»Was soll das heißen, du kannst nicht?«
»Da ist eine Gruppe von Mädchen, die für mich nach Büroschluß in La Cantina eine Cocktail-Party geben.«
Das gab mir den Rest. Ich knallte den Hörer hin. Alle in diesem gottbeschissenen Bau hatten etwas zu tun, nur ich nicht. Jetzt begriff ich, was es bedeutete, ein »gemachter« Mann zu sein - daß es für einen nichts mehr zu machen gab.
Ich drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Besorgen Sie mir sofort ein Auto.«
»Ja, Mr. Brendan. Wollen Sie, daß Tony Sie fährt?«
»Ich will, daß niemand mich fährt! Ich werde selbst fahren.«
Ihre Verblüffung war unverkennbar. »Sie werden selbst fahren?«
»Sie haben doch gehört!« knurrte ich.
Es war ein Eldo-Cabriolet, das für mich bereitstand. Ich ließ das Verdeck herunter. Zwanzig Minuten später strebte ich vom Sunset Boulevard in Richtung Strand. Unterwegs kaufte ich noch eine Tragtasche mit einem Brathähnchen und ein SechserPack Bier. Dann fuhr ich weiter, den Pacific Coast Highway entlang, an Paradise Cove vorbei: zu einem kleinen
Strandstück, das mir als wenig benutzt in Erinnerung war.
Als ich dort ankam, war es etwa halb zwei, und die Sonne stand hoch am Himmel. Ich parkte auf dem Felsen, nahm die
Tasche mit dem Hähnchen und das Sechserpack und trottete hinab in den Sand. Schließlich fand ich eine Stelle, die wenigstens teilweise im Schatten lag. Ich zog mein Hemd aus, breitete es auf dem Boden aus.
Bis auf einen Surfer, der immer wieder versuchte, eine große Welle zu erwischen, war ich hier allein. Ich stieg aus meinen Hosen und behielt nur meinen schwarzen Slip an. Dann setzte ich mich, lehnte mich mit dem Rücken an ein Felsstück und öffnete eine Bierdose. Kühl rann mir das prachtvolle Gesöff in die Kehle, ein herrliches Gefühl. Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und beobachtete in aller Muße den Surfer. Er ritt auf einem Wellenkamm. Doch die Woge besaß nicht genügend Kraft, um ihn zu tragen, und er versank im Wasser. Einen Augenblick später tauchte er mit seinem Surfboard wieder empor und paddelte abermals hinaus, um eine neue Welle abzupassen.
Möwen kreisten und stürzten sich auf Fische hinab, Strandläufer jagten ihren eigenen Schatten nach. Ich holte meine Sonnenbrille hervor und setzte sie auf, das Licht war ganz einfach zu grell. Diesmal hatte der Surfer eine Prachtwelle erwischt. Ich folgte ihm mit den Augen. Fast bis zum trockenen Sand glitt er, dann ging sein Brett ein wenig unter, und er stieg davon ab wie von einem Tretroller. Ob ich wohl noch so etwas konnte? fragte ich mich unwillkürlich. Als Kind hatte ich oft am Strand gestanden und Ausschau gehalten nach einer, nein, nach der großen Welle.
»Nur noch eine Welle, Onkel John«, bat ich. »Bitte.«
Er zögerte, nickte dann. »Aber wirklich nur noch eine. Danach geht’s nach Hause. Der Strand ist leer, und deine Mutter wird anfangen, sich Sorgen um dich zu machen.«
Ich lief ins Wasser, in den Händen mein Kinder-Surfboard. Ich schwamm so weit hinaus, wie ich mich traute, und wartete auf das, was ich für die große Welle hielt. Dann turnte ich mit hämmerndem Herzen auf das Brett und stand auf. Es war ein herrlicher Roller, und während ich hochoben zum Strand ritt, schrie ich, was meine siebenjährige Lunge nur hergab.
Als ich aus dem Wasser kam, wartete Onkel John mit einem großen Badetuch auf mich.
»Zieh dir die Badehose aus, damit ich dich abtrocknen kann«, sagte er.
Er kniete vor mir und frottierte mich. Plötzlich erklang hinter mir die Stimme meines Vaters. »Kannst du deine Finger nicht mal von deinem eigenen Neffen lassen, du perverses Schwein?«
Ich sah, wie sich die Augen meines Onkels hinter den randlosen Brillengläsern in Eis verwandelten. Langsam erhob er sich. Und dann bewegte er sich auf einmal so schnell, daß ich überhaupt nicht sah, was passierte. Als ich mich umdrehte, lag mein Vater lang auf dem Boden und blutete aus Mund und Nase. Mit geballten Fäusten stand mein Onkel über ihm.
Ich rannte zu meinem Vater, kniete neben ihm nieder. Schwach bewegte er seinen Kopf und versuchte zu sprechen. Zwischen seinen Lippen sah ich einen ausgeschlagenen Zahn, in seinen Augen stand Entsetzen.
In wilder Wut schrie ich meinen Onkel an. »Wage ja nicht, meinen Vater noch einmal zu schlagen, du gemeiner, schrecklicher Kerl!«
Mein Onkel starrte wortlos, mit traurigem Gesichtsausdruck auf uns nieder.
Ich versuchte, den Kopf meines Vaters anzuheben. »Steh auf, Daddy, steh auf!«
Mühsam richtete mein Vater seinen Oberkörper auf, saß jetzt wenigstens. Als ich aufschaute, sah ich Onkel John den Strand hinuntergehen, zu seinem Auto. Danach ließ er sich sehr lange nicht mehr bei uns sehen. Und als er schließlich wieder kam, gab es sie nicht mehr, die enge Bindung, die einmal zwischen uns existiert hatte.
Als ich den Bungalow beim Hotel betrat, war es schon spät. Ich war am Strand ins Dösen gekommen, und danach war ich so verspannt, daß ich mich in einem dümmlichen Western abzureagieren versuchte. Eileen schlief schon. Ich ging ins Badezimmer, um mich zu duschen.
Wenig später sah ich durch das Glas der Duschkabine ihre Silhouette. »Alles in Ordnung?« fragte sie durch das Rauschen des Wassers.
»Ja.«
»Deine Mutter war um dich besorgt.«
Ich hatte völlig vergessen, daß sie mich zum Abendessen erwartet hatte.
»Und ich auch«, fügte sie hinzu.
»Tut mir leid«, versicherte ich, während ich die Kabine verließ. Sie gab mir ein Handtuch, und ich begann, mich abzutrocknen.
»Ich mußte ihr versprechen, daß du sie am Vormittag anrufst.«
»Okay, du kannst dich darauf verlassen.«
Sie ging zu unserem Schlafzimmer zurück, und als ich ein paar Minuten später ins Bett kletterte, drängte sie sich dicht an mich. Ich zog ihren Kopf auf meine Schulter, spürte dann die Tränen auf ihren Wangen.
»He, warum weinst du denn?«
»Ich liebe dich. Und ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen - in einer solchen inneren Verfassung, meine ich. Du hast doch alles, was du dir je gewünscht hast. Ich verstehe einfach nicht, weshalb du unglücklich bist.«
Ich küßte sie und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Doch es gab nichts, was ich hätte sagen können. Eine Erklärung hatte ich auch nicht.
Ihre Finger glitten sacht über mein Gesicht. »Armer Gareth«, flüsterte sie mit schläfriger Zärtlichkeit. »So viele Kriege.«
Es gibt einen Unterschied zwischen altem Geld und neuem Geld. Neues Geld kauft Antiquitäten und restauriert sie zu ihrem jungfräulichen Originalzustand, so daß es einen kaum noch verwundern würde, wenn Ludwig XV. leibhaftig erschiene, um seinen königlichen Arsch auf einem Sofa zu parken. Auch altes Geld kauft Antiquitäten, läßt sie aber, wie sie sind. Unpoliert bleibt das Holz, verblichen der Stoff, und die Polsterung ist so klumpig, daß man das Gefühl hat, auf einem Haufen Pflastersteine zu sitzen.
Martin Courtland war altes Geld. Doch als er jetzt, in seinem Büro in einem der oberen Stockwerke von Wall Street Nr. 70 hinter seinem Schreibtisch saß, brauchte er sich wegen des bewußten Pflasterstein-Gefühls keine Sorgen zu machen. Sein Schreibtischsessel war das einzige moderne Möbelstück im Raum. Lächelnd beobachtete er, wie ich, ganz vorn auf der Kante meines Stuhls sitzend, die letzten Schriftstücke unterzeichnete. Dann drückte er auf einen Knopf und wartete, bis ein Angestellter die unterschriebenen Papiere holte.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte uns an. »Damit wäre die Angelegenheit endgültig in die Wege geleitet«, sagte er zufrieden. »Von jetzt an läuft alles automatisch.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und schaute zu Eileen rüber. Sie schien auch nicht bequemer zu sitzen. »Was bedeutet das?« fragte ich.
»Ihre Unterschrift auf diesen Papieren beauftragt die Finanzkommission, das Geld aus dem Aktienverkauf an Ihre Firma zu überweisen«, erklärte er. »Das war auch der Grund, weshalb ich Sie bat, möglichst frühzeitig nach New York zu kommen - damit wir die Angelegenheit aus dem Weg schaffen konnten. Wenn Sie also übermorgen beim Essen der
Vermögensberater erscheinen, wissen Sie, daß Sie das Geld in der Tasche haben. Und daran kann auch niemand mehr etwas ändern, ausgenommen Sie selbst.«
»Ich?«
Er nickte. »Sie sind der einzige, in dessen Macht es steht, die Anweisung zu widerrufen.« Er erhob sich. »Kann ich irgend etwas tun, um Ihren Aufenthalt in unserer Stadt angenehmer zu gestalten?«
Die Unterredung war offenkundig zu Ende. Und es kam mir so vor, als seien wir für Courtland bereits so etwas wie die Zeitung von gestern: nicht mehr unbedingt brandaktuell.
»Danke«, sagte ich, »aber es fehlt uns hier an nichts.«
»Tut mir leid, daß wir nicht zusammen essen können«, versicherte er, als er uns zur Tür seines Büros begleitete.
Unten auf der Straße wartete die Limousine auf uns. Wir stiegen ein, und das Auto fuhr los, noch bevor wir dem Fahrer gesagt hatten, wo wir hinwollten.
Auf den Gehsteigen drängten sich Menschenmassen. Vieles wirkte so ganz anders als in Kalifornien. Hier schienen immer alle in Bewegung zu sein. Es war ein heller, sonniger Tag, doch durch die hohen Gebäude ringsum hatte man eher das Gefühl, sich in einer Art Dämmerlicht zu befinden. »Fun City«, sagte ich. »The Big Apple. Was meinst du? Wollen wir nicht ausgehen und ordentlich einen draufmachen?«
»Können wir nicht zuerst zum Hotel zurückfahren und etwas schlafen?« fragte Eileen klagend.
Am Morgen um Viertel vor sieben waren wir auf dem Flughafen gelandet. Da wir um neun Uhr in Wall Street sein mußten, blieb gerade noch genügend Zeit, um zum Hotel zu fahren, sich zu duschen und umzuziehen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Jetzt war es zehn. Ein oder zwei Stunden Schlaf vor dem Lunch konnten wirklich nicht schaden.
Ich ließ die Scheibe runter, die uns vom Fahrer trennte. »Zurück zum Hotel, bitte.«
Seine Antwort war typisch New York. »Hab ich mir schon gedacht«, erklärte er. »Wir sind bereits auf dem Weg.«
Ich schien gerade erst die Augen zugemacht zu haben, als mir das Telefon in die Ohren zu schrillen begann. Ich streckte die Hand nach dem Hörer und hob ab. »Ja?«
»Gareth?«
»Ja.«
»Martin Courtland am Apparat.« Seine Stimme knisterte wie vor elektrischer Spannung. »Haben Sie um zwölf die TV-Nachrichten gesehen?«
»Ich habe geschlafen«, sagte ich.
»In der Halle steht ein neuer Fernschreiber«, erklärte er. »Sehen Sie sich mal an, was es da gibt. Und rufen Sie dann zurück. «
Abrupt legte er auf. Einen Moment starrte ich grübelnd auf den Hörer in meiner Hand. Dann blickte ich zu Eileen. Sie hatte sich nicht bewegt. Leise stand ich auf, zog mich an und fuhr nach unten. Ich verließ den Aufzug und ging zum Fernschreiber beim Park-Avenue-Eingang.
Fast unbeachtet ratterte der Apparat vor sich hin. Von den Leuten, die geschäftig hin und her eilten, schenkte ihm kaum jemand Beachtung. Die Menschen waren offenbar weit mehr an ihren eigenen Welten interessiert als an dem, was in der Welt draußen geschah.
Im Augenblick spie der Apparat irgendwelche Ziffern und Zahlen aus. Ich griff nach dem langen Streifen, der vom hinteren Teil herabbaumelte, und begann zu lesen. Es traf mich mit der Gewalt eines Dampfhammers.
Von UPI + New York + 12:00
Beamte des Finanzministeriums gaben gerade Aktion gegen
illegalen Rauschgifthandel bekannt. Womöglich die
erfolgreichste in der Geschichte dieses Ministeriums. In einer großangelegten kriegsähnlichen Operation wurden in drei Großstädten der Vereinigten Staaten sowie in zwei anderen Ländern Razzien durchgeführt. Das FBI und die Rauschgiftabteilung des Finanzministeriums hatten den Zeitpunkt für die Razzien in Zusammenarbeit mit Scotland Yard und der neu gebildeten Operation-Condor-Gruppe der nationalen mexikanischen Polizei für elf Uhr festgesetzt. Die Razzien wurden durchgeführt in den Lifestyle Clubs in New York, Chicago, Los Angeles und London, im Lifestyle Hotel in Mazatlán, Mexiko, in der sogenannten Klause, einer religiösen Mission in Mazatlán, und auf dem Privatbesitz von Señor Esteban Carillo, einem Cousin des Gouverneurs von Mazatlán. Die Lifestyle Clubs und das Lifestyle Hotel sind Eigentum der Gareth Brendan Publications, Verleger von Macho und anderen Magazinen. Zahlreiche Verhaftungen sind erfolgt, und weitere werden erwartet. Die beschlagnahmten Drogen sind große Mengen von Heroin, Kokain, Marihuana, Amphetaminen und Meskalin mit einem Straßenverkaufswert von zweihundert bis dreihundert Millionen Dollar. In allen betreffenden Großstädten hat die Polizei die Lifestyle Clubs zwecks weiterer Ermittlungen schließen lassen.
+ + +
Fortsetzung + + + Mexiko City
Die mexikanische Polizei meldet drei Tote und zwei Verwundete bei Schießerei während Rauschgiftrazzia. Ein erbittertes Feuergefecht, bei dem über 200 Schüsse abgegeben wurden, endete mit dem Tod von zwei Privatwächtern des Señor Carillo und von Bruder Jonathan, einem Missionar in der Klause. Zwei mexikanische Polizisten wurden verwundet. Bruder Jonathan konnte identifiziert werden als John Singer, ehemals Sergeant bei der Polizei von Los Angeles. Singer quittierte den Dienst, als amtliche Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden wegen des Verdachts der Erpressung von kleinen Rauschgifthändlern. Die Ermittlungen wurden später eingestellt.
+ + +
Fortsetzung + + + New York und Washington Beamte des Justizministeriums versprechen baldige Anklageerhebung gegen die Manager der Lifestyle Clubs sowie weitere bei den Rauschgiftrazzien verhaftete Personen. Ein hoher Ministerialbeamter vertrat die Auffassung, daß der sogenannten Mexican Connection vielleicht endgültig das Rückgrat gebrochen worden sei. Die Mexican Connection ersetzte die French Connection, die vor über drei Jahren zerschlagen worden war durch Blitzaktionen in Frankreich, der Hauptnachschubbasis für den Drogenschmuggel in die Vereinigten Staaten.
+ + +
Fortsetzung + + + New York
Gareth Brendan Publications Ltd., Eigentümer der Lifestyle Clubs und des Lifestyle Hotels, die nach großangelegten Rauschgiftrazzien geschlossen wurden, hat mit einer der erfolgreichsten Anleihen in jüngerer Zeit für 100 Millionen Dollar zwei Millionen Aktien abgesetzt. Mr. Brendan, der noch drei Millionen Aktien der Gesellschaft in seinem persönlichen Besitz hat, ist Präsident und Hauptgeschäftsführer der Gesellschaft. Die Aktien werden am kommenden Montag zum ersten Mal an der Börse notiert.
Ich riß das Papier mit den Meldungen aus dem Fernschreiber und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hinauf. Als ich die Suite betrat, sah ich, daß Eileen inzwischen aufgewacht war. »Was ist bloß los?« fragte sie. »Das Telefon klingelt ja wie verrückt. Alle Welt scheint dich unbedingt sprechen zu wollen.«
Ich reichte ihr die Meldungen aus dem Fernschreiber. »Lies das.«
»Verita möchte, daß du sofort zurückrufst«, sagte sie. »Es ist dringend.«
Ich nickte, nahm den Hörer ab, war wenig später mit Verita verbunden. »Gareth«, sagte ich.
»Du weißt, was passiert ist?« Zum ersten Mal seit langer Zeit schlug ihr Akzent wieder durch.
»Ja. Ich hab’s gerade herausgefunden.«
»Dann komm schnell zurück. Hier ist der Teufel los!«
»Ich komme mit der nächsten Maschine.« Ich überlegte einen Augenblick. Bevor er Richter geworden war, hatte ihr Verlobter zu den besten Strafverteidigern in Kalifornien gehört. »Dein Freund, der Richter - meinst du, es ließe sich machen, daß er zur Stelle ist, wenn ich auf dem Flughafen ankomme?« fragte ich.
»Ja, bin ich eigentlich sicher.«
»Gut. Sobald ich Plätze reserviert habe, gebe ich dir die Flugnummer durch.« Unwillkürlich klang in meiner Stimme Bitterkeit durch. »Julio hat uns von oben bis unten voll Scheiße geschmiert.«
»Du hast das letzte noch nicht gehört?« fragte sie überrascht.
Ich steckte bis zum Hals in lauter Neuigkeiten. »Was denn? Wovon sprichst du?«
»Julio wurde vor knapp einer Stunde von zwei Männern in einem Auto mit einer Maschinenpistole erschossen. Er kam gerade aus seiner Garage. Polizisten waren bereits auf dem
Weg, um ihn zu verhaften, und sie meinen, daß man ihn erschossen hat, damit er nicht reden konnte.«
»Oh, Scheiße.« Das deutete darauf hin, daß Julio keineswegs der Einzelgänger und Alleinherrscher gewesen war, wie er seine Chicanos glauben gemacht hatte. Irgendwie mußte da eine Verbindung zu den Spaghetti bestanden haben. Denn dies war Mord nach der Gangland-Methode: nach der Art der großen Gangstersyndikate. »Okay. Ich rufe dich in einigen Minuten zurück, gleich, wenn ich die Reservierungsbestätigung habe.«
Ich legte auf. Doch kaum lag der Hörer auf der Gabel, schrillte der Apparat auch schon wieder. Ich hob ab, legte sofort wieder auf und rief die Hotelvermittlung an. »Alle Anrufe für ein-, zwei- und dreiundzwanzig bis auf weiteres zurückhalten. Ich möchte mit niemandem reden.«
Sobald die Leitung wieder frei war, rief ich Courtland an. Während ich noch darauf wartete, daß er sich meldete, sagte ich zu Eileen, sie solle über den zweiten Apparat in der nächsten Maschine nach Los Angeles Plätze für uns buchen und dann Verita Bescheid geben.
»Wie kann so etwas geschehen?« fragte Courtland.
»Das weiß ich nicht. Aber ich fliege sofort zur Westküste, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Wenn die Angelegenheit nicht rechtzeitig geklärt ist - das heißt, noch bevor Ihre Aktien am Montag an der Börse notiert werden, bleibt dem Börsenausschuß gar nichts anderes übrig, als sie zu sperren.«
»Bedeutet das womöglich, daß wir das Geld zurückgeben müßten?« fragte ich.
Die Vorstellung schien ihn zu entsetzen. »So handhaben wir die Dinge nicht. Wir - äh - stehen zu unseren V erpflichtungen.«
Wobei die siebzehn Millionen, die ihr bei dem Geschäft eingesackt habt, euch die schwere Bürde dieser Verpflichtung wohl ein wenig erleichtern, dachte ich, hielt jedoch den Mund.
»Aber es ist alles so überaus peinlich«, fügte er hinzu.
»Ich werde Sie auf dem laufenden halten«, sagte ich und legte auf.
Eileen kam ins Zimmer zurück. »Eine Maschine geht um drei und eine um fünf. Aber die um drei schaffen wir nie. Wir müssen ja noch packen.«
»Scheiß aufs Packen«, sagte ich. »Wir schaffen die um drei.«
Die voraussichtliche Ankunftszeit in Los Angeles war 17.52. Wegen schlechter Wetterlage landeten wir jedoch erst um 18.41 Uhr.
In der Wartehalle lauerte eine Meute von Reportern auf mich, von Presse, Funk und Fernsehen; außerdem noch zwei Beamte mit gerichtlichen Vorladungen. Die eine vor eine Jury in Los Angeles, die andere vor den Kongreßausschuß zur Bekämpfung des organisierten Verbrechertums in Washington. Beide Vorladungen waren für denselben Tag und fast für dieselbe Stunde.
Unmittelbar hinter den beiden Beamten entdeckte ich Richter Alfonso Moreno. Veritas Verlobter war ein hagerer, hochgewachsener Mexikaner mit eckigem Kinn und sandbraunem Haar.
Er verlor keine Zeit. »Bevor wir nicht miteinander gesprochen haben, rate ich, auf jede Frage mit >kein Kommentar< zu antworten.«
Ich sah ihn prüfend an. »Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern eine kurze Mitteilung verlesen, die ich im Flugzeug aufgeschrieben habe.«
»Lassen Sie mal sehen.« Er nahm mir den Zettel aus der Hand, las aufmerksam, gab ihn mir zurück. »Okay«, sagte er. »Aber auch kein Wort darüber hinaus.«
»Danke.«
»Geben Sie mir die Vorladungen«, sagte er.
Er steckte sie in die Innentasche seines Jacketts, drehte sich dann zu den Reportern herum und hob die Hände hoch. Sofort verstummten sie. »Mr. Brendan möchte eine Erklärung abgeben.«
Ich las vom Zettel ab. »Ich bin nach Los Angeles zurückgekehrt, um den Behörden bei ihren Ermittlungen in dieser Affäre zu helfen und beizustehen. Es ist meine feste Überzeugung, daß man nach Abschluß der Ermittlungen feststellen wird, daß weder ein leitender Angestellter der Firma noch die Firma selbst in die Angelegenheit verwickelt war.«
Sofort erhob sich Stimmengewirr, prasselten Fragen. Die Stimme eines Reporters übertönte die der anderen: »Ist Ihnen bekannt, daß man in Nevada die Spiel-Lizenz für Ihr geplantes Hotel und Kasino vorläufig zurückgezogen hat?«
Meine Antwort erfolgte prompt. »Kein Kommentar.«
Ein anderer Reporter: »Stimmt es, daß Sie im Mazatlan Lifestyle Hotel mehrere Tage in Gesellschaft von Julio Vasquez verbrachten - demselben Julio Vasquez, der heute früh erschossen wurde?«
»Kein Kommentar.«
Der Richter nahm mich beim Arm. Ich meinerseits hielt Eileens Hand fest. Gemeinsam begannen wir, uns durch die Masse der Reporter hindurchzudrängen. Auf jede der mir zugerufenen Fragen gab ich meine Standardantwort: »Kein Kommentar.«
Endlich erreichten wir die vor dem Gebäude wartende Limousine und stiegen ein. Kaum hatte sich die Tür hinter uns geschlossen, fuhr Tony auch schon los. »Wohin, Boß?« fragte er, während er das Auto in den Verkehrsstrom lenkte.
»Verita meinte, wir sollten zu ihr in die Wohnung kommen«, sagte der Richter. »Dort könnten wir in Ruhe miteinander sprechen.«
»Okay.« Ich nannte Tony die Adresse und wandte mich wieder an den Richter. »Verita wollte, daß ich so schnell wie möglich zurückkomme. Hatte sie irgendeinen besonderen Grund?«
»Das hat sie mir nicht anvertraut. Sie sagte lediglich, sie wollte zuerst mit Ihnen reden.«
Doch dazu kam es nicht mehr. Denn als wir das hohe, neuerbaute Appartement-Gebäude am Wilshire Boulevard erreichten, in das Verita gezogen war, um in der Nähe des Büros zu sein, standen dort bereits der Ambulanzwagen und vier Polizeiautos. Halb noch auf dem Gehsteig, halb auf dem Fahrdamm lag unter einer darübergebreiteten Decke ein schlaffer Körper.
Noch bevor die Limousine hielt, waren der Richter und ich hinausgesprungen. Durch die Umstehenden drängten wir zu den Polizeibeamten. Ein Junge mit einem kleinen Hund in den Armen sprach zu einem Uniformierten, der sich Notizen machte.
»Ich machte mit Schnapsi gerade den Abendspaziergang, als ich plötzlich den Schrei hörte. Ich schaute hoch und sah, wie diese Frau dort oben im fünfzehnten Stock über das Geländer fiel und in meine Richtung stürzte.«
»Hast du dort oben sonst noch irgend jemand gesehen?« fragte der Polizist.
»Nein«, erwiderte der Junge. »Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, beiseite zu springen.«
»Mein Gott!« Aus der Kehle des Richters kam ein halbersticktes Schluchzen. Ich folgte seinem Blick zu der kleinen Hand, die unter der Decke hervorsah. Am Ringfinger funkelte ein Brillant. »Erst vorige Woche habe ich ihn ihr geschenkt!«
Plötzlich bekam sein leichenblasses Gesicht einen eigentümlichen grünlichen Schimmer, und er stürzte zum Rinnstein. Damit er nicht fiel, hielt ich ihn an den Schultern
fest, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und er sich erbrach, als würden ihm die Eingeweide aus dem Leib gerissen.
Auch der nächste Tag wurde zu einem Stück Hölle. Die Los Angeles Times brachte auf der Titelseite die schreiende Schlagzeile: Leitende Angestellte der Brendan Publications begeht Selbstmord. Der Untertitel war auch nicht besser: »Verita Velasquez, nahe Verwandte des mexikanischen Verbrecherkönigs, der gestern erschossen wurde.«
Die Story selbst war eine meisterhafte Konstruktion aus Fakten, die am Ende ein völlig falsches Gesamtbild ergaben. Der Leser mußte den Eindruck gewinnen, daß Verita das weibliche Pendant zu ihrem kriminellen Vetter gewesen war.
Zwei Stunden brauchten wir, um die Reporter aus der Empfangshalle hinauszubekommen und ein System auszuarbeiten, das sie uns vom Halse hielt. Zu diesem Zweck sperrten wir von den sechs Aufzügen vier und siebten unsere Besucher bereits in der unteren Halle.
Endlich herrschte auch in meinem Büro Ruhe, doch war es eher eine Friedhofs- oder Mausoleumsruhe: Alle gingen wie auf Zehenspitzen umher und sprachen im Flüsterton. Selbst Shana und Dana verzichteten darauf, ihr übliches Spielchen mit mir zu treiben. Mit fast unfehlbarer Sicherheit schien ich an diesem Tag bei ihnen jedes Mal den richtigen Namen zu treffen. »Mr. Saunders vom Vertrieb am Apparat.«
»Danke, Shana«, sagte ich und hob ab. »Ja, Charlie?«
»Wir haben ein paar echte Probleme, Mr. Brendan«, sagte
er.
Damit verriet er mir kein Geheimnis. Ich beherrschte meine Stimme. »Ja?«
»Viele Zeitschriftenvertriebe, größere wie auch kleinere, verweigern die Annahme unserer Lieferungen der neuen Ausgabe von Macho. Andere lassen die Bündel ungeöffnet an uns zurückgehen.«
Das war wirklich ein Problem. Schließlich sorgten die Vertriebe ja dafür, daß unsere Produkte an die Verkaufsstände und somit zum Käufer gelangten. »Wieviel haben wir gedruckt?« fragte ich.
»Viereinhalb Millionen.«
»Und wieviel Stück davon, meinen Sie, werden abgesetzt werden können?«
»Unserem Computer zufolge zwischen fünfhundert- und si ebenhunderttausend.«
Das bedeutete einen Verlust von rund zwei Millionen Dollar, mögliche Profite gar nicht gerechnet. Wieder ein Schlag, direkt in die Magengrube. Ich holte tief Luft. Zu machen war da nichts, jedenfalls nicht im Augenblick. Ein altes Sprichwort sagt, daß eine Lüge meist schon um die halbe Welt gereist ist, während sich die Wahrheit noch die Stiefel schnürt. Würde ich an Stelle dieser Leute wohl anders handeln? fragte ich mich unwillkürlich. Ich würde sicher auch mit niemandem Geschäfte machen wollen, der allem Anschein nach der größte Rauschgifthändler aller Zeiten war.
»Nacken steif, Charlie«, sagte ich. »Sobald wir diese leidige Geschichte ausgeräumt haben, normalisiert sich das alles wieder.«
Ich legte auf. Wieder erklang der Summer der Gegensprechanlage. »Bobby ist hier und möchte Sie sehen.«
»Schicken Sie ihn rein.«
Als Bobby eintrat, sah ich, daß seine Augen vom Weinen gerötet waren. »O Gareth!« rief er. »Ich kann einfach nicht glauben, daß sie tot ist.«
Ich stand auf und legte die Arme um ihn. Er lehnte seinen Kopf an meine Brust und schluchzte wie ein Kind. Sacht strich ich ihm übers Haar. »Beruhige dich doch«, sagte ich.
»Warum hat sie sich denn nur umgebracht? Ich werde das nie verstehen. Nächsten Monat wollte sie doch heiraten.«
»Sie hat sich nicht selbst umgebracht.«
Er löste sich von mir. »Aber die Polizei sagt das doch. Die Beamten behaupten, es gebe kein Anzeichen dafür, daß sich außer ihr noch jemand im Appartement befand.«
»Es ist mir verdammt egal, was die Polizei sagt.« Ich ging hinter meinen Schreibtisch zurück.
»Aber wenn sie sich nicht selbst umgebracht hat, wer hat es dann getan?«
»Vermutlich dieselben Leute, die Julio ermordeten. Wahrscheinlich nahm man an, daß zwischen beiden eine viel engere Bindung - und Verbindung - bestanden hatte, als das in Wirklichkeit der Fall gewesen war.«
Er starrte mich aus großen Augen an. »Die Mafia?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber ich werde verdammt noch mal alles daransetzen, das herauszubekommen.« Ich nahm eine Zigarette aus dem Kästchen auf der Schreibtischplatte und zündete sie an. »Ist dein Vater in der Stadt?«
»Er ist zu Hause.«
Ich drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Holen Sie Reverend Sam für mich an den Apparat. Er ist bei sich zu Hause.« Ich blickte wieder zu Bobby. »Ich glaubte, er habe Bruder Jonathan vor zwei Jahren endgültig von Bord geschickt?«
»Du kennst Vater doch. Er sieht in den Menschen nur das Gute. Und Bruder Jonathan verstand es, ihn davon zu überzeugen, daß Denise rauschgiftsüchtig gewesen sei und er -wenn auch vergeblich - versucht habe, sie von ihrer Sucht zu befreien.«
Der Summer ertönte. »Reverend Sam für Sie, Mr. Brendan.«
Aus seiner Stimme klang aufrichtige Anteilnahme. »Eine entsetzliche Geschichte, Gareth, eine ganz entsetzliche Geschichte. Sie war ein reizendes Geschöpf.«
»Ja, Reverend Sam. Aber ich rufe Sie jetzt wegen Bruder Jonathan an.«
»Schockierend. Ich vermag gar nicht zu glauben, daß dieser Mensch einer solchen Doppelzüngigkeit fähig war.«
»Wie lange kannten Sie ihn eigentlich?«
Er schwieg, schien zu grübeln. »Warten Sie ... so sieben oder acht Jahre ... gleich nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst kam er zu uns.«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Ihr Onkel John schickte ihn zu mir. Es hatte damals eine Reihe von Morddrohungen gegen mich gegeben, und er kam, um für mich als Leibwächter zu arbeiten. Aber dann ließ der Herr sein Licht auf ihn fallen, und er begann, sich der Mission zu widmen. Als die Morddrohungen schließlich kein Problem mehr bildeten, war er bereits auf die zweite Ebene gelangt.«
»Verstehe. Vielen Dank, Reverend Sam.«
»Nichts zu danken, Gareth. Falls ich irgend etwas tun kann, um Ihnen Ihre Bürde zu erleichtern, so zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden.«
»Nochmals vