unruhig in ihrer Wohnung auf und ab. Nicht mal auf ihre Mittelalterwelt konnte sie sich richtig konzentrieren. Dabei kann es Tage dauern, bis er antwortet. Wenn er sich überhaupt je meldet. Immmer mit der Ruhe!
Schon am gleichen Abend wurde Juliane von ihren Qualen erlöst. Thomas meldete sich nicht nur direkt zu einem Livegespräch, sondern er schien sich auch über Julianes Anruf zu freuen.
"Zuerst dachte ich ja, ich hätte keinen Büroauftrag zu vergeben. Aber ich wollte dich gerne mal wieder sehen. Und dann fielen mir die alten handschriftlichen Akten ein, die sich bei mir auf den Schränken türmen. Die automatische Schrifterkennung hat bei meiner Handschrift versagt und so fehlen mir einige Daten im Computer."
"Das klingt gerade richtig für mich. Wann soll ich anfangen?"
"Sobald du willst. Aber ich kann nicht viel zahlen. Eigentlich kann ich kaum einen Hungerlohn zahlen."
"Kein Problem, ich machs dir billig. Wenn es dir recht ist, komme ich gleich morgen."
"Ja, das wäre wunderbar. Dann bis morgen."
"Bis morgen."
Huch, das ging jetzt aber plötzlich. Hurra! Ich habe einen Auftrag!
Juliane sprang von ihrem Drehstuhl auf und tanzte ausgelassen durch die Wohnung. Sie fühlte sich, als hätte sie im Lotto gewonnen. Dabei war ihr eigentlich klar, dass der Auftrag bestenfalls helfen würde, einen weiteren Monat zu überbrücken.
Am nächsten Morgen wachte sie schon frühmorgens auf, voll gespannter Erwartung. Sie duschte besonders ausgiebig und gönnte sich ein üppiges Frühstück, weniger weil sie Hunger hatte, sondern um sich die Zeit zu vertreiben, bis sie bei Thomas aufkreuzen durfte.
Als sie dann vor dem Haus stand, wunderte sie sich nicht mehr, dass Thomas Geschäfte nicht besonders gut liefen. Seine "Kanzlei" befand sich im Souterrain eines stinknormalen Einfamilienhauses.
Thomas bat Juliane gleich nach dem ersten Klingeln gestenreich ins Innere seiner Kanzlei. Juliane betrat die Wohnung - neugierig, wie Thomas wohl lebte und arbeitete. Der Wohnungsflur war als Rezeption getarnt, der man auf den ersten Blick ansah, dass sie selten benutzt wurde. Das Büro war wohl ursprünglich als Wohnzimmer geplant gewesen. Jetzt beeindruckte es vor allem durch Papierfülle.
Hastig räumte Thomas einen Aktenstapel von einem Stuhl und forderte Juliane auf, Platz zu nehmen. Juliane setzte sich und nickte zustimmend, als Thomas sie fragte, ob sie Kaffee wollte. Während Thomas unterwegs war, um den Kaffee zu organisieren, schaute Juliane sich im Büro um.
Hier fehlt wirklich eine ordnende Hand. Da geht es ja nicht nur um ein paar Akten auf den Schränken. Obwohl sich auf den Schränken natürlich auch die Akten stapeln.
"Hier ist dein Kaffee. Und willkommen in meinem Chaos!"
"Danke! Sieht ja eigentlich so aus, als hättest du gut zu tun."
"Das soll es einerseits auch. Andererseits wäre ich schon sehr froh, wenn die ältesten Fälle auf den Schränken mal verschwinden könnten. Denn dann habe ich mehr Luft für die aktuelleren Akten."
"Ja, das leuchtet ein. Dann mach ich mich am besten wohl gleich an die Arbeit."
"Hiermit kannst du anfangen und dich dann nach und nach im Uhrzeigersinn vorarbeiten."
