Juliane testete die Schärfe des Messers und schnitt sich dabei in den Daumen. Au, das tut ja richtig weh! Und morgen wird mich das beim Gemüseschnippeln stören.
Oh, Mann bist du blöd, Mädel! Wenn du dich jetzt gleich tötest, kannst du überhaupt nicht mehr Gemüse schnippeln. Was willst du denn nun? Gib es zu, du willst eigentlich gar nicht tot sein. Du willst nur nicht im Schwarm leben. Ja, aber ich habe doch gar keine Alternative! Vielleicht könntest du weg gehen. Weg - aufs Land. Raus aus der Stadt. Dann verlässt du zwar die soziale Hängematte, aber die gefällt dir ja sowieso nicht. Hm? Ob ich wirklich weggehen könnte? Einfach so?
Na klar, oder hast du irgendwo unterschrieben, dass du lebenslang im Schwarm eingekerkert bleiben musst? Nein? Nein! Na, also! Besser als jetzt sterben, ist Weggehen alle Mal. Wenn du dann dort draußen verhungerst, hast du es wenigstens versucht. Ok, ich werde es versuchen. Zuerst sollte ich mal herausfinden, was sich außerhalb der Stadt überhaupt abspielt, denn in der Stadt kann ich nicht bleiben ohne Job.
Entschlossen umwickelte Juliane das Messer vorsichtig mit Toilettenpapier und steckte es zurück in ihre Jacke. Dann legte sie sich in ihr Bett. Aber an Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Die Idee wegzugehen raste durch ihren Kopf und schlug dabei wilde Purzelbäume. Dabei wurde ihr immer schmerzhafter bewusst, dass sie von der Welt außerhalb ihrer Stadt überhaupt nichts wusste. Inzwischen hatte sie sogar jegliche Verbindung zu Allem außerhalb ihres Schwarms verloren.
Wie leben die Menschen eigentlich auf dem Land? Gibt es dort überhaupt Menschen oder sind dort nur noch Landwirtschaftsroboter? Was ich alles herausfinden muss, bevor ich aufbrechen kann. Und dann brauche ich noch eine Ausrüstung, denn nur mit den Kleidern am Leib werde ich nicht weit kommen. Ob mein Restgeld für ein Fahrrad ausreicht? Wohl eher nicht. Ach wäre es doch nur schon Morgen, damit ich mit meinen Recherchen anfangen kann.
Obwohl sie es kaum für möglich gehalten hätte, schlief Juliane irgendwann ein und träumte von Wanderungen in einer fremden ländlichen Welt. Kaum schien das erste Tageslicht ins Zimmer, erwachte sie wieder und hätte sich am liebsten gleich an ihren Computer gesetzt, um mehr über die Außenwelt zu erfahren. Aber da wartete ja noch die Arbeit in der Küche und vorher der Sport und das Essen.
Dass ich die Küchenarbeit mal als lästige Pflicht empfinden würde, hätte ich auch nicht gedacht. Dabei ist sie das einzig wirklich Sinnvolle in dieser Menschen-Aufbewahrungsanstalt.
"Wie gut, dass du die Nudeln spendiert hast, Juliane. Denn sonst hätten wir heute gar nichts kochen können." "Freut mich, dass es etwas genützt hat. Mal was ganz anderes, Hedwig: Weißt du eigentlich, was jenseits der Stadtgrenzen vor sich geht?"
"Da sind andere Städte und all die Städte bilden zusammen die Europäische Union. Wieso fragst du?"
"Das mit der EU weiß ich natürlich, aber ich meinte eher, was zwischen den Städten ist. Auf dem Land."
"Ach so, das Land meinst du. Landwirtschaftliche Produktionsstätten vermute ich dort."
"Nur? Früher gab es dort doch mal Dörfer, weiß ich aus dem Geschichtsunterricht. Sind die alle
weg?"
"Oh, da bin ich überfragt. Das hat mich nie besonders interessiert. Ich weiß nur, dass auf dem Land die Nahrung produziert wird. Und früher gab es in den Bergen natürlich Wanderparadiese für Urlauber. Aber ob es die noch gibt?"
"Schade, dass du es nicht weißt. Wir Jüngeren wissen es bestimmt noch viel weniger. Da werde ich wohl den Computer fragen müssen."
"Ja, tu das. Der Computer weiß schließlich alles. Aber warum interessierst du dich plötzlich für das Leben auf dem Lande?"
"Nur so. Äh, vielleicht schreibe ich eine Geschichte darüber."
"Das ist gut, dass du eine Geschichte schreiben willst. Dann scheinst du dich ja allmählich hier einzuleben."
"Ja, das wird es wohl sein."
Schade, dass ich mich nicht traue, Hedwig die Wahrheit zu sagen. Aber die Wand könnte Ohren haben und außerdem hält Hedwig mich sonst bestimmt für verrückt. Was ich ja vielleicht auch bin. Gut, dass ich wenigstens das Messer unentdeckt wieder reinschmuggeln konnte. Sonst hätte sich Hedwig noch mehr über mich gewundert.
Nach dem Mittagessen setzte sich Juliane sofort an ihren Computer. Zur Tarnung legte sie sich einen Sammelordner mit der Bezeichnung "Geschichten" an, denn sie wollte nicht, dass der Computer zu schnell erfuhr, was sie plante.
"Schön Juliane, dass du Geschichten schreiben willst. Du scheinst Vernunft anzunehmen."
"Ja, ich will ganz brav werden. Zeige mir, wie die Menschen auf dem Land leben", hoffentlich hat der Computer meinen Sarkasmus nicht rausgehört.
"Das Land ist weitgehend unbewohnt. Manche Agrarökonomen wohnen in der Nähe ihrer Ländereien, aber das wird immer weniger. Die landwirtschaftliche Produktion läuft schließlich vollautomatisch."
"Gibt es gar keine traditionellen Bauern mehr?"
"Doch natürlich, aber die fallen statistisch nicht ins Gewicht."
"Für meine Geschichte will ich trotzdem etwas über diese Bauern wissen."
"Die meisten dieser Bauern leben am Rande des Existenzminimums, weil sie hoch verschuldet sind. Das wird keine gute Geschichte, darüber zu berichten."
"Das lass mal meine Sorge sein. Wie und vor allem wo leben diese Bauern?"
"Na gut, wenn du es unbedingt willst. Hier habe ich einen Dokumentationsfilm über einen solchen Bauern. Er wurde heimlich und unter Lebensgefahr von einem Soziologen gefilmt. Die heutigen Bauern sind nämlich extrem fremdenfeindlich."
Auf Julianes Bildschirm erschien eine Szene, die sie landschaftlich an ihre Mittelalterwelt erinnerte. Doch anstelle eines Dorfes war nur ein vereinzelter Hof zu sehen. Ein bärbeißig wirkender Greis humpelte von der Haustür, die schief in den Angeln hing, zu einem Gebäude, das Juliane als Scheune interpretierte. Auf dem Rücken des Bauern konnte Juliane ein Gewehr erkennen. Als der Greis die Scheune wieder verließ, hatte er ein langstieliges Werkzeug geschultert und lief zu einem Acker, auf dem viele Pflanzen durcheinander wuchsen. Dort begann er zu hacken.
In einer anderen Szene konnte man sehen, wie der Mann eine Ziege von einem Landstück zum nächsten zerrte und dort erneut an einen Pflock band. Ein Hund, bei dem man trotz der Entfernung die
Rippenknochen zählen konnte, zerrte an einer Kette und winselte, als der alte Mann an ihm vorbei lief. Der Bauer warf dem Hund ein Bündel Grünzeug hin.
Plötzlich drehte sich der Greis erstaunlich schnell um, griff nach dem Gewehr auf seinem Rücken und zielte damit auf die Kamera. Das Bild verwackelte und erlosch dann vollständig.
"Wie du siehst Juliane, ist mit diesen Bauern nicht zu spaßen. Der Forscher kam zwar mit dem Leben davon, aber nur weil er sehr schnell wegrannte."
"Und sonst gibt es kein Leben auf dem Lande? Was ist mit den ganzen Dörfern?"
"Verlassen. Während der Energiekrise sind die Bewohner vom Land in die Städte gezogen, weil es dort draußen mangels Transportmöglichkeiten keine Chancen mehr gab."
"Das kann ich mir ja kaum vorstellen, dass dort gar niemand mehr lebt."
"Mir liegen keine Informationen über bewohnte dörfliche Siedlungen vor."
"Ich dachte, du bist an ein weltweites Informationsnetz angeschlossen und weißt alles."
"Kostenlos stehen dir nur die Informationen des stadtinternen Netzes zur Verfügung. Willst du kostenpflichtig recherchieren?"
"Wieviel kostet das denn?"
"Bei Nichtabonnenten wird im Minutentakt und je nach angezeigtem Inhalt abgerechnet. Die aktuellen Kosten werden jeweils unten am Bildschirm angezeigt."
Oh je, und das, wo ich doch kaum noch Geld habe.
"Also gut, versuchen wir es mal. Zeig mir die Informationen über Bewohner ländlicher Gebiete."
Eine ellenlange Liste erschien auf dem Bildschirm. Am Fuss des Bildschirms standen Verweise auf weitere tausend Listenseiten.
"Oh je, ist das aber viel. Zeig mir den Inhalt des ersten Eintrags."
Die Informationsseite enthielt einen Vortrag über Schmetterlinge.
"Sowas suche ich doch nicht, du dämlicher Computer. Ich meinte natürlich Menschen."
"Dann musst du dich bei der Formulierung eben präziser ausdrücken, Juliane. Hier eine Liste mit Informationen über Menschen in ländlichen Gebieten."
Diesmal gab es immer noch fünfhundert Listenseiten. Auf dem ersten Informationsangebot fand Juliane eine vage Beschreibung des Lebens im achtzehnten Jahrhundert. Währenddessen kletterte die Kostenanzeige in atemberaubender Geschwindigkeit nach oben. Schon diese kurze Abfrage kostete so viel, wie Juliane in einer Woche in der Küche verdiente. Juliane sah dies mit Entsetzen.
"Stop! Hör sofort auf mit diesen kostenpflichtigen Seiten! Stop!"
"Zu Befehl, liebe Juliane. Willst du jetzt wieder World 3000 spielen?"
"Ja, nur zu."
Welch ein Albtraum. Anscheinend soll verhindert werden, dass ich mich frei informiere. Bei diesen Preisen bin ich restlos ruiniert, bevor ich auch nur in die gewünschte Richtung vorgestoßen bin. Na, dann muss es eben ohne gehen. Besser als sterben ist es allemal, die Freiheit des Landlebens zu suchen. Am besten, ich spiele erst mal ne Runde, damit es nicht auffällt, was ich vorhabe.
Nach der Arbeit in der Brauerei setzte sich Julia zu Rufus in die Schankstube. Als der Wirt ihr das Essen brachte, bat sie ihn spaßeshalber, weil ihr nichts besseres einfiel, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, weil sie ein paar Fragen an ihn hätte.
"Du kennst dich doch auf dem Lande aus, Sonnenwirt. Wo kann ich Menschen finden, die auf dem Lande leben, wenn ich die Stadt verlassen will?"
Seltsamerweise nahm der Wirt gar keinen Anstoß daran, dass sich Julia in World 3000 gar nicht in der Stadt befand, sondern in einer ländlichen Wirtschaft saß.
"Das wird gar nicht so einfach werden. Am besten hältst du dich in Richtung Nordosten von dort aus, wo du jetzt lebst. Gehe in die Hügel, aber nicht in die Berge. Und meide die Siedlungen der Taugenichtse. Ansonsten könntest du auch mal den Dorfmagier fragen. Willst du noch einen Humpen Bier?" "Nein danke, ein Bier brauch ich jetzt nicht. Aber was meinst du mit Dorfmagier? Von einem Magier hier im Dorf habe ich ja noch nie gehört."
"Kein Wunder, unser Magier lebt ja auch sehr zurückgezogen. Und wir erzählen nicht jedem, dass es ihn gibt. Nur so fleißigen Mädels wie dir."
"Wie kann ich diesen Magier denn finden? Und glaubst du wirklich, dass er mir weiterhelfen kann."
"Er kann dir bestimmt weiterhelfen, denn er ist im Besitz des großen Buches. Oberhalb der Kuhweide führt ein schmaler Weg in den Wald hinein. Folge dort bei jeder Weggabelung dem blauen Schimmer."
"Dem blauen Schimmer?"
"Du wirst schon sehen. Nur zu! Der Magier wird sich übrigens sehr über einen Schluck Bier freuen. Umso mehr, wenn du ihn selbst gebraut hast."
"Gut, aber wie transportiere ich das Bier am besten?"
"Ach Mädel, was bist du manchmal zaghaft. Aber immerhin eifrig bei der Sache und verlässlich; so liebe ich das. Hier hast du ein Fässchen. Im Netz, damit du es auch tragen kannst. Grüß ihn schön von mir, den Magier!"
"Ok, werde ich machen."
Julia machte sich auf den Weg zur Kuhweide. Sie begrüßte Berta, die sich ihr in den Weg stellte und anscheinend erwartete, wieder von Julia gemolken zu werden.
"Tut mir leid Berta, diesmal bin ich nicht gekommen, um dich zu melken. Du musst noch ein bisschen warten, dann wird dich bestimmt bald jemand melken."
Fast wäre Julia an dem engen Spalt zwischen dem Unterholz vorbeigelaufen. Nur weil sie einen Weg erwartete, fiel ihr auf, dass die Weißdornbüsche an einer Stelle eine Lücke ließen und die Erde in dieser Lücke ausgetreten wirkte. Sie zwängte sich durch den Schlitz und fand sich dahinter auf einem richtigen Pfad wieder. Nach wenigen Metern tauchte Julia in das Halbdunkel des Waldes ein. Das Licht der Sonne erreichte den Boden nur grünlich gedämpft.
Wie verzaubert ist es hier. Ob ich wohl den blauen Schimmer finden werde, wenn sich der Weg gabelt? Naja, noch ist der Weg ja eindeutig.
Zweige knackten unter Julias Füßen und über ihren Köpfen krakelten die Vögel ihr ausgelassenes Lied. Als sich Juliane gerade an das Wandern im Wald gewöhnte hatte, kam sie an eine Abzweigung.
Tja, und wo soll jetzt dieses blaue Schimmern sein? Überhaupt: wie soll das Schimmern beschaffen sein? Ich sehe hier erstmal nix schimmern. Streng dich an, Mädel, du wirst das schon herausfinden.
Julia blickte zweifelnd zwischen den beiden Pfaden hin und her. Sie wirkten fast gleich. Beide führten tiefer ins Dunkel des Waldes hinein. Von dem Haus des Magiers war keine Spur.
Sowas Blödes aber auch. Kein Schimmern weit und breit. Dann versuche ich einfach mal den Pfad, wo wenigstens ein Stück Himmel durchscheint. Sie setzte ihre Füße auf den Pfad mit dem Himmel, schaute nach oben und schlug sich gegen die Stirn. Was bin ich doch für ein Esel. Bestimmt ist das Durchscheinen des Himmels mit "blauem Schimmer” gemeint. Na gut, jetzt weiß ich ja Bescheid.
Bei der nächsten Abzweigung schimmerte jedoch kein Himmel durch die dichten Baumkronen. Stattdessen hing an einem der Bäume ein blaues Schild mit der kaum noch zu entziffernden Aufschrift "Rehe füttern verboten!" Julia wählte diesen Weg und drang immer tiefer in den Wald vor.
Als Julia wieder bei einer Weggabelung ankam, leuchtete der Himmel auf beiden Seiten etwa gleichstark, Schilder waren keine zu sehen. Das ist ja wirklich nicht einfach mit dem Weg. Jedes Mal schimmert es auf andere Art und Weise. Was ist denn bloß diesmal gemeint? Ah, dahinten fließt ein Bächlein und der Himmel spiegelt sich im Wasser. Das dürfte der richtige Weg sein, obwohl er sehr viel schmaler ist als der andere.
Nach einer Weile wurde es heller und Julia näherte sich einer Lichtung. Dort stand ein Haus, das vor lauter Efeubewuchs kaum zu erkennen war. Julia erkannte es zuerst nur an seinem Turm, der windzerzaust über das Dach hinausragte. Sie ging auf das Haus zu und suchte nach einer Tür. Nachdem sie das Haus halb umrundet hatte, stieß sie auf eine Holztür, die in verwittertem Blau schimmerte.
Julia wollte gerade klopfen, da öffnete sich die Tür ohne ihr Zutun. Ein barhäuptiger Greis mit Rauschebart nickte ihr einladend zu und forderte sie auf, sein Haus zu betreten.
"Ich ahnte, dass du kommen würdest. Wie ich sehe, hast du mir ein Fässchen Bier mitgebracht. Sehr löblich!"
"Danke, dass Sie mich empfangen. Mein Name ist Julia. Wie soll ich Sie am besten nennen?"
"Merlus reicht völlig aus."
Schmunzelnd nahm Merlus das Bierfässchen entgegen und stellte es mitten auf den Tisch eines Raumes, den Julia als Küche erkannte, denn sie sah kupferglänzende Töpfe von der Decke hängen und einen Ofen, auf dem ein Eintopf köchelte und seinen Thymianduft im ganzen Haus verbreitete. Merlus räumte einen Stapel Wälzer von einem Stuhl und bot Julia den freigewordenen Platz an. Dann kramte er in zahlreichen Schubladen, bis er einen Zapfhahn hervorzog, den er sofort mit Schwung in das Bierfass schlug. Er füllte einen Humpen, der vor lauter Schaum fast überfloss, schlürfte den Schaum soweit runter, dass keine Überlaufgefahr mehr bestand und leerte den Bierkrug in einem Zug.
"Lecker! Selbst gebraut?" fragte Merlus, als er den Krug erneut füllte.
"Ja, gerade erst gelernt", nickte Juliane eifrig.
"Brav! Es gibt viel zu wenige, die heute noch die hohe Kunst des Bierbrauens lernen. Du bist aber bestimmt nicht nur gekommen, um mir diesen Gerstensaft vorbeizubringen. Was ist dein Begehr?"
"Der Wirt im Dorf hat mir empfohlen, zu dir zu gehen. Du könntest mir eventuell weiterhelfen. In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit möchte ich von der Stadt aufs Land ziehen, weil ich in der Stadt keine Perspektive für mich sehe. Doch ich kenne mich nicht aus auf dem Land und kann mir die Informationen, die es darüber gibt, nicht leisten."
"In einer anderen Welt, in einem anderen Land, so so!" vergnügt wiegte Merlus seinen Kopf. "Da bist du richtig bei mir, denn ich bin im Besitz des großen Buches."
"Das große Buch? Was ist denn das?"
"Du wirst gleich sehen. Nur Geduld!"
Merlus stand auf und humpelte zu einem Regal, das schwer beladen mit Wälzern war. Dort wählte er ein schmales Bändchen und kehrte grinsend zurück zu Julia.
"Das soll das große Buch sein, wo Sie doch viel dickere Bücher haben?"
"Auf den Inhalt kommt es an, mein liebes Mädchen."
"Das Buch hat doch nur eine Seite."
"Aber was für eine!"
Er wedelte über die Buchseite und prompt sah man das Dorf, in dem Julia die letzten Wochen verbracht hatte, in einer Luftaufnahme.
"Schön! Das gefällt mir! Aber wie soll ich darin Informationen über meine andere Welt bekommen?"
"Ganz einfach. Frag das Buch!"
"Ok, also: Buch, zeig mir Informationen über das Landleben in meiner anderen Welt."
Auf der Buchseite erschien eine Liste, die der Liste aufs Haar glich, in der Juliane vor lauter kostspieligen Informationen fast untergegangen war.
"Oh je, das kostet ein Vermögen, sich diese Informationen anzusehen. Das kann ich mir leider nicht leisten. Schnell wieder ausmachen!"
"Keine Sorge, dies hier kostet dich keinen Cent und auch mich nicht, selbst wenn unten eine Kostenanzeige hochzählt. Das braucht uns nicht zu kümmern."
"Wirklich? Also gut, dann versuchen wir es mal. Buch, gibt es Menschen, die auf dem Land leben und denen ich mich anschließen könnte?"
Im großen Buch erschien eine umfangreiche Liste mit Kommunen, Dorfprojekten, Klöstern und BioBauernhöfen. Julia las einige der Projektbeschreibungen durch und ahnte, dass sie endlich auf die gewünschten Informationen gestoßen war. Da sie skeptisch war, ob die Infos wirklich kostenlos für sie waren, schaltete sie kurz um in die reale Welt und überprüfte dort ihren Kontostand, der sich tatsächlich nicht verändert hatte. Beruhigt kehrte sie zurück in die Küche des Magiers.
"Lass dir ruhig Zeit, meine Liebe. Nicht alle der Informationen sind zuverlässig auf dem neuesten Stand, denn die Dörfler kümmern sich nicht immer perfekt um ihre Infoseiten. Aber im Großen und Ganzen dürftest du einen passenden Eindruck der Möglichkeiten bekommen."
"Oh, danke vielmals. Das ist genau das, was ich gebraucht habe."
Stundenlang las Julia im großen Buch und allmählich kristallisierte sich ein Bild über das Landleben heraus. Die Dorfprojekte, denen man sich anschließen konnte, lagen zwar weit verstreut, aber immerhin gab es welche und die meisten betrieben Landwirtschaft und Gartenbau, so wie Juliane das erhofft hatte.
"Merlus, dein großes Buch ist wunderbar! Darf ich denn mal wiederkommen?"
"Gerne darfst du wieder herkommen. Ich könnte auch hier und da deine Hilfe gebrauchen."
"Juliane, Juliane, es wird Zeit, dass du ins Bett gehst, damit wir das Licht ausmachen können. Du hast doch sowieso schon genug Ärger mit der Schwarmleitung", Tina rüttelte an Julianes Schultern, bis diese sich in World 3000 losriss und wieder in der realen Welt auftauchte.
"Ist es schon so spät? Wie schnell die Zeit vergeht!"
"Du bist doch sonst nicht so begeistert am Spielen. Anscheinend gewöhnst du dich allmählich ans Schwarmleben."
"Heute war es halt mal spannend."
Den Schwarmregeln entsprechend legte sich Juliane gehorsam in ihr Bett und versuchte zu schlafen. Das wollte ihr jedoch nicht gelingen und so lag sie stundenlang wach, voller Gedanken über ihre Zukunftspläne.
Ob ich es wirklich wagen soll? All die Sicherheit aufgeben, die ich hier immerhin habe und mich in die raue Freiheit des Landlebens wagen? Ich könnte verhungern. Aber hier würde ich mit Sicherheit versauern. Ich mache es! Gleich morgen!
Trotz ihrer Aufregung fiel Juliane irgendwann in einen leichten Schlummer und träumte vom Melken und Bierbrauen. Noch vor dem Wecksignal wachte sie wieder auf und ihr erster Gedanke galt ihren aufregenden Plänen. Leise stand sie auf und ging zu ihrem Schrank, wo sie in ihrer Reisetasche nach ihrem alten, tragbaren Minicomputer wühlte. Sie überprüfte, ob das Gerät noch funktionierte und ob auch die aktuelle World 3000 Version darauf lief. Sie hatte Glück und schon bevor Tina ihrem Bett entstieg, hatte Juliane den Wald bis zum Dorfmagier erneut durchquert und gerade begonnen, auf seinen Wunsch hin Holz zu hacken. Einen kurzen Blick ins große Buch hatte Merlus ihr auch schon gewährt. Dadurch konnte sie sicher sein, dass diese Informationsquelle auch auf ihrem altmodischen Gerät funktionierte, wenn auch deutlich weniger elegant als auf dem modernen Schwarmcomputer.
Bei diesem Ausflug hatte Juliane unter anderem erfahren, dass sie bei der Schwarmleitung einfach nur kündigen musste, um ihre Freiheit wieder zu erlangen. Den Morgensport und das Frühstück absolvierte sie noch ganz normal, doch dann ging sie in die Küche, in der festen Absicht, dort Abschied zu nehmen.
Hedwig fiel aus allen Wolken, als Juliane ihr von ihrem Entschluss erzählte. Sie versuchte, Juliane von ihrem Ausbruchsversuch abzuhalten oder zumindest einen Aufschub zu bewirken.
"Ach weisst du Hedwig, bei euch in der Küche würde ich ja auch gerne weiterhin bleiben, aber du kennst die wachsenden Probleme ja selbst. Wer weiß, wie lange wir noch kochen dürfen. Falls ich einen guten Platz finde, werde ich versuchen, dich zu erreichen. Und wenn du dann willst, kannst du vielleicht auch aufs Land ziehen. Aber erstmal muss ich herausfinden, ob man auf dem Land leben kann."
"Oh, mein Mädel. Hier bist du doch in Sicherheit, auch wenn sie uns immer mehr einengen. Verhungern wirst du hier nicht. Und dort draußen könntest du jämmerlich zugrunde gehen."
"Das riskiere ich gerne, denn hier geht meine Seele zugrunde. Ich brauche eine Aufgabe oder wenigstens eine Herausforderung, sonst wäre ich lieber tot."
"Nun denn, ich werde für dich beten. Jetzt spute dich, damit du vor dem Dunkelwerden noch alles schaffst."
"Danke für deine Unterstützung. Ich habe sehr gerne hier mit euch gekocht."
Zu ihrer eigenen Überraschung nahm Juliane Hedwig in den Arm und gab ihr einen Abschiedskuss. Auch von den anderen Schwarmbewohnern, die ihr ans Herz gewachsen waren, verabschiedete sie sich herzlicher als sie es von sich gewöhnt war.
Dann packte sie ihre Tasche und meldete sich beim Schwarmcomputer ab. Ihr schien, als würde sie einen erleichterten Unterton in der Stimme des Computers durchhören, vermutete aber, dass das nur Einbildung war.
"Leb wohl, Juliane!" sagte die Haustür, dann war Juliane wieder in die Freiheit entlassen worden.
Mit der U-Bahn fuhr sie zuallererst zu dem Entrünpler, dem sie ihren Hausrat zum Verkauf anvertraut hatte. Dieser Entrümpler betrieb einen regen Handel mit den Hinterlassenschaften der ganzen Arbeitslosen. Seine Verkaufshalle war bis unter die Decke mit Gebrauchtwaren vollgestopft. Juliane brauchte eine Weile, bis sie sich orientieren konnte.
Dann jedoch fand sie schnell Schlafsack, Isomatte, Zelt, Outdoorklamotten, Kochgeschirr, Vorräte für eine Woche, Rucksack, Satteltaschen und ein preiswertes Fahrrad. Sogar einen kleinen Kocher trieb sie auf, den man mit Holzstückchen befeuern konnte. Man nannte ihn Hobo-Kocher und Juliane fühlte sich schon stark wie ein angehender Hobo, der ziellos durch die Lande streifte. Weil sie nicht mehr genug Geld hatte, um all diese Kostbarkeiten zu bezahlen, verwickelte sie sich mit dem Chef-Entrümpler in harte Verhandlungen. Am Ende hatte sie erreicht, dass er ihren alten Hausrat, der noch nicht verkauft war, gegen die neue Ausrüstung eintauschte.
Als Juliane ihre Errungenschaften endlich auf das Fahrrad geschnallt hatte, war es schn früher Nachmittag. Dabei hatte sie sich so beeilt mit den ganzen Reisevorbereitungen. Wie ärgerlich, dass ich keine Möglichkeit hatte, mich über mehrere Tage hinweg vorzubereiten. Aber wenn ich mich beeile, komme ich noch raus aus der Stadt und in ländliche Ecken bevor es dunkel wird.
Juliane setzte sich auf ihr Fahrrad und trat in die Pedale. Dank Energiekrise und der vielen eingesperrten Arbeitslosen waren die Straßen weitgehend frei und sie kam gut voran. Sie hielt sich in Richtung Nordost, wie der Wirt im Spiel ihr empfohlen hatte. Außerdem hatte sie in dieser Richtung mehrere Dorfprojekte recherchiert, die sie kennenlernen wollte. Aber selbst das nächste dieser Dörfer war zu weit weg, um innerhalb dieses Tages hin zu gelangen.
Nach einer Weile erreichte Juliane die Stadtgrenze. Der Schlagbaum stand nach oben, sodass sie ohne Behinderung durchfahren konnte. Aber sie war sich sicher, dass sie von den allgegenwärtigen Scannern registriert wurde.
Hinter der Stadt erstreckten sich Rapsfelder, soweit das Auge reichte. Ein Teil dieser Felder blühte schon und tauchte die Welt in leuchtendes Gelb. Die Straße führte schnurgeradeaus weg von der Stadt.
So fuhr Juliane fröhlich durch die Frühlingslandschaft und fühlte sich frei. Vor lauter Freude wollte sie ein Lied singen, doch ihr fiel keines ein. Darum trällerte sie einfach vor sich hin, soweit ihr das Strampeln genügend Luft ließ.
Bis ein Donnern von hinten heranpreschte. Das Dröhnen näherte sich rasch und entpuppte sich als Lastwagen mit Anhänger, der die freie Straße nutzte, um sämtliche Pferdestärken aus seinem Motor herauszuholen. An Juliane fuhr er ungebremst vorbei und wich auch nicht aus, sodass er Juliane fast mit sich riss.
Das erschreckte Juliane so sehr, dass sie sich entschloss, auf den schmalen Nebenweg zu wechseln, auch wenn dieser völlig verwahrlost wirkte. Aber sie wich lieber Matschhaufen und Schlaglöchern aus, als sich von einem wildgewordenen Laster umbringen zu lassen. Um zu dem Nebenweg zu gelangen, musste sie ihr Fahrrad samt Gepäck durch einen Graben hieven. Keuchend erreichte sie den Weg und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.
Dann setzte sie ihre Fahrt in den Frühlingstag fort. Der Himmel leuchtete tiefblau und spiegelte sich in den Pfützen, die Juliane spielerisch umführ. Der Fahrtwind pfiff ihr um die Ohren, was den Rausch der Freiheit noch verstärkte. Sich völlig allein wissend, jauchzte Juliane vor Vergnügen.
Mist, jetzt fängt das blöde Knie an, weh zu tun. Aber was solls? Ich bin ja schließlich daran gewöhnt, dass mein Bein schmerzt. Wie gut, dass ich in letzter Zeit immer Frühsport getrieben habe. Dadurch ist das Knie in besserem Zustand als vorher. Jetzt fahre ich aber einfach weiter, denn ich will noch nicht das Nachtlager aufschlagen. Außerdem ist hier in der Nähe kein geeigneter Platz zum unbeobachtet Zelten.
Nach einer Weile wurden die Schmerzen jedoch schlimmer und Juliane machte eine kurze Pause, um die übliche Salbe drauf zu schmieren und ihre Bandage anzulegen. Mit der Bandage konnte sie ihr Knie zwar nicht mehr so schnell beugen und kam deshalb langsamer voran, aber es half immerhin ein wenig.
Alle paar Kilometer passierte sie einen Agrarbetrieb, der wie eine Fabrik wirkte. Kein Mensch war zu sehen, daher fühlte sich Juliane auch nicht besonders beobachtet. Hin und wieder fuhr sie an einem verlassenen Dorf vorbei. Manche der ehemaligen Häuser waren dem Verfall preisgegeben, andere waren systematisch dem Erdboden gleich gemacht worden. Nur noch an den Fundamenten konnte man sehen, dass dort mal Häuser gestanden hatten. Juliane überlegte, ob sie in einem der verfallenen Häuser übernachten sollte, aber sie entschloss sich dagegen, denn sie war sich unsicher, ob sie dort sicher war. Dann doch lieber eine Lichtung im Wald.
Endlich erschien ein Wäldchen am Horizont. Die letzten Kilometer bis dorthin fielen Juliane zunehmend schwer. Sie musste mehrere Pausen einlegen, um ihr Knie zu beruhigen. Doch irgendwann hatte sie den Wald erreicht und verließ die Straße. Sie schob ihr Fahrrad über den holprigen Waldweg, bis sie eine geeignete Stelle zum Zelten fand, die nicht so leicht einsehbar war.
Juliane breitete die Plastikplane zum Unterlegen auf dem Waldboden aus, dann widmete sie sich den Bestandteilen des Zeltes. Nur einmal in ihrer Kindheit hatte sie beim Zeltaufbau geholfen. Darum stand sie ziemlich ratlos vor all den Einzelteilen. Doch nach gründlichem Studium der Aufbauanleitung setzten sich die Puzzlesteinchen allmählich zusammen, und es gelang ihr, die biegsamen Stangen zusammen zu setzen und durch die dafür vorgesehenen Laschen zu ziehen. Dann schob und drückte sie solange, bis es plopp machte und der Stoffhaufen wie ein Zelt aussah. Erleichtert zog sie die Außenhaut über die Kuppel und befestigte sie an den dafür vorgesehenen Stellen.
Jetzt nur noch die Leinen am Boden verankern, dann habe ich es geschafft. Doch wie soll ich diese Zeltnägel bloß in den Waldboden rammen? So ein Ärger! Ich hätte mir einen geeigneten Hammer besorgen sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Dann brauche ich eben einen dicken Stein.
Bis Juliane einen passenden Stein gefunden hatte, verging geraume Zeit, denn der Wald war nicht besonders steinreich. Doch schließlich stand ihr Zelt und Juliane bewunderte stolz ihr neues Zuhause. Dann verstaute sie ihre Habseligkeiten darin.
Zeit fürs Abendessen! Dafür brauche ich Kleinholz. Leider sind die ganzen Zweige auf dem Boden feucht. Wo finde ich bloß trockenes Holz?
Mit schmerzendem Knie machte sich Juliane auf die Suche nach Trockenholz. Sie war schon kurz davor aufzugeben, da fand sie abgestorbene Zweige im unteren Bereich eines Nadelbaums. Dankbar brach sie die Zweige ab und ging zurück zu ihrem Lager. Bis das Feuer in ihrem Hobo-Kocher brannte, brauchte sie mehrere Anläufe, doch irgendwann prasselte die Flamme fröhlich vor sich hin und Juliane konnte den Suppentopf aufsetzen.
Wie gut, dass ich wenigstens Wasser dabei habe. Sonst hätte ich jetzt auch noch Wasser suchen müssen. Morgen muss ich meine Flaschen unbedingt nachfüllen, sobald ich an einem Bach vorbei komme.
Im letzten Licht des Tages verspeiste Juliane ihre Tütensuppe, die nach Freiheit und Abenteuer schmeckte. Dann kroch sie hundemüde in ihr Zelt.
Männerstimmen rissen Juliane aus dem Halbschlaf.
"Hier riechts nach Lagerfeuer. Lass uns mal stöbern, obs da was zum Abzocken gibt."
Ganz in der Nähe knackten Zweige, eine andere Stimme fluchte. Juliane machte sich in ihrem Schlafsack ganz klein und hielt die Luft an. Minuten vergingen zäh wie Stunden. Die knacksenden Zweige kamen näher.
Oh je, jetzt sind sie gleich bei meinem Zelt. Hoffentlich finden sie mich nicht. Oh Gott, lass sie vorbeigehen! Bitte! Die Typen hören sich auch noch besoffen an. Wer weiß, was das für Gauner sind?
Zitternd verharrte Juliane in ihrer Körperhaltung. Doch irgendwann musste sie Luft holen, was sie so leise wie möglich tat. Die Männerstimmen entfernten sich, näherten sich dann wieder und blieben eine Weile auf der gleichen Distanz. Bitte! Bitte, lieber Gott! Schick sie weg!
"War wohl doch nix mit Lagerfeuer."
"Du immer mit deiner Nase. Ich hab mir gleich gedacht, dass da nix ist."
"Also gut, lass uns weitergehen. Die Anderen werden auch schon auf uns warten."
Ja, geht fort, ganz weit weg. Hier ist überhaupt nichts. Danke lieber Gott, dass du sie fortgeschickt hast.
Allmählich entfernten sich die Geräusche der Männer. Juliane verharrte noch eine Weile in ihrer verkrampften Haltung, doch nach einer Weile traute sie sich wieder zu atmen und ihren Körper zu bewegen. An Schlafen war jedoch nicht zu denken. Stundenlang lag sie wach und horchte auf jedes Geräusch im Wald. Dass ein Wald auch nachts so reich an Geräuschen war, war ihr vorher nie bewusst gewesen. Auch die Herkunft der Männer ließ ihr keine Ruhe. Wo mochten sie wohl hingehen und wer waren die "Anderen"? Diese Anderen wollte sie morgen am besten umgehen, doch das ging natürlich nur, wenn sie wusste, wo sie sich befanden.
Am besten ist es wohl, wenn ich morgen auf direktem Weg wieder zur Straße zurückkehre, denn dort fahren immerhin soviele Autos, dass ich halbwegs in Sicherheit bin. Der Weg zu dem Dorfprojekt, das am nächsten liegt, führt sowieso noch geraume Zeit über die Straße. Ich hoffe ja, dass mein Knie mich nicht im Stich lässt. Es ist schon ganz warm und geschwollen. Ob ich mir einen kalten Wickel machen sollte? Ach was solls? Dazu bin ich jetzt viel zu müde. Es wird schon irgendwie gehen.
Als der Morgen dämmerte, kroch Juliane aus ihrem Zelt und fühlte sich wie erschlagen. Muskeln schmerzten, von denen sie vorher noch gar nicht gewusst hatte, dass es solche Muskeln überhaupt gab. Ihr Knie war dick, heiß und pochte. Sie klatschte eilig ein feuchtkaltes Tuch auf die Knieschwellung und befestigte ihre Bandage darüber. Dann baute sie das Zelt ab und verstaute ihre Habseligkeiten. So schnell wie möglich wollte sie wieder in zivilisiertem Territorium ankommen und das hieß im Moment: die Straße.
Nachdem sie ihr Fahrrad bestiegen hatte, merkte Juliane erst, in welchem Dilemma sie steckte. Jede Beugung des Knies tat weh und Fahrradfahren bestand nun mal hauptsächlich aus dem Beugen und Strecken der Beine. Juliane versuchte einbeinig zu fahren, aber das funktionierte nicht. Dann experimentierte sie mit einer Abstoßtechnik, ähnlich wie bei den Draisinen, die Vorläufer der Fahrräder waren. Aber auch das führte nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Bei jeder Technik tat ihr Knie trotzdem weh und sie kam kaum vorwärts. Also entschloss sie sich, immer so lange zu fahren, wie sie es aushielt und dann eine Pause zu machen. Diese Vorgehensweise erwies sich als die beste, aber die Strecke, die sie bewältigte, blieb weit hinter Julianes Erwartungen zurück.
Gegen Abend war Juliane kaum halb so weit gekommen, wie sie kalkuliert hatte und ihr Knie schmerzte so sehr, dass es ihr kaum gelang, ihr Zelt aufzubauen. Aus Sicherheitsgründen zog sie sich noch weiter ins Unterholz zurück als am Vortag. Eine heiße Suppe gab es diesmal nicht, ein paar trockene Riegel mussten reichen. Mit letzter Kraft häufte sie Laub auf ihr Fahrrad, um es unkenntlich zu machen und legte sich dann zum Schlafen hin.
In dieser Nacht blieb es ruhig. Niemand kam, um Julianes mühsam gefundenen Kampfstock zu erproben. Juliane fühlte sich jedoch zu zerschlagen, um diesen Frieden wirklich würdigen zu können. Am nächsten Morgen schaffte sie es kaum, aufzustehen und ihr Zelt abzubauen. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Doch sie wollte nur möglichst kurze Zeit alleine in der Wildnis verbringen. Also galt es weiter zu fahren, egal wie sehr die Beine schmerzten.
An ihren humpeligen Fahrstil hatte sich Juliane inzwischen schon fast gewöhnt, so dass sie im Laufe des Tages etliche Kilometer bewältigte. Am frühen Abend erreichte sie das Dorf, das sie schon am Tag zuvor hatte erreichen wollen. Als sie es am Horizont auftauchen sah, hielt sie erst mal inne, denn sie war sich unsicher, wie sie auf die dortigen Bewohner zugehen sollte.
Was werden das für Menschen sein? "Ökodorf-Kooperative" nennt sich das Projekt. Die betreiben bestimmt viel Landwirtschaft. Ob die jemand wie mich gebrauchen können? So eine Stadtpflanze? Immerhin habe ich in World 3000 fleißig das Leben auf dem Lande trainiert, aber das ist bestimmt völlig anders als in der Wirklichkeit. Na ja, ich fahr einfach mal hin. Langes Grübeln bringt mich jetzt auch nicht mehr weiter.
Juliane setzte sich auf ihr Fahrrad und strampelte mit letzter Beinkraft zu dem Dorf. Auf einem Feld vor dem Dorf sah sie einen Mann, der den Boden hackte. Sie winkte dem Mann zu und er nickte zurück. Ob ich den vielleicht mal fragen soll, ob ich hier richtig bin? Nein, besser lasse ich ihn in Ruhe arbeiten.
Beim Näherkommen sah Juliane schiefe Fensterläden mit abblätternder Farbe, rußgeschwärzte Fassaden, herabhängende Regenrinnen und fehlende Dachziegel, die teilweise noch auf dem Dach lagen. Na ja, die werden hier viel mit der Landwirtschaft zu tun haben. Soviel, dass sie nicht dazu kommen, ihre Häuser in Schuss zu halten. Ist ja auch sehr teuer, Häuser zu renovieren.
Als sie die ersten Häuser erreichte, stieg Juliane ab und schob ihr Fahrrad bis zur Dorfmitte. Sie blickte sich um, um herauszufinden, wo sie sich am besten hinwenden sollte. Die Dorfstraßen waren menschenleer. Aus einem Haus hörte sie Männerstimmen. Über dem Eingang dieses Hauses baumelte ein metallener Hirsch, sodass Juliane annahm, vor einem Wirtshaus zu stehen. Unschlüssig stand Juliane vor dem Haus.
Auf was warte ich denn? Dass sich ein Willkommens-Schild entfaltet? Oder ein großer Pfeil erscheint? Oder auf ein pompöses Empfangskomitee? Da werde ich wohl lange warten müssen. Auf, gib dir einen Ruck, Mädel!
Juliane lehnte ihr Fahrrad an die Hauswand und schnallte ihren Rucksack vom Gepäckträger. Schwer bepackt humpelte sie auf die Tür zu. Sie holte tief Luft, um ihren Mut zu sammeln. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, wurde sie von innen aufgerissen und ein bärtiger Mann torkelte ihr entgegen. Hastig trat Juliane einen Schritt zur Seite.
"Was haben wir denn hier für ein junges Vögelchen?"
"Ich bin Juliane. Darf ich in das Haus reingehen?"
"Aber ja doch, immer zu. Wenn du ein Minütchen wartest, komme ich gleich mit. Dann kann ich dich den anderen vorstellen."
Der Mann grinste Juliane mit all seinen Zahnlücken fröhlich an. Dann ging er bis zum Ende des Hauses und pinkelte an die Hauswand. Er kam zurück und schlug Juliane kameradschaftlich auf die unbepackte Schulter.
"Nur zu! Keine falsche Schüchternheit. Ich bin übrigens der Hansi."
Er öffnete die Tür und machte eine einladende Geste. Juliane holte noch einmal tief Luft, dann betrat sie den Hausflur. Es roch nach Schnaps.
"Schaut mal, was ich da für ein junges Dingelchen aufgegabelt habe!" sagte Hansi zu einer Gruppe bärtiger Männer, nachdem er die Tür zu einem Raum mit mehreren Tischen aufgestoßen hatte.
"Na, da ist dir doch mal richtig was gelungen, Hansi! Willkommen Mädel! Wie heißt du denn?"
"Ich bin Juliane und komme aus der Stadt. Aber ich möchte lieber auf dem Land leben. Darum bin ich hier."
"Da bist du genau richtig hier bei uns. Wir haben viel Landleben zu bieten", dabei lachte der Mann meckernd.
"Komm, setz dich her und trink ein Schlückchen mit uns", lud ein anderer Juliane ein.
Juliane stellte ihren Rucksack auf den Boden und setzte sich auf den eilig herbeigeholten Stuhl. Einer der Männer füllte einen Becher mit einer undefinierbaren alkoholischen Flüssigkeit und prostete ihr zu. Juliane hob ihren Becher und erwiderte die Anstoßgeste.
"Zum Wohl! Prost!" tönte es aus allen Kehlen.
Das Gebräu schmeckte grässlich, aber Juliane trank tapfer ein paar Schlucke, um nicht undankbar zu wirken.
"Und, wie stellst du dir das Landleben so vor?" fragte einer der Männer.
"Ich weiß nicht so recht, denn ich war noch nie auf dem Land, außer als Kind bei einer Wanderung. Aber in einer Computersimulation habe ich schon Melken, Käsezubereitung und Bierbrauen geübt."
"Oh, Bierbrauen! Dann bist du hier ja hochwillkommen. Unser Fruchtwein gelingt uns bisher nicht so gut, wie dir bestimmt schon aufgefallen ist, aber angereichert mit unserem Selbstgebrannten ist er halbwegs genießbar", dabei nahm er einen tiefen Schluck und rülpste.
"Für das Bierbrauen brauche ich aber eine Ausrüstung, Gerste und Hopfen."
"Das können wir dir bestimmt alles besorgen. Zerbrech dir mal nicht deinen hübschen Kopf."
Juliane fühlte sich unbehaglich unter all den rauen Kerlen, obwohl sie bisher alle freundlich zu ihr gewesen waren. Wahrscheinlich wird man eben rau beim Leben auf dem Lande. Stell dich nicht so an, Mädel! Du wirst dich schon einleben.
"Bin ich hier eigentlich richtig gelandet? Ich wollte zur Ökodorf-Kooperative."
"Aber ja doch, Kleine! So hieß das hier mal. Aber die Zeiten haben sich geändert, weißt du. Was die damals getrieben haben, war uns zu stressig. Wir wollten mehr Freiheit und die haben wir inzwischen. Es lebe die Freiheit!"
"Es lebe die Freiheit!" gröhlten all die anderen Männer.
"Du wolltest doch bestimmt auch mehr Freiheit, Kleine, oder warum bist du aus der Stadt geflohen?" fragte einer der Männer und blickte Juliane eindringlich in die Augen.
"Ja, klar. Ich wollte mehr Freiheit und habe mich in den Schwarmhäusern nicht wohl gefühlt."
"Siehste! Wusst ichs doch! Wir alle hier lieben die Freiheit", dabei stieß er seinen Humpen erneut mit denen seiner Kumpels zusammen und gröhlte ein lautes "Prost!"
"Wovon lebt ihr hier eigentlich? Von der Landwirtschaft?"
"Tja, also. Ja, man könnte sagen, wir leben von der Landwirtschaft. Wir haben eine Maschine, die das alles für uns erledigt."
"Das ist natürlich praktisch. Die Maschine erledigt die komplette Landwirtschaft? Das muss ja ein Multitalent sein."
"Nicht ganz. Sie kann Getreide und andere Feldfrüchte anbauen. Die Überschüsse tauschen wir dann gegen unseren anderen Bedarf ein", der Mann schien sich verschluckt zu haben und hustete.
"Wenn sie mal funktioniert", warf ein anderer ein und klopfte seinem Vorredner auf die Rücken.
"Letztes Jahr hat sie es doch ganz gut hingekriegt und für diese Saison bräuchte ich mal Hilfe bei der Reparatur."
"Gut nennst du das?"
Der erste Sprecher warf dem Skeptiker einen scharfen Blick zu und sagte: "Doch, doch, wir kommen ganz gut hin mit unserer Landwirtschaft." Dabei warf er einen beschwörenden Blick in die Runde, woraufhin alle nickten.
"Lasst uns noch einen trinken!"
Dieser Vorschlag wurde gerne aufgenommen. Der Mann, der dem Fass am nächsten saß, füllte alle Humpen wieder auf. Auch Julianes Trinkgefäß wurde wieder gefüllt und sie fühlte sich fast genötigt noch mehr von dem Gebräu zu trinken. Da sie den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen hatte, stieg ihr der Alkohol schnell in den Kopf und brannte wie Feuer in ihrem Magen.
"Wann Berta wohl das Essen fertig hat?" brummte einer der Männer, als hätte er Julianes Magen knurren gehört.
"Die lahme Kuh! Immer braucht sie so lange für ihren Fraß", meckerte ein Anderer.
"Ich würde gerne beim Kochen helfen", warf Juliane ein, froh über eine Chance der Männerbande zu entkommen.
"Gute Idee, Kleine. Braves Frauchen! So lob ich mir das! Da hinten um die Ecke findest du die Küche."
Erleichtert packte Juliane ihren Rucksack und folgte der Richtungsanweisung des Mannes. Hoffentlich ist die Frau etwas zivilisierter. Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel während sie die
Küchentür öffnete. In der verrauchten Küche hantierte eine grauhaarige Frau fluchend mit dem Holzherd.
"Hallo! Brauchen Sie Hilfe beim Kochen?" fragte Juliane zaghaft.
Die Frau drehte sich langsam um und grinste dann über beide Wange, wobei sie eine Reihe von Zahnlücken entblößte.
"Haben sie dich auch zur Küchenarbeit verdonnert, die Halunken?"
"Nein, ich wollte freiwillig mithelfen, um mich nützlich zu machen."
"Brav meine Kleine, so isses recht. Du kannst hier erst mal den Ofen anschüren und dann kannst du mir beim Gemüseschnippeln helfen", dabei kicherte die Alte und zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an, die sie hinter ihrem Ohr hervorzog.
Oh je, ich habe noch nie so einen Küchenofen angeschürt, außer natürlich in World 3000. Ob das in Echt genau so funktioniert? Selbst die Frau namens Berta hatte ja anscheinend Probleme damit. Argwöhnisch beäugte Juliane den Holzherd. Schnell erkannte sie, dass das Gefäß für die Asche randvoll war. Ob Berta wohl deshalb geflucht hat? Egal, auf jeden Fall muss ich das erst Mal ausleeren.
"Wo kann ich die Asche hinleeren?"
"Da hinten ist ein Eimer, aber der muss vorher noch geleert werden. Draußen, hinter der Küche ist ein Misthaufen. Da kann auch die Asche drauf. Und auf der anderen Seite ist der Holzstapel. Von dort kannst du gleich einen Arm voll Holz mitbringen", dabei deutete Berta auf einen Hintereingang.
"Ok."
Juliane packte den Eimer und verließ die Küche durch den Hintereingang. Den Misthaufen konnte sie gleich riechen, daher hatte sie kein Problem damit, ihn zu finden. Sie leerte den Ascheimer an einer Stelle, wo sie schon Asche entdeckte und blickte sich dann nach dem Holzstapel um. Dieser lehnte am Haus unter dem vorstehenden Dach. Juliane packte einige Holzscheite in den Eimer und nahm weitere unter den Arm. So bepackt betrat sie wieder die Küche.
Der Aschebehälter des Küchenofens war so voll, dass sie zwei Eimer damit füllen konnte. Nach weiteren Runden in den Hinterhof hatte Juliane einen ansehnlichen Holzstapel neben dem Ofen aufgestapelt. Etwas ratlos blickte sie sich nach Kleinholz oder Papier um, damit sie das Feuer anzünden konnte.
"Da in der Ecke findest du Pappe. Damit musst du auskommen, was anderes haben wir nicht da", anscheinend hatte Berta Juliane scharf beobachtet, denn die Information kam wie aus der Pistole geschossen.
Juliane legte kleingerissene Pappe in den Ofen und darüber die dünnsten Holzscheite, die sie finden konnte. Berta reichte ihr ein Feuerzeug. Gespannt entzündete Juliane die Pappe, die kurz aufflammte, dann aber wieder erlosch.
"Du musst länger zündeln. Dabei verbrennt man sich zwar fast die Finger, aber sonst wird das nix. Ohne Papier ist das Anzünden nicht so einfach."
Vorsichtig startete Juliane den nächsten Versuch und wie angekündigt versengte sie sich die Finger. Aber das Feuer brannte. Schüttelnd versuchte Juliane ihre Fingerspitzen zu kühlen.
"Hier du Dummchen. Tauch die Pfote in das Wasser, wenn du dich verbrannt hast. Hast wohl nicht sehr viel Erfahrung mit Holzöfen."
"Danke!" erleichtert folgte Juliane dem Ratschlag und tauchte ihre Finger in das kalte Wasser des angebotenen Topfes. Nach kurzer Zeit fühlten sich die Fingerspitzen wieder besser an. "Ja stimmt, bisher habe ich nur in Computerspielen Öfen angezündet, aber noch nie in Echt."
"Na das wird schon noch. Hier muss man täglich Feuer schüren. Und weil die Kerle so faule Säcke sind, auch noch in der Wirtstube."
"Wo sind eigentlich die anderen Frauen?"
"Welche anderen Frauen? Die, die mal da waren, sind schon lange abgehauen. Aber ich komme nicht von meinem Tobias los, obwohl er gar kein netter Zeitgenosse ist. Tja, wo die Liebe hinfällt", dabei kicherte sie in sich hinein. "Und das, obwohl er mich letztes Jahr am liebsten durch eine Jüngere ersetzt hätte. Mit meinen fast vierzig Jahren bin ich ihm wohl nicht mehr knusprig genug. Also merk dir gleich: der Tobias gehört mir! Lass bloß die Finger von ihm!"
"Ja, gerne lass ich die Finger von Tobias. Keine Sorge!"
Berta ist noch nicht mal vierzig? Nicht zu fassen! Ich hätte sie auf siebzig geschätzt oder wenigstens auf sechzig. Was ist hier denn los? So ein Ökodorf hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Beim Zubereiten des Eintopfes besserte sich Julianes Laune etwas. Das Gemüse war zwar alt, was im Frühling wohl kein Wunder war, aber ansonsten erinnerte sie die Situation ein wenig an das Kochen im Schwarmhaus. Schmerzlich vermisste sie Hedwigs klare Fröhlichkeit. Berta erzählte ihr hingegen eine Schauergeschichte über das Dorf nach dem anderen. Bis alles Gemüse geschnitten waren, konnte sich Juliane schon ein ziemlich klares Bild über das Leben im Dorf machen. Dass sich die Dörfler mithilfe ihrer Landwirtschaftsmaschine und Tauschhandel ernährten, stimmte zwar in gewisser Weise, aber die Männer schreckten auch nicht vor kleineren Raubzügen zurück und waren daher bei allen seriösen Landwirten in der Umgebung gefürchtet.
Als der Eintopf fertig war, wurde er von den Männern mit großem Hallo begrüßt, doch nach den ersten Bissen fingen sie an zu meckern, denn ihnen fehlte eine Fleischeinlage.
"Wir haben kein Fleisch mehr im Haus. Nicht mal mehr den popeligsten Bauchspeck", verteidigte Berta ihre Kochkunst.
"Dann müssen wir wohl mal wieder auf die Jagd gehen", antwortete der Mann, der anscheinend Tobias war und schlug sich grinsend auf die Schenkel. Seine Kumpels tauschten Blicke mit V erschwörermiene.
Was das wohl für eine Jagd sein mag? Von Stunde zu Stunde fühlte sich Juliane unwohler bei den Dorfbewohnern. Den Eintopf aß sie dennoch mit Genuss, denn er war das Beste, was sie in den letzten Tagen in den Bauch bekommen hatte. Weitere Humpen mit dem unsäglichen Weingebräu wurden ihr aufgenötigt, bis ihr ganz schummrig zumute war.
Zu später Stunde zogen sich die Männer torkelnd in ihre Privaträume zurück. Juliane fragte Hansi, der noch auf war, wo sie am besten nächtigen könne.
"Du kannst da hinten im Alkoven schlafen. Das ist sozusagen unser Gästezimmer."
"Sehr gut, danke!"
Juliane betrachtete den Alkoven und war froh, dass sie über einen guten Schlafsack verfügte. Sie rollte ihn aus und stellte den Rucksack in eine Ecke neben sich, obwohl die Fläche zum Schlafen dadurch ziemlich eng wurde. Dann legte sie sich hin, wünschte den in der Schankstube verbliebenen Männern eine gute Nacht und zog die Vorhänge zu, die der Alkoven glücklicherweise besaß. Durch ein Mottenloch im Stoff konnte sie auf dei Runde der Saufbrüder schauen. Doch sie war so müde und angetrunken, dass ihr die Augen bald zu fielen. So lag sie eine Weile im Halbschlaf da und lauschte dem Gegröhle.
Als sie gerade eingeschlafen war, wurde sie wieder geweckt: "He Kleine, es wird Tscheit, dass du die Gaschtgebühr betschahlscht. Mein Willi ischt schon gansch gierig."
"Nix da! Ich hab in der Küche gearbeitet. Das muss reichen. Hau ab!" entfuhr es Juliane.
"Och schade. Na dann eben nicht."
Juliane hörte, wie der Mann sich wieder verzog und atmete auf. Ich wusste ja gar nicht, dass ich so rigoros sein kann. Das war ja richtig durchsetzungsfähig. Nicht schlecht. Und der Typ hat sich dann ja auch getrollt. Aber mir gefällt es hier immer weniger. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Es dauerte geraume Zeit, bis sie sich wieder soweit beruhigt hatte, dass sie schlafen konnte. Aber irgendwann glitt sie in einen unruhigen Schlummer.
Als Juliane morgens aufwachte, juckte es sie am ganzen Körper. Sie sprang aus dem Schlafsack und klopfte sich ab, bevor sie anfing, sich zu kratzen. Winzigkleine Insekten, die kaum zu sehen waren, hüpften davon, bevor Juliane sie erschlagen konnte. Juliane war noch mit Kratzen beschäftigt, als Berta vorbeischlurfte.
"Hallo Berta, weißt du, was mich hier so jucken könnte?"
"Das sind bestimmt Bettwanzen. Oder vielleicht auch Katzenflöhe. Kürzlich hat eine der Katzen hier ihre Jungen geworfen und wir haben es erst gemerkt, als die kleinen Katzen schon rumspazierten. Jetzt sind die Flöhe bestimmt hungrig. Keine Sorge! Das Jucken vergeht wieder. Am besten wäschst du dich draußen am Brunnen. Das kühlt ein wenig."
Juliane war sprachlos. Aber sie folgte Bertas Rat und ging nach draußen, den Brunnen suchen. Bevor sie sich auszog, um sich unter freiem Himmel zu waschen, schaute sie sich argwöhnisch um, ob sie jemand beobachten konnte, doch der Hinterhof lag da wie ausgestorben. Dennoch fühlte sie sich entblößt, als sie eine Schicht nach der anderen ablegte. Wie erhofft kühlte das Wasser ihren zerstochenen Körper. Überall entdeckte Juliane rote Stiche, die kleiner als Mückenstiche waren. Die Flöhe, oder was immer es gewesen war, hatten Julianes Anwesenheit ausgiebig genutzt, um sich zu sättigen.
Angewidert schüttelte Juliane ihre Klamotten gründlich aus. Dann holte sie ihren Schlafsack und das Gepäck und schüttelte auch sie so lange, bis sie sich sicher fühlte, dass alle Insekten geflohen waren.
Hier bleibe ich keinen weiteren Tag. Ach was, keine weitere Stunde. Und wenn dies das einzige Dorf der Welt wäre, würde ich doch lieber allein im Wald leben wollen.
Mit knappen Worten verabschiedete sich Juliane bei Berta, die sichtlich enttäuscht aber auch ein wenig erleichtert wirkte. Bestimmt ist sie froh, dass keine Gefahr mehr droht, dass ich ihr Ekel Tobias ausspannen könnte. Nix wie weg hier.
Dann packte Juliane ihre Habseligkeiten auf das Fahrrad und verließ fluchtartig das Dorf. Sie war froh, dass sie außer Berta niemanden angetroffen hatte. Als sie so weit weg war, dass sie das Dorf beim Zurückschauen nicht mehr sehen konnte, machte sich Enttäuschung in ihr breit.
So hatte ich mir das freie Landleben aber nicht vorgestellt. Dabei hatte es eigentlich so vielversprechend geklungen: Ökodorf-Kooperative. Das zergeht einem doch fast auf der Zunge. Na ja, die alten Macher sind ja anscheinend nicht mehr da. Wahrscheinlich sind meine Informationen veraltet. Mal sehen, was ich sonst so finde. Hier ist eigentlich ein geeignetes Plätzchen für eine Frühstückspause und eine kleine Recherche.
In einer Lichtung eines kleinen Wäldchens machte Juliane Halt. Sie legte die Solarfläche ihres Minicomputers in die Sonne und sammelte trockene Zweige, um ihren Kocher zu befeuern. Dann kochte sie sich einen Kaffee und aß einen Riegel aus ihren Proviantbeständen. Milch für den Kaffee gab es nicht mehr, aber immerhin noch Zucker. In der Wildnis schmeckte der Kaffee jedoch auch schwarz ganz wunderbar.
Nach einer Weile war ihr Computer soweit aufgeladen, dass Juliane World 3000 aktivieren konnte. Anstandshalber half sie Merlus zunächst bei der virtuellen Gartenarbeit, bevor sie um das große Buch bat. Da sie es eilig hatte, verkniff sie sich ein Schwätzchen mit dem Dorfmagier, obwohl dieser Julia zum Frühstück einlud.
Im großen Buch musste Juliane geraume Zeit suchen, bevor sie ein Dorf in der Nähe fand, das ihr geeignet schien. Nur zwei Tagesreisen entfernt gab es eine Siedlung, die sich "Kommune des reinen Bewusstseins" nannte. Die Informationen über dieses Dorf waren nur etwas weniger als ein Jahr alt. "Reines Bewusstsein" klingt schon mal gut. Das sind bestimmt nicht solche Saufköpfe wie im letzten Dorf. Da werde ich hinfahren.
Weil ihr Knie wieder Probleme machte, brauchte Juliane vier Tage, um das neue Dorf zu erreichen. Die Reisetage verliefen ereignislos, aber gegen Ende wurden Julianes Vorräte knapp. Am letzten Abend vor ihrer Ankunft wurde die Suppe schon sehr dünn und am nächsten Tag hatte Juliane gar nichts mehr zu beißen. Daher war sie schon ausgesprochen hungrig als endlich die BewusstseinsKommune am Horizont auftauchte.
Beim Näherkommen sah das Dorf äußerst vielversprechend aus. Rund ums Dorf sah Juliane Maschinen, die selbstständig über die Felder fuhren und anscheinend die Saat ausbrachten. Die Häuser des Dorfes wirkten sehr gepflegt. Saubere Fassaden und Dächer leuchteten in der Nachmittagssonne. An einigen Häusern werkelten Bauroboter friedlich vor sich hin.
Ah, die perfekte Idylle! So habe ich mir das vorgestellt. Ob ich hier wohl meine neue Heimat finde?
Wie im letzten Dorf traf Juliane niemanden bis sie die Ortsmitte erreichte. Jedoch sahen alle Häuser aus, wie aus dem Ei gepellt im Gegensatz zum anderen Dorf. Aus einem relativ großen Gebäude tönten orientalisch wirkende Sphärenklänge. Juliane war versucht, dort hin zu fahren, doch dann entschied sie sich für ein kleineres Haus, das eher wie ein Gasthaus wirkte. Aus seinem Schornstein quoll weißer Rauch. Juliane entlud ihr Fahrrad und stellte es vor das Haus. Mit dem Rucksack auf der Schulter stand sie, wie wenige Tage zuvor, vor der Eingangstür und sammelte Mut.
Diesmal kam keiner aus dem Haus, um sie anschließend mit zu nehmen. Daher klopfte Juliane an die Tür, doch das Holz der Tür war so dick, dass ihr Klopfen kaum zu hören war. Eine Klingel war auch nicht zu sehen. Juliane holte tief Luft dann drückte sie die Klinke und die Tür öffnete sich.
"Hallo, ist da Jemand?" rief Juliane in den Raum, der wie ein Gang wirkte.
Keine Antwort.
Juliane betrat den Gang und öffnete eine weitere Tür. Sie sah in einen Raum mit vielen Tischen.
"Hallo, ist da Jemand?" Juliane fühlte sich schon ganz aufdringlich, aber sie sah auch keine andere Möglichkeit, um sich bemerkbar zu machen.
Nach kurzer Zeit kam eine rundliche Frau aus einer weiteren Tür.
"Oh Hallo! Willkommen! Komm ruhig näher!"
"Danke! Ich komme aus der Stadt und suche ein neues Zuhause", gab Juliane sofort ihr Anliegen bekannt.
"Lange her, dass sich jemand aus dem bequemen Stadtleben hier her gewagt hat. Sei willkommen!" die blauen Augen der Frau blitzten freundlich. Sie erinnerte Juliane entfernt an Hedwig.
"Mein Name ist Juliane."
"Prima Juliane! Ich bin Taliga. Leg erst mal deine Sachen ab. Hier in der Ecke ist Platz dafür. Leider muss ich gleich wieder in die Küche, daher habe ich kaum Zeit für ein Gespräch. Darf ich dir was zu trinken anbieten?"
"Gerne Taliga. Ich helfe auch gerne in der Küche, denn ich will mich nützlich machen."
"Wunderbar! Dann komm doch einfach mit in die Küche. Dort kannst du einen Tee und ein Brot bekommen. Und dann kannst du beim Kochen helfen."
"Gerne!"
Juliane entledigte sich ihres Rucksacks und folgte Taliga in die Küche. Taliga brachte ihr einen mit Honig gesüßten Kräutertee und zwei Scheiben Vollkornbrot mit Käse. Heißhungrig verzehrte Juliane die Brote und auch der Tee mundete ihr, als hätte sie nie etwas Besseres zu Trinken bekommen.
Nachdem sie gesättigt war, bot Juliane ihre Mithilfe an. Taliga betrachtete Juliane ausgiebig, dann kramte sie einen Metalltropfen, der an einer dünnen Kette hing, aus ihrer Schürzentasche und hielt ihn über Juliane.
"Ok, deine Schwingung ist in Ordnung. Du kannst beim Schneiden der Karotten mithelfen."
"Gerne! Kochst du hier ganz alleine?"
"Alleine wäre zuviel gesagt. Die meiste Arbeit erledigen die Automaten, denen wir unsere spirituelle Freiheit verdanken. Ich überwache die Vorgänge hauptsächlich und bringe menschliche Schwingungen in die Mahlzeiten."
"Aha! Und wer schneidet die Zwiebeln?"
"Zwiebeln! Welch grobstoffliche Obszönitäten! Wir kochen hier feinstoffliche Mahlzeiten. Da haben Zwiebeln keinen Platz. Aber Karotten stellen eine gute Basis dar in der Frühlingszeit."
"Ok, Karotten schneide ich auch sehr gerne."
Echt drollig. Irgendwie lande ich immer in der Küche. Aber die Küche ist ein guter Platz, um das Herz einer Menschgruppe kennen zu lernen.
"Was machen eigentlich die anderen Dorfbewohner zur Zeit?"
"Die meditieren gerade. Im Tempel. Bestimmt hast du die meditativen Klänge gehört."
"Ja, die Musik habe ich gehört als ich gekommen bin. Und zum Essen kommen die dann in den Speisesaal?"
"Genau!"
Schweigend bereiteten die beiden Frauen die Gemeinschaftsmahlzeit vor. Angesichts der großen Töpfe schätze Juliane die Zahl der Hungrigen auf mindestens zweihundert. Das Kochen war nicht sehr anstrengend, denn die meiste Arbeit übernahmen die Maschinen. Der Duft, der den großen Töpfen entstieg, intensivierte sich und nach einer Weile erhoben sich die Töpfe wie von Geisterhand von den Kochstellen und glitten in Richtung Speiseraum. Taliga probierte einen Löffel aus dem nächststehenden Topf und läutete dann eine wohlklingende Glocke.
"So, jetzt werden sie nach und nach eintrudeln. Du kannst dir schon mal eine Portion nehmen und dich hinsetzen. Ich komme dann gleich nach und leiste dir Gesellschaft. Warte mit dem Essen bis der Segen gesprochen ist."
"Gerne! Danke!"
Juliane tat wie geheißen, nahm sich einen Teller voll mit Karottengemüse und Vollkornreis und suchte sich einen Platz im Speisesaal. Nach und nach füllte sich der Raum mit einer Vielzahl Menschen. Ein großer Teil der Menschen hatte eine graublaue Gesichtshaut und wirkte wie Zombies. Doch Juliane ließ sich nicht abschrecken und genoss die feierliche Stimmung der Menschen.
Doch kaum erreichten die Dorfbewohner die Ausgabestelle für das Essen, schwand die heilige Atmosphäre und wich ganz menschlicher Gier. Die eben noch Meditierenden häuften enorme Portionen auf ihre Teller und verteilten sich plappernd an die vielen Tische des Speiseraums. Juliane erkannte kein klares Muster zwischen den grauen und den normalen Bewohnern, doch relativ viele der Blaugrauen saßen zusammen an den Tischen.
Nach einem feierlichen Segensspruch, der von einem älteren Herrn gesprochen wurde, stürzten sich die Bewohner gierig auf ihre Mahlzeit. Manche ließen jedoch ein Pendel kreisen, bevor sie dem Essen zusprachen.
"Alle mal herhören! Wir begrüßen heute einen neuen Gast. Ihr Name ist Juliane und sie hat mir beim heutigen Kochen geholfen."
Taliga war aufgestanden, um Juliane vorzustellen. Die Dorfbewohner klatschen und riefen unisono "Sei willkommen, oh Juliane!"
Es klang wie ein Ritual. Manche tuschelten anschließend und Juliane sah, wie einige der Bewohner ihre Teller wegschoben und aufhörten zu essen. Sie erhaschte Worte wie "unreif - unvollkommen -unrein". Dabei hatte sie doch nur Karotten geschnitten und sich vorher die Hände gewaschen. Juliane fühlte sich abgelehnt. Aber als sie sah, dass die meisten der Bewohnern weiter tüchtig reinhauten, verlor sich das schlechte Gefühl wieder.
Nach dem Essen stellten die meisten der Bewohner ihre Teller in eine Durchreiche zur Küche. Doch manche verließen den Speiseraum, ohne ihre Geschirr weg zu räumen. Juliane blickte fragend auf die stehen gelassenen Teller und als Taliga auffordernd nickte, begann sie, die Tische ab zu räumen.
Im Anschluss an den Abwasch, der weitgehend von den Maschinen erledigt wurde, lud Taliga Juliane noch zu einem Tee ein. Juliane nahm gerne an, denn sie hatte haufenweise Fragen und Taliga schien ihr besonders menschlich unter all den anderen Dorfbewohnern.
"Was hat es denn mit all den graufarbenen Menschen auf sich, die beim Essen waren? Sind die besonders meditativ?"
"Dafür halten sie sich wohl. Aber eigentlich sind sie auf unseren letzten Heiler reingefallen. Der hat ihnen kolloidales Silber zur Vorbeugung für jedes Ungemach ans Herz gelegt. Nachdem sie es jahrelang genommen haben, sind viele von ihnen silbrig im Gesicht oder gar am ganzen Körper geworden. Manche von ihnen haben sogar epileptische Anfälle bekommen, die als besonders spirituell interpretiert wurden. Die Meisten von ihnen haben dann mit dem kolloidalen Silber aufgehört, aber manche haben den Zusammenhang zwischen ihrer Haut und dem Mittel verleugnet. Bis einer von ihnen nach einem epileptischen Daueranfall gestorben ist. Seitdem nehmen sie alle lieber Wasser, das von Lathifuk gesegnet wurde. Die silbrige Haut ist ihnen aber geblieben."
"Sieht irgendwie gespenstisch aus, diese silbergrauen Gesichter."
"Sag das bloß nicht in deren Gegenwart. Die meisten halten ihre Hautfarbe für ein Zeichen ihrer Spiritualität. Skepsis wäre völlig fehlangebracht."
Dabei grinste Taliga spitzbübisch, was sie mindestens zwanzig Jahre jünger scheinen ließ als sie vermutlich war.
"Und wie kommst du mit solchen Leuten klar? Denn du hast dieses Zeug ja anscheinend nicht genommen."
"Am Anfang habe ich es auch probiert. Doch dann zeigte mein Pendel, dass es mir nicht gut tut und ich habe damit aufgehört. Seitdem nehme ich nur Wasser mit Blütenessenzen und das bekommt mir recht gut."
Juliane lagen noch einige skeptische Fragen auf der Zunge, doch weil Taliga offensichtlich genau so esoterisch infiziert war wie der Rest der Bewohner, wenn auch mit weniger negativen Nebenwirkungen, verkniff sie sich ihre Fragen.
Diesmal wurde Juliane für die Nacht ein richtiges Gästezimmer zugewiesen. Es war zwar klein und spartanisch möbliert aber dennoch der erste Privatraum, der Juliane seit ihrem Auszug aus der eigenen Wohnung zur Verfügung stand. Sogar ein Duschbad gab es zu dem Zimmer. Juliane duschte ausgiebig und steckte ihre Kleidung in den Waschautomaten. Sie genoss es unendlich, sauber gewaschen im frisch bezogenen Bett zu liegen.
Eigentlich ist es hier gar nicht so schlecht. Das Leben hier hat offensichtlich einige Vorteile. Aber diese ganze Esoterik finde ich jetzt schon unerträglich. Ich fürchte, das ist nichts für mich. Mal sehen, wie mir morgen früh diese Pflichtveranstaltung gefällt. Mich grausts ja schon, aber vielleicht wird es weniger schlimm als befürchtet.
Am frühen Morgen wurde Juliane durch glockenartiges Klingeln geweckt, das von einem Lautsprecher in ihrem Zimmer ausging. Juliane duschte zügig und schlüpfte dann in die dunkelblaue Kutte, die extra für die Veranstaltung bereit lag. Weil ihr noch ein paar Minuten Zeit blieben, holte sie ihre Kleidung aus dem Waschautomaten und steckte stattdessen ihren Schlafsack hinein, denn seit der Nacht in dem anderen Dorf traute sie ihm nicht mehr so recht.
Dann war Zeit für die Lektura, wie die morgendliche Pflichtveranstaltung genannt wurde. Juliane reihte sich in die Schlange der Gläubigen ein. In langsamen Tippelschritten bewegte sich die Schlange auf den Eingang zu. In der Halle angekommen musste man bis ganz nach vorne tippeln, sich dort mit den Händen in Bethaltung vor einer Buddhastatue verbeugen, dann erst durfte man sich einen Platz suchen. Die ersten Reihen waren schon besetzt von lauter Silbergesichtern, die sehr feierlich im Lotussitz auf dem Boden saßen.
Juliane suchte sich einen Platz ganz am Ende der Halle, um möglichst wenig aufzufallen. Doch das stellte sich als Fehler heraus, denn auch als alle Platz genommen hatten, war die Halle nur halb gefüllt. Also rutschte Juliane auf ihrem dünnen Sitzkissen vorsichtig nach vorne zur hintersten Reihe der Anderen. Ein paar der Bewohner drehten sich neugierig um und manche warfen ihr vorwurfsvolle Blicke zu.
Sphärenklänge begannen den Raum zu füllen. Taliga hatte Juliane am Vortag erklärt, dass sie während der Lektura einfach nur stillsitzen müsse. Genau das versuchte Juliane. Am Anfang ging das auch, aber schon nach wenigen Minuten schmerzte ihr Knie, das an Sitzen im Schneidersitz nicht gewöhnt war. Wie die anderen das nur aushalten, solange perfekt im Lotussitz zu sitzen? Mir tut ja sogar das Bein weh, das gesund ist und das andere schmerzt höllisch. Dabei sitze ich ja nur im Schneidersitz. Wie soll ich das nur aushalten?
Einige Minuten später konnte Juliane es nicht mehr ertragen und streckte ihr verletztes Bein. Kurz darauf fing ihre Nase an, wie wild zu jucken. Sie bewegte die Nase hin und her, in der Hoffnung, dass dies den Juckreiz mindern würde. Doch es wurde eher noch schlimmer. Auch ihr Rücken begann zu jucken. Ganz langsam bewegte Juliane ihre Hand zur Nase und kratzte sich. Aber auch das half nicht.
Inzwischen spürten schon einige der Dorfbewohner Julianes Unruhe, obwohl sich Juliane soviel Mühe gegeben hatte, sich unauffällig zu bewegen. Die Anderen drehten sich zu Juliane um und warfen ihr Mörderblicke zu. Juliane hielt die Luft an und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Für ein paar
Minuten konnte sie daraufhin still halten, doch dann fing das Jucken wieder an und das noch gekrümmte Bein fing an zu zittern.
Weil das Zittern nicht aufhörte, musste Juliane nach einer Weile auch dieses Bein ausstrecken. Schließlich saß sie da, wie ein Kleinkind beim Spielen, von meditativer Haltung keine Spur. Die feierliche Musik rauschte ungehört an Juliane vorbei.
Nach unendlich scheinender Zeit wechselte eine der Bewohnerinnen aus der ersten Reihe ihren Platz und setzte sich neben die Buddhastatue. Mit salbungsvoller Stimme laß sie einen religiösen Text vor. Juliane fand nicht heraus, aus welcher Quelle dieser Text stammte, aber sie war erleichtert, dass sie sich auf etwas konzentrieren konnte. Die Aussage des Textes fand sie durchaus interessant. Es ging um Bewusstsein und Klarheit.
Doch der Text war langatmig und Julianes Hüften begann zu schmerzen, denn sie war das Sitzen in der Kleinkind-Spielhaltung nicht gewöhnt. Verstohlen beobachtete sie mit halb gesenkten Augenlidern ihre Sitznachbarn. Auch einige der Anderen zuckten mit ihren Nasen, kratzten sich heimlich und guckten in der Gegend rum. Aber die meisten saßen stocksteif da und rührten sich nicht. Bestimmt haben die lange geübt, um so still sitzen zu können. Mit meinem Knie habe ich keinerlei Chancen das je zu lernen.
Geraume Zeit später hörte die Lesung auf und die Musik begann aufs Neue. Wann diese Tortur wohl endlich fertig ist? Es scheint schon Stunden zu dauern. Irgendwann muss diese Rumhockerei doch mal ein Ende haben.
Die Musik zog sich jedoch hin, so lang, das Juliane wieder die Stellung ihrer Beine ändern musste, um das Sitzen auszuhalten. Endlich, als Juliane schon kurz davor war, aus dem Saal zu flüchten, endete die Musik und die Meditierenden erhoben sich. Mit gemessener Feierlichkeit verließen sie die Halle, doch kaum waren sie draußen, begannen sie zu plappern wie eine Schulklasse in der großen Pause.
Im Speisesaal staunte Juliane, in welcher Geschwindigkeit die Dorfbewohner ihr Frühstück verschlangen. Von Heiligkeit war kaum noch etwas zu spüren. Die meisten nahmen sich mehrmals nach, so dass sie auf Nahrungsmengen kamen, die Juliane für einen ganzen Tag gereicht hätten.
Anscheinend macht das feierliche Rumgehocke enorm hungrig. Ich habe zwar auch schon eine doppelte Portion gegessen, aber schließlich bin ich auch tagelang mit dem Fahrrad gefahren und hatte zu wenig Proviant dabei. Ob die Dorfbewohner wohl viel auf den Feldern arbeiten? Am besten melde ich mich bei Taliga in der Küche, um dort zu helfen, denn mit Taliga kann man wenigstens einigermaßen reden. Die meisten der anderen sind mir irgendwie unheimlich. Am liebsten würde ich ja gleich wieder abhauen, aber ich sollte es mir wohl noch ein Weilchen anschauen. Immerhin gibt es hier gutes Essen und Sauberkeit.
Taliga schien sehr zufrieden über Julianes freiwillige Mithilfe in der Küche.
"Das ist ja nett, dass du helfen kommst. Eigentlich würden wir hier ja gar nicht gebraucht, weil die Maschinen das Kochen auch komplett übernehmen könnten, aber ich mache gerne etwas Vernünftiges. Dennoch ist es in der Küche oft ziemlich einsam, weil ich die Einzige bin, die gerne kocht."
"Was machen denn die anderen den lieben, langen Tag?"
"Die widmen sich ihrer Spiritualität. Manche pendeln fast den ganzen Tag, andere lesen viel philosophische Texte und auch Spazierengehen ist beliebt."
"Und wie verdient ihr euren Lebensunterhalt?"
"Das erledigen hauptsächlich unsere Landwirtschaftsmaschinen. Fast die Hälfte der Ernte wird zwar von Räubern geklaut, aber der Rest reicht uns locker. Unsere Rinder sind auch gut bewacht und geben reichlich Milch, die maschinell zu verschiedenen Käsesorten verarbeitet wird."
"Und das alles ohne Menschen?"
"Ja, so läuft das heutzutage. Manchmal besuche ich die Kühe, damit sie auch mal einen Menschen zu Gesicht bekommen, aber wirklich nötig ist das nicht. Wir sind ja schließlich hier, um uns unserer spirituellen Entwicklung zu widmen und nicht, um Landwirtschaft zu betreiben."
"Das leuchtet ein. Da machst du mit der Küchenarbeit aber eine große Ausnahme, oder?" "Ich bin nicht die Einzige, die gerne Arbeitsmeditation betreibt. Einige pflegen die Blumenbeete, andere malen Schilder für die Häuser und wieder andere töpfern. Einer putzt sogar regelmäßig Toiletten, quasi als Buße für seine Unbewusstheit, wie er nicht müde wird zu betonen."
"Ich fürchte, ich bin für dieses spirituelle Leben nicht geschaffen. Bei der Lektura sind mir fast die Beine abgefallen."
"Das ist ganz normal am Anfang. Mir ist aber aufgefallen, dass du beim Gehen hinkst. Das dürfte deine Probleme noch verstärken."
"Ja, ich habe einen Dauerschaden am Knie. Damit kann ich kaum im Schneidersitz sitzen. Vom Lotussitz ganz zu schweigen."
"Mit einer Beinbehinderung wäre es auch in Ordnung, wenn du bei der Lektura auf einem Stuhl sitzt."
"Das wäre mir wohl zu auffällig. Ich fühle mich sowieso schon wie ein bunter Hund."
"Zugegeben, wir sind hier ein sehr eingespieltes Grüppchen. Jemand Neues würde uns aber gut tun, denn in den letzten Jahren sind mehr von uns gestorben als neu dazu gekommen sind. Die halbleere Halle hast du ja gesehen."
"Aber hier gibt es doch gar keine wirklich Alten."
"Unsere Leute sterben teilweise schon mittelalt. Krebs, Herzinfarkt und solche Sachen."
"Heutzutage muss aber doch niemand mehr an Krebs sterben. Außer man ist bitterarm, aber das scheint ihr hier ja nicht zu sein."
"Arm sind wir mitnichten. Aber die kalte Schulmedizin will hier keiner an sich ranlassen. Wir schwören auf Alternativmedizin."
"Und der Preis dafür ist ein früher Tod?"
"Nicht immer, gewiss nicht. Aber in manchen Fällen. Lieber früh gestorben als künstlich am Leben rumgepfuscht."
"Ich glaube, das wäre nichts für mich. Zwar bin ich bitterarm und könnte mir zur Zeit gar keine Medizin leisten, aber freiwillig würde ich nicht darauf verzichten."
"Auch den Tod muss man umarmen. Er ist eine Pforte in ein neues Leben, darum wäre es sündhaft, sich ihm entgegen zu stellen."
"Oh je, ich glaube, dieses Leben ist nichts für mich, auch wenn es einige Annehmlichkeiten hat."
"Schade, mir gefällt es, mit dir zu reden. Du hast so eine Frische, die ich hier sonst oft vermisse. Aber wahrscheinlich hast du Recht. Bestimmt brauchst du Proviant für deine Reise."
"Proviant wäre wirklich prima, denn meiner ist so gut wie alle."
"Gut, dann packe ich dir was ein, was ein paar Tage reichen sollte. Ich wünsche dir, dass du bald ein Zuhause findest, wo du dich zugehörig fühlst."
"Das hoffe ich auch."
Taliga packte ganze Berge von Nahrungsmitteln zusammen. Brot, Schinken, Nussmus aber auch Fertigsuppen wanderten in einen Stoffbeutel.
"Das ist ja überaus großzügig, was du mir da alles einpackst. Das kann ich ja kaum annehmen."
"Wir haben reichlich Nahrung und du hast mir wunderbare Gespräche gegönnt, die etwas Leben in meinen eintönigen Alltag gebracht haben. Ich würde mich übrigens freuen, wenn du mir schreibst, sobald du ein Zuhause gefunden hast, denn ich bin furchtbar neugierig. Über unser Netzangebot kannst du mich erreichen."
"Gerne schreibe ich dir, wenn es mal soweit ist."
Schon kurze Zeit später war Juliane reisefertig. Sie fühlte sich ausgeruht und gut ausgestattet. Bis zum Spätnachmittag hatte sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt. In einer lauschigen Lichtung machte sie Halt und aktivierte mal wieder ihren Minicomputer. Auf ein Schwätzchen mit dem Dorfmagier verzichtete sie auch diesmal, denn ihre Stromladung reichte nur für eine kurze Recherche.
Beim Suchen im großen Buch fand sie eine Dorfkommune, wo die Bewohner auf alle Maschinen verzichteten und selbst arbeiteten. Von Spiritualität war nichts zu lesen und auch nicht von extremen Freiheitsgelüsten.
Ob das wohl was für mich ist? Vielleicht sind es wirklich die Maschinen, die die ganzen Probleme mit sich bringen. In dem einen Dorf haben sie die Leute faul gemacht und im anderen so abgehoben, dass man kaum noch was mit ihnen anfangen konnte. Ordentliche Handarbeit macht die Menschen bestimmt bodenständig. Da werde ich hinfahren.