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Ein neuer Auftrag war nicht in Sicht. Niemand meldete sich auf Julianes Werbemaßnahmen. Nachdem sie eine Weile mit sich gekämpft hatte, rief Juliane bei Theo an, um ihre Arbeitskraft anzupreisen. Tatsächlich hatte auch er alte Akten zum verarbeiten. Bei diesem Auftrag saß Juliane jedoch alleine im Aktenkeller, der allerdings vornehmer wirkte als Thomas ganze Kanzlei. Immerhin war die Bezahlung üppiger als bei Thomas. Juliane fragte sich, ob dieser Auftrag eigentlich eine Art Almosen von Theo war. Leider war auch dieser Auftrag viel zu schnell vorbei. Die Sucherei fing wieder von vorne an.

Bei ihren seltenen Supermarktbesuchen fiel Juliane auf, dass sich die Stimme der Kasse wieder verändert hatte. Der Grundklang erinnerte noch an sie selbst, aber da waren auch Elemente von Nora und Martina durch zu hören. Das hätte Juliane nicht weiter gestört, aber die Tantiemenüberweisung im nächsten Monat fiel niedriger aus als erhofft und gebraucht. Eine Randbemerkung auf der Abrechnung klärte Juliane darüber auf, dass ihre Stimme jetzt nur noch Teil einer synthetischen Stimme war, was deutlich weniger Geld einbrachte. Das ist ja gemein! Davon hat niemand was gesagt, auch nicht meine Mitsprecherinnen.

Juliane rief bei Martina an, die auch ganz empört war. Als sie sich gemeinsam bei Trotzi meldeten, war dieser schon ganz entnervt, denn auch ihn hatte die Tatsache kalt erwischt, dass die Stimmen jetzt synthetisch zusammengestellt wurden. Er war gerade dabei, seine Siebensachen zusammen zu packen als Juliane und Martina ankamen.

Dank Theos großzügiger Bezahlung schaffte Juliane es trotzdem, den nächsten Monat zu bewältigen, aber es wurde allmählich enger.

Und dann kam die Nebenkostenabrechnung für November.

Obwohl es ein besonders kalter November gewesen war, hatte Juliane mit dem Heizen gegeizt und sich auch beim Sitzen oft genug in ihre Decke gehüllt, die Füße in dicken Puschen steckend. Aber das hatte alles nicht gereicht. Die Nachzahlung für die Heizung überstieg die Kosten für die Kaltmiete. Juliane musste ihre Notreserven anbrechen, um die Rechnung zu bezahlen.

Noch so eine Rechnung und ich bin verloren. Da es immer noch kalt ist, sogar noch kälter als im November, wird die Dezember-Nachzahlung bestimmt noch teurer als die vom November. Kein

Wunder, dass die älteren Häuser abgerissen werden, weil man sich die Nebenkosten nicht mehr leisten kann. Dabei hat meine Wohnung gar keine zugigen Ritzen, aber das reicht wohl heutzutage nicht mehr.

Zu Weihnachten gönnte sich Juliane eine selbstgebackene Pizza und eine Flasche Wein, die sie beide über die Feiertage hinweg streckte.

Am 27. rief sie bei ihrem Vermieter an, der bereits darauf vorbereitet war, dass Juliane bald das Geld ausgehen würde. Juliane wollte nämlich die normalen Kündigungsfristen umgehen und hatte mit dem Vermieter einen kurzfristigen Auszug vereinbart - Nachmieter gab es sowieso keine mehr.

"Ich fürchte, es ist soweit. Die Januarmiete werde ich nicht mehr zahlen können."

"Tja, schade. Das wars dann wohl mit meinem Haus. Im Februar zieht ihre einzig verbliebene Nachbarin aus. Dann wird das Haus wohl abgerissen."

"Abgerissen? Aber es ist doch noch tadellos in Ordnung außer in Bezug auf die teuren Heizkosten."

"Das nützt leider gar nichts, dass das Haus noch gut dasteht. Mit solchen Nebenkosten wird es keine neuen Mieter mehr geben. Und ich kann es mir leider nicht leisten, das Haus einfach leer stehen zu lassen."

"Wie schade. Kann man es denn nicht besser isolieren?"

"Alles was in dieser Hinsicht möglich ist, habe ich doch schon längst machen lassen. Aber mit der modernen Technik bei Neubauten kann das leider nicht andeutungsweise mithalten."

"Das tut mir wirklich leid für Sie. Aber auch für mich, denn ohne die hohen Nebenkosten hätte ich mir das Leben in Freiheit wahrscheinlich noch ein paar Monate leisten können."

"Tja, so hat jeder sein Päckchen zu tragen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben."

"Ich Ihnen auch. Auf Wiedersehen."

In diesen Zeiten ist man ja nicht mal vor Absturz gesichert, wenn man große Häuser besitzt. Erschreckend! Dabei dachte ich mir, die Reichen seien fein raus. Aber das gilt wohl nicht für alle Reichen.

Und jetzt sollte ich wohl meine Siebensachen sortieren und raussuchen, was ich mitnehmen will, in mein Schwarmleben. Das wird gar nicht so einfach. Außerdem wird es wohl Zeit, dass ich dem Bürgeramt mitteile, dass ich jetzt ihre Hilfe brauche.

"Computer, verbinde mich mit dem Bürgeramt. Es ist soweit."

"Ok, mache ich. Mein herzliches Beileid."

Das Infoangebot des Bürgeramtes wirkte fast wie ein Reiseprospekt. Ein automatischer Begleiter meldete sich aus den Lautsprechern von Julianes Computer.

"Willkommen bei der Aufnahmeprozedur für staatlich unterstütztes Leben. Zunächst haben Sie die Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensstilen. Wollen Sie die Auswahl der angebotenen Varianten sehen?"

"Ja, bitte."

"Drei Grundvarianten der Lebensführung stehen Ihnen zur Auswahl. Innerhalb dieser Varianten gibt es noch unterschiedliche Formen der Unterbringung und verschiedene Sonderregelungen je nach Familienstand. Sie sind ledig?"

"Ja, ich bin ledig."

"Ok, dann entfallen die Sonderregelungen für Familien. Hier also die verschiedenen Möglichkeiten der Lebensführung: Da wäre zunächst das Leben im aktiven Schwarm. Geeignet für Menschen, die die Hoffnung auf eine zukünftige Arbeitsstelle nicht aufgeben wollen. Hier wird regelmäßige Aktivität gefördert und gefordert: Frühsport, Pflege der Unterkünfte und freiwillige Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft. Untergebracht werden Sie in modernen Aktivhäusern in großzügigen Zweibettzimmern. Jedes Stockwerk hat großflächige Aufenthaltsräume und eine eigene Kantine."

Auf dem Bildschirm erschienen die wohlbekannten Glitzerhäuser in Reih und Glied. Die Kamera flog über eine ganze Siedlung dieser Häuser und zeigte sie von allen Seiten. Dann zoomte die Kamera näher an ein Haus heran und sprang gleichsam ins Innere des Gebäudes. Dort glitt sie durch die Räume und zeigte ein adrettes Zweibettzimmer, einen gemütlichen Gemeinschaftsraum und eine großzügige Kantine. Das Zweibettzimmer wirkte erheblich größer als Juliane es von ihrem Besuch bei Susanne in Erinnerung hatte, aber das lag wohl am Weitwinkel der Kamera.

"Ihre Aktivitäten werden intensiv von speziellen Programmen unterstützt, damit Sie weiterhin in der Lage sind, aktiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. In regelmäßigen Abständen finden JobCastings statt, bei denen Sie sich für Arbeitsplätze Ihrer Wahl bewerben können. Die großzügigen Sportanlagen dienen dem Erhalt der körperlichen Fitness."

Man sah eine Gruppe junger Frauen, die unter freiem Himmel Gymnastik-Übungen machten. Es wirkte wie ein Aerobic-Kurs. Andere wurden bei der Arbeit in der Küche und weiteren Gemeinschaftseinrichtungen gefilmt. Alle wirkten sehr zufrieden; man hörte vereinzeltes Kichern und fröhliches Geplauder.

"Alternativ dazu gibt es das Leben im Passiv-Schwarm, wenn Sie kein Interesse an zukünftigen Arbeitsplätzen haben. Hier können Sie sich in aller Ruhe virtuellen Freizeitaktivitäten widmen. Die Mahlzeiten sind speziell für die vorwiegend sitzende und liegende Lebensweise konzipiert. Reinigungsmaschinen sorgen für die Sauberkeit in Ihren Quartieren. Niemand beeinflusst Sie bei Ihrer täglichen Freizeitgestaltung, keinerlei Erwartungen werden an Sie gestellt. Spezielle Massagematratzen sorgen auf Wunsch für eine gewisse Beweglichkeit und Gesunderhaltung Ihres Körpers."

Die Siedlung, über der die Kamera diesmal kreiste, wirkte genau so wie die vorherige, mit dem Unterschied, dass zwischen den Häusern keine Sportplätze, sondern Sitzbänke zum Verweilen einluden. In den Zweibettzimmern lagen die Bewohner auf ihren Betten, mit Headsets, die ihre Köpfe umschlossen. Der Rundflug durch irgendwelche Gemeinschaftsräume entfiel - vielleicht war dort niemand an Gemeinschaft interessiert.

"Wenn Sie nach mehr Freiheit und Individualismus streben, können Sie sich auch für eine freie Siedlung entscheiden. Dort können Sie leben, wie Sie möchten, egal ob aktiv oder passiv. Sie erhalten die Möglichkeit einer Unterkunft und Versorgung mit Nahrungsmitteln. Diese Siedlungen gibt es wahlweise mit modernen Aktivhäusern oder im traditionellen urbanen Satelliten-Stil."

Wieder flog die Kamera über Glitzercontainer. Doch diese Häuser wirkten teilweise beschädigt; die Solarflächen glänzten nicht so stark wie bei den anderen Häusern und fehlten an einigen Stellen sogar. Zwischen den Häusern bewegten sich Gruppen von jungen Männern in dunklen Klamotten, hier und da konnte man einen kleinen Gemüsegarten erahnen.

Dann wechselte die Szene und man sah eine Gruppe älterer Hochhäuser, früher häufig als Plattenbauten bezeichnet. Diese Siedlung war von einer hohen Mauer umgeben, die aber schnell von der Kamera überflogen wurde, so dass man nicht viel erkennen konnte. Auch hier sah man zwischen den Häusern Menschengruppen und kleine Gärten. Die Kamera flog hier jedoch höher als bei den anderen Rundflügen, sodass kaum Details zu sehen waren.

Freiheit und Individualismus klingen ja gut, aber irgendwie sind mir diese Siedlungen suspekt. Die Macher der Filme haben bestimmt Gründe, warum sie hier so hoch fliegen, dass man keine Details erkennen kann.

"Haben Sie sich für einen der Lebensführungs-Varianten entschieden?"

"Ja, ich nehme den Aktiv-Schwarm."

"Zu dieser Entscheidung kann ich Sie nur beglückwünschen. Wann wollen Sie einziehen?"

"Pünktlich zum Jahreswechsel."

"Sehr gut. Hier ist Ihre neue Adresse. Melden Sie sich beim Schwarm-Koordinator, sobald Sie eintreffen. Gepäck bis zu dreißig Kilo ist zugelassen."

Die Adresse lag in dem Stadtviertel, wo Juliane noch vor kurzer Zeit die vollautomatische Baustelle bewundert hatte. Vielleicht würde sie dort wohnen, wo der freundliche alte Herr früher seine Wohnung gehabt hatte.

Juliane starrte geraume Zeit auf die Adresse und die modernen Häuserzeilen, die im Hintergrund als Werbekulisse eingeblendet waren.

Dort wird dann also mein Leben sein. Wenn man es überhaupt Leben nennen kann, als Nummer in einem Schwarm zu hausen. Wir sind doch keine Ameisen.

Schaudernd stand Juliane vor dem Eingang des Schwarmhauses. Die Fassade des Hauses glitzerte in der Januarsonne, so dass das Gebäude der Bezeichnung "Glitzerhaus", wie Juliane diese Häuser gerne nannte, alle Ehre machte.

Soll ich da jetzt wirklich reingehen? Ob ich da je wieder rauskomme? Vielleicht sollte ich doch lieber unter der Brücke leben. Oder am liebsten gar nicht mehr. Wozu lohnt es sich überhaupt weiter zu leben? Das ist doch kein Leben, wenn man so gar nicht gebraucht wird. Oh, Mist, jetzt schießen mir auch noch die Tränen in die Augen, wie peinlich.

Mit aller Kraft kniff Juliane die Augen zu, um die Tränen wegzudrücken. Da das nicht ausreichte, stellte sie eine ihrer Reisetaschen ab und wischte sich energisch mit der freigewordenen Hand über die Augen. Dann atmete sie ein paar Mal tief durch und konzentrierte sich dabei darauf, tapfer zu sein. Es funktionierte und die Augen blieben trocken.

"Willkommen Juliane! Wie schön, dass du bei uns leben wirst", begrüßte sie die Haustür, sobald sich Juliane ihr auf zwei Meter näherte.

"Danke, danke, freut mich auch!" murmelte Juliane bitter.

Eigentlich ist es ja ganz nett, so begrüßt zu werden und die Haustür kann schließlich nichts dafür, dass ich keinen Job gefunden habe. Reiß dich zusammen, Mädel!

"Bitte melde dich gleich im ersten Zimmer rechts für die Aufnahmeformalitäten", sagte die Haustür nachdem sie sich geöffnet hatte.

"Ja, werde ich machen."

Nach kurzem Zögern betrat Juliane entschlossen das Gebäude, zuckte jedoch zusammen, als sich die Tür hinter ihr wieder schloss. Gefangen!

Der Eingang zum ersten Zimmer rechts glitt auf wie von Geisterhand und Juliane fügte sich ins Unvermeidliche.

"Willkommen Juliane. Wie schön, dich hier zu haben", säuselte das Zimmer, ohne dass erkennbar war, woher die Stimme kam. "Nimm bitte Platz auf dem Sessel!"

Juliane stellte ihr Taschen auf den Boden und setzte sich auf den angebotenen Sessel.

"Du bist zum ersten Mal in einer Schwarmsiedlung?", fragte die Stimme.

"Ja, bisher hatte ich mich noch in der echten Welt durchgeschlagen."

"Ok, dann müssen wir dir ein neues ID-Implantat setzen. Keine Sorge, das tut kaum weh und geht ruckzuck."

Eine Klappe in der Wand öffnete sich und ein Roboter rollte auf Juliane zu.

"Bitte krempel deinen Ärmel hoch."

Juliane tat wie geheißen und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Tapfer bleiben, Mädel. Der kleine Pieks machts jetzt auch nicht mehr schlimmer.

Ein kurzer, kalter Hauch betäubte Julianes Unterarm, dort wo die alte Narbe sie immer wieder gepiesackt hatte. Den Stich spürte sie kaum, doch es ruckte etwas, als ihr altes Implantat entfernt wurde. Das Gefühl, als das neue, größere Implantant zwischen ihre Knochen geschoben wurde, fand sie äußerst unangenehm, aber sie vermutete, dass das vor allem an ihrem Widerwillen gegen das Ding lag.

Jetzt kann jeder RFID-Scanner dieser Welt feststellen, dass ich eine Versagerin bin. Na ja, wenigstens bin ich nicht die Einzige, der es so geht.

"So, das war es schon. Jetzt kannst du es dir in deinem Zimmer gemütlich machen. Zimmer 311 im dritten Stock. Morgen um halb neun ist Weckzeit und anschließend Frühsport. Bis dahin kannst du deine Zeit frei gestalten und deine Mitbewohner kennenlernen. Mittagessen gibt es um eins in der Kantine und Abendessen um sieben."

"Danke!"

Juliane sah noch, wie der Roboter in seiner Wandnische verschwand und erhob sich dann vom Sessel. Sie ergriff die Taschen mit ihren Habseligkeiten und machte sich auf den Weg in den dritten Stock. Beim Ersteigen der Treppe dachte sie an ihren Besuch bei Susanne und wie diese ihr erklärt hatte, dass die Treppe dazu diente, die Bewohner arbeitsfähig zu halten. Mit den schweren Taschen wäre Juliane jetzt aber ein Aufzug lieber gewesen, wie er in den Faulenzer-Schwärmen zur Verfügung stand.

Als sie im dritten Stock ankam, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt, aber sie war jetzt schon so weit in die Höhle des Löwen vorgedrungen, dass es für eine Umkehr wohl zu spät war.

Wer und was mich wohl hinter dieser Tür erwartet? Welche der beiden Türen ist es überhaupt?

Sie musste nicht lange rätseln, denn die linke Tür öffnete sich von selbst und begrüßte sie ähnlich wie die Haustür.

Klingt irgendwie ähnlich wie ich, oder doch eher wie Martina? Das ist ja echt gemein, dass mir hier meine ehemalige Arbeit entgegenschwallt. Reicht es denn nicht, dass ich hier gestrandet bin? Müssen sie mich auch noch so verhöhnen? Aber bestimmt wissen sie es gar nicht, dass ich diese Stimme teilweise aufgezeichnet habe. Oh, wenn ich doch nur ganz weit weg wäre.

Juliane überschritt die Schwelle und kam in einen Gang, der genauso aussah wie der Gang in Susannes ehemaligem Schwarmhaus, nur spiegelverkehrt. Sie spähte vorsichtig in den Gemeinschaftsraum, doch niemand der dort sitzenden schien ihre Ankunft bemerkt zu haben. Deshalb ging sie leise und möglichst unauffällig bis zum Zimmer mit der Aufschrift 311.

Sie klopfte.

Ob da überhaupt schon jemand anders lebt? Na ja, das werde ich wohl gleich wissen.

Ein grummeliges Geräusch, dass ungefähr wie ein "Herein" klang, drang durch die Tür. Klopfenden Herzens öffnete Juliane die Tür zu ihrem neuen Zuhause und warf einen Blick hinein.

"Bist du die Neue? Ja, sieht so aus. Komm nur rein, ich bin die Tina."

"Ja, stimmt, ich bin die Neue und heiße Juliane. Hallo!"

"Willkommen! Aber das haben dir bestimmt schon die Türen bis zum Erbrechen gesagt."

"Stimmt, die Türen haben nicht mit Willkommen-Grüßen gespart."

"Hm, drollig, wenn ich nicht wüsste, dass du ein Mensch bist, könnte man meinen, du wärst unsere Stockwerkstür - zumindest klingst du irgendwie ähnlich."

"Das kann sogar sein, denn mein letzter regulärer Job war Stimmmuster-Aufzeichnung. Ich bin auch schon über den Klang der Tür gestolpert. Aber der ist vermischt mit meinen Exkolleginnen. Und weil das jetzt als synthetisch zusammengestellt gilt, sind unsere Tantiemen ausgeblieben. Darum bin ich hier gelandet."

"Tröste dich, da bist du in guter Gesellschaft. Ich habe mich bis vor zwei Monaten als Arzthelferin durchgekämpft. Aber dann starb meine Ärztin und ich habe nichts Neues mehr gefunden. Wer braucht heutzutage denn noch Arzthelferinnen?"

"Wer braucht heute überhaupt noch irgendjemanden? Na ja, machen wir das Beste draus. Ich nehme an, mir gehört die linke Hälfte des Raumes?"

"Stimmt genau. Oh, sorry, ich räume meine Bücher gleich von deinem Bett."

"Macht nix, ich will ja noch nicht schlafen. Mein Zeug räume ich wohl am besten in den Schrank. Und muss man dann was bestimmtes tun, wenn man hier frisch einzieht?"

"Krempel einräumen ist schon mal gut. Und dann kannst du deinen Computer in Besitz nehmen und dir die Zeit bis zum Essen vertreiben. Das Essen ist hier übrigens überraschend gut. Das liegt angeblich an Mutter Hedwig, die arbeitet in der Hausküche und kann das wirklich gut. Aber leider habe ich sie bisher noch nicht kennengelernt, denn sie wohnt im zweiten Stock."

"Leckeres Essen klingt sehr erfreulich. Da kann man sich ein wenig über den Frust hinwegtrösten. Wie gut, dass wir Sport machen müssen, sonst würden wir bestimmt zunehmen, wenn Essen der einzige Trost im Leben ist."

"Stimmt, bei Mutter Hedwigs Kost könnte man ohne Sport schnell kugelrund werden."

Während Juliane ihren Schrank mit den wenigen Habseligkeiten füllte, die sie in ihr neues Leben mitgebracht hatte, widmete sich Tina wieder ihrem Bildschirm.

Wenn ich an all die vielen Dinge denke, von denen ich mich verabschieden musste. Wie gut, dass eine Entrümplungsfirma das Entsorgen meiner "Reichtümer" übernommen hat. Sonst hätte ich wohl bei jedem Einzelteil einen Heulkrampf bekommen. Der eine Typ von der Entrümplungsfirma wirkte eigentlich ganz nett bei der Vorbesprechung. Und vielleicht springt beim Verkauf ja auch noch ein bisschen Geld raus, so dass ich hier nicht völlig mittellos bin. Wenigstens konnte ich die Persönlichkeit meines Cmputers mitnehmen. An den habe ich mich wirklich schon gewöhnt. Vielleicht sollte ich einfach ne Runde World 3000 spielen. Meine Mitkrieger warten bestimmt schon auf mich.

Sie schob den mitgebrachten Datenträger in den bereitstehenden Computer und übertrug ihre persönlichen Daten in das neue Gerät. Nach kurzer Zeit meldete sich ihr vertrauter Computer-Avatar mit den üblichen Sprüchen. Sofort fühlte sich Juliane deutlich heimischer. Auch die Mittelalterwelt half, das neue Leben im Schwarm für eine Weile zu vergessen.

Ein Klingeln schreckte sie auf.

"Mittagessen!", rief Tina und strebte zur Tür.

Juliane setzte ihr Headset ab und folgte Tina zur Kantine.

17

"Nimm lieber eine Mahlzeit mit Gemüse, denn die dürfte von Mutter Hedwig sein. Die Lasagne sieht zwar lecker aus, ist aber wahrscheinlich Fertigfraß."

Juliane folgte Tinas Ratschlag und nahm einen Teller mit Reis und Gemüse aus dem Ausgabefach. Sofort füllte sich das Fach automatisch mit einem neuen Teller. Außer der Hauptmahlzeit gab es noch Nachtisch und Getränke nach Wunsch. Mit ihrem gefüllten Tablett folgte Juliane Tina zu einem freien Tisch.