Thomas schob einen Stufenhocker an die Tür, stieg nach oben und griff nach dem dicken Stapel Akten. Kurzfristig verlor der Stapel das Gleichgewicht und die Akten drohten einzeln auf den Boden zu fliegen. Juliane sprang schnell auf, um sie aufzufangen. Doch dann gelang es Thomas gerade noch rechtzeitig, den Stapel auszubalancieren und unbeschadet auf den Schreibtisch gleiten zu lassen. Eine Staubwolke stieg auf.
"Puh, hast du irgendwo ein Tuch?"
"Ja, dort auf meinem Tisch."
Juliane zog ein Tuch aus dem Spender und begann, die blassroten Akten zu entstauben.
"Und was genau soll ich jetzt mit den Akten anstellen?"
"Schau hier: die maschinengeschriebenen Texte sind natürlich alle längst im Computer. Es geht nur um die Randbemerkungen und Gesprächsprotokolle. Dort an dem Schreibtisch kannst du dich ausbreiten. Das Programm ist schon instruiert, dass du alte Fälle ergänzen willst. Falls du nicht klar kommst, frag einfach."
"Ich seh hier gerade die Jahreszahl. Bist du schon so lange im Geschäft?"
"Jein. Schon in der Schulzeit habe ich in der Kanzlei meines Patenonkels ausgeholfen. Dort habe ich mir auch mein Studium verdient und nach dem Studium bin ich als Juniorpartner in die Kanzlei eingestiegen. Kurz danach ist mein Onkel jedoch gestorben und hat mir all die Akten hinterlassen. Leider hatte er kaum reiche Kunden und die anderen bleiben weg, weil der Staat keine Prozesse mehr finanziert. Wer kein Geld hat, muss heutzutage mit einem juristischen Beratungsprogramm auskommen."
"Das klingt ja gar nicht erfreulich."
"Stimmt. Aber wer solls bezahlen? Was solls? Du blickst soweit durch?"
"Ja, alles klar und wenn was unklar wird, frage ich."
Juliane nahm die oberste Akte vom Stapel und öffnete sie. Das Gekrakel am Rand war eines Arztes würdig, so schlecht konnte man es entziffern. Der Name des Mandanten war jedoch deutlich gedruckt und so fand Juliane den Mandanten schnell im Computer. Nachdem sie den Stapel Blätter mehrmals durchgesehen hatte, bekam sie auch ein Gefühl für die Handschrift und es gelang ihr, die Randbemerkungen in der Maschine zu verewigen.
Das Anwalt-Programm war anscheinend bestens auf die Aufgabe mit den alten Akten vorbereitet. Es bot Juliane geeignete Stellen, um Kommentare einzutippen und erklärte sich von selbst.
Wahrscheinlich sitzen jetzt überall billig angeheuerte Aushilfskräfte, die gut genug für die Verwaltung eines Konzerns ausgebildet wären, und tippen unleserliche Akten ab. Die letzte Bastion menschlicher Arbeit. Nicht mal mehr den Boden kehren müssen wir Menschen.
Dort, wo einige Staubflocken von den Akten zu Boden gefallen waren, sauste ein babykatzen-großes Gerät zur Bodenreinigung über den Staub und hinterließ eine makellose Fläche.
Auf jeden Fall ist es besser als alleine zuhause sitzen. Und es ist ja durchaus eine sinnvolle Tätigkeit. Eigentlich geht es sogar ganz flott von der Hand.
Nach kurzer Zeit hatte Juliane den Stapel abgearbeitet, schob ihn an das freie Ende ihres Tisches und kletterte auf den Hocker, um Nachschub zu holen.
"Nimm erst mal nur die obere Hälfte und reich sie mir. Sonst gehts dir wie mir."
Juliane tat wie geheißen und reichte Thomas die obere Hälfte des Stapels. Mit dem Rest in der Hand erreichte sie unbeschadet den Boden.
"Du kommst ja richtig flott voran. Klappt alles?"
"Ja, geht einfach. Nachdem ich mich mal in die Handschrift eingelesen hatte, war der Rest ein Kinderspiel."
"Erstaunlich, dass du die Klaue lesen kannst."
"Tja, an mir ist wohl eine Apothekerin verloren gegangen. Ich mach mal weiter."
Als Juliane gerade den dritten Stapel vom Schrank holen wollte, bremste Thomas sie.
"Lass uns erst mal was essen. Ich habe schon Hunger. Was hältst du von einer Pizza? Ich lade dich ein."
"Da sage ich nicht nein. Pizza klingt sehr lecker."
"Ok, ich bestell schnell welche."
Keine zehn Minuten später klingelte es im Gang. Thomas stand auf und öffnete eine Klappe hinter der Rezeption. Im Warenaufzug dampften die beiden Pizzas.
"Schau, man kann den Tresen der Rezi umklappen, dann hat man einen Tisch."
Juliane staunte über den praktischen Wandeltisch und legte die Pizzapackungen an passende Plätze. Thomas holte Besteck aus einem Schrank, der sich als verborgene Kochnische entpuppte. Dann ließen sie es sich schmecken.
"Schmeckts dir?"
"Oh ja, wunderbar!"
"Schade, dass es ein teures Vergnügen ist, sonst würde ich wahrscheinlich täglich Pizza bestellen."
"Weisst du was? Ich könnte uns ab morgen was kochen. In letzter Zeit habe ich einen Haufen billige Rezepte gesammelt, aber für eine Person lohnt es sich kaum zu kochen."
"Das ist ja eine phantastische Idee. Gekochte Mahlzeiten sind eine Seltenheit für mich."
Das billige Kochen war ein voller Erfolg. Thomas fand das Essen sehr lecker und konnte kaum fassen, wie billig Juliane die Zutaten dafür gekauft hatte. Er bot Juliane an, dass er fortan für die Zutaten aufkommen würde, solange Juliane für beide kochen würde.
Das nenne ich mal eine Win-Win-Situation. Thomas bekommt ein Essen, das er billig findet und das ihm schmeckt. Ich darf eine lohnenswerte Menge kochen und werde auch noch kostenlos satt. Außerdem macht es Spaß, mit Thomas zusammen zu essen.
Die Aktenstapel auf den Schränken schmolzen schneller, als es Juliane recht war, denn die Arbeit bereitete ihr Freude, obwohl die Abtipperei eigentlich eher stupide war. Mit Schaudern dachte Juliane daran, dass auch diese Arbeit bald wieder zu Ende sein würde.
An einem der bisher grauen Herbsttage besiegte die Sonne gegen Mittag die Wolken und putzte den Himmel so lange, bis er leuchtend blau war. Juliane beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, um das schöne Wetter auszunutzen.
Das flotte Gehen tat gut, nach all den Tagen im Büro. Kurz hinter Thomas' Viertel stieß Juliane auf Bauarbeiten, die einen ganzen Stadtteil umfassten. Juliane stellte sich an den Bauzaun und spähte durch die Lücken. Da wurde nicht nur ein einzelnes Haus gebaut, sondern das ganze Viertel wurde abgerissen und durch neue Häuser ersetzt. Durch energieautarke Häuser natürlich - glitzernde Häuser für Arbeitslose.
Juliane verstand immer noch nicht so ganz, wie es billiger sein konnte, neue Häuser zu bauen als vorhandene Häuser zu nutzen. In dem Stadtteil, der jetzt abgerissen wurde, hatten Schulfreundinnen von Juliane gewohnt und sie war dort oft zu Besuch gewesen.
Durch den Bauzaun konnte sie eine fast hausgroße Maschine sehen, die ganz dicht bei einem der alten Häuser stand. Die Maschine schien das Haus zu fressen. Stück für Stück verschwanden die Mauern des Hauses im Innern der Maschine. Im Innern fanden wohl seltsame Vorgänge statt, denn die Maschine machte einen Höllenlärm und hinten kamen moderne Vielschichtwände heraus.
Diese neuen Wände wurden mit einem kranartigen Gerät sofort zu einer Hausbaustelle in direkter Nachbarschaft gebracht und dort eingebaut. Das neue Haus wuchs genauso schnell, wie das alte Haus schrumpfte.
Kaum Menschen auf dieser Baustelle. Das ist mal wieder typisch: Menschen werden nicht mehr gebraucht. Aber da hinten laufen noch Arbeiter rum. Für Sonderaufgaben werden wohl doch noch Menschen gebraucht. Wir sind also noch nicht komplett überflüssig. Die Typen da hinten haben aber einen merkwürdigen Gang. Überhaupt bewegen die sich recht merkwürdig. Sind das überhaupt Menschen?
Inzwischen war ein älterer Mann neben Juliane am Bauzaun erschienen und schaute, wie sie, nachdenklich ins Innere der Baustelle.
"Können Sie erkennen, ob das dahinten Menschen sind?", fragte Juliane.
"Das sieht man deutlich am Gang, dass das Maschinen sind. Menschen gibt es nicht auf dieser Baustelle."
"Gar keine Menschen mehr? Das sind aber nicht sehr viele."
"Warum soll es der Baubranche anders gehen als anderen Bereichen des Lebens?"
"Da haben Sie auch wieder Recht. Wir Menschen werden ja kaum noch gebraucht - für nix mehr."
"Sie kämpfen wohl auch um ihren Job? In der Hinsicht habe ich es gut, denn ich bin zu alt für normale Arbeit. Trotzdem musste ich hier ausziehen und in einen dieser modernen Klötze ziehen."
"Oh, Sie haben hier gewohnt?"
"Ja, seit ich erwachsen bin. Damals war die Siedlung hier ganz neu. Alle Bewohner waren froh und glücklich, hier eine Wohnung gefunden zu haben. Aber damals waren die Wohnungen auch noch bezahlbar."
"Als Kind habe ich auch oft hier gespielt, denn meine Freundinnen wohnten hier."
"Ja, das war ein gutes Leben in unserem Viertel. Als dann aber die Amis die ganzen Häuser gekauft haben, kurz nach der Jahrtausendwende, war es vorbei mit der Herrlichkeit. Die Mieten wurden drastisch erhöht, um uns Mieter zum Kauf unserer Wohnungen zu nötigen. Die meisten Mieter hatten jedoch nicht genug Geld, um auch nur daran denken zu können, sich eine Immobilie zu leisten. Nach und nach sind diese Mieter dann weggezogen. Ich war einer der wenigen Idioten, die ihre Wohnung zu überhöhten Preisen gekauft haben, was ich heute noch bereue. Denn mit jedem Mitbewohner, der auszog, stiegen die Nebenkosten. Das hat mich und meine Frau fast ruiniert. Im Endeffekt ist sie wohl auch durch die Geldsorgen so früh gestorben. Tja, und jetzt wohne ich in einem dieser Glitzerkästen in einem kleinen Zimmer."
"Das ist ja eine furchtbar traurige Geschichte."
"Durchaus, aber es gab auch gute Zeiten, die wir sehr genossen haben."
"Warum haben die Amis eigentlich die Häuser gekauft?"
"Damals gab es einen Immobilienboom in den USA und Leute mit Geld haben Unsummen in Häuser und Grundstücke gesteckt. Irgendwann gab es dort aber kaum noch Häuser zu kaufen, also sind sie nach Europa gegangen und haben unter anderem in Deutschland ganze Stadtviertel aufgekauft. Die früheren Besitzer haben sich gefreut, denn damals hatten fast alle Geldprobleme. Die Immobilienblase in den USA platzte natürlich irgendwann und der Dollar rutschte in den Keller, dann waren die Häuser plötzlich nichts mehr wert. Dummerweise hatte ich vorher gekauft, als sie noch teuer waren."
"Das wusste ich gar nicht, dass die Amerikaner in Deutschland soviele Häuser gekauft hatten."
"Das will auch keiner so genau wissen. Damals vor allem wir Deutschen nicht, weil wir unsere vermeintlich kostbaren Häuser verscherbelt haben und inzwischen wollen die Amis nichts mehr davon hören, weil sie mit den Häusern starke Verluste eingefahren haben. Dass keiner die Häuser mit schlechter Isolierung haben wollte, haben die Amis nicht berücksichtigt. Jetzt hungern drüben in den USA viele Alte, die ihre Altersversorgung mit unseren Häusern gestalten wollten und von den Anlageberatern über den Tisch gezogen wurden."
"Alte Amis hungern, weil hier die Häuser abgerissen werden?"
"Ja genau. Die Käufer waren Investmentfonds, die das Geld einfacher Amerikaner verschleudert haben. 'Immobilien' klang wohl nach sicherer Geldanlage."
"Wie schrecklich. Im Endeffekt sind es wohl meistens die kleinen Leute, die die Rechnung für die Schnapsideen der Reichen zahlen."
"Richtig. Mit dem Unterschied, dass ich wenigstens eine Entschädigung für meine Wohnung bekommen habe. Daher kann ich jetzt ohne Sorge eine neue, wenn auch winzige, Wohnung bewohnen. Die amerikanischen Kleinanleger sitzen jetzt teilweise auf der Straße und hungern im wahrsten Sinne des Wortes."
"Leider muss ich weiter. War nett sich mit Ihnen zu unterhalten. Alles Gute wünsche ich Ihnen."
"Ihnen auch junge Frau. Lange nicht so eine interessante Gesprächspartnerin gehabt. Lassen Sie es sich gut gehen."
Nachdenklich ging Juliane nach Hause. Das gefällt mir ja alles überhaupt nicht. Baustellen ohne menschliche Bauarbeiter und betrogene Kleinanleger. Dabei dachte ich, wenn man es erstmal geschafft hat, Geld anzulegen, kann einem nicht mehr viel passieren. Aber das ist offensichtlich ein Irrtum.
Am nächsten Tag hatte Thomas einen Termin mit einer Mandantin. Das war anscheinend inzwischen ein seltenes Ereignis, denn Thomas wirkte nervös und wuselte aufräumend durch das Büro. Juliane setzte sich mit ihrem Aktenstapel in die Rezeption und spielte Rechtsanwaltsgehilfin. Als die Mandantin eintraf, bat Juliane sie mit honigsüßer Stimme Platz zu nehmen und ein paar Minuten zu warten. Thomas war der Ansicht gewesen, dass eine gewisse Wartezeit den Wert der
Rechtsberatung erhöhen würde. Nicht etwa, dass die Mandantin viel bezahlen würde; soweit Juliane wusste war, sie eine arme Rentnerin dicht an der Grenze zum Sozialfall. Und genau um diese Problematik ging es wohl auch.
Während die Mandantin bei Thomas im Beratungsgespräch war, saß Juliane in der normalerweise unbenutzen Rezeption und gab sich ihren Gedanken hin.
Das würde mir schon sehr gefallen, immer hier zu arbeiten. Dann könnte ich öfters Mandanten begrüßen, das Büro in Ordnung halten und jeden Tag gäbe es eine leckere Mahlzeit für Thomas und mich. Richtig romantisch fände ich das. Dafür würde ich gerne auf jede Art von Karriere verzichten. Schade, dass Thomas sich keine Sekretärin leisten kann.
Die nächsten Tage eilten dahin, ohne dass Juliane sie aufhalten konnte. Nachdem alle Stapel abgearbeitet waren, durfte sie noch ein einziges Mal kommen, um das Büro aufzuräumen und die freigewordenen Regalplätze zu füllen. Dann war ihr Job zu Ende und selbst die Bezahlung, die sie bekam, konnte Juliane nicht trösten. Natürlich zeigte sie nicht, wie traurig sie war, denn das wäre ihr peinlich gewesen.
Am liebsten würde ich ja wenigstens weiter zum Kochen kommen. Aber das wirkt so sehr nach Betteln. Und Betteln will ich nicht.
Beim Abschied zögerte Thomas kurz, als wollte er noch was sagen. Das tat er auch, nämlich er lobte Juliane zum wiederholten Male für ihre Arbeit. Sie hatte aber den Eindruck, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, traute sich aber nicht nachzufragen.
Den Weg nach Hause schaffte Juliane tapfer aber mit einem Kloß im Hals. Als sie jedoch nach Hause kam, schoss ihr plötzlich das Wasser in die Augen und sie weinte den Rest des Abends um das verlorene kleine Arbeitsglück.