Eva Marbach

Vollautomatisch

Roman

Eva Marbach Verlag

Eva Marbach Verlag, Breisach Copyright © 2005: Eva Marbach Verlag, Breisach http: //verlag.eva-marbach.net http: //autorin.eva-marbach.net

"Kommen Sie bitte nachher zu mir ins Büro", forderte der Filialleiter Juliane im Vorbeigehen auf. Juliane spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und der Magen zusammenzog. Sie hatte Angst, schreckliche Angst.

Ihrer Kollegin, der automatischen Kasse, warf sie einen zornigen Blick zu. Vor wenigen Monaten hatte diese schon drei Kassiererinnen von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. Und das Schlimmste war: die automatische Kasse funktionierte hervorragend und die Kunden waren sehr zufrieden mit ihr.

Man musste nur mit dem Einkaufswagen am RFID-Scanner vorbeifahren und sofort wurde die Summe des gesamten Einkaufs ausgerechnet, ganz ohne die Einkäufe auf ein Band legen zu müssen. Bezahlt wurde per Karte oder Bargeld, das man in passende Schlitze schieben konnte, wie es schon seit Jahrzehnten bei vielen Automaten üblich war. Bargeld wurde jedoch nur noch selten benutzt, denn Karten waren deutlich bequemer.

Menschliche Kassiererinnen wurden nur noch gebraucht, um Kunden zu bedienen, die Angst vor der modernen Technik hatten, aber das wurden täglich weniger. Die meisten Kunden Julianes waren ältere Damen, die wenige Artikel kauften und stundenlang nach ihrem Kleingeld suchen mussten. Daher waren ihre Umsätze verschwindend gering im Gegensatz zu denen der automatischen Kasse.

Julianes Kündigung war nur noch eine Frage der Zeit und anscheinend war der gefürchtete Zeitpunkt jetzt gekommen. Am liebsten hätte sie die automatische Kasse zerstört, aber das hätte ihr bestimmt auch nicht geholfen, außer einen kurzen Moment der Befriedigung zu spenden.

Vor lauter Aufregung machte Juliane bei den nächsten Kunden ständig Fehler und ihr manueller RFID-Scanner schien sich gegen sie verschworen zu haben. Als ihre Finger anfingen zu zittern und sie die Tränen kaum noch zurückhalten konnte, machte sie sich klar, dass es auf ein paar Fehler jetzt auch nicht mehr ankam. Auch eine völlig fehlerfreie Abwicklung der Kassiervorgänge würde sie nicht retten können.

Juliane zwang sich, nicht daran zu denken, was ihr als Arbeitslose blühen würde.

Das half nicht besonders gut, aber immerhin gelang es ihr, nicht loszuheulen. Die Stunden bis zum Dienstschluss zogen sich hin wie ein Gummiband. Wenn ich es nur endlich hinter mir hätte, dachte Juliane.

Endlich war es soweit: mit weichen Knien ging Juliane zum Büro des Filialleiters. Beim Gehen fiel ihr auf, dass sie noch stärker hinkte als sonst. Ihr linkes Bein schien den schweren Gang hinauszögern zu wollen.

Im Büro setzte sie sich auf den Besucherstuhl, atmete noch einmal tief durch und sah den Filialleiter an. So ähnlich muss sich ein Kaninchen fühlen, dem klar wird, dass es gleich geschlachtet wird, schoss ihr durch den Kopf. Die wortreichen Erklärungen des Vorgesetzten erreichten sie wie durch einen Nebel. Eine Information war jedoch klirrend deutlich: die kommende Woche würde ihre letzte Arbeitswoche sein.

Benommen verließ Juliane das Büro und machte sich auf den Heimweg. In ihrem Kopf raste es so wild durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, aber ihre Füße fanden den Weg nach draußen auch ohne ihr Mitdenken. Auf dem Weg zur U-Bahnhaltestelle fiel ihr auf, dass haufenweise Menschen ihr nachstarrten. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ist aber auch kein Wunder, so stark wie ich heute hinke. Was muss die dumme Haxe ausgerechnet jetzt so wehtun? Ach, was solls: lass sie doch alle sehen, dass du zu nix zu gebrauchen bist. Unnötiger Ballast der Gesellschaft. Juliane atmete ein paarmal tief durch, um die Tränen am Aufsteigen zu hindern.

In der U-Bahn räumte ein Herr mittleren Alters seinen Platz, damit Juliane sich hinsetzen konnte. Juliane bedankte sich artig. Auch noch sowas. Als wäre ich eine alte Oma, dabei bin ich doch erst achtundzwanzig. Heute bleibt mir aber auch nichts erspart.

Nicht mal mehr als Kassiererin werde ich gebraucht. Dass es heutzutage für Betriebswirte schwierig ist, einen Job zu finden, konnte ich ja noch akzeptieren, aber gibt es denn gar nichts mehr, wo man als halbwegs intelligenter Mensch einen Platz finden kann? Das war schon so bitter, als ich von "Secretary 7.0” aus meinem Sekretärinnen-Hilfsjob geworden wurde. Zugegeben, das Programm ist

wirklich spitze: aus einer hingeworfenen Bemerkung des Chefs macht es einen formvollendeten Geschäftsbrief, besser und vor allem schneller als jede menschliche Sekretärin. Genau wie diese grauenvolle Kasse: nicht nur billiger, sondern auch besser.

Wo soll ich es denn überhaupt noch probieren? Die Putzbranche ist fest in der Hand der "Clean-Bots". Selbst wenn man willig ist, einen niederen, schlecht bezahlten Job anzunehmen, wird man nicht gebraucht. Sogar die Windeln im Altersheim werden von "Geriatic-Bots" gewechselt.

Und wenn ich innerhalb eines Monats nichts finde, dann droht der Schwarm. Dann bin ich wirklich Abschaum. Oh Mist, jetzt bloß nicht losheulen. Tief atmen, Mädel!

Endlich war die U-Bahn an Julianes Haltestelle angekommen. Gesenkten Hauptes verließ Juliane den Waggon, in der Hoffnung, dass niemand ihren Zustand bemerken würde. Am liebsten wäre sie nach Hause gerannt, aber dazu tat ihr heute das Bein zu sehr weh. Also schritt sie so zügig wie möglich aus, und versuchte, die Passanten zu ignorieren, als wäre sie mutterseelenallein unterwegs.

Zuhause stieß sie einen tiefen Seufzer aus, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Die lange zurückgehaltenen Tränen brachen heraus.

Halbblind bahnte sich Juliane den Weg zu ihrem Computer. Als Juliane sich dem Bildschirm näherte, schaltete sich die dahintersteckende Maschinerie vollautomatisch ein.

"Du hast eine neue Nachricht.", tönte die samtene Männerstimme ihres Computers.

Nachrichten konnte Juliane jetzt gar nicht gebrauchen.

"Arbeitsagentur!", befahl sie ihrem Computer mit zittriger Stimme.

"Ich kann dich leider nicht verstehen. Bitte wiederhole deine Anordnung!"

"A r b e i t s a g e n t u r", mühsam versuchte Juliane ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.

"Ok."

Die Seite der Arbeitsagentur erschien auf ihrem Wandbildschirm. Nur ungern meldete sich Juliane arbeitslos, doch es war Pflicht, dies innerhalb eines Tages nach einer Kündigung zu erledigen. Tat man es nicht, entfiel sogar der Übergangsmonat, der einem eine geringe Chance gab, dem Schwarm nochmal zu entkommen. Dabei wird dieser Monat doch sowieso von den Arbeitgebern bezahlt. Welch eine Schikane.

Weil sie ihrer Stimme nicht traute, griff Juliane zur Maus, doch durch den Tränenschleier konnte sie kaum etwas erkennen. Vor allem fand sie nicht die Stelle, wo man sich arbeitslos melden konnte. Also doch wieder Voice-Controll.

"Arbeitslos melden."

Das verschwommene Bild änderte sich. Wie gut, dass all meine Daten automatisch ausgefüllt werden.

"Ab wann?", fragte der Computer.

"Ende ..., Ende nächster ... Woche."

"Ende nächster Woche?"

"Ja"

"Ok, die Meldung wurde der Arbeitsagentur mitgeteilt. Soll ich dir jetzt das Regularium vortragen?"

"Nein danke, .... das kenn ich noch vom letzten Mal."

"Da wäre noch die ungelesene Nachricht."

"Ach, lass mich doch zufrieden damit. Oder wart: Les sie mir halt vor."

"Einladung zum Juristenball. Hallo Juliane, zu unserem Juristenball am Samstag bist du herzlich eingeladen. Deine Juri-Clique!"

Oh, diese arroganten Lackaffen. Die können mir gestohlen bleiben. Pah, die werden sich noch umgucken, wenn erstmal ein Programm wie "Justizia 9.0" auf den Markt kommt. Ruckzuck wird ihnen das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht gewischt werden.

"Schmeiss sie in den Müll, diese blöde Einladung. Oder besser doch nicht. Heb sie erstmal auf, vielleicht haben diese Fatzken ja einen Aushilfsjob für mich. Ich muss da drüber nachdenken."

"Ok, ich hebe die Nachricht auf. Soll ich dich an sie erinnern?"

"Ja, bitte morgen. Und lass mich jetzt ne Weile in Ruhe."

"Ok, ich lasse dich in Ruhe. Es muss sehr schmerzhaft für dich sein, schon wieder den Job zu verlieren. Soll ich deine Lieblingsmusik aktivieren?"

"LASS MICH EINFACH IN RUHE!"

Juliane tastete sich, inzwischen fast vollständig tränenblind, zu ihrem Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Endlich konnte sie ihrem Kummer freien Lauf lassen. Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper. Sie zog die Decke über den Kopf und versuchte in der Matratze zu verschwinden. Nur weg

aus dieser Welt; verkriechen, bis nichts mehr übrig ist. Wird doch eh niemandem auffallen. Wer braucht mich schon?

2

Weckerschrillen riss Juliane aus dem Schlaf. Oh, nein, jetzt nochmal zur Arbeit. Die brauchen mich dort doch gar nicht. Am liebsten hätte sie sich krank gemeldet, aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben.

Also stellte sie sich lange unter die Dusche und geizte anschliessend nicht mit einem kaltem Nachschauer. Trotzdem sah sie im Spiegel immernoch die dick verquollenen Augen. Naja, es zerstört keine ausgeprägte Schönheit. Mit Make-Up versuchte sie den Schaden zu mindern, doch weil sie sich nicht vollständig zukleistern wollte, schien die Rötung der Augen am Schluss noch durch. Was solls?

Für die Fahrt zur Arbeit kramte Juliane eine Sonnenbrille aus der Schreibtischschublade. Beim Aufsetzen fühlte sie sich wie eine Agentin auf geheimer Mission. Diese Vorstellung heiterte sie etwas auf, sodass sie forschen Schrittes zur U-Bahnstation marschierte. Heute hatte sie wieder soviel Schwung im Bein, dass ihr Hinken kaum auffiel.

Vor ihrem Laden erlahmte der Schwung jedoch nach und nach. Bis sie im Personalraum angekommen war, schlich sie wie ein getretener Hund und fühlte sich auch so.

Genieß die letzten Tage, höhnte es in ihrem Kopf. Was für ein Unfug, als ob Kassieren mein Traumjob wäre. Andererseits ist auch was dran: schließlich will ich Arbeit und hier habe ich Arbeit, wenn auch nicht mehr lange. Also reiß dich zusammen, Mädel!

Juliane bemühte sich, ihre wenigen Kunden besonders freundlich anzulächeln. Das kann ich ihnen immerhin bieten: ein echtes menschliches Lächeln.

Neben ihr schleuste die automatische Kasse einen Kunden nach dem anderen durch. Wahrscheinlich werden sie gar keine zweite Kasse dieser Art brauchen, so schnell wie die ist. Heutzutage haben eh nur noch wenige Leute genug Geld, um in Supermärkten einzukaufen.

Abends setzte sich Juliane an die Bildwand in ihrem Zimmer und schickte unzählige Bewerbungen ab. Einen Text hatte sie noch vom letzten Mal.

Nicht nur bei den schlechbezahlten Jobs versuchte sie es, sondern sie wagte auch mal wieder Versuche als Betriebswirtin. Ihre fehlende Berufserfahrung würde sie zwar disqualifizieren, aber sie hoffte auf eventuelle Glückstreffer. Die meisten meiner Bewerbungen werden bestimmt sofort in den Papierkorb wandern. Aber was hilfts: Ohne Bewerbungen gibt es gar keine Chance auf Arbeit.

Am Samstag nachmittag entschloss sich Juliane, doch zum Juristenball zu gehen. Nimm es als inoffiziellen Bewerbungsversuch. Es geht schliesslich nicht ums Vergnügen.

Stundenlang stand sie vor dem Spiegel, um mit möglichst wenig Make-Up das Beste aus sich herauszuholen. Halbwegs zufrieden begutachtete sie schließlich ihr Werk. Ihre blaugrauen Augen hatte sie dazu gebracht in einem Blau zu leuchten, das an den Sommerhimmel erinnerte. Durch ihre dunkelblaue Bluse wurde dieser Effekt noch verstärkt. Damit ihr Hinken möglichst wenig auffiel, entschied sie sich für einen langen Rock, der um die Hüften eng anlag. Dadurch hatte sie auch gleich einen Blickfänger für ihr wohlgerundetes Hinterteil.

Auf dem Weg zur U-Bahn blickten ihr wieder viele Passanten hinterher, doch diesmal war Juliane sicher, dass es an ihrer schicken Aufmachung lag. Die Blicke fühlten sich auch anders an als sonst: Von Männern lüstern und von den Frauen bissig. Sonst rochen die Blicke eher nach Mitleid oder Verachtung.

Die Party fand im Bankenviertel statt, dort wo die Bürotürme in den Himmel ragen. Juliane gefiel das Schimmern, das von manchen solarverkleideten Fassaden ausging. Unzählige Solarzellen hatten sich so ausgerichtet, dass sie das Abendlicht einfingen. Sieht fast so aus wie eine Katze mit gesträubtem Fell. Aber mit Glitzerfell. Die meisten der Hochhäuser hatten jedoch starre Solarzellen als Fassade, andere waren traditionell verkleidet.

Überall Solarfassaden. Die haben sich inzwischen ja mächtig durchgesetzt. Macht auch Sinn, wenn man seine Büros preiswert mit Strom versorgen will. Außerdem sieht es hübsch aus. Was das wohl kosten mag, so einen ganzen Wolkenkratzer in bewegliche Solarmodule einzukleiden?

Auch der Austragungsort der Party, ein Nobelhotel, schimmerte im Abendlicht. Julianes ID-Karte, die in ihrem Handtäschchen steckte, erlaubte ihr ungehinderten Zugang zur Lobby. Die Scangeräte am Eingang erkannten sie offenbar als geladenen Gast der Party, ohne dass Juliane die Karte auch nur auspacken musste.

Monströse Kronleuchter und zahllose Spiegel verliehen der Empfangshalle etwas Majestätisches. Ein Wachtposten im schwarzen Anzug wies Juliane den Weg zum Ballsaal. Sie fühlte sich etwas deplaziert in diesem noblen Ambiente. Durch eine breite Tür gelangte sie in den Festsaal. Rechterhand war ein üppiges Buffet aufgebaut; Juliane erkannte auf den ersten Blick, dass auch Hummer geboten wurde.

Die meisten der Anwesenden balancierten schwer beladene Teller in ihren Händen und standen in Grüppchen zusammen. Andere lümmelten sich auf den wenigen Sofaplätzen. Tanzmusik tönte aus allen Ecken des Raumes, gerade so laut, dass man sich noch unterhalten konnte.

Drei Gäste wiegten sich mitten im Raum im Rhythmus der Musik. Früher hätte ich auch erstmal getanzt, um mit der Atmosphäre warm zu werden. Schade, dass das nicht mehr geht. Ob ich überhaupt ein bekanntes Gesicht entdecke? Was solls? Erstmal lasse ich mich vom Buffet verwöhnen, der Rest wird sich dann zeigen.

Juliane nahm sich einen der wagenradgroßen Teller und gruppierte teure Häppchen zu einer gemischten Gesellschaft auf ihrem Teller zusammen. Sie griff vor allem zu Delikatessen, die sie sich sonst nicht leisten konnte: Hummersushi, Krabbensalat, Lachsröllchen und Kaviar. Nur um die Austern machte sie einen großen Bogen, denn mit dieser Glibbermasse hatte sie sich nie anfreunden können.

Sie schaute sich um, ob sie jemand entdeckte, zu dessen Plaudergruppe sie sich gesellen konnte, aber die Gäste in Buffetnähe waren ihr bestenfalls vom Sehen bekannt. So stellte sie sich etwas abseits an den Rand des Geschehens, um den Hungrigen nicht im Weg zu stehen.

Merkwürdig, die meisten sehen nicht so selbstzufrieden aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Manche scheinen gar sorgenvoll. Aus den Gesprächsfetzen drang immer wieder "Advokat 5.0" an Julianes Ohr. Einer der Partygäste gestikulierte sogar wild und stieß dabei immer wieder "5.0" aus seinem empört verzogenen Mund. Ob dieses "Advokat 5.0" wohl das Äqivalent zu meiner automatischen Kasse ist? Das ist ja fast so, wie ich mir das schon ausgemalt habe. Unheimlich.

"Na, junge Lady! So ganz allein hier?" ein junger Unbekannter stand plötzlich neben Juliane.

"Nein, das nicht. Meine Bekannten habe ich in dem Gewühl nur noch nicht entdeckt."

"Ja, es ist ordentlich voll hier. Sie wollen wohl alle nochmal standesgemäß feiern, bevor ihnen das Licht ausgeht."

"Wegen dieses Advokat-Programmes?"

"Ja genau, der Tod aller Anwälte. Außer natürlich für die Inhaber der großen Kanzleien. Die profitieren davon, weil sie die meisten Fälle jetzt vollautomatisch abwickeln können."

"Ist das Programm soviel besser als die Vorgängerversion?"

"Die letzte war auch schon recht leistungsfähig. Aber mit dieser neuen Version werden wir fast völlig überflüssig."

"Hat es Sie auch erwischt?"

"Nur indirekt. Ich habe eine eigene kleine Kanzlei und spare natürlich Zeit bei der Bearbeitung meiner Fälle. Aber die Fälle werden immer weniger, weil die Mandanten ihre Rechtsfragen jetzt einfach vom Programm beantworten lassen. Bei mir landen fast nur noch Fälle mit Anwaltspflicht. Davon kann ich aber auf Dauer nicht leben."

"Klingt ja auch nicht so berauschend. Immerhin haben Sie Ihr festes Tarifsystem." "Noch. Einflussreiche Kanzleien kämpfen für die Liberalisierung der Gebührenordnung, um mit Dumpingpreisen mehr Mandanten anlocken zu können. Dann gehts uns endgültig an den Kragen."

"Da müsste man wohl Richter oder Staatsanwalt sein, um seine Schäfchen trocken zu halten, oder?"

"Selbst das nützt nicht mehr viel, denn Justitia 7.0 erledigt die meisten Fälle automatisch. Die Urteile müssen nur noch von einem menschlichen Richter abgesegnet werden, so will es das Gesetz. Als Beamte können die Richter natürlich nicht einfach entlassen werden, aber jede Gelegenheit wird genutzt, um ihre Bezüge zu kürzen. Junge Richter gibt es zur Zeit gar nicht."

"Gibt es überhaupt noch eine Branche, in der Menschen gebraucht werden?"

"Mir fällt spontan keine ein. Da sind höchstens noch Nischen oder Spitzenpositionen."

"Es ist schon bitter, dass wir letzlich zu Opfern der Automatisierung werden. Dabei sollten sie uns doch die unerfreulichen Tätigkeiten abnehmen."

"Genau das tun sie ja auch, aber sie sind inzwischen zu gut geworden. Eigentlich machen mir die langweiligen Standardfälle sowieso keinen Spaß, aber uneigentlich bräuchte ich sie zum Leben. Lieben Sie Ihre aktuelle Tätigkeit?"

"Beileibe nicht, es ist nur ein Notjob, denn als Betriebswirtin habe ich keine Stelle gefunden. Aber selbst diese Arbeit bin ich nächste Woche los. Ich würde lieber Steine schleppen, als in den Erwerbslosen-Schwärmen vor mich hinzuvegetieren. Sie brauchen nicht zufällig eine fähige Sekretärin?"

"Leider nein, keine Chance, obwohl ich es mir gerne leisten können würde."

"Ich habe auch nicht damit gerechnet, nachdem was Sie berichtet haben, Herr ... wie darf ich Sie eigentlich nennen?"

"Sorry, ich vergaß mich vorzustellen. Thomas ist mein Name."

"Gut, Thomas, ich heiße Juliane."

Scheint ein netter Typ zu sein; wenigstens kann man gut mit ihm reden. Sieht auch gut aus. Zu gut für mich. So jemand interessiert sich nur für makellose Frauen. Was solls? Amouröse Verwicklungen könnte ich jetzt sowieso nicht gebrauchen.

"Wer profitiert eigentlich von der ganzen Automatisierung? Das können doch nur ein paar Reiche sein, oder?", versuchte Juliane, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

"Nichtmal die. Die Steuern für Gewinne und Vermögen sind so exorbitant, dass selbst in diesen Kreisen helle Aufregung herrscht. Schließlich muss jemand die Versorgung der ganzen Erwerbslosen finanzieren. Diese Last wird immer größer und verteilt sich auf immer weniger Schultern. Nichtmal mehr auswandern lohnt sich, weil es inzwischen überall gleich ist."

"Das haben wir Menschen mal wieder prima hingekriegt. Rationalisieren uns einfach selber weg."

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sich Juliane daran erinnerte, dass sie nach möglichen Jobs Ausschau halten wollte. Die würde sie bestimmt nicht finden, wenn sie sich die ganze Zeit mit einem einzigen Gast unterhielt. Also verabschiedete sie sich, nicht ohne gegenseitig die Adressen auszutauschen.

Sowas Blödes. Jetzt habe ich mich schweren Herzens losgerissen und weiss gar nicht, wohin mit mir. Na ja, steuern wir einfach mal eine andere Ecke an. Juliane bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar, wich nahe der Tanzfläche einem schleuderndem Arm aus und drang schließlich in eine ruhigere Zone vor.

Dort sah sie endlich einen Bekannten. Schnöselig wie eh und je, hochgewachsen, braungebrannt, von hübschen Mädchen umringt, lächelte er Juliane einladend zu: Theo.

3

"Grüß dich Juliane. Schön dass du kommen konntest", Theo, wie immer ganz der Charmeur.

"Hallo Theo, danke für die Einladung."

"Amüsierst du dich?"

"Ja, danke - wunderbar. Du scheinst nicht unter Advokat 5.0 zu leiden, deinem zufriedenen Gesichtsausdruck zufolge." "Natürlich nicht. Die neue Advokat-Version ist ein hervorragendes Werkzeug. Was sollte ich dagegen haben?"

"Dacht ich's mir."

Mir wird gleich übel. Was für ein arroganter Lackaffe. Dass ich mit dem mal... vergiss es, du warst betrunken. Immerhin hat er sich dir gegenüber immer korrekt verhalten. Du bist doch nur neidisch Trotzdem - am liebsten würde ich ihm sein selbstzufriedenes Grinsen aus dem Gesicht wischen. Vergiss es! Denk lieber daran, wozu du hergekommen bist. Hier ist deine Chance.

"Du brauchst nicht zufällig eine fähige Sekretärin?"

"Sekretärin? Leider nein, das läuft jetzt alles vollautomatisch. Aber lass mich nachdenken. Wir könnten noch eine Hostess gebrauchen, denn unsere bessergestellten Kunden bevorzugen menschlichen Service."

"Eine Hostess? Was muss man da tun?"

"In erster Linie Kaffee servieren und natürlich freundlich lächeln."

"Wenn du dich ein bisschen zurechtmachst, könntest du durchaus für sowas geeignet sein.", meldete sich eine der Blondinen.

"Genau, vielleicht ein paar goldene Strähnchen ins Haar und einen kürzeren Rock. Das würde schon was bringen.", wusste ihre Freundin Rat.

"Danke vielmals für die Tipps; und dann hinke ich in den Raum, bis das Tablett schwankt. Danke Theo, ich glaube, das ist nichts für mich."

"Oh, entschuldige bitte, das hatte ich gar nicht bedacht."

Juliane hörte es kaum noch, denn sie drehte sich um und tauchte in der Menge unter. War das jetzt zu sarkastisch? Sie haben es bestimmt nicht böse gemeint. Aber Hostess, weil die noblen Mandanten gerne echte Menschen sehen - da kann ich ja gleich in den Zoo gehen. Nix wie raus hier.

So schnell es ging, ohne als Flucht erkannt zu werden, bahnte sich Juliane den Weg durch die Gästeschar. Die Musik ging ihr plötzlich auf die Nerven mit ihrer Pseudofröhlichkeit. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Kurz vor dem rettenden Ausgang sah sie nochmal Thomas, der ihr freundlich zunickte. Juliane nickte zurück und strebte dann eilends der Tür entgegen. Fast wäre sie mit einer Frau zusammengestoßen, die kichernd einen Schritt zurückgetreten war. Nur ein hastiger Schlenker bewahrte Juliane davor, der Kichernden ihr rotes Getränk über das weiße Satinkleid zu kippen.

Endlich erreichte Juliane den Ausgang und schlüpfte hindurch. Sie atmete auf, als sie die ruhigere Atmosphäre des Hotels um sich spürte. Die Musik wurde von Schritt zu Schritt leiser.

Warum bin ich jetzt eigentlich so überstürzt geflohen? Sie haben es bestimmt nur gut gemeint. Immerhin war es ja ein echtes Angebot von Theo. Aber wenn ich an "wenn du dich ein bisschen zurechtmachst" denke, könnte ich kotzen. Ich habe doch schon stundenlang vor dem Spiegel gestanden. Am Ende muss man die ach so edlen Mandanten dann noch in ein Separé begleiten, wer weiß? Es ist schon bitter, wenn man als Mensch mit tausend Fähigkeiten nicht mehr gebraucht wird. Sind wir wirklich schon so weit gekommen, dass Menschen nur noch aus nostalgischen Gründen Verwendung finden oder zum Plaisir? Sollen sie sich doch Hostessenroboter anschaffen.

"Na, schon genug von den eitlen Fatzken?"

Juliane drehte sich um und sah, dass Thomas zu ihr aufschloss.

"So könnte man es sagen."

"Hast du noch Zeit für ein Gläschen Wein in der Hotelbar?"

"Warum eigentlich nicht? Ein Viertelstündchen könnte ich entbehren."

Die Hotelbar lud durch ihre heimelige Atmosphäre zum Niederlassen ein. Seichter Jazz verbreitete ein entspanntes Gefühl. Thomas fragte Juliane mit einer Geste, ob sie lieber an der Bar oder in einer der Sitzgruppen platznehmen wollte. Juliane entschied sich für die privatere Variante, denn die dunkelblau gepolsterten Sofas der Sitzgruppen sahen sehr bequem aus.

Als sie es sich bequem gemacht hatten, griff Thomas nach einer der bereitstehenden Getränkekarten. Juliane tat es ihm gleich. Die Karte fühlte sich sehr edel an, als würde sie aus echtem Pergament bestehen. Auch die Preise waren sehr edel, wie Juliane mit Entsetzen feststellte. Sei's drum, man muss sich auch mal etwas gönnen und ich will ja nicht die ganze Karte runter bestellen, sondern nur ein Glas.

Die meisten der aufgelisteten Weinnamen sagten Juliane gar nichts. Da sieht man mal wieder, wie wenig weltläufig ich bin. Kein Wunder, dass ich nicht mal an der Kasse gebraucht werde.

Auf einen Wink von Thomas verließ der Barkeeper seinen in schummriges Spiegellicht getauchten Tresen, um ihre Bestellung aufzunehmen. Thomas bestellte einen Sauvignon blanc und Juliane einen Gewürztraminer, denn sie fand, dass der Name interessant klang.

"Hat es dir nicht mehr gefallen, oder hat dich jemand geärgert?", fragte Thomas als der Kellner wieder gegangen war.

"Ach, es war nicht so spannend, an jeder Ecke von Advokat 5.0 zu hören.", wich Juliane aus.

"Das kann ich gut verstehen. Vor allem für Außenstehende kann das nervtötend sein. Mir hat die Party, ehrlich gesagt, auch nicht gefallen; bis auf unser Gespräch."

Der Kellner kam mit den Weinen. Thomas hob sein Glas und deutete eine Anstoßbewegung an. Juliane hob auch ihr Glas, ließ die Gläser hell zusammenklingen und nippte an ihrem Wein. Er hielt, was sein Name versprochen hatte: ein ungewohnt würziges Aroma war unverkennbar. Ansonsten schmeckte der Wein süß und schwer, sodass Juliane an Vanilleeis denken musste. Dazu würde der Gewürztraminer gut passen.

Thomas drehte sein Glas, nahm einen Schluck und sein Seufzen ließ erkennen, dass der Wein seinen Vorstellungen entsprach.

Was soll ich denn bloß sagen? Ich kann doch hier nicht nur schweigend Wein schlürfen. Naja, eigentlich könnte auch Thomas das Gespräch beleben. Immerhin hat er mich ja hierher gelockt. Wenn ich nur mal an etwas anderes denken könnte als an die Jobsuche. Das ist nun wirklich kein erfreuliches Gesprächsthema. Vor allem wird es ihn anöden, wenn ich ihn mit Arbeitslosigkeit langweile.

"Vorhin hat dich doch bestimmt jemand geärgert. Du sahst aus, als wäre dir der Leibhaftige auf den Fersen, als du den Ballsaal verlassen hast."

"Na ja, stimmt schon. Mich hat geärgert, dass Menschen nur noch gebraucht werden, um reiche Kunden mit Echtfleisch zu beeindrucken."

"Das klingt ja schauerlich. Bisher ist mir dieser Gedanke neu. Wie bist du zu diesem Eindruck gekommen?"

Soll ich es wirklich erzählen?

"Ein reicher Anwalt hat mir einen Job als Hostesse angeboten, weil seine bessergestellten Kunden gerne von echten Menschen bedient werden."

"Das klingt nach Theo."

"Stimmt."

"Und du hast abgelehnt, weil du deine Haut nicht zu Markte tragen willst?"

"So ähnlich. Außerdem hinke ich und das hat der ach so großzügige Theo in seinem Anfall von Edelmut ganz vergessen."

"Verstehe."

Gar nix verstehst du.

"Ich sollte jetzt aufbrechen. Zuhause muss ich noch Bewerbungen schreiben."

"Aber wir sind doch gerade eben erst gekommen."

"Sorry. Und Tschüss."

Juliane stand auf, trank einen letzten Schluck des leckeren Weines, ging zum Tresen, warf dem Barkeeper einen Schein auf die spiegelglatte Fläche und verließ die Bar. Ihr Herz schlug bis zum Halse. Als wären Furien hinter ihr her, eilte sie aus dem Hotel und strebte der U-Bahnstation zu.

Erst als sich die Türen der U-Bahn zischend hinter ihr schlossen, atmete Juliane auf.

Und was war das jetzt für eine Aktion? Das war ja richtig peinlich Nichtmal normal unterhalten kannst du dich, ohne beleidigt wegzurennen. Wie willst du denn dann ein Bewerbungsgespräch durchstehen?

Die Stationen rauschten an den Fenstern vorbei und ehe Juliane sich wieder gefasst hatte, war sie schon an ihrer heimatlichen Station angekommen. Sie hastete die Treppen hoch, weil ihr die Rolltreppen zu langsam schienen. Als sie oben angekommen war, tat ihr das Knie weh, malträtiert durch die unnötige Flucht. Dennoch hielt Juliane kaum inne und humpelte schnellstmöglich nachhause.

Kaum hatte sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, schossen ihr Tränen aus den Augen. Sie warf sich auf ihr Bett und starrte halbblind an die Decke.

Was bin ich nur für ein Idiot!

4

"Die Absätze müssten noch fünf Zentimeter höher sein. Dreh dich mal, Juliane. Ja, so ist schön. Und jetzt etwas weicher in den Hüften wiegen", aus Theos Augen sprach Besitzerstolz.

Schweißgebadet fuhr Juliane aus dem Schlaf. Was für ein schauderhafter Traum.

Wo ich jetzt schonmal wach bin, kann ich auch gleich um die Bewerbungen kümmern. Juliane duschte ausgiebig, um sich nicht nur den Schweiß vom Leib zu spülen. Dann setzte sie sich an ihre Bildschirmwand und rief zuerst die neuesten Ablehnungen ab. Die ersten Ablehnungen waren schon eine Stunde nachdem sie ihre Bewerbungen geschrieben hatte eingetrudelt. Alle mit Begründungen wie "die Stelle ist bereits vergeben".

Diesmal kam immerhin ein persönliches Anschreiben, in dem bedauert wurde, dass Juliane aufgrund mangelnder Berufserfahrung nicht in Frage käme. Woher soll die Berufserfahrung denn kommen, wenn ich nie eine Stelle kriege?

"Du hast eine neue Nachricht", ertönte die Stimme ihres Computers.

Juliane nickte. Das Ablehnungsschreiben wurde vom Gesicht ihrer besten Freundin überlagert. Fast hätte Juliane ihre Freundin nicht erkannt, denn sie wirkte alt; alt und ausgewrungen wie ein Putzlappen.

"Hallo Juliane. Ich habe heute Geburtstag und deshalb Ausgang. Den Nachmittag würde ich gerne mit dir verbringen. Ich warte in der Cafeteria auf dich."

Juliane versuchte, die Verbindung aktiv zu schalten, doch ihre Freundin Susanne hatte sich nach dem Absenden der Nachricht wohl sofort ausgeklinkt. Schon wieder Susannes Geburtstag? Dann ist sie jetzt schon über ein Jahr im Schwarm. Scheint ihr ja nicht so gut zu bekommen. Na ja, das werde ich ja bald genauer in Erfahrung bringen.

Bis zum Nachmittag blieb Juliane noch genügend Zeit, um fruchtlos nach Stellenangeboten zu suchen. Die Firmen, die Jobs anboten, hatte sie längst alle angeschrieben, außer natürlich bei Jobs wie Baggerfahren, von denen sie nichts verstand. Auf den meisten anderen Firmenseiten im Netz stand ausdrücklich, dass Bewerbungen nicht erwünscht seien. Wenn sie denen trotzdem eine Bewerbung schicken würde, riskierte sie eine Strafgebühr. Stundenlang stöberte Juliane durchs Netz, in der Hoffnung, doch einen potentiellen Arbeitgeber zu finden. Aber nichtmal als Küchenhilfe hatte sie eine Chance.

Entnervt gab Juliane auf und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser rann entspannend über ihren Körper. Sie seifte sich genussvoll ein. Da stehe ich nun in der Blüte meines Lebens. Selbst mein Körper ist noch fast makellos. Und trotzdem bin ich auf dem besten Weg, in die Aufbewahrungsanstalt abgeschoben zu werden. Das ist ja fast wie Altersheim. Irgendwie graust mir schon vor dem Besuch bei Susanne. Ob das auch meine Zukunft ist?

Viel zu schnell wurde das Wasser lauwarm. Juliane stellte den Hahn auf kalt, um sich ordentlich zu erfrischen. Sie keuchte, als die kalten Strahlen sie trafen. Doch jeder einzelne Eistropfen peitschte neues Leben in ihre Zellen und sie fühlte, wie bisher unentdeckte Spannungen abflossen. So, jetzt müsste ich eigentlich bereit sein, um mir das Elend anzuschauen.

Sie schlüpfte in bequeme Klamotten, denn damit würde sie bei den Schwarmbewohnern kaum auffallen. Unterwegs machte Juliane bei einem Kiosk halt, denn sie wollte Susanne ein Geschenk kaufen. Rauchende Schwarmleute freuten sich meistens besonders über Zigaretten. Daher bestellte Juliane zehn Packungen Zigaretten beim Verkaufsautomaten; ein stolzes Geschenk, das Juliane einen spürbaren Teil ihres Monatsüberschusses kostete. Der Preis wurde von Julianes Karte abgebucht und die Stange Zigaretten polterte in das Ausgabefach. Sogar in Geschenkpapier war sie verpackt; gegen Aufpreis natürlich.

Beim Verlassen der U-Bahnstation wurde Juliane mulmig zumute. Ob das wohl meine zukünftige Heimat ist? All diese gleichartigen Häuser. Uniformität bis zum Gehtnichtmehr. Nein, ich will nicht! Am liebsten würde ich wieder umkehren. Aber dann wäre Susanne bestimmt tödlich beleidigt. Zurecht! Ich sollte mich nicht so zimperlich anstellen.

Zuerst musste sie durch eine Kontrollstation gehen, wo ihre Identität gespeichert wurde. Außerdem fragte ein Terminal nach dem Zweck ihres Besuches. Nur durch diese Formalitäten würde es ihr später problemlos möglich sein, das Viertel wieder zu verlassen.

Die Erwerbslosen waren keine Gefangenen in ihrem Viertel, zumindest nicht in diesem, aber in der Praxis durften sie es trotzdem nicht verlassen, außer nach einem aufwendigen Formalitäten-Prozedere. Darum hatte Susanne es auch aufgegeben, Juliane zu besuchen. Bei den seltenen Treffen machte sich immer Juliane auf den Weg in die Stadt der Hoffnungslosen.

Die Kästen, die als Unterkunft für die Erwerbslosen dienten, reckten sich wie glänzende Mauern in die Höhe. Fünf Stockwerke hoch und einen kleinen Spaziergang lang, erstreckte sich ein Haus dieser Art hinter dem anderen, soweit das Auge reichte.

Alle Südfronten der modernen Unterkünfte waren mit Solarzellen vertäfelt und schimmerten im Nachmittagslicht. Auf den Dächern drehten sich träge Windräder, die zusammen mit den Solarzellen dafür sorgten, dass jedes Gebäude seinen eigenen Strom produzierte. Die Stadt hatte für diese Anlage sogar einen Preis erhalten, weil sie die erste Stadt gewesen war, die ihre Erwerbslosen in energieproduzierenden Häusern untergebracht hatte.

Zur Straße hin reihte sich Laden an Laden und hin und wieder eine Cafeteria oder Schnellrestaurant. Hier konnten die Erwerbslosen ihr mühsam verdientes Bürgergeld ausgeben. Heute war vergleichsweise viel los auf der Straße. Anscheinend hatten etliche Bewohner ihren wöchentlichen Ausgang genommen; vielleicht weil die Sonne mit ihren warmen Strahlen nach draußen lockte, nachdem es eine Woche lang bewölkt gewesen war. Normalerweise schien das Schwarmviertel wie tot; diesmal nur wie in den letzten Zügen liegend.

Juliane hatte Aufnahmen vom Leben in den "freien" Erwerbslosen-Vierteln gesehen. Dort kochten die Straßen vor Leben, aber jeder musste ständig auf der Hut sein, nicht hinterrücks abgestochen zu werden. Diese Viertel waren natürlich streng von der restlichen Stadt abgeschottet und erlaubten auch kaum Besucher von außen.

Ganz anders war es in den Schwarm-Vierteln, wie diesem. Hier herrschten Ruhe und Ordnung. Alles war auf Strengste reglementiert. Wer sich nicht anpasste, wurde in ein "Faulenzer-Viertel" oder gar in ein "freies" Viertel verbannt.

Juliane hörte hinter sich ein schleifendes Geräusch näherkommen. Sie sah einen Kehrwagen, der langsam die Straße entlang rollte und Juliane überholte. Seine Bürstenräder schruppten deutlich vernehmbar über den Beton. Susanne hatte erzählt, dass diese Kehrwagen eigentlich mobile Überwachungsanlagen waren, die zur Not auch kämpfen konnten. Da sie sowieso Tag und Nacht über die Straßen patroullierten, wurden sie außerdem zur Straßenreinigung eingesetzt.

Nach einem ordentlichen Fußmarsch erreichte Juliane die Cafeteria in der Nähe von Susannes Schwarmhaus. Die Glastür öffnete sich automatisch, sobald Juliane in den Eingangsbereich trat. Junge Frauen saßen an den kleinen Tischen und schnatterten miteinander. Die seichte Begleitmusik war kaum durchzuhören, dennoch schien sie zur aufgelockerten Stimmung beizutragen.

In einer Ecke nahe des Fensters entdeckte Juliane ihre Freundin. Susanne winkte    ihr zu,    sobald sie

Juliane entdeckte. Sie lächelt zwar, aber ihre Augen sehen traurig aus.

Susanne stand auf als Juliane näherkam, damit sie sich richtig    umarmen    konnten.    Nach    der

Umarmung reichte Juliane Susanne ihr Geschenk und nahm Platz.

"Da sind bestimmt Zigaretten drin. Danke! Hab schon ewig keine mehr geraucht.", Susanne riss das Geschenkpapier auf und holte eine Packung hervor.

Juliane kramte ein Feuerzeug und ihre eigenen Zigaretten aus ihrer Handtasche. Dann hielt sie Susanne die Flamme hin. Nach dem ersten Zug hustete Susanne sich fast die Lunge aus dem Hals.

"Ich bin wohl nichts mehr gewöhnt.", sagte sie, als sie wieder atmen konnte. "Vielleicht sollte ich es bleiben lassen, wenn ich schon mal soweit bin."

"Das tut mir echt leid. Wenn ich gewusst hätte, dass du nicht mehr rauchst, hätte ich mir was Anderes einfallen lassen."

"Braucht dir nicht leid tun. Ich habs mir ja nicht absichtlich abgewöhnt; konnte mir das Rauchen halt nicht mehr leisten. Außerdem sind Zigaretten hier ein gutes Tauschmittel. Dafür kriegt man fast alles."

Juliane warf einen Blick auf das Bestellpanel. Sie drückte auf die Fläche für Milchkaffee und bestellte außerdem zwei Stücke Schwarzwälder Kirschtorte; zur Feier des Tages. Die Anzeige des Panels zeigte Julianes ID-Nummer an und bestätigte die Abbuchung von ihrer Karte. Anschliessend klappte Juliane das Panel wieder zur Seite.

In der Mitte des Tisches erhob sich die Ausgabesäule und öffnete die Klappe. Juliane entnahm zuerst die Kaffeetasse, der erst der eine und dann der andere Kuchenteller folgten. Die Säule verschawnd wieder in der Versenkung.

"Lass es dir schmecken.", sagte Juliane, als sie Susanne die Torte reichte.

"Lecker! Schwarzwälder Kirsch! Du erinnerst dich gut."

"Na klar, wie könnte ich sowas vergessen?"

Susanne rauchte die Zigarette schnell fertig, diesmal ohne zu husten, und stach dann begierig mit der Kuchengabel in die Torte.

"Mjam, sowas könnte ich täglich essen, aber dann wäre ich bestimmt kugelrund."

"Wie gehts dir eigentlich so?"

"Och, eigentlich ganz gut. Man lebt halt so vor sich hin und die Zeit vergeht. Und was treibst du so?"

"Ich such grade nach einem neuen Job, denn an der Kasse brauchen sie mich nicht mehr."

"Dann kommst du bestimmt auch bald zu uns. Die Jobfinderei soll ja von Monat zu Monat schwieriger werden."

"Ja, einfach ist es nicht. Eine Maschine nach der anderen übernimmt die Arbeit. Aber ich will nicht in einen Schwarm ziehen."

"Wieso denn nicht? Dann bist du wenigstens die Sorgen los. Weisst du was? Meine Zimmerkollegin Michaela ist kurz davor zu den Faulenzern abzurutschen. Vielleicht könntest du dann zu mir ins Zimmer ziehen. Das würde mir gefallen."

"Wie kommts, dass sie am Abrutschen ist?"

"Sie kommt morgens nicht zum Frühsport aus dem Bett. Dabei ist neun Uhr doch eigentlich nicht so schlimm. Aber nein, sie taucht regelmäßig erst um halb zehn auf, wenn das Meiste schon rum ist und manchmal kommt sie gar nicht. Da nützt es auch nichts, wenn ich sie wecke. Sie schläft einfach wieder ein."

"Hm, neun Uhr ist wirklich nicht zu früh. Ich muss immer vor acht aufstehen. Und warum ist der Frühsport so wichtig, dass man rausgeschmissen wird?"

"Der Frühsport ist ein wesentlicher Bestandteil des Schwarmlebens und absolute Pflicht. Wenn man morgens nicht mehr aufsteht und sich bewegt, dann verfällt man auf Dauer komplett und ist gar nicht mehr arbeitsfähig. Durch den Frühsport halten wir uns arbeitsfähig. Nur so haben wir eine minimale Chance mal wieder eine Arbeit zu finden."

Das klingt wie auswendig gelernt. "Und wie gehts dann nach dem Frühsport weiter?"

"Anschliessend haben wir eine halbe Stunde, um unser Zimmer tiptop zu reinigen und uns zu duschen. Danach gibts Frühstück."

"Das ist ja noch ein recht überschaubares Programm. Und was machst du den Rest des Tages?"

"Dreimal in der Woche arbeite ich vormittags für mein Bürgergeld; meistens im Verwaltungsbüro."

"Wird das nicht alles von Computern erledigt?" "Eigentlich schon, aber sie lassen uns einen Teil der Arbeit übrig, damit wir arbeitsfähig bleiben. Andere helfen in der Küche oder halten die Grünanlagen sauber; lauter Kleinkram eben, der dem Erhalt der Schwärme dient."

"Ist die Arbeit Pflicht?"

"Nein, jede kann soviel mitarbeiten wie sie will, aber wenn man nochmal einen Job haben will, sollte man mindestens drei halbe Tage arbeiten. Außerdem will ich ja auch was verdienen, wenns auch wenig ist."

"Und nachmittags?"

"Nachmittags habe ich Zeit für mich. Da kann ich im Netz rumstöbern, was lernen, lesen oder Filme anschauen. Meistens spiele ich aber "World 3000", das ist ein spannendes Simulationsspiel."

"Klingt eigentlich ziemlich lässig."

"Ist es auch; sag ich doch. Außerdem bist du die elenden Sorgen um den Arbeitsplatz los. Hier schikaniert dich niemand wegen Jobsuche. Ab und zu gibts ein Jobcasting, aber da stürmen genug Freiwillige hin."

Und warum sieht sie dann so traurig aus? Nein, das frage ich besser nicht, sonst verderbe ich ihr nur den Tag.

5

Die Torte war Juliane zu süß und sie fühlte sich auf eklige Weise vollgefressen. Susanne schien die Torte jedoch zu schmecken. Sie verputzte den Kuchen bis auf den letzten Krümel.

"Aah, das war gut", sagte sie, drückte auf einen Knopf des Bestellpanels und ließ den benutzten Teller in der Säule verschwinden, die durch den Knopfdruck wieder nach oben geglitten war. "Die nächste Zigarette wird mir jetzt bestimmt besonders gut schmecken."

Sprachs und zündete sich eine Zigarette an. Wie um den Genuss zu beweisen, sog Susanne den Zigarettenrauch tief ein und atmete anschließend eine große Rauchwolke aus. Die Entlüftungsanlage über ihren Köpfen hatte Mühe, die ganze Wolke wegzusaugen, obwohl sie hörbar ihre Saugleistung verstärkte.

"Wie wärs jetzt noch mit einem kleinen Piccolo? Da wäre mir gerade nach zumute."

"Ja, gerne. Ich gebe einen aus."

Juliane schob ihren eigenen Kuchenteller in die Ausgabesäule und bestellte per Knopfdruck eine kleine Flasche Sekt mit zwei Gläsern. Die Flasche zischte, als Juliane sie öffnete und wäre fast übergelaufen, wenn Juliane nicht rechtzeitig mit dem Gießen in Susannes Glas begonnen hätte.

"Zum Wohl! Auf ein glückliches neues Jahr!"

"Zum Wohl!"

Susanne nahm einen Schluck und seufzte genussvoll. Schweigend tranken sie ihre Gläser bis zur Hälfte. Merkwürdig, sonst ist Susanne immer so gesprächig. Ob sie wohl aus der Übung gekommen ist? Na ja, hier gibt es auch genug zum Rumgucken.

Die meisten anderen Gäste der Cafeteria waren Frauen in Susannes Alter und fast alle trugen, wie sie, dunkelblaue Baumwollhosen und Sweatshirts. Sie unterhielten sich eifrig, teilweise kichernd, ganz so, wie man es von jungen Frauen im Café erwartet. Durch die identischen Kleider wirkten sie jedoch uniformiert. Juliane musste bei dem Anblick an chinesische Arbeiterinnen denken. Selbst sie passte wunderbar ins Bild, denn mit ihren eigenen dunkelblauen Kleidern wirkte sie, als würde sie dazugehören.

Etwas unbehaglich zumute wandte sich Juliane von der Betrachtung der anderen Gäste ab. Als ihr Blick wieder auf Susanne ruhte, erkannte sie, dass Susannes Augen in Feuchtigkeit schwammen.

"He, was ist los? Traurig?"

Susanne schüttelte den Kopf so heftig, dass die Tränen in die Luft geschleudert wurden.

"Traurig? Ne, eigentlich nicht. Ich weiss auch nicht so recht, was in mich gefahren ist."

"Hm, sowas kommt ja manchmal vor. Vielleicht sinds die Hormone."

"Ja, das wirds sein."

Susanne kicherte, aber es war klar durchzuhören, dass es ein unglückliches Kichern war.

Schweigen.

Was sag ich denn jetzt bloß, um diese verkorkste Situation wieder aufzulockern?

"Ach, weißt du? Das mit dem glücklichen neuen Jahr ist so eine Sache. Ich wünsch mir schon gar kein Glück mehr, denn es tut viel zu sehr weh, weil es ja doch nie klappt."

"Was ist denn das Hauptproblem?"

"Das ist gar nicht recht greifbar, aber ich fühle mich so grauenvoll überflüssig. Klar, wir werden akzeptabel versorgt. Die Maschinen überlassen uns sogar gnädigerweise einen Teil ihrer Arbeit, dabei wissen alle, dass die Maschinen die Arbeit besser erledigen als wir Menschen. Niemand braucht mich. Wenn ich jetzt sterben würde, wäre einfach nur ein Bett frei und der Staat wäre um einen unnötigen Esser erleichtert."

"Aber, ich ..."

"Spars dir. Klar, du würdest mich vermissen. Aber alle halbe Jahre ein Schwätzchen reicht nicht aus, um dem Leben einen Sinn zu geben. Im World 3000 habe ich zwar schöne Erfolge und mit meiner Arbeit sind alle zufrieden. Aber wozu lebe ich überhaupt?"

Inzwischen flossen die Tränen in Strömen und Susannes Oberkörper zuckte gelegentlich, als hätte sie einen Schluckauf. Juliane streckte ihre Hand über den Tisch. Nach einem Moment des Zögerns ergriff Susanne die Hand und klammerte sich daran fest wie eine Ertrinkende, die aus dem Wasser gezogen werden will.

Oh je, was sag ich bloß? Ich kann sie doch hier nicht in ihrem Unglück versinken lassen. Wie kann ich ihr nur helfen? Ob ich sie in den Arm nehmen sollte? Aber das würde dann allen auffallen und sie würden glotzen. Das tu ich Susanne besser nicht an.

"Hast du es mal mit was Kreativem versucht?"

"Was? Gedichte schreiben? Pah!"

"Müssen ja nicht unbedingt Gedichte sein, können auch Geschichten sein, liebevoll aufbereitetes Wissen, Bilder, Musik oder was auch immer."

"Du hast bestimmt recht. Manche Leute fühlen sich ja sogar schon von ihrer Modelleisenbahn ausgefüllt und sind glücklich. Aber irgendwie inspiriert das Schwarmleben überhaupt nicht."

"Hm."

"Es ist auch grauenvoll zu sehen, wie die Michaela immer mehr dem Stumpfsinn anheim fällt. Das Zimmerputzen muss ich schon seit Monaten alleine machen, damit wir keinen Ärger kriegen, beim Frühsport ist sie nur körperlich anwesend, wenn überhaupt und den Rest des Tages starrt sie in ihren Bildschirm. Sie spielt nicht mal mehr, sondern zieht sich eine Soap nach der anderen rein. Zum Essen muss ich sie hinzerren und oft gelingt mir nichtmal das. Natürlich nimmt sie schon lange Medikamente gegen Depressionen, aber die scheinen überhaupt nichts zu nützen. Ich werde ganz froh sein, wenn sie endlich bei den Faulenzern eingeliefert wird und dafür schäme ich mich auch noch."

"Bestimmt ist das schrecklich, wenn die Zimmerkollegin so verfällt. Wahrscheinlich wird es tatsächlich besser für dich, wenn sie weg ist. Aber ich glaube nicht, dass du dich dafür schämen musste, wenn du den Tag herbeisehnst. Mir würde es wohl nicht anders gehen. Wann rechnest du denn mit ihrem Umzug?"

"Das ist ja das Problem. Solange ich sie aufwecke und rumzerre, fällt ihr Zustand nicht besonders auf. Das kann noch ewig so weitergehen. Aber ich kann sie doch nicht einfach sich selbst überlassen."

"Ich sehe; das ist echt ein übles Dilemma. Da fällt mir auch keine brauchbare Lösung ein.". Was hab ich es da gut, dass ich alleine leben darf. Auch wenn ich manchmal etwas einsam bin.

"Na ja, irgendwann wird es den Psychologen auffallen. Die kennen sich schließlich damit aus, weil sie selbst im Schwarm leben."

"Wie sieht es eigentlich mit den anderen Frauen in deiner Nachbarschaft aus?"

"Bestenfalls lauwarm. Klar, wir hocken oft zusammen auf dem Balkon und schwätzen auch viel. Aber das bleibt alles an der Oberfläche. Ich finde die Meisten öde und ich glaube, sie finden auch mich öde. Am besten würde es mir gefallen, wenn du auch hier leben könntest. Dann hätten wir bestimmt viel Spaß." "Viel besser wäre es noch, wenn du auch einen Job bekommen könntest. Dann könnten wir in Freiheit viel Spaß haben."

"Stimmt ja. Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen."

"Bei der Jobsuche werde ich die Augen offenhalten. Vielleicht finde ich ja auch für dich einen Job. Da fällt mir ein: du kennst doch Theo, oder?"

"Theo? Diesen Lackaffen? Was ist mit dem?"

"Der sucht eine Empfangsdame, um seine traditionsbewussten Kunden mit Kaffee und einem menschlichen Anblick zu beglücken. Aber mit meiner Haxe ist das nix. Da braucht man hohe Absätze."

"Hm, hm! Empfangsdame? In der spießigen Nobelgesellschaft? Mit High Heels? Dass du den Job nicht wolltest, ist mir sonnenklar. Du warst bestimmt empört, allein schon über die Idee, die gutbetuchten Kunden mit dem Anblick von Frauenfleisch zu erfreuen."

"Stimmt. Du kennst mich fast besser, als ich mich kenne, denn ich war ganz erschrocken über meine Reaktion."

"Das werde ich mir mal durch den Kopf gehen lassen, mit dem Job. Lackaffe hin oder her: noch bin ich jung genug, um solvente Mandanten zu entzücken. Das wäre vielleicht die letzte Chance."

"Wenn du daran Interesse hättest, solltest du es vielleicht tatsächlich wagen. Am besten bald, bevor er eine andere nimmt."

"Ich werds mal überschlafen. Schließlich weiß man nie, wieviel Glück die Kunden da vom weiblichen Anblick erwarten."

Unruhe ergriff die Cafeteria. Stühle wurden gerückt und viele der Frauen brachen auf.

"Oh je, es ist schon Zeit, heimzugehen. Schluss mit Ausgang. Magst du mich noch begleiten? Ich könnte geschwind eine Sondergenehmigung einholen."

"Ja, ich würde gerne mal sehen, wie du so lebst."

Susanne holte ein Handy aus der Hosentasche und sprach kurz hinein, bevor sie es wieder einsteckte. "Ok, du darfst. Ausnahmsweise, weil ich Geburtstag habe."

Schnell tranken sie den restlichen Sekt, dann griff Juliane nach ihrer Tasche und sie machten sich auf den Weg.

"Schau, die Häuser hier, das sind alles Frauenschwärme. Das dritte Haus dort hinten ist mein Zuhause."

"Wo leben denn die Männer?"

"Viel weiter hinten. Die kriegen wir kaum je zu Gesicht."

Wie ein Fächer zogen die langestreckten Häuser an ihnen vorbei. Jedes sah genauso aus wie alle anderen. Dazwischen befand sich jeweils eine Wiese mit einem Sportplatz-Oval in der Mitte.

"Auf diesen Sportplätzen müssen wir morgens immer antanzen. Außer wenn es doll regnet, dann gibt es Gymnastik auf dem Balkon."

"Und ein Trainer treibt euch dann immer an?"

"Ja, ein Robot-Trainer. Der ist ganz lustig, wenn er so seine Befehle ruft und die Bewegungen vormacht. Und er sieht auch tatsächlich, wenn wir uns drücken wollen."

Juliane drehte sich um, denn sie wollte sehen, wie die Rückseiten der Häuser verkleidet waren, denn dort im Norden schien schließlich keine Sonne. Sie sah eine Fassade, die wie ein Schweizer Käse wirkte. In regelmäßigen Abständen durchbrachen viereckige Löcher die Hauswand.

"Das sind die Balkons - unsere Aufenthaltsräume. Gehen nach innen, damit man sie bei Kälte mit Isolierfenstern abdichten kann. Im Sommer sind sie angenehm schattig; abends kann man sogar die Sonne untergehen sehen. Im Winter dienen sie als Wintergarten und schützen den dahinterliegenden Innenraum vor Kälte. Dann hätte man sie natürlich lieber auf der Sonnenseite, aber die ist ja mit der Stromproduktion beschäftigt."

"Die Erbauer haben das wohl alles genau ausgetüftelt."

"Kann man wohl sagen. So, hier sind wir nun. Da vorne in den Eingang müssen wir rein."

Ein schmaler Weg führte am Haus entlang zu den beiden Eingängen. Susanne schritt zügig bis zum zweiten Eingang aus.

"Willkommen daheim, Susanne. Ist diese Person dein Gast?" sagte die Haustür.

"Ja, das ist mein Gast."

"Ok, die Id wurde registriert. Willkommen Gast! Sie haben eine Viertelstunde Besuchszeit."

Sie betraten einen Gang, der nur ein Treppenhaus enthielt und ansonsten völlig kahl war.

Susanne kicherte. "Die Faulenzer haben sogar Aufzüge, damit sie schön faul bleiben können. Aber wir müssen Treppe steigen; bis in den vierten Stock."

In jedem Stockwerk zweigten links und rechts Türen ab, die sich in nichts voneinander unterschieden. Juliane spürte ihr Knie als sie endlich das vierte Stockwerk erreichten. Sobald Susanne ihren Fuß auf die Stockwerksebene gesetzt hatte, klackte es und die rechte Tür öffnete sich wie von Geisterhand.

Ein schmaler Gang führte tief ins Gebäude hinein. Linkerhand reihte sich eine Tür an die nächste und rechts konnte man durch Fenster zum Balkon sehen.

"Siehst du, da hocken sie alle und langweilen sich. Wie jeden Tag."

Susanne deutete durch eines der Fenster auf den Balkon, wo man mehrere Frauen auf billigen Plastiksesseln sitzen sah. Sie machten einen lustlosen Eindruck, waren aber so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die beiden Neuankömmlinge nicht wahrnahmen.

"Und hier: mein Zuhause - Zimmer Nummer acht."

Die Tür öffnete sich; natürlich vollautomatisch, obwohl es auch eine normal aussehende Türklinke gab. Vorne im Zimmer gab es eine Engstelle, dahinter öffnete sich der Raum etwas breiter, war aber wie ein Schlauch eingerichtet.

"Hier links ist die Toilette und rechts eine Dusche. Das ist ganz praktisch, dass wir die nur zu zweit teilen müssen. Auf der linken Seite des Zimmers ist mein Reich. Komm ruhig mal rein."

Auf dem rechten Bett saß eine Frau in Julianes Alter mit Kopfhörern auf den Ohren. Sie starrte unverwandt auf einen Bildschirm, der am Fußende des Bettes befestigt war. Susanne hob kurz die Hand zum Gruß. Michaela ließ ihre Hand schwach zucken und widmete sich dann wieder vollständig dem Starren. Wahrscheinlich hat sie nichtmal bemerkt, dass ich auch hier bin.

"Das ist mein Schrank; nicht sehr üppig, aber immerhin und dieses Brett dort ist mein Schreibtisch. Den Bildschirm kann man entweder an die Wand klappen, wenn ich ihn vom Schreibtisch aus benutzen will, oder man benutzt ihn vom Bett aus wie bei Michaela."

"Sehr funktional."

"So könnte man es auch bezeichnen.", Susanne kicherte.

"Ruf mal bei Theo an, vielleicht klappt das ja. Seine Nummer hast du?"

"Ja, die habe ich noch."

"Ok, dann werde ich mal wieder nachhause gehen. Lass es dir gutgehen und halt die Ohren steif."

"Ja, werd ich machen. Dir wünsche ich viel Glück bei der Jobsuche."

Nach einer herzlichen Umarmung strebte Juliane dem Ausgang zu.

Raus hier, bloß raus hier. Ich muss unbedingt einen neuen Job finden. Raus hier!

6

"Reißen Sie sich zusammen!" der Filialleiter stand dicht hinter Juliane und herrschte sie mit Flüsterstimme an.

Juliane streckte den Rücken durch und versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch nur sehr unvollkommen gelang.

Hoffentlich geht dieser Typ bald wieder weg. Diese letzte Woche ist die Hölle. So ein blöder Job. Da vergeht einem ja völlig die Lust aufs Arbeiten. Wozu suche ich eigentlich so verzweifelt nach einem Job? Da wartet doch genau so ein Stumpfsinn auf einen wie im Schwarm. Am besten geb ich mir einfach die Kugel.

"Ja, gerne können Sie mir Ihr Kleingeld geben", geduldig wartete Juliane, bis eine ältere Dame ihre Kupfermünzen zusammengesucht hatte.

Der Kunde hinter der Dame trommelte nervös mit den Fingern auf seinen Einkaufswagen und schielte zur automatischen Kasse, bei der mal wieder alles zackzack lief.

Abends ließ sich Juliane kraftlos auf ihren Schreibtischstuhl fallen, kaum war sie zuhause angekommen.

Und jetzt auch noch Jobsuche. Dabei steht doch aufjeder Webseite: "Bitte schicken Sie uns KEINE Bewerbungen zu!". Und die Arbeitsagentur hat auch nie etwas neues zu bieten, genausowenig wie andere Stellenbörsen. Die leben doch nur noch von ihrer Werbung für "Erfolg durch Bewerbungsoptimierung". Den Aasgeiern soll man doch nur seinen letzten Cent zahlen, für eine lausige Broschüre mit Bewerbungstipps, die eh jeder kennt.

Ihr Computer begrüßte sie mit drei Absagen. Die gesamte Bewerbungs-Ausbeute der letzten Tage war mal wieder dahin. Und keinerlei neue Chancen in Sicht.

"Such deutschlandweit und im Ausland", fauchte Juliane ihren Computer an.

Auf ihrem Bildschirm erschien eine längere Liste. Ganz oben stand "Wasseringenieur in Kenya".

"Nein, du Dödel. Natürlich nicht alle Arten von Jobs. Nur die, die ich auch machen kann."

Die Liste schrumpfte zusehens und passte schließlich auf eine Bildschirmseite.

Kein einziger Sekretärinnen-Job deutschlandweit - unheimlich. Hier: "Betriebswirt", aber: "bevorzugt mit Doktortitel und Berufserfahrung in Großkonzernen". Das kann ich mir gleich abschminken. Nichtmal ein Anstands-"In" steht hinter dem Betriebswirt. Die nehmen sowieso nur Männer. Ist denn da gar nix dabei? Ob wohl noch ein Bier im Kühlschrank steht?

Juliane stand auf und ging zu ihrer Kochecke. Im Kühlschrank standen sogar noch drei Flaschen Bier.

Wann hab ich die eigentlich da reingestellt? Muss schon ewig her sein. Mal aufs Haltbarkeitsdatum gucken. Ok, die sind noch gut.

Sie nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Bevor sie den ersten Schluck nehmen konnte, knurrte ihr Magen so laut, als wäre ein brüllendes Ungeheuer in der Küche.

Wann habe ich eigentlich das letzte Mal gegessen? Gestern abend eine Tütensuppe, oder war das vorgestern? Und irgendwann unterwegs ein Croissant. Na ja, egal. Schliesslich sagt man nicht umsonst: "Sechs Bier sind wie ein kleines Steak".

Der erste Schluck schmeckte scheußlich. Doch Juliane nahm noch einen zweiten, der schon besser schmeckte. Den dritten fand sie schon lecker und trank gleich noch einen vierten. Dann ging sie wieder zu ihrem Schreibtisch.

"Schick einfach an alle Bewerbungen!"

Auf ihrem Bildschirm erschien eine neue Liste, die ihre vorformulierten Bewerbungen enthielt. Juliane musste sie nur noch überprüfen und freigeben.

Wie gut, dass ich mir wenigstens mit dem Bewerbungstext sicher bin. Schließlich hat er bei allen Textanalysen super Ergebnisse erhalten. Und mein Computer passt ihn wirklich gut auf die jeweiligen Jobangebote an.

Sie nickte eine Bewerbung nach der anderen ab.

Wenn ich mir doch wenigstens ein kleines Praktikum leisten könnte. Dann hätte ich ein bisschen Berufserfahrung. Aber ich brauch ja Geld zu Leben und für die meisten Praktikumsplätze muss man inzwischen sogar zahlen. Man hats schon schwer als kleines Licht.

Als die Liste abgearbeitet war, hatte Juliane auch die Bierflasche geleert und sie holte sich eine neue.

Jetzt lass ich mich noch ein bisschen berieseln. So schlimm ist es eigentlich gar nicht. Wenn ich nix finde, dann geh ich halt in so einen blöden Schwarm. Kann auch nicht schlimmer sein als den ganzen Tag an der Kasse zu sitzen. Wenigstens hat man dann keine Sorgen mehr außer dem Frühsport.

Im Unterhaltungsprogramm wurde ein neuer Krimi angepriesen. Juliane entschied sich dafür, ihn anzusehen und machte es sich auf ihrem Bett bequem. Nach dem Krimi wählte sie einen ScienceFiction Film und holte sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank.

Am Morgen erwachte sie halb angezogen. Ihr Kopf dröhnte ein wenig, gerade unterhalb der Schwelle zu Kopfschmerzen.

Hastig duschte Juliane und eilte zur Arbeit, die wieder genauso eintönig war wie an allen anderen Tagen. Abends kaufte sie als letzte Kundin in ihrem Supermarkt ein, denn ihr Kühlschrank war inzwischen gähnend leer. Sie bezahlte bei der automatischen Kasse, die ihr ein freundliches "Vielen Dank für Ihren Einkauf. Bitte beehren Sie uns bald wieder." entgegenrief.

Samstag war endlich ihr letzter Arbeitstag. Juliane gab sich besonders viel Mühe, die wenigen Kunden an ihrer Kasse freundlich anzulächeln.

Mein Lächeln sieht bestimmt aus wie eine Maske. Die Mundwinkel fühlen sich an wie festgefroren. Aber Kunstlächeln ist ja allgemein akzeptiert. Das wird schon keinem auffallen.

Endlich war es vorbei. Das letzte Mal hängte Juliane den Firmenkittel an den Haken, dann beeilte sie sich heimzukommen.

Zuhause wurde sie mit einer Nachricht von Susanne begrüßt.

"Hallo Juliane! Stell dir vor, ich hab den Job bei Theo bekommen. Ich bin ja sooo glücklich.". Susanne strahlte übers ganze Gesicht.

Eigentlich müsste ich sie jetzt ja anrufen und ihr ausgiebig gratulieren. Aber da breche ich dann nur in Tränen aus, weil ich selbst so elend dastehe. Am besten schick ich ihr nur eine kurze Nachricht; solange kann ich das Maskenlächeln wieder aufsetzen.

Was mach ich denn nur mit dem Abend. Eigentlich sollte ich mir mal wieder was Nettes gönnen. Zur Feier des Jobverlustes sozusagen. Ich glaub, ich streife eine Weile durch die City.

Juliane bretzelte sich samstagabendfein auf und machte sich auf den Weg. Ohne groß darüber nachgedacht zu haben, stand sie schließlich vor ihrer alten Stammdisco. Der Türsteher erkannte sie nicht mehr. Kein Wunder, solange wie ich nicht mehr hiergewesen bin.

Die laute Musik schlug ihr wie mit der Keule ins Gesicht. An der Tanzfläche blieb sie kurz stehen und sah sich das Gewühl der zappelnden Leiber an.

Früher wäre ich sofort auf die Tanzfläche gestürzt, aber das kann ich mir inzwischen ja abschminken. Und wie nervig diese Blitzlichter sind; das hält man echt nur aus, wenn man wild tanzt. Besser, ich gehe in die Cocktailbar.

In der Cocktailbar war es ruhiger. Juliane kletterte auf einen der Hocker an der Bar.

"Mix mir mal einen Swimmingpool!" bestellte sie beim Barmann.

Der sieht ja richtig schnuckelig aus, wie er so die Cocktails schüttelt. Mhmm, und der Swimmingpool schmeckt genauso lecker, wie ich ihn in Erinnerung habe. Die Musik ist ja nicht so berauschend, aber immerhin verbreitet sie gute Laune.

Während Juliane ihren Cocktail schlürfte, blickte sie su unauffällig wie möglich in der Bar umher. An den Tischen saßen etliche Pärchen, die sich verzückt in die Augen blickten. Außerdem sah sie eine Gruppe Frauen, die sich von den anderen Tischen zusätzliche Stühle geholt hatten und dicht den kleinen Tisch umlagerten. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren. Als ein besonders tanzbares Musikstück lief, stand eine der Frauen auf und stolzierte mit elegantem Hüftschwung in Richtung Tanzfläche. Eine nach der anderen folgten ihr die anderen Frauen.

Dazu würde ich ja auch liebend gern tanzen. In dem Gedränge würde mein Hinken bestimmt kaum auffallen. Aber es wäre einfach zu traurig, wenn ich dran denke, wie ich früher über die Tanzfläche geflogen bin. Ne ne, das lassen wir lieber.

"Na, so ganz alleine, schöne Frau?"

Oh, nein, jetzt kommt wieder so ein Typ mit so einer blöden Anmache an. Wird man denn nie verschont? Na ja, er sieht eigentlich ganz sympathisch aus.

"Und du, auch ganz alleine?"

"Da haben wir ja schon was gemeinsam!"

Oh je, wie dämlich Wenn dem nicht bald was Gescheiteres einfällt, kann er abstinken.

"Darf ich dir noch einen Cocktail bestellen? Schmeckt der gut?"

"Ja, der schmeckt sehr lecker."

"Ok. Herr Ober, zwei von diesen Cocktails bitte, für die junge Dame und mich!"

Immerhin ist er nicht geizig. Eigentlich sollte ich nicht mehr soviel trinken. Dieser Swimmingpool steigt ziemlich in den Kopf.

"Nun meine Holde, willst du mir nicht von dem tollen Urlaub erzählen, von dem du gerade heimgekehrt bist?" "Hä? Ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich war nicht im Urlaub.".

Tickt der nicht richtig? Ach so, der zwinkert mich so lustig an. Das soll wohl ein Scherz sein mit dem Urlaub, damit wir uns fröhliche Lügengeschichten erzählen können.

"Jetzt erinnere ich mich wieder. Ja, ich war gerade in der Karibik. Immer Sonne, Reggae, schöne Männer und gute Cocktails."

"Oh ja, die Karibik ist wunderbar."

Juliane fand Gefallen an dem Gespräch über einen imaginären Urlaub. Das ist auf alle Fälle besser als übers Wetter reden oder über den Alltagsfrust. Eigentlich eine raffinierte Anmachmethode. Kannte ich noch gar nicht.

Nach dem Swimmingpool testeten sie noch mehrere andere Cocktails. Sie suchten sich welche aus, die karibische Feelings erweckten. Der Barmann schien Spass daran zu finden, ihre Cocktails immer ausgefallener zu dekorieren.

"Jetzt musch isch abber nachhause. Isch schon spät geworn. Schau nur: die anderen schind schon alle wech."

"Recht hassu, meine Holde. Darf ich dich nachhausche geleiten? Damit kein böscher Räuber disch überfallen kann."

"Oh, mein heldenhafter Beschützer."

Der Mann ergriff Juliane am Arm und geleitete sie schwankend zum Disco-Ausgang. Vor der Tür winkte er einem Taxi.

"Wo solls denn hingehen?"

Juliane gab dem Taxifahrer ihre Adresse und lehnte sich zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. Oh je, das waren wohl zuviele Cocktails. Aber es hat Spass gemacht. Sie merkte, dass der Mann aus der Cocktailbar sich an sie schmiegte und ließ ihn gewähren.

Die Zeit verfloss, ohne dass Juliane es merkte.

Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen. Juliane öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Das Licht brannte fürchterlich und steigerte den Schmerz bis ins Unermessliche.

Oh nein, welch ein Kater. Diese blöden Cocktails. Wie spät ist es eigentlich?

Sie öffnete eines ihrer Augen einen kleinen Spalt und versuchte, einen Blick auf den Wecker zu erhaschen, bevor der Kopfschmerz wieder zu stark wurde.

Schon Mittag. Meine Güte, was hab ich mich gehen lassen. Wie konnte es nur passieren, dass ich soviel gesoffen habe? Da war dieser Typ, der mir einen nach dem anderen spendiert hat. Hat der mich nicht auch heimgebracht? Ich erinnere mich noch ans Taxi. Und was war dann? War der noch hier? Haben wir etwa?

Juliane zwang ihre Augen wieder auf und begutachtete argwöhnisch das Bett. Es war völlig zerwühlt, aber das hatte noch nichts zu sagen.

Es riecht nach Mann und nach Sex. Der war bestimmt noch hier. Und ich Esel erinnere mich nicht dran und weiss noch nicht mal seinen Namen. Ob er mir den irgendwann gesagt hat? Oh, wie peinlich. Und diese Kopfschmerzen.

Mühsam schleppte sich Juliane ins Bad, um nach Aspirin zu suchen. Mit reichlich Wasser spülte sie zwei Tabletten runter. Anschliessend duschte sie ausgiebig. Nach einer Weile klärte sich ihr Kopf und sie fühlte sich wieder halbwegs menschlich.

Mit einem Handtuch um ihr feuchtes Haar gewickelt, setzte sie sich schließlich an ihren Schreibtisch. Ihr Computer überhäufte sie mal wieder mit Absagen. Neue Jobangebote waren nicht zu finden, egal wie lange Juliane suchte. Daher entschied sie sich irgendwann fürs Filmeschauen. Sie wählte einen Horrorfilm und amüsierte sich darüber, wie merkwürdig ein Gruselfilm bei Tageslicht wirkte.

Später schaute sie die Filme, die ihr ein Zufallsgenerator oder irgendwelche Programmgestalter anboten. Irgendwann dunkelte es.

So sieht also meine Zukunft aus. Stumpfsinnig in der Bude hocken und mich berieseln lassen. Vielleicht sollte ich auch mit World 3000 anfangen, dann kann ich mir wenigstens einbilden, etwas sinnvolles zu tun zu haben. Ach, das ist mir jetzt zuviel Action. Guck ich lieber weiter Filme.

Weit nach Mitternacht brannten Juliane die Augen und der Kopfschmerz wurde wieder stärker. Sie legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen.

Das ist doch kein Leben. Wozu werden wir überhaupt geboren? Die Welt wäre viel besser dran, wenn wir nicht da wären. Dann könnten wenigstens die Tiere und Pflanzen in Frieden leben.

Die Minuten zogen sich hin wie Stunden. Immer wieder die gleichen Gedanken zogen durch Julianes Kopf.

Ach, ich kann nicht schlafen. Ob ich es mal mit einer Schlaftablette versuche?

Sie schlurfte ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Hinter den Hustentropfen fand sie eine Packung mit Schlaftabletten. Sie öffnete die Pappschachtel und ließ die Streifen rausrutschen. Die Packung war noch fast voll.

Nachdenklich hielt Juliane die Schlaftabletten in der Hand.

7

Denk nicht mal im Traum daran! Das ist nun wirklich keine Lösung. Pack den Stier bei den Hörnern!

Stimmt schon, aber es ist alles so frustrierend. Wozu lebe ich überhaupt?

Du lebst auf jeden Fall nicht, um dein Leben wegzuwerfen. Was für ein Quatsch! Was droht dir denn schon im schlimmsten Fall? Etwas weniger Platz für dein Privatleben und mehr Freizeit. Wie du an Susanne gesehen hast, kommt man da sogar wieder raus.

So ein enges Zweibettzimmer ist aber echt grässlich, vor allem, wenn so eine Transuse mit einem zusammenwohnt.

Ein Zweibettzimmer ist doch kein Grund, sich umzubringen! Du hast se wohl nicht mehr alle. Wenn hier einer ne Transuse ist, dann bist du das.

Ja, ja, ich werd mich zusammenreißen. Wenn man es so betrachtet, hast du ja sogar recht. Falls ich nichts finde, und in so einen Schwarm ziehen müsste, hätte ich immerhin mehr Freizeit. Mein bisheriges Leben als Supermarktkassiererin ist ja auch nicht gerade toll gewesen. Der Job hat mich nicht ausgefüllt und abends war ich trotzdem zu müde, um noch in Aktion zu treten für interessantere Themen.

Genau, denk lieber positiv über deine Möglichkeiten nach.

Juliane warf die Packung mit den Schlaftabletten in den Müll - die sollen mich nicht mehr in Versuchung führen - und ging zurück ins Schlafzimmer.

Schlafen konnte sie natürlich trotz ihrer guten Vorsätze nicht. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um konstruktiv über ihre Möglichkeiten nachzudenken.

Was will ich eigentlich wirklich vom Leben? Was würde ich wollen, wenn es nicht um Job oder Container gehen würde? Irgendwie habe ich das völlig aus den Augen verloren. Auch als Betriebswirtin in einem Büro arbeiten, wäre eigentlich nicht das, was ich tief drinnen vom Leben erhoffe.

Irgendwie ist etwas schiefgegangen, beim Aufbau unserer Welt. Alles ist darauf angelegt, dass man sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdient. Auf die Idee, dass es einmal nicht mehr genug Arbeit gibt, weil alles von Maschinen erledigt wird, ist keiner gekommen. Und jetzt haben wir den Salat: viel zuviel Menschen für viel zuwenig Arbeit. Worauf könnte man seinen Lebensunterhalt denn sonst aufbauen, wenn man kein Vermögen hat, das sich von selbst vermehrt?

Genug zu essen ist schließlich für alle da - das wird ja auch von fleißigen Maschinen produziert. Und seit sich die neuen Energieformen eingespielt haben, braucht man im Winter auch nicht mehr zu frieren. Aber die meisten Menschen sind inzwischen wie unnötige Überbleibsel; sie werden einfach nicht mehr gebraucht.

Muss man gebraucht werden, um ein lebenswertes Leben zu führen?

Mist: meine Unterarmnarbe juckt schon wieder. Bestimmt bilde ich mir das nur ein; schliesslich sieht man kaum noch eine Narbe und ich habe das Implantat jetzt seit Studienbeginn. Da dürfte ich schon lange nichts mehr spüren. Das Material soll ja angeblich auch sehr verträglich sein. Aber immer wieder juckt es mich.

Bestimmt piesackt mich dieses Ding immer wieder, weil ich es einfach nicht mag, mit einem implantierten Ausweis rumzulaufen. Immerhin ist in meinem ja nur meine Bürgernummer gespeichert. Bei den armen Schwarmbewohnern ist deren gesamte Vita gespeichert und abrufbar; da schauderts mich. Na ja, solange man nicht untertauchen will, sind die eingebauten RFIDs eigentlich sehr nützlich. Man spart sich schließlich einen Haufen Formalitäten. Aber ich mag es trotzdem nicht!

Tja, und was mach ich jetzt aus meiner verkorksten Situation? Erstmal weiter Job suchen; das ist klar. Vielleicht auch auf ungewöhnlichen Wegen. Und wenns nicht klappt, dann sollte ich mir ein Hobby ausdenken, das einen glücklich hält und das man auch im Container ausleben kann. Was könnte da wohl geeignet sein? Gedicht schreiben, wie Susanne so entrüstet von sich gewiesen hat? Ne, das wäre wohl nix für mich. Schon eher spannende Geschichten ausdenken. Oder vielleicht irgendein interessantes Fachgebiet raussuchen, sich informieren und die Infos leicht verständlich zusammenfassen - wozu gibt es überall kostenlosen Speicherplatz im Netz? Oder ich stürz mich in eine Alternativwelt, wie World 3000 oder vielleicht was Mittelalterliches?

Bei ihren Überlegungen über zukünftige Hobbies driftete Juliane allmählich in den Schlaf. Sie träumte davon, wie sie als Schwertkämpferin gefährliche Monster bekämpfte und nach ihren Siegen Gedichte deklamierte.

Am nächsten Tag befahl sie ihrem Computer, ab sofort an alle passenden Jobangebote automatisch Bewerbungen zu schreiben und ihr die Absagen zu ersparen. Natürlich würden alle Bewerbungen und Ablehungen gespeichert, sodass Juliane sie überprüfen konnte, sobald sie Lust dazu hatte. Aber der tägliche Frust, von vielen Firmen abgelehnt zu werden, würde ihr erspart bleiben.

Stattdessen wollte sich Juliane lieber in der Stadt umsehen, ob sie dort zufällig über eine Arbeitsstelle stolpern würde.

Im Vergleich zu früher war die Jobsuche vor Ort natürlich sehr viel schwieriger geworden. Schilder mit der Aufschrift "Aushilfe gesucht" sah man fast nie mehr. Bei unaufgeforderten Anfragen nach einem Arbeitsplatz konnte man wegen Belästigung angezeigt werden. Solche Anzeigen waren meistens teuer - zu teuer für Julianes schmales Budget.

Die einzige Chance bestand darin, als Kunde eines Geschäftes dezent anzufragen. Wenn man etwas gekauft hatte, sahen die Geschäftsinhaber meistens davon ab, einen anzuzeigen. Aber auch für wahllose Einkäufe hatte Juliane nicht genug Geld. Sie musste ihre Jobbeschaffung vor Ort also sehr sorgsam angehen.

Mit der U-Bahn fuhr Juliane ins Stadtzentrum. Die Bewegungsfreiheit wäre als Schwarmbewohner schon enorm eingeschränkt. Das würde mir gar nicht gefallen.

Die Innenstadt erschien Juliane noch leerer als bei bei ihrem letzten Besuch. Vom früheren Gedränge war keine Spur mehr. Sogar die Ramschläden waren großteils wieder verschwunden, weil die Armen ihre Siedlungen nicht verlassen durften. In der Nähe der U-Bahnstation sah Juliane einige neu entstandene Geschäfte, die jedoch eher für Leute mit dickem Geldbeutel geeignet schienen. In den Schaufenstern hingen keine Preise; wahrscheinlich waren die Produkte zu teuer als dass man ihren Preis öffentlich nennen könnte. Oder die erwünschte Kundschaft war viel zu nobel, um auf Preise zu achten.

In so einen Laden brauche ich mich gar nicht rein wagen. Die rufen sofort nach der Polizei, wenn die mich sehen. Ohne Pelzmantel kommt man bei denen bestimmt nicht durch die Gesichtkontrolle. Überhaupt ist die Pelzmanteldichte hier enorm. Gibt es denn überhaupt keine Mittelschichtler mehr, die ihre Einkäufe erledigen? Na ja, ein paar normale Leute kann man auch noch sehen, aber die gehen alle nicht in die neuen Geschäfte. Einfach mal weitergehen.

Hinter den Nobelgeschäften sah Juliane den Eingang zu einer Mall und dahinter starrten die meisten Schaufenster blind ins Leere. "Zu vermieten" stand auf den staubigen Glasflächen. Hier und da gab es dazwischen noch geöffnete Geschäfte, die zwischen den aufgegebenen Läden ziemlich verloren wirkten.

Ein Kleidergeschäft hatte sich die ganzen Jahre über an der gleichen Stelle gehalten, wohl weil es preiswerte Szeneklamotten anbot und immer den aktuellen Geschmack traf. Doch jetzt stand es zwischen ausgestorbenen Läden und wirkte wie ein letztes Überbleibsel des Massenkonsums. Auf den Scheiben prangten Schilder mit Aufschrift: "Sonderverkauf wegen Umzug".

Aha, die wollen bestimmt in eine bessere Umgebung ziehen, weil es hier so trostlos wirkt. Mal sehen, wie sich der Laden entwickelt hat. Ich bräuchte sowieso eine schicke Bluse für eventuelle Vorstellungsgespräche.

Beim Betreten des Ladens blinkte ein Lämpchen an der Seite der Eingangstür auf. Juliane war registriert worden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten achtete Juliane oft auf die dezenten Anzeichen der allgegenwärtigen Überwachung. Da die ganzen Chips und IDs das Leben bequemer machten, akzeptierten die meisten Menschen sie unkritisch und machten sich keine Gedanken über eventuelle Nachteile. Aber Juliane ärgerte sich über den "großen Bruder", der sie auf Schritt und Tritt begleitete. Wahrscheinlich juckte ihre Implantatsnarbe deshalb manchmal.

Ein Schilderwald wies Juliane den Weg zur Blusenabteilung. Dort angekommen wurde Juliane von der Vielfalt der Blusen fast erschlagen. Am ersten der langen Kleiderständer suchte sie nach ihrer Größe und arbeitete sich dann durch das Angebot.

Hier finde ich ja nie was; soviele Blusen wie es hier gibt. Vor lauter Fülle verliert man ja völlig den Überblick. Huch, was ist denn das für eine Schaufensterpuppe?

Ein Wesen, das aussah wie eine Schaufensterpuppe, schwebte auf Juliane zu.

"Guten Tag. Darf ich Ihnen behilflich sein?", sagte die Schaufensterpuppe mit samtener Stimme. Dabei bewegte sie sogar den Mund, sodass es aussah, als hätte sie wirklich gesprochen.

"Ja gerne. Ich suche eine schicke aber dezente Bluse, die für Vorstellungsgespräche geeignet ist."

"Ok, verstehe: für Vorstellungsgespräche geeignet. In welcher Farbe?"

"Bevorzugt dunkel. Blau oder schwarz."

"Gut, also eine dunkle dezente Bluse", die Puppe maß Juliane mit einem Blick von oben bis unten. "Größe 38 nehme ich an."

"Äh, ja, stimmt."

"Ok, einen Moment. Das werden wir gleich haben."

Die Schaufensterpuppe glitt zügig auf den nächsten Kleiderständer zu. Juliane konnte jetzt genauer erkennen, dass die Puppe nicht schwebte, sondern rollte, fast als hätte sie Inlineskates untergeschnallt, aber ohne die typischen Beinbewegungen. Bis auf die Füße sah die Puppe sehr damenhaft aus, doch die Füße wirkten etwas plump; wahrscheinlich, damit sie genug Standfläche hatte.

Nach kurzer Zeit kam die Puppe mit drei Blusen im Arm zurück. Juliane fand die Auswahl durchaus passend, zumindest passend zu ihrer Wunschbeschreibung.

"Was halten Sie von diesen hier?"

"Die sieht brauchbar aus; die werde ich mal anprobieren. Aber ansonsten hätte ich lieber was ohne Rüschen."

"Ohne Rüschen, ok - wird gemacht. Die Umkleidekabinen finden sie übrigens dort", die Puppe deutete auf eine Reihe von stoffverkleideten Kabinen.

Dann fuhr sie wieder davon, bis zu einem Treppenabsatz. Dort blieb sie kurz stehen, es ruckte etwas und anschließend erstieg die Puppe die Treppe. Das wirkte zwar nicht gerade elegant, aber immerhin flüssig. Auf dem erhöhten Absatz angekommen rollte die Puppe wieder weiter.

Juliane war vom Anblick der Roboterpuppe so fasziniert, dass sie fast vergessen hatte, zur Umkleidekabine zu gehen. Doch das holte sie jetzt nach, als sie sah, dass die Puppe sich wieder der Blusensuche zuwandte. Juliane war kaum bei den Umkleidekabinen angekommen, da kam die Puppe auch schon zurück mit reichlich Blusenauswahl im Arm.

"Hier, diese Bluse dürfte Ihnen gefallen", die Puppe hielt eine ausnehmend elegante aber schlichte Bluse in die Höhe.

"Oh ja, die sieht gut aus. Die werde ich gleich als erstes ausprobieren."

Juliane nahm die Bluse entgegen und verschwand in der Umkleidekabine. Die Bluse passte perfekt und sah angezogen genauso gut aus, wie im Arm der Roboterpuppe. Juliane verließ die Kabine, um sich in einem größeren Spiegel anzuschauen.

"Wunderbar. Die Bluse sitzt hervorragend und der Kragen schmeichelt Ihrem Halsansatz."

"Äh, der Kragen tut was?" Juliane betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass der Kragen tatsächlich dem Halsansatz schmeichelte. Wie hatte die Puppe das nur erkennen können?

"Ganz entzückend. Mit dieser Bluse werden Sie die gewünschte Stelle bestimmt bekommen."

"Danke, ich nehme die Bluse. Wo kann ich bezahlen?"

"Ich kann sie Ihnen hier direkt freischalten. Aber wenn Sie unser Haus verlassen, würde sie sowieso automatisch abgebucht. Sie haben also die Wahl."

"Dann schalten Sie sie mir bitte gleich frei."

"Ok, die Bluse ist jetzt auf Sie registriert. Der Betrag wurde von Ihrer Karte abgebucht. Vielen Dank für ihr Vertrauen."

Juliane steckte die Bluse sorgfältig in ihre Tasche. Die brauchen hier bestimmt keine Verkäuferinnen. Die Roboterpuppe ist ja der reinste Knüller. Sonst sehen diese Maschinen immer so unpersönlich aus. Aber diese hier hat sogar einen sympathischen Augenaufschlag. Geradezu unheimlich, was inzwischen alles möglich ist.

In anderen Läden war es ähnlich. Meistens sah Juliane überhaupt keinen Menschen mehr dort arbeiten. In einer kleinen Parfümerie fand Juliane eine lebende Frau, die beriet. Der Kassiervorgang verlief natürlich vollautomatisch, wie überall. Auf dem Beratungstresen stand ein Schild mit der Aufschrift "Wir vergeben keine Jobs!" Damit war die Sache klar und Juliane zog unverrichteter Dinge ab.

Tag für Tag graste Juliane andere Ecken des städtischen Geschäftslebens ab, aber nirgendwo gab es auch nur einen Funken Hoffnung auf Arbeit.

Nach zwei Wochen kam sie abends wie immer müde nach Hause. Dort empfing sie ihr Computer mit einer Nachricht.

"Ein Callcenter will Stimmproben von dir. Du sollst Texte ablesen."