Das Essen riecht ja wirklich lecker, wie selbstgekocht. Aber ansonsten ist das hier schon eine ziemlich ungemütliche Abfütterungsmaschinerie. Die anderen Insassinnen sehen auch nicht sehr glücklich aus. Wie sie alle rüberstarren.

"Ob ich mich den anderen irgendwie vorstellen sollte, oder wie läuft das hier? Die gucken alle so argwöhnisch."

"Ach lass dich von denen doch nicht beeindrucken. Später kannst du ja mal in den Gemeinschaftsraum gehen und dich mit ihnen bekannt machen. Spezielle Begrüßungsrituale gibt es hier nicht."

"Ok, dann werde ich versuchen, die Blicke einfach zu ignorieren."

"Glaub mir, die wissen, wie beschissen du dich fühlst. Von denen ist ja noch Keine lange hier. Schließlich ist das hier ein funkelnagelneues Schwarmhaus."

Juliane war froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben und erzählte Tina davon, wie sie durch den Bauzaun geschaut hatte und dass sie als Kind in dem ehemaligen Stadtteil an dieser Stelle gespielt hatte.

Wie versprochen, schmeckte das Essen vorzüglich. Auch der Nachtisch, ein Erdbeerpudding, war ausnehmend lecker und Juliane hätte am liebsten noch mehr davon gegessen. Laut Tinas Aussage war der Nachtisch zwar synthetisch, aber davon ließ Juliane sich nicht abschrecken. Hauptsache er schmeckte gut.

Eigentlich ist es ja gar nicht so schlecht hier. Fast wie in einem Ferienlager. Und mit gefülltem Bauch sieht die Welt auch gleich viel sympathischer aus. Ich frage mich, vor was ich mich eigentlich gefürchtet habe. Die Frauen hier scheinen eigentlich ganz nett zu sein. Das Beste ist aber, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Das ist eine richtige Erleichterung.

Nach dem Essen blieben die meisten noch eine Weile sitzen und tranken in aller Ruhe ihre Getränke. Ein paar Frauen kamen auf dem Weg nach draußen an Julianes Tisch vorbei und begrüßten sie kurz. Juliane konnte sich die verschiedenen Namen und Gesichter jedoch nicht auf Anhieb merken, denn die Frauen unterschieden sich kaum in der Art, wie sie auftraten.

Später lerne ich sie bestimmt alle richtig kennen. Vielleicht finde ich ja sogar ein paar Freundinnen unter den Mitbewohnerinnen. Auch Tina ist ziemlich nett. Ich war ganz schön dumm, mit meiner Angst vor dem Schwarmleben.

Nach dem dritten Kaffee entschieden sich auch Tina und Juliane, die Kantine wieder zu verlassen. Die benutzten Tabletts schoben sie in ein entsprechendes Fach, wo sie sofort in der Versenkung verschwanden.

Da niemand im Gemeinschaftsraum saß, ging Juliane wieder in ihr Zimmer und widmete sich der Mittelalterwelt. Beim Spielen vergaß sie völlig, dass sie jetzt im Schwarm lebte und ihre Freiheit verloren hatte. Sie fühlte sich wie zu Hause, denn an ihrer Mittelalterwelt hatte sich nichts verändert.

Schneller als erwartet war es schon wieder Zeit fürs Abendessen. In der kalt wirkenden Kantine fühlte sich Juliane zunächst wieder unbehaglich, weil sie daran erinnert wurde, wo sie sich befand. Doch im Verlauf des Essens besserte sich ihre Laune erheblich. Das Essen schmeckte gut, obwohl es nur belegte Brote und ein Süppchen gab.

Wie sich ein voller Bauch doch auf die Stimmung auswirkt. Das ist mir noch nie so deutlich aufgefallen wie hier. Kaum habe ich ein paar Bissen im Magen, sieht die Welt gleich viel rosiger aus. Wie gut, dass wir Frühsport treiben müssen, sonst würden wir hier wohl wirklich du fetten Kugeln werden. Hoffentlich stört mein Knie nicht beim Sport; das wäre sonst ziemlich ärgerlich. Aber ich habe einfach keine Lust, zuviel Wirbel um mein Hinken zu machen. In letzter Zeit ging es eigentlich auch ziemlich problemlos mit dem Bein.

Nach einer weiteren Runde World 3000 wurde Juliane müde und legte sich in ihr neues Bett. Ein kleines Extra-Kopfkissen hatte sie von Zuhause mitgebracht, damit es nicht gar so fremd war in ihrem neuen Leben. Das Kissen roch vertraut und Juliane konnte sich schnell entspannen. Im Halbschlaf sah sie die Entrümpler vor sich, die ihre alte Wohnung leerten und war froh, dass sie das nicht hatte selbst machen müssen. Der eine Entrümpler hatte wirklich sympathisch gewirkt, so sympathisch, dass sie ihm eigentlich gerne beim Entrümpeln geholfen hätte, trotz der Schmerzen, die ein Entrümpeln ihrer eigenen Wohnung bedeutet hätte. Der Anflug von Heimweh, der sie bei den Gedanken an ihre alte Wohnung gepackt hatte, verging jedoch schnell wieder und Juliane glitt in traumlosen Schlaf.

"Ding-Dong! Guten Morgen! Es ist Zeit zum Aufstehen!"

Eine freundliche Stimme, die an Nora erinnerte, weckte Juliane am nächsten Morgen. Sie fühlte sich ausgeschlafen, aber die entspannte Stimmung vom Abend war verschwunden. Stattdessen blickte sie sich entsetzt in dem seelenlosen Zimmer um, das sie jetzt bewohnte.

Oh je, wo bin ich hier nur gelandet. Und hier soll ich den Rest meines Lebens verbringen?

"He Juliane, keine Zeit zum Trübsalblasen. Keine Widerrede, ich sehe es dir an, wie du dich fühlst. Lass uns in der Kantine einen schnellen Kaffee schlürfen, dann wird es gleich besser. Und dann ist Zeit zum Sporteln."

"Ok, danke. Du hast Recht, ich war grad völlig entsetzt, wo ich hier gestrandet bin. Aber das kennst du ja bestimmt auch gut genug."

"Klar kenne ich das. Ich habe mich auch grad erst eingelebt. Glaub mir, der Kaffee wird helfen. Das tut er immer."

Tina behielt Recht. Schon nach wenigen Schlucken Kaffee fühlte Juliane sich wieder besser. Dabei war sie sonst gar kein ausgeprägter Kaffee-Fan.

Da es weder regnete noch schneite, fand der Frühsport draußen statt. Juliane genoss die klare, frische Luft. Die sportlichen Übungen erwiesen sich als harmlos und ließen sich auch mit ihrem Hinkeknie leicht bewältigen. Zuerst liefen sie ein paar hundert Meter im Kreis, dann folgten normale Aufwärmübungen. Eine Computerstimme feuerte sie an.

Woanders nennt sich sowas Aerobic-Kurs und muss teuer bezahlt werden. Eigentlich gar nicht so schlecht, diese staatlich unterstützte Lebensführung. Zuhause hätte ich ja nicht mal den Platz gehabt für solche Übungen. Und ein Fitness-Center konnte ich mir sowieso noch nie leisten.

Nach dem Frühsport hatten die Schwarmbewohner Zeit zum Duschen und um ihre Zimmer zu säubern. Dann gab es ein üppiges Frühstück. Juliane hatte die Wahl zwischen Brötchen, Vollkornbrot, Corn Flakes, Obst, Haferbrei und diversen Getränken. Das Schwarmleben gefiel ihr zunehmend besser.

Zurück in ihrem Zimmer forderte Julianes Computer sie auf, sich für eine freiwillige Tätigkeit zu entscheiden. Nach einer kurzen Durchsicht der verschiedenen Möglichkeiten wählte sie die Küche, weil sie Mutter Hedwig kennenlernen wollte.

Julianes Dienst begann sofort, denn bis zum Mittagessen musste die Mahlzeit gekocht sein. Die Küche befand sich im Untergeschoss des Schwarmhauses und nur die freiwilligen Helfer hatten Zutritt.

Mutter Hedwig erwies sich als kräftig gebaute Matrone mit dunkelblonder Betonfrisur. Sie war sofort zur Stelle, als Juliane die Küche betrat.

"Aah, eine Neue in unseren heiligen Hallen. Willkommen in der Küche! Du hast richtig gewählt. Wie heisst du denn?"

"Ich heisse Juliane, und wie darf ich dich, äh, Sie nennen?"

"Nenn mich einfach Mutter Hedwig, wie alle hier. Schön, dass du hier mithelfen willst. Wir können jede helfende Hand gebrauchen, um dem Fertigessen zu entkommen. Welche Erfahrung hast du beim Kochen?"

"Nicht sehr viel, aber ich bin in der Lage preiswerte Mahlzeiten zuzubereiten, die den Bekochten meistens schmecken."

"Wunderbar, ganz phantastisch. Da hast du den meisten Frauen heutzutage was voraus. Hier hast du ein Messer. Du kannst gleich mal mit Zwiebelschneiden anfangen. Das müssen alle Neuen hier am Anfang machen. Währenddessen können wir weiterreden."

Juliane nahm das Messer entgegen und setzte sich vor einen Riesenberg ungeschälter Zwiebeln.

"Hallo Freundinnen!" rief Mutter Hedwig mit erhobener Stimme in den Raum. "Hier ist Juliane, die uns ab jetzt im Kampf gegen das Kunstessen unterstützen wird."

Applaus und Willkommenrufe kamen aus allen Ecken der Küche. Außer Juliane und Mutter Hedwig befanden sich noch ein knappes Dutzend weiterer Frauen in Raum.

"So, Juliane, jetzt erzähl mir doch mal, wie du deinen ersten Tag im Schwarm erlebt hast."

Wie herzlich hier alle sind. So eine familiäre Stimmung hätte ich niemals im Schwarm erwartet. Hier geht es ja richtig menschlich zu.

"Eigentlich war es besser als befürchtet. Und das leckere Essen hat den Einstieg auch erleichtert. Meine Zimmergenossin Tina hat mir gleich am Anfang erzählt, dass du hier für alle kochst. Das tröstet wirklich über den Kummer hinweg, dass man sein Leben nicht selbst bewältigt hat und nicht mehr gebraucht wird."

"Was hast du gestern denn alles gegessen?"

"Reis und Gemüse, denn das hatte mir Tina empfohlen, weil die Lasagne angeblich synthetisch war. Der Erdbeerpudding zum Nachtisch hat auch sehr gut geschmeckt."

"Erdbeerpudding hast du auch gegessen? Kein Wunder, dass du so positiv eingestellt bist. Merk dir: von Kunstnahrung wie dem Erdbeerpudding solltest du in Zukunft unbedingt die Finger lassen, wenn dir dein freier Wille am Herzen liegt."

Juliane starrte Mutter Hedwig verständnislos an.

18

"Wie meinst du das? So ungesund kann Erdbeerpudding doch kaum sein, dass ich meinen freien Willen dadurch verliere, oder?"

"Um ungesund geht es dabei überhaupt nicht, obwohl so ein zuckriger Pudding natürlich auch nicht sehr gesund ist. Bei der staatlichen Fertignahrung vermute ich Drogen im Essen. Ganz sicher bin ich mir natürlich nicht, denn keiner wird sowas zugeben, aber man kann es ganz deutlich am Verhalten der Menschen sehen, die diese Sachen essen."

"Drogen? Das kann ich mir kaum vorstellen. Ich habe auch gar keinen Rausch gehabt."

"Keine Drogen, die einen in Rauschzustände versetzen, sondern welche, die einen einfach ein bisschen zufriedener machen. Ist dir nicht aufgefallen, wie zufrieden du nach dem Essen wurdest?"

"Schon, aber das ist doch ganz normal, dass man vom Essen etwas zufriedener wird, oder nicht?"

"In gewissem Rahmen ist das durchaus normal, aber nicht so stark, wie man das bei der Kantinenkost beobachten kann. Das ist ja auch das raffinierte daran, denn wenn man sich nach einem leckeren Essen wohl fühlt, vermutet niemand eine Manipulation durch Drogen. Und wenn man sich wohl fühlt, stellt man das auch meistens nicht in Frage. Ich habe auch ziemlich lange gebraucht, um dahinter zu kommen."

"Aber dieses Schwarmhaus ist doch noch ganz neu. So lange kannst du doch noch gar nicht hier sein."

"Ich habe schon ein paar Jahre in einem anderen Schwarmhaus gelebt, aber zwischendrin hatte ich noch mal kurz Arbeit. Darum bin ich jetzt hier gelandet."

"Und wie ist das jetzt mit den Drogen?"

"Eine Kollegin, die sich mit sowas auskennt, hat sowas wie 'Endorphine' zu den Drogen gesagt. Das sollen Stoffe sein, die auch der Körper selbst produziert, wenn Menschen zufrieden sind. Die werden beispielsweise auch beim Sport produziert oder wenn man etwas tut, was einen glücklich macht. Und diese Stoffe sind angeblich bei uns im Essen, damit wir keine revolutionären Ideen entwickeln."

"Kann man schon verstehen, dass die Regierung uns friedlich halten will. Aber andererseits ist das ja die totale Frechheit. Dagegen müsste man was unternehmen. Ob man die verklagen kann? Ich kenne einen Anwalt."

"Von Verklagen halte ich nicht viel, man muss es ja auch erst mal beweisen können. Außerdem sind viele bestimmt ganz zufrieden damit, Glücklichmacher im Essen zu haben. Andere zahlen viel Geld für Drogen und riskieren sogar, dafür ins Gefängnis gesteckt zu werden. Selbst das Bier zum Feierabend geht in diese Richtung."

"Stimmt schon, aber das macht man schließlich freiwillig."

"Findest du Sucht etwa freiwillig?"

"Hm, so betrachtet natürlich nicht. Und diese Drogen, sind die nur im Erdbeerpudding?"

"Auf keinen Fall nur im Erdbeerpudding. Ich vermute, dass sie bei den meisten Nahrungsmitteln und Getränken untergemischt sind, die sich dafür eignen. Solche Stoffe kann man ja spottbillig herstellen und es lohnt sich bestimmt, sie großzügig zu verteilen, wenn man dadurch die Menschenmassen friedlich hält."

"Und wo sind keine Drogen drin?"

"Zum Beispiel in dem Essen, das wir hier kochen. Zumindest glaube ich das, denn es dürfte schwierig sein, die Stoffe ins frische Gemüse einzubauen. Daher hoffe ich, dass alle gängigen Rohstoffe unbelastet sind. In Tomaten sind solche Drogen übrigens schon immer auf ganz natürliche Weise drin. Viele Nahrungsmittel enthalten natürliche Endorphine, die chemisch genau das gleiche sind, wie die künstlichen Glücklichmacher. Hier, nimm ein Stück Schokolade. Auch Kakao enthält Endorphine."

"Lecker, danke! Ist das der Grund, warum manche Leute schokoladensüchtig sind?"

"Ja, das glaube ich durchaus. Glücklichmachendes Essen hat eine lange Tradition. Auch in Weihnachtskeksen ist eine ordentliche Portion Endorphine drin."

"Macht ja auch Sinn, wenn man im kalten, dunklen Winter ein paar Aufmunterer bekommt. Und jetzt panschen sie das Zeug überall rein, damit wir nicht aufmucken?"

"Zumindest glaube ich das. Die Anzeichen sprechen sehr dafür. Wahrscheinlich ist das den meisten Regierenden gar nicht so bewusst, denn die Nahrungsmittelindustrie hat ja schon immer diverse Stoffe in die Industrienahrung gepanscht. Möglicherweise haben sie jetzt einfach die Genehmigung für ein paar zusätzliche E-Stoffe bekommen und keiner will es so genau wissen."

"Das leuchtet ein. Wie sieht es denn mit dem Trinken aus? Da ist doch bestimmt auch was drin."

"Zum Trinken empfehle ich Wasser aus dem Wasserhahn, denn ich glaube kaum, dass die Organisatoren damit rechnen, dass hier jemand Hahnwasser trinkt, wo es doch ein recht breites Getränkeangebot gibt."

"Und beim Essen sollte man dann am besten das essen, was hier gekocht wird?"

"So ungefähr. Du siehst ja, was wir hier kochen, meistens irgendetwas mit Gemüse. Zum Frühstück kochen wir Haferbrei und das Obst ist auch in Ordnung. Abends gibt es noch eine Suppe von uns. Ob das Brot und der Käse verdrogt sind, weiß ich leider nicht. Aber es ist dir natürlich freigestellt, bewusst zum Erdbeerpudding zu greifen. Denn keiner zwingt dich dazu, die Drogen zu boykottieren."

"Klar, aber wenn man es erstmal weiß, wäre man ja schön dumm, wenn man sich mit Drogen vollstopfen lässt."

"Wenn du es einsetzt wie ein Feierabendbier: warum nicht? Aber natürlich hast du Recht. Ich achte streng darauf, dass ich nichts von diesem Kunstkram esse. Darum arbeite ich auch den ganzen Tag in der Küche. Damit es immer Alternativen gibt."

"Und wie hältst du das Schwarmleben aus, ohne Tröstdrogen?"

"Ganz einfach: ich arbeite ja ganztags und fühle mich sehr gebraucht. Außerdem habe ich hier Freunde gewonnen, abends lese ich ein wenig in der Bibel und ab und zu schaue ich mir einen schönen Film an. Was will ich mehr?"

"Ein bisschen beengt lebt man hier ja schon. Und man hat kaum Platz für persönliche Gegenstände."

"Das stimmt. Ein Einzelzimmer würde mir besser gefallen und mehr Platz wäre auch nicht schlecht. Aber wenn das die einzigen Probleme sind, will ich nicht klagen. Da brauche ich keine Drogen, um glücklich zu sein."

"Erstaunlich, dass man sich hier richtig wohl fühlen kann. Das muss ich wohl erst noch eine Weile auf mich wirken lassen."

"Tu das. Du wirst merken, dass es hier nicht nur schlecht ist. Vor allem, wenn man in der Küche arbeitet. Selbst halbtags bringt schon viel. Schau dir doch die anderen an, wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit sind. Wenn du mit den Zwiebeln fertig bist, kannst du mit den Karotten anfangen."

"Gut, mache ich. Danke für die ganzen Erklärungen. Ich beginne, das Leben hier in anderem Licht zu sehen."

Die ganzen Küchenhelfer machen wirklich einen glücklichen Eindruck. Eigentlich ist es ja auch schön, wenn man zusammen für andere kochen darf Wenn nur nicht diese Zweibettzimmer wären. Tina ist zwar ganz nett, aber ich brauche auch mal meine Privatsphäre. Na ja, man kann wohl nicht alles erwarten, wenn der Staat einen ernährt. Aber dass sie Drogen ins Essen mischen, finde ich schon ziemlich schrecklich. Mal sehen, ob es mir gelingt, sie zu vermeiden.

Nach dem Küchendienst ging Juliane wieder in ihr Stockwerk zum Mittagessen. Das Essen schmeckte ihr diesmal noch besser als am Tag davor, denn sie hatte ja beim Kochen geholfen. Auf den Schokoladenpudding verzichtete sie. Auch ohne Puddingdrogen fühlte sie sich nach dem Essen ziemlich wohl, aber sie merkte deutlich, dass das Wohlgefühl nicht so ausgeprägt war wie mit Pudding.

Statt Puddingdrogen habe ich jetzt immerhin eine Aufgabe und nette Kollegen. Das habe ich doch die ganze Zeit gewollt. Und Sorgen um die Miete muss ich mir auch nicht mehr machen. Nein, ich esse jetzt keinen Pudding, auch wenn es irgendwie verlockend scheint.

Den freien Nachmittag verbrachte Juliane wieder in der Mittelalterwelt, denn sie fand, dass sie sich mit einem halben Tag Küchenarbeit dieses Freizeitvergnügen redlich verdient hatte.

Die Reise wurde etwas eintönig, obwohl die regelmäßigen Scharmützel die Einförmigkeit auflockerten.

Nach einem dieser Scharmützel wollte sie gerade wieder ihr Schwert einstecken, als plötzlich eine weitere Angriffswelle folgte. Ein ganzer Trupp frische Gegner stürzte auf die müde gekämpften Krieger ein.

Wo die nur wieder herkommen? Der Feind hat anscheinend endlos viele Mannen in unser Land geschickt, um uns aufzuhalten. Wenn wir sie nicht besiegen, werden sie bestimmt auch unser Land erobern und dann ist niemand mehr sicher. Also auf sie mit Gebrüll, egal wie erschöpft ich schon bin.

Zwei der Gegner hatte Juliane schon niedergekänpft, da sah sie, wie ein besonders großer Kämpfer auf Rufus eindrosch. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass der Kämpfer Rufus erschlug. Zuerst drängte sie ihn ab, doch dann musste sie dem Gegner mit einem kräftigen Schlag den Kopf abschlagen, um sich selbst zu retten.

Dann stand sie überströmt mit dem Blut des Gegners vor Rufus, der auf dem Boden lag und dem es offensichtlich gar nicht gut ging. Er blutete stark aus mehreren Wunden. Auf ihren Ruf hin eilte Gnardik herbei, sobald er sich freigekämpft hatte. Er verband die Wunden von Rufus notdürftig und es gelang ihm, die Blutungen halbwegs zu stoppen. Doch Rufus hatte viel Blut verloren. Inzwischen war er auch bewusstlos.

"Der Rufus wird so bald nicht mehr reisen können. Wir können froh sein, wenn er diese Verletzungen überlebt. Was machen wir nur mit ihm?" Gnardik schüttelte den Kopf und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich große Sorgen machte.

"Da vorne ist ein Dorf. Vielleicht können wir ihn dort hinbringen und pflegen. Ich wäre bereit, mich um ihn zu kümmern, bis er wieder auf den Beinen ist. Aber was wird mit unserem Befreiungsfeldzug?"

"Um den mach dir mal keine Sorgen, Julia. Tartus freut sich bestimmt, wenn er die Führung übernehmen kann. Wenn du Rufus pflegst, könnte das seine Rettung sein. Ein paar Heilertricks müsste ich dir jedoch noch zeigen, damit du klar kommst. Am besten wäre natürlich, wenn sich im Dorf jemand mit Heilung auskennt."

"Gut, und wie bekommen wir Rufus dort hin?"

"Am besten bauen wir eine einfache Trage und schleppen ihn zu viert dort hin. Wenn es ein Wirtshaus gibt, könnt ihr vielleicht dort unterkommen."

Die Trage war schnell gebaut und die Männer stritten sich fast darum, wer sie schleppen durfte, denn die meisten schätzten Rufus sehr und trugen ihn daher auch gerne. Auf dem Weg zum Dorf kamen sie an einer Gruppe Feldarbeiter vorbei, die bei der Arbeit sangen und sehr glücklich wirkten.

Welch eine Idylle. Fast ein wenig ähnlich wie die Arbeit in der Küche. Gemeinsame Arbeit scheint den Menschen gut zu tun. Hoffen wir mal, dass die Dörfler uns freundlich aufnehmen.

Zu Julianes Erleichterung gab es ein Wirtshaus und sie bekamen zwei anständige Zimmer, die sogar recht sauber wirkten. Eine Hausmagd brachte heißes Wasser und Schnaps zur Versorgung von Rufus Wunden. Gnardik zeigte Julia, wie man die Wunden säubert und frisch verbindet. Außerdem schärfte er ihr ein, immer darauf zu achten, dass Rufus reichlich Flüssigkeit zu sich nahm.

Später kam noch eine nahrhafte Fleischbrühe aus der Küche, die sie Rufus löffelweise einflößte. Rufus war zwar in der Lage, die Suppe zu schlucken, aber er war höchstens halb bei Bewusstsein.

Die ganze Nacht über hielt Julia bei Rufus Wache und am nächsten Morgen zogen die anderen Krieger weiter, um das Nachbarland zu befreien.

Julia fühlte sich zwar alleingelassen in dem fremden Dorf, aber die Bewohner waren freundlich zu ihr und versorgten ihre Gäste gut. Außerdem war Julia von der Aufgabe erfüllt, Rufus möglichst gut zu pflegen, damit er bald wieder gesund werden würde.

19

Die Tage vergingen wie im Fluge. Vormittags arbeitete Juliane in der Küche und die Nachmittage verbrachte sie meistens in World 3000. Ab und zu schaute sie abends mit Tina einen Film und manchmal gesellte sie sich auch zu den anderen Frauen im Gemeinschaftsraum, wenn dort was los war.

Oft saßen nur Sabine und Petra im Gemeinschaftsraum und strickten, aber manchmal tummelten sich dort auch etliche Frauen und plauderten kichernd. In solchen Momenten fühlte sich Juliane besonders stark an Schulandheim-Aufenthalte erinnert.

Das Stricken fazinierte Juliane, denn sie hatte es nie richtig gelernt und staunte, wie schnell sich Sabines und Petras Nadeln bewegten. Sie konnte den Bewegungen kaum mit den Augen folgen.

"Was strickst du da eigentlich, Sabine?"

"Zur Zeit sind Strümpfe dran, denn dafür braucht man nicht soviel Wolle wie für Pullover."

"Es sieht wirklich abenteuerlich aus, wie schnell die fünf Nadeln auf und ab hüpfen."

"Alles eine Sache der Übung. Du kannst wohl nicht stricken?"

"Nur die Grundbegriffe. Haben wir in der Schule gelernt, aber ich habe es nie weiter verfolgt."

"Ich liebe es, aus eigener Kraft etwas herstellen zu können. Schade, dass wir hier keine Nähmaschinen aufbauen dürfen. Und fürs Stricken ist immer die Wolle knapp."

"Für wen strickst du denn so? Du brauchst doch bestimmt nicht soviele Strümpfe wie du hier zusammennadelst." "Richtig. So viele Socken brauche selbst ich nicht. Ich stricke für jeden der will. Mein Tarif ist die doppelte Menge Wolle für das, was du brauchst."

"Oh, sogar mit festem Tarif. Das heisst, ich müsste dir nur genug Wolle für zwei paar Strümpfe geben und dann würdest du mir ein Paar stricken?"

"Ganz genau."

"Und wo bekommt man die Wolle her?"

"Die bestelle ich immer im Netz. Wenn du willst, können wir das geschwind erledigen. Hast du denn Geld?"

"Ja, vom Verkauf meiner alten Sachen ist etwas Geld übrig geblieben. Außerdem habe ich gestern mein erstes Bürgergeld bekommen, für die Arbeit in der Küche."

"Wunderbar, dann steht den Socken ja nichts mehr im Wege."

Ein Strahlen ging über Sabines Gesicht als sich der Shop mit dem Wolleangebot öffnete und seine Knäule darbot.

Als würden dort Edelsteine angeboten. Diese Sabine hat ja echt den reinsten Wollefimmel. Nicht schlecht für mich, denn eigentlich ist es ja spottbillig, wenn man gerade mal den doppelten Materialpreis aufbringen muss, um handgestrickte Socken zu bekommen. Die machen ja richtig viel Arbeit.

Auch Petra war mitgekommen, denn sie wollte sich diesen angenehmen Moment der Wollebestellung anscheinend nicht entgehen lassen. Als Juliane ihre sehnsüchtigen Blicke sah, entschied sie sich kurzerhand, gleich zwei Paar Socken zu bestellen.

Nach gründlicher Beratung durch die beiden Fachfrauen entschied sich Juliane für ein Paar aus reiner Wolle und ein weiteres aus einem Gemisch aus Wolle und Baumwolle. Nach erfolgter Bestellung leckte Sabine sich die Lippen, als hätte sie gerade besonders fette Sahne zu schlecken bekommen. Die beiden Strickerinnen eilten wieder an ihren Stammplatz im Gemeinschaftsraum und auch Juliane fühlte sich sehr zufrieden, als sie den Wollshop wieder verließ. Sie hatte den Eindruck, ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben.

An einem sonnigen Tag zog es Juliane unwiderstehlich nach draußen und sie beschloss, einen Spaziergang zu machen. Seit sie hier lebte, hatte sie das Haus nur morgens zum Sport verlassen. Sie kannte nicht einmal die nähere Umgebung, außer natürlich aus ihrer Kindheit, aber damals war natürlich alles ganz anders gewesen.

Nach dem Mittagessen ging sie also ins Erdgeschoss und strebte nach draußen.

"Juliane, wo willst du hin?" fragte die Tür.

"Huch, na sowas! Ich will nur einen kleinen Spaziergang machen."

"Du hast aber keine Ausgangserlaubnis beantragt."

"Darf ich etwa keinen Spaziergang machen? Ich bin doch hier nicht im Gefängnis."

"Doch, natürlich darfst du einen Spaziergang machen, aber nur mit Genehmigung."

"Nein, das ist doch nicht die Möglichkeit! Und wo soll ich mir diese Genehmigung einholen, bitte schön?"

"Ausnahmsweise kannst du sie bei mir einholen. Aber normalerweise solltest du das schon in deinem Zimmer erledigen. Am besten gleich nach dem Frühstück."

"Na gut. Also liebe Tür: bitte gewähre mir Ausgang für einen Spaziergang."

"Wo willst du hin und wie lange soll es dauern?"

"Nur ein bisschen in der Gegend rumlaufen. Vielleicht ein bis zwei Stunden lang."

"Ok, aber nur hier auf dem Gelände. In zwei Stunden erwarte ich dich zurück."

"Alles klar!"

Sowas Mieses! Dass man nicht mal einen kleinen Spaziergang machen kann, ohne überwacht zu werden. Dabei können sie mich doch sowieso überall orten. Ich fing schon an, mich hier superwohl zu fühlen, aber das hat jetzt einen gewaltigen Knacks bekommen. Das ist ja hier fast wie im Knast.

Irgendwie fand ich es sowieso pervers, mich hier so wohl zu fühlen. Ich war ja fast schon glücklicher als in all den Jahren seit ich erwachsen bin.

Jetzt könnte ich aber so einen Erdbeerpudding gebrauchen. Das mit der Genehmigungspflicht für den Spaziergang war wie ein Schlag ins Gesicht. Dabei haben sie es ja letztlich ganz formlos erlaubt. Ich will aber nicht, dass ich eine Erlaubnis brauche, um mir mal die Beine an der frischen Luft zu vertreten. Wo soll ich denn jetzt überhaupt hingehen? Hier sieht ja alles gleich aus.

Ach, ich geh einfach mal der Nase nach, egal wo ich hinkomme - Hauptsache ein Stück weit weg.

Mist, die Sonne gefällt mir jetzt gar nicht mehr. Am liebsten würde ich mich in mein Bett verkriechen und heulen. Aber dann sieht Tina, wie mies ich drauf bin. Bestimmt fragt sie dann doof rum. Außerdem habe ich ja jetzt schon Ausgang und das sollte ich ausnutzen.

Also einfach mal losgehen.

Nach kurzer Zeit kam Juliane an einen Fluss, der zwei Teile der Schwarmsiedlung voneinander trennte.

Merkwürdig! Früher waren hier alle paar hundert Meter Brücken. Jetzt sehe ich keine einzige mehr. Aber der Fluss ist trotzdem noch schön. Wie das Wasser so fließt und gluckert. Immer weiter fließt, über die Siedlung hinaus, raus aus der Stadt, übers Land, bis ins Meer.

Wie gerne würde ich ihm folgen, bis ans Meer. Aber jetzt muss es wohl reichen, wenn ich ihm bis zur Siedlungsgrenze folge. Immer noch besser, als zwischen den Häusern rum zu irren.

Das schöne Wetter hatte etliche Schwarmbewohner nach draußen gelockt. Auf beiden Seiten des Flusses war reichlich Betrieb.

Ist ja sonderbar! Hier gibt es nur Frauen und drüben spazieren nur Männer. Das ist ja richtig strenge Geschlechtertrennung. Manch einer winkt rüber. Und da steht eine Frau und schaut ganz sehnsüchtig auf die andere Seite. Was wohl passieren würde, wenn jemand den Fluss durchwaten würde? So tief scheint er gar nicht.

Irgendwie ist es mir hier zu voll. Ich glaube, ich gehe woanders hin. In Susannes Siedlung gab es doch Geschäfte und Cafés. Vielleicht finde ich hier sowas auch.

Juliane verließ den Fluss, ging wieder an den Häuserreihen vorbei und stieß jenseits davon auf eine Art Einkaufsstraße. Sie betrat ein kleines Café und ließ sich ein Stück Torte mit Kaffee schmecken. Ihre Laune steigerte sich zusehens.

Das ist mir jetzt völlig egal, ob da Drogen drin sind oder nicht. Es schmeckt einfach gut und fühlt sich auch besser an. Kaffee ist sowieso eine Droge und Zucker eigentlich auch. Was hatte Hedwig noch gemeint? Schokolade und Weihnachtsgebäck enthalten diese Glücklichermacher sowieso schon seit Ewigkeiten? Dann wirds schon nicht so schlimm sein.

Oh je, schon so spät! Da muss ich ja schnell wieder zurück. Wer weiß, was ich sonst für einen Ärger bekomme.

Hastig verschlang sie die letzten Bissen der Torte und machte sich auf den Heimweg.

Die Eingangstür begrüßte sie mit einem fröhlichen "Willkommen daheim, Juliane!". Juliane quittierte diesen Gruß mit einem unfreundlichen Knurren, konnte sich aber nicht verkneifen, anschließend zu grinsen.

Sie war froh, als sie wieder in die vertraute Mittelalterwelt eintauchen konnte.

Rufus ging es inzwischen wieder deutlich besser, aber er war nach wie vor bettlägrig. Die ständige Anwesenheit von Julia war nicht mehr erforderlich und wurde von Rufus auch gar nicht gewünscht.

Also hatte sich Julia angewöhnt, tagsüber im Dorf rumzustreifen. Manchmal half sie in der Küche des Wirtshauses, in dem sie logierten. Dann musste sie immer an die Küche ihres Schwarmhauses denken, in der sie ihre Vormittage verbrachte. Der Unterschied der beiden Küchen erfüllte sie mit Heiterkeit. In der Mittelalterküche mussten sie manchmal ganze Schweine zerlegen. Sowas kam im Schwarmleben nicht vor.

Besonders gut gefiel Juliane die Arbeit im Gemüsegarten und auch beim Melken der Kühe half sie gerne. Einmal hatte sie sogar die Gelegenheit bei der Käseproduktion mit zu machen. Der Umgang mit der Milch und ihren Produkten reizte sie besonders.

Am liebsten würde ich hier bleiben. Das Landleben gefällt mir eigentlich viel besser, als das ewige Rumziehen und Kämpfen.

Ach, am allerliebsten würde ich auch in Echt in so einem Dorf leben und alles selbst herstellen.

Da drüben steht ja Thomas. Wie kommt der denn hier her? Mist, er sieht nicht, wie ich winke. Und jetzt dreht er sich auch noch weg und geht weiter. Wie kann ich ihn denn bloß auf mich aufmerksam machen? Er sieht mich immer noch nicht winken. Am besten ich laufe durch den Fluss, dann sieht er mich bestimmt. Und außerdem bin ich dann ja auf seiner Seite.

Puh, ist das Wasser kalt. Wie schnell es um die Knöchel strömt. Und ich komme kaum vorwärs. Jetzt geht mir das Wasser schon bis über die Knie. Oh je, und jetzt über die Hüfte. Es wird ja immer tiefer. So tief habe ich mir das aber nicht vorgestellt. Kein Stück weiter bin ich gekommen. Hilfe, jetzt reicht es schon über den Hals. Ich kann mich nicht mehr halten. Wie gut, dass ich schwimmen kann. Aber die Strömung reißt mich weg. Und Thomas sieht mich immer noch nicht. Er geht ja auch in die andere Richtung, da kann er mich ja gar nicht sehen.

"Hilfe, Thomas! Ich will zu dir. Hilfe! Ich treibe ab”

Er hört mich nicht. Das Wasser rauscht ja auch viel zu laut. Jetzt schlägt es über mir zusammen. Ich kann nicht mehr schwimmen. Hilfe, ich ertrinke.

Mit einem Ruck schreckte Juliane aus dem Schlaf. Sie war schweißgebadet. Das Rauschen der Toilettenspülung drang an ihre Ohren. Tina war anscheinend schon aufgestanden.

Was war denn das? So ein absurder Traum! Und was sollte Thomas bei der Sache? Das ist ja richtig peinlich. Wie gut, dass niemand Träume mitschauen kann.

Kopfschüttelnd verließ Juliane ihr durchschwitztes Bett und bereitete sich auf den Frühsport vor.

Der Traum ging ihr nicht aus dem Kopf, weder beim Sport, noch beim Frühstück und auch nicht bei der Arbeit in der Küche.

Ob der Traum wohl eine Bedeutung hatte? Warum bloß mit Thomas in der Hauptrolle? Dabei habe ich ihn doch schon seit Monaten nicht gesehen, und man kann auch nicht behaupten, dass wir je enge Freunde gewesen sind. Was solls? Konzentriere ich mich lieber auf meine Arbeit, damit die Zwiebelstückchen schön gleichmäßig werden.

"Juliane, bitte schneide das Gemüse heute sehr viel dünner als normalerweise."

"Ja gerne, Hedwig, aber warum denn das?"

"Heute ist es windstill und bedeckt. Da reicht der Strom nicht für das übliche Kochen. Bisher haben wir an solchen Tagen Strom von außerhalb bekommen, aber das wurde gestrichen. Jetzt muß das Essen schneller gar werden und darum sollte das Gemüse dünner sein als sonst."

"Ok, mache ich. Das klingt aber merkwürdig mit der Strombeschränkung."

"Finde ich auch. Ich habe den Eindruck, dass der Staatsmacht unser fleißiges Kochen nicht so behagt."

"Aber warum denn?"

"Wenn ich das nur wüsste. Ich habe ja nicht mal Beweise dafür, dass es überhaupt so ist, geschweige denn Informationen über die Gründe. Es ist mehr so ein Bauchgefühl."

"Ob es sie stört, dass wir ohne Drogen kochen?"

"Mag sein, in diese Richtung hatte ich auch schon gedacht. Wahrscheinlich ist ihnen auch der Aufwand zu groß. Das industriell hergestellte Essen ist wohl viel billiger als unser selbstgekochtes."

"Aber wir kochen doch hier schon große Mengen und verwenden keinerlei Luxusprodukte."

"Stimmt. Aber das ist wohl immer noch teuer als der Kunstkram. Oft genug schaffe ich es kaum, genügend Gemüse zu bekommen."

"Wo kommt das Gemüse überhaupt her?"

"Gewisse Grundmengen erhalten wir vom Staat, aber das wird immer weniger. Einen Teil kaufe ich von meinem Bürgergeld, vor allem alles Exotische."

"Was? Du kaufst die Kochzutaten von deinem schwer verdienten Taschengeld? Ich fasse es nicht. Natürlich wäre ich bereit, auch etwas beizusteuern, aber das ist doch eine Frechheit, wenn du das selbst zahlen musst."

"Ja, finde ich auch. Aber ich kann ja wohl kaum erwarten, dass der Staat uns mit allem großzügig versorgt, nur damit wir es leckerer haben. Er finanziert ja schon die ganze Fertignahrung und unsere Unterkünfte." "Schon, aber wir verbraten ja keinen Kaviar oder Hummer, sondern preisgünstiges Gemüse der Saison."

"Klar, aber wie schon gesagt, das ist immer noch teurer als die Fabriknahrung."

"Wahrscheinlich wollen sie auch, dass wir uns komplett mit Stillhalte-Drogen vollstopfen."

"So ähnlich. Manchmal befürchte ich, dass es ihnen am liebsten wäre, wenn wir alle in Faulenzerschwärmen leben würden. Die sind wengistens pflegeleicht."

"Wie grässlich! Da wird man doch krank vor lauter Untätigkeit."

"Genau! Und bei schlechter Versorgung stirbt man dann auch viel schneller und dann sind sie wieder einen unnützen Esser los."

"Meinst du ehrlich?"

"Ja klar. Wozu sind wir für den Staat denn nütze? Zu gar nix. Die Stadt hätte es viel leichter, wenn sie uns alle los wäre."

"Das gefällt mir aber gar nicht."

"Mir auch nicht. Machen wir halt das Beste draus. Woanders verhungern Menschen ohne Arbeit. Das droht uns hier immerhin nicht."

Juliane schnippelte das Eintopfgemüse so fein sie konnte, aber ihr war nicht wohl bei der Sache. Wie lange ich hier wohl noch kochen darf? Alles was Freude macht, geht kaputt. Diese Welt ist wirklich nicht freundlich zu den Menschen.

Nachmittags zog es Juliane nach draußen. Der Traum arbeitete noch in ihr und sie hatte das Gefühl, dass es ihr leichter fallen würde, ihn zu verarbeiten, wenn sie zum Fluss gehen würde.

Eigentlich ist das Wetter ja gar nicht verlockend. So lichtlos und feucht. Aber dann sind auch bestimmt weniger Leute unterwegs und ich bin ungestörter.

Diesmal wollte Juliane alles richtig machen und beantragte den Spaziergang schon in ihrem Zimmer beim Computer.

"Warum willst du denn schon wieder Ausgang haben?", fragte ihr Computer mit der Stimme der Türen, die so sehr nach ihr selbst klangen.

"Mir ist eben danach. Ich brauche einfach frische Luft und schließlich habe ich nachmittags Zeit."

"Deine Nachmittage solltest du bevorzugt in deinem Zimmer verbringen oder auch im Gemeinschaftsraum, wenn du Gesellschaft haben willst."

"Ich will aber raus und am Fluss spazierengehen."

"Ich könnte dir eine Flusslandschaft auf den Bildschirm projizieren."

"Nein, ich will zum echten Fluss. Was spricht denn dagegen?"

"Also gut, wenn du unbedingt willst. Aber nur eine halbe Stunde!"

"Das ist aber kurz. Na gut, immerhin besser als gar kein Spaziergang."

Der spinnt wohl der Computer. Warum soll ich denn nicht spazierengehen? Das ist doch wirklich ein harmloses Vergnügen.

Missmutig verließ Juliane das Schwarmhaus. Draußen nieselte es. Juliane schlug ihren Kragen hoch und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Nach ein paar hundert Metern wurde ihr jedoch wärmer und sie schritt locker aus.

Ah, trotz allem ist es schön hier draußen. Es hat sich gelohnt, sich gegen den blöden Computer durchzusetzen.

Bald schon erreichte sie den Fluss, der leise gluckernd gen Meer plätscherte. Das Wasser war kaum knöcheltief. An einigen Stellen ragten sogar Steine aus dem Wasser. Außer Juliane war heute niemand am Fluss. Sie konnte in aller Ruhe am Ufer entlang gehen.

Wie friedlich es hier heute ist. Keine Spur von dem reißenden Ungeheuer, das mich heute nacht fast ertränkt hätte. Wie bin ich bloß zu diesem Traum gekommen? Wenn es nicht so kalt wäre, würde es mich glatt reizen, den Fluss zu durchwaten und zu schauen, was auf der anderen Seite ist. Aber die Häuser sehen dort drüben sowieso genauso langweilig aus wie auf dieser Seite. Das Abenteuer würde sich wohl kaum lohnen.

Nachdenklich ging Juliane entlang des Flussufers auf dem geradlinigen Kiesweg, der unter ihren Füßen knirschte. Sie dachte über ihr Schwarmleben nach und fragte sich, ob sie wohl ihr ganzes zukünfitges Leben so eintönig würde leben müssen.

Plötzlich stand sie vor einem Zaun, der das Weitergehen verhinderte. In drei Meter Höhe war der Zaun mit mehreren Reihen Stacheldraht gesichert.

Was soll denn das nun wieder? Bin ich etwa doch im Gefängnis gelandet, ohne dass es mir bewusst geworden ist? Dabei bin ich doch freiwillig hier her gekommen, wenn auch nicht gerne. Na gut, ich sollte sowieso umkehren, denn der Computer wartet bestimmt schon auf mich.

Als sie sich umdrehte und den Weg zurück zu ihrem Schwarmhaus entlang blickte, wurde ihr erst klar, wie weit sie gegangen war. Sie beschleunigte ihre Schritte, denn sie befürchtete, dass die genehmigte halbe Stunde längst um war.

Ach, das hat der Computer bestimmt nicht so ernst gemeint, mit der halben Stunde. Es stört ja schließlich nicht, wenn ich ein bisschen länger durch den Regen spaziere. Und mir tut es gut, in der frischen Luft zu sein.

Die letzten Meter rannte sie jedoch, ihr wurde nämlich mulmig zumute. Als sie sich der Haustür auf drei Meter näherte, öffnete sich diese schon, als hätte sie ungeduldig auf Juliane gewartet. In der Stimme vermeinte Juliane eine neue Schärfe durch zu hören.

"Juliane, du bist zu spät! Du warst über eine Stunde weg. Du hast jetzt eine Woche lang Ausgangssperre! Geh sofort in dein Zimmer!"

21

Die nächste Woche war quälend langweilig.

Nicht einmal World 3000 konnte Juliane aufmuntern, obwohl sie einen großen Teil ihrer Nachmittage in der Mittelalterwelt verbrachte.

Rufus saß inzwischen große Teile der Tage in der Schänke und ließ sich das vorzügliche Bier schmecken. Meistens schnitzte er kleine Figuren aus Holzstücken, die Julia für ihn gesammelt hatte.

Julia hingegen lernte im benachbarten Braukeller die Herstellung des flüssigen Goldes, das Rufus in solch großen Mengen in sich hineinschüttete. Das Bierbrauen war komplizierter als Julia sich das vorgestellt hatte. Vor allem war sie erstaunt, über das Maß an Hygiene, das eingehalten werden musste.

Der Wirt, der zugleich zuständig für die Brauerei war, zeigte ihr zur Demonstration ein Fässchen Bier, bei dem es an Sauberkeit gemangelt hatte und das deshalb völlig ungenießbar geworden war. Gleich nachdem Julia es probiert und sich angewidert geschüttelt hatte, brachte der Wirt das missratene Bier nach draußen und goss es weg.

An Nachmittag ging Julia meistens in die Molkerei und half bei der Käseherstellung. Ganze Regalwände voll reifender Käselaibe wollten gewendet und mit Salzlake bestrichen werden. Auch bei der Herstellung der Käselaibe war Julias Hilfe gern gesehen, denn es war anstrengend, den Käsebruch im Kessel umzurühren und die frischen Laibe zu pressen. Das überließ die alte Bäuerin gerne der eifrigen Julia.

Kaum verließ Juliane jedoch die Spielumgebung, brach Verzweiflung über sie herein. Im Schwarmhaus hatte sich zwar nichts wesentliches geändert, aber alles, was ihr vorher gemütlich erschienen war, wirkte jetzt einengend auf sie.

Am liebsten würde ich die ganze Zeit im Mittelalterdorf bleiben, aber leider drückt ab und zu die Blase. Außerdem will ich kein Zombie werden, der gar nicht mehr in der echten Welt lebt. Dann kann ich ja gleich in so einen Faulenzerschwarm ziehen. Und das will ich auf gar keinen Fall!

"Hallo Computer! Muss es wirklich eine ganze Woche sein, bevor ich wieder raus darf? Ich habe doch gar nichts Schlimmes angestellt."

Die Stimme des Hauscomputers meldete sich.

"Ja, es muss eine ganze Woche sein. Bei einem schlimmen Vergehen hättest du eine viel längere Ausgangssperre, also beklage dich nicht."

"Aber was soll ich denn hier tun? Ich fühle mich so nutzlos." "Du brauchst doch gar nicht nützlich sein. Mach dich frei von solchen Gedanken. Heutzutage geht es nicht mehr darum, nützlich zu sein."

"Ich will aber etwas Sinnvolles tun."

"Vormittags bist du doch schon in der Küche. Das ist schon mehr als ein vernünftiger moderner Mensch arbeiten will. Soll ich dir etwa noch eine Beschäftigung ermöglichen?"

"Ja bitte!"

"Einverstanden. Du kannst dich im Erdgeschoss im Büro melden."

"Danke, ich komme sofort."

Juliane kämmte schnell ihre Haare, die zottelig um ihren Kopf hingen, und verließ ihr Zimmer. Im Erdgeschoss öffnete sich die Tür zum Büro, sobald Juliane unten ankam. Die altbekannte Stimme, die so sehr nach ihr selbst klang, rief sie herein und forderte sie auf, einen Stapel Papier aus dem Ausgabefach zu entnehmen.

"Setz dich da drüben an den Tisch und sortiere diesen Stapel Schriftverkehr alphabetisch nach Firmennamen."

"Ok, mach ich."

Juliane nahm den Stapel Papier, der so aussah, als wäre er von ein und demselben Drucker bedruckt worden. Lässt sich das denn nicht automatisch sortieren? Na klar, logisch geht das, aber ich wollte ja Arbeit haben. Fangen wir also mit der Sortierung an.

Die Papiere enthielten nichtssagende Geschäftsbriefe, die auf Juliane einen unechten Eindruck machten. Sie waren kunstvoll durcheinandergewürfelt, so wie es nur eine raffinierte Zufallsfunktion schaffte. Juliane häufte zunächst Stapel von nahe beieinanderliegenden Buchstaben des Alphabets auf, um diese anschließend einzeln zu sortieren.

"Computer, gibt es hier eigentlich gar keine anderen Mitarbeiter?"

"Nein, zur Zeit genießen alle anderen ihre Freizeit."

"Hm."

Welch eine sinnlose Tätigkeit. Ob es morgen wohl besser wird?

Nachdem sie den Stapel durchsortiert hatte, ging Juliane wieder in ihr Zimmer. Im Vergleich zu der öden Büroarbeit schien ihr der nächste Ausflug in die Mittelalterwelt wie Balsam auf ihrer gelangweilten Seele.

Die Arbeit auf dem Feld war zwar nur virtuell, aber zumindest fühlte es sich sinnvoll an. Und als Juliane dann das erste Bier probieren durfte, bei dem sie selbst aktiv mitgeholfen hatte, war sie fast wieder glücklich. Wie pervers. Dabei schmecke ich es nicht mal in echt, sondern nur simuliert. So weit ist es schon mit mir gekommen. Aber immerhin habe ich viel gelernt beim Bierbrauen. Wer weiß, ob ich das nicht später mal gebrauchen kann.

Am nächsten Tag versuchte Juliane es noch mal in dem Büro. Sie erhielt wieder einen Stapel Geschäftsbriefe zum Sortieren. Ich glaub, ich spinne. Das sind genau die gleichen Briefe wie gestern. Alle wieder sorgfältig durcheinandergewürfelt.

"He, warum bekomm ich noch mal die gleichen Briefe? Die habe ich doch gestern schon mal sortiert."

"Du wolltest doch Arbeit haben, oder? Hier ist deine Arbeit. Wenn sie dir nicht passt, kannst du auf dein Zimmer gehen."

"Weisst du was, du blöder Computer: genau das werde ich tun. Hier hast du deine Beschäftigungstherapie!"

Juliane warf den Briefstapel mit Schwung zurück in das Ausgabefach und stampfte dabei mit dem Fuß auf den Boden, um zu demonstrieren, wie wütend sie war. Der Computer ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern verabschiedete sich von Juliane, als wäre alles ganz normal verlaufen.

Voller Empörung stürmte Juliane die Treppen hoch und durch den Gemeinschaftsraum. Dort wurde sie von Sabine aufgehalten.

"He Juliane, gut, dass du vorbeikommst. Dein erster Strumpf ist bereit für die Anprobe."

"Oh wunderbar. Wenigstens ein Lichtblick in diesem nutzlosen Leben." "Na na, wer wird den hier so frustriert sein? Das Leben ist doch einfach herrlich. Komm mal rüber und steck deinen Fuß hier in den Strumpf. Achtung, auf die Nadeln aufpassen, damit sie nicht abrutschen."

Juliane entblößte ihren Fuß und zog den halbfertigen Strumpf über. Die fünf Nadeln befanden sich in der Mitte ihres Vorderfußes, genau dort, wo der Fuß sich allmählich verjüngte. Die Weite passte perfekt.

"Sehr gut, genau hier muss ich schmaler werden. Ok, jetzt weiß ich ungefähr, wie der Rest des Strumpfes verlaufen muss. In einer Stunde werde ich dich nochmal probieren lassen, wenn es dir recht ist."

"Gerne, du kannst dann ja einfach bei mir klopfen."

Zurück in ihrem Zimmer verzichtete Juliane darauf, ihr Headset aufzusetzen, damit sie das Klopfen von Sabine nicht verpasste. Statt in die Mittelalterwelt einzutauchen stöberte sie im Netz nach echten Informationen über die Braukunst und die Käsebereitung. Sie war erstaunt, wie realitätsnah diese Vorgänge im Spiel gestaltet waren. Das was sie dort gelernt hatte,    entsprach    also    tatsächlich    der

echten Vorgehensweise. Juliane war so vertieft in ihre Recherchen,    dass    sie    vom    Klopfen    Sabines

erschreckte. Auch Tina schreckte auf, von diesem ungewohnten Geräusch.

"He, was soll denn das? Wer klopft denn da?"

"Keine Sorge, das ist bestimmt Sabine, die mir den fertig gestrickten Strumpf zeigen will."

"Na sowas! Besuch auf dem Zimmer ist hier aber nicht üblich."

"Ich gehe auch raus zu ihr in den Gemeinschaftsraum."

Huch, habe ich da irgendein Tabu übertreten ohne es zu ahnen? Ach, wahrscheinlich ist Tina es einfach nicht gewöhnt, Kontakt zu den anderen zu haben, wenn sie im Zimmer sitzt. Sie lebt ja sowieso sehr ruhig vor sich hin, was es ja normalerweise auch einfach mit ihr macht.

Der Strumpf passte wie angegossen. Sabines Augen leuchteten als sie es sah. Auch Petra war inzwischen soweit, dass Juliane den anderen Strumpf anprobieren konnte. Um Tina nicht noch mal zu irritieren, blieb Juliane im Gemeinschaftsraum sitzen, bis der zweite Strumpf fertig war. Dabei schaute sie den beiden Frauen beim Stricken zu.

Wie vertieft sie in ihre Arbeit sind. Sie haben mich völlig vergessen. Auch wenn Wollsocken alles andere als lebenswichtig sind, ist das hier endlich mal eine echt sinnvolle Beschäftigung, natürlich abgesehen vom Kochen. Ob ich vielleicht auch stricken lernen sollte?

"Wärt ihr bereit, mir das Stricken beizubringen? In meiner Kindheit habe ich mal die Grundbegriffe gelernt, aber die habe ich längst vergessen und Strümpfe konnte ich noch nie stricken."

"Ja, klar können wir dir das beibringen. Für den Anfang ist das Strumpfstricken aber zu schwer. Am besten besorgst du dir mitteldicke Wolle für einen Schal und dazu passende Nadeln. Dann zeigen wir dir das gerne, nicht wahr Petra?"

"Logisch. Ist doch eine gute Gelegenheit unseren Strickclub zu vergrößern."

"Prima. Mein Geld müsste noch reichen für einen Schal und entsprechende Nadeln. Werde ich gleich mal bestellen gehen."

Soweit ist es also schon mit mir gekommen. Stricken lernen als Hoffnungsanker der Sinnhaftigkeit. Na ja, immer noch besser als immer wieder die gleichen Papiere sortieren.

22

"Die Woche ist rum. Jetzt will ich wieder spazierengehen, Computer."

"Das ist korrekt. Deine Ausgangssperre ist aufgehoben. Du darfst zehn Minuten lang spazierengehen."

"Zehn Minuten? Du spinnst wohl! In der Zeit komme ich ja nicht mal bis zum Fluss."

"Keiner zwingt dich, zum Fluss zu gehen. Du musst Disziplin lernen. Hier im Schwarm ist es wichtig, die Regeln einzuhalten. Nur so ist ein reibungsloses Zusammenleben möglich."

"Zehn Minuten! Ich fasse es nicht. Na gut. Dann gehe ich jetzt raus."

"Viel Vergnügen, Juliane."

Deine Freundlichkeit kannst du dir sonstwohin schieben.

Juliane zog ihre Jacke an und verließ das Schwarmhaus. Wenn ich renne, schaffe ich es wohl gerade zum Fluss und wieder zurück in diesen zehn Minuten. Also los!

Keuchend erreichte Juliane den Fluss. Immerhin kann ich mich beim Rennen etwas austoben. Wie gut es das Wasser des Flusses hat. Völlig ungehindert kann es Richtung Meer fließen. Ich sollte jetzt aber wieder zurückrennen, um keine neue Ausgangssperre zu erhalten.

"Juliane, du bist gerannt. Das ist unzulässig!"

"Was? Ich darf nicht mal rennen?"

"Rennen ist potentiell gefährlich und es bringt Unruhe in das Schwarmleben. In Zukunft bitte nur noch gemäßigt gehen!"

Darauf sag ich jetzt besser nichts mehr. Sonst bekomme ich nur eine Ausgangssperre wegen Aufsässigkeit.

Wie gelähmt schlich Juliane die Treppen hoch bis zu ihrem Zimmer. Nicht mal bei den Strickerinnen schaute sie vorbei, denn sie wollte die beiden nicht mit ihrer schlechten Laune anstecken. Die Lebendigkeit, die Juliane beim Rennen verspürt hatte, war wie weggeblasen. Sie war froh, dass Tina in ihre eigene Welt vertieft war und gar nicht wahrnahm, dass Juliane wieder zurückgekommen war.

Zur Ablenkung setzte Juliane ihr Headset auf und betrat die Mittelalterwelt. Doch diesmal klappte es nicht mit dem Eintauchen in die Spielwelt. Dumpf starrte Juliane in die künstliche Landschaft, ohne irgendetwas wahrzunehmen. So vergingen Stunden.

"Juliane, he Juliane, was ist denn mit dir los? Seit Stunden rührst du dich nicht mehr. Es gibt Abendessen."

"Hä? Was? Abendessen? Danke dir Tina, aber ich habe keinen Appetit."

"Nix da, du kommst jetzt mit in die Kantine. Reicht ja, wenn du ein Glas Wasser trinkst. Hauptsache du hörst auf, so unheimlich in die Luft zu gucken."

Tina zerrte so lange an Julianes Arm, bis sich diese von ihrem Stuhl erhob und widerwillig mit kam.

"Was ist denn eigentlich los mit dir?", fragte Tina, als sie an einem Esstisch Platz genommen hatten.

"Ach, ich fühle mich so eingesperrt."

"Stimmt schon, sie halten einen am liebsten brav im Zimmer. Mach halt das Beste draus. Ich habe heute ein wunderbares Gedicht geschrieben. Meine Gedichte will zwar niemand lesen, aber es macht Spaß, sie zu schreiben."

"Juliane, gut dass ich dich treffe. Kommst du nachher noch mal zu uns in den Gemeinschaftsraum. Dein Paar Strümpfe ist fertig und du musst es anprobieren."

Sabine war an den Tisch von Tina und Juliane getreten und strahlte übers ganze Gesicht.

"Oh, die Strümpfe! Ja, ich komme gleich vorbei, wenn ich hier fertig bin", antwortete Juliane und versuchte etwas Freude aufzubringen.

Tina schüttelte den Kopf. "Das ist ja kaum auszuhalten, was für ein trauriger Tropf du heute bist. Nicht mal geheuchelte Freude will dir gelingen. So, ich hol dir jetzt einen Erdbeerpudding und den löffelst du brav aus. Und dann gehst du deine Strümpfe anprobieren."

Juliane tat wie geheißen und schon nach wenigen Minuten sah die Welt nicht mehr ganz so trostlos aus. Echte Lebensfreude kam aber auch nicht auf. Immerhin besser als vorher. Tina ist wirklich ein Schatz. Wie sie in diesem Elend gute Laune behält ist mir ein Rätsel. Ob es an den Gedichten liegt?

Die Strümpfe, die Juliane kurz danach anprobierte, passten wie angegossen. Auch Petra war kurz vor der Vollendung ihres Sockenpaares für Juliane. Sabine hatte sogar schon mit dem nächsten Paar angefangen.

"Weißt du was, Juliane? Morgen kommt bestimmt deine Wolle und dann setzt du dich zu uns zum Strickenlernen. Dann bessert sich deine Laune bestimmt wieder. Jede hat hier ab und zu den großen Frust, aber man kann was dagegen tun."

"Danke Sabine! Du hast wohl recht. Hoffen wir mal, dass die Wolle tatsächlich morgen kommt."

Mit kuschelwarmen Füßen ging Juliane wieder in ihr Zimmer und diesmal konnte sie dem Mittelalterspiel wieder mehr Freude abgewinnen.

In der Gaststube durfte sie ihr erstes selbstgebrautes Bier servieren und wurde von allen Seiten dafür gelobt.

Am nächsten Morgen schlug der Frust gleich nach Betreten der Küche wieder zu. Hedwig betrachtete nachdenklich ein kleines Häufchen Kartoffeln und Zwiebeln.

"Stell dir vor Juliane, das ist alles, was wir heute zum Kochen haben. Das gibt eine traurig dünne Suppe. Und für morgen haben wir noch gar keine Zutaten."

"Oh je, und bestimmt hast du die Kartoffeln hier schon aus der eigenen Tasche bezahlt."

"Ja, habe ich, aber jetzt bin ich restlos pleite. Das Bürgergeld wurde übrigens auch gekürzt."

"Wie gemein! Weisst du was? Für morgen spendiere ich eine Kiste Nudeln für Nudelsuppe. Aber mehr kann ich mir wohl auch nicht leisten."

"Das ist lieb von dir mit den Nudeln. Aber es wird wohl kaum unser Problem lösen."

"Stimmt! Es ist auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Warum die uns wohl in letzter Zeit das Leben so schwer machen? Das Kochen war bisher das Beste am Schwarmleben."

"Ich frage mich auch, was los ist. Vielleicht geht denen da oben das Geld aus. Jahrelang lief es ja gut mit der Kocherei und ich hatte den Eindruck, dass es ihnen auch ganz lieb ist, wenn wir kreativ beschäftigt sind. Aber das hat sich anscheinend geändert."

"Ob sie uns wirklich am liebsten alle in den Faulenzer-Schwärmen sehen würden?"

"Scheint so. Anders kann ich mir das alles kaum erklären."

"Wahrscheinlich werden wir Arbeitslosen auch immer mehr und die Verdienenden immer weniger. Kein Wunder, wenn dann nicht mehr genug Geld da ist. Wahrscheinlich müssen wir noch froh sein, dass sie uns nicht verhungern lassen."

"Möglich. Ich weiß fast nichts davon, was in der restlichen Welt geschieht."

"Ich bekomme auch nichts mehr mit, seit ich hier lebe. Das ist bestimmt beabsichtigt. Ach was solls? Für Morgen zahle ich die Nudeln und dann sehen wir weiter. Gib mir mal die Zwiebeln rüber. Ich schneide sie auch ganz dünn."

"Hier hast du sie. Du hast wohl Recht. Vom Sorgenmachen wird auch nichts besser. Dabei war ich hier geraume Zeit richtiggehend glücklich, weil ich keine Zukunftssorgen mehr haben musste - dachte ich."

"Selbst ich fing schon an, hier glücklich zu werden. Aber seit meiner Ausgangssperre fühle ich mich zunehmend unwohl. Es scheint mit immer mehr wie ein Gefängnis."

"Stimmt! Lass uns an was anderes denken."

"Gerne!"

Schweigend schnippelten sie das wenige Gemüse. Die Suppe wurde dünn, wie immer in letzter Zeit. Als sie fertig waren, säuberte Juliane das Kochbesteck und räumte es in die Schubladen. Eines der kleinen Küchenmesser betrachtete sie zögernd und steckte es dann in ihre Jackentasche. Wer weiß, vielleicht brauche ich es ja noch.

Später stritt sich Juliane schon wieder mit dem Computer über die Ausgangszeiten. Diesmal boykottierte sie die zehn Minuten, die ihr erlaubt wurden und blieb lieber drinnen. Es schien ihr nämlich unsinnig, zehn Minuten lang im Hof auf und ab zu gehen. Rennen war ihr ja verboten worden.

Die Wollelieferung ließ noch auf sich warten, sodass Juliane nur die Mittelalterwelt blieb, um sich den Nachmittag zu vertreiben.

Ach, es ist ja ganz nett, in der Phantasie Käse und Bier herzustellen, aber wofür soll das gut sein? Tina ist schon wieder ganz in ihrer Poesie versunken; da will ich sie auch nicht rausreißen und ihr den Tag vermiesen. Wenn ich doch bloß auch Freude an Gedichten hätte. Aber dazu kann ich mich beim besten Willen nicht durchringen.

Oh, ich will was Nützliches tun!

"Computer, gibt es irgendeine Möglichkeit, hier was Sinnvolles zu tun?"

"Die Arbeit im Büro habe ich dir schon angeboten, aber die hat dir ja nicht gefallen. Genieß doch deine Freizeit."

"Aber ich lebe doch nicht, um ständig nur nutzloses Freizeitvergnügen zu betreiben."

"Wenn es dir hier nicht passt, kannst du ja in einen der freien Schwärme ziehen." "Was heisst hier freie Schwärme? Das sind doch Slums von der übelsten Sorte. Mit Mauer drumherum und Bandenkriminalität, sodass man nie sicher sein kann, ob man den nächsten Tag erlebt oder nicht. Nein! Da will ich ganz bestimmt nicht hin! Du hättest mich wohl am liebsten tot?"

"Aber nein, Juliane. Beruhige dich doch!"

"Ich will mich aber nicht beruhigen, sondern etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen."

"Früher hätten sich die Menschen über soviel Freizeit gefreut. Genieß doch einfach dein Computerspiel."

"Oh, du kannst mich mal! Geh mir aus den Ohren!"

"Wie du wünschst, Juliane."

Zornbebend aktivierte Juliane ihr World 3000 und hackte in der Phantasiewelt Holz, um sich abzureagieren. Es half nicht besonders gut, weil ihr Körper regungslos auf dem Stuhl saß, statt sich auszutoben.

Abends wartete Juliane, bis Tina eingeschlafen war. Dann schlich sie ins Bad und zückte das Küchenmesser.

Soll ich es wirklich tun? Na klar! Das ist doch kein Leben hier im Schwarm. Und Perpektiven gibt es auch keine. Also los!

Nachdenklich betrachtete sie das Messer, um Mut zu sammeln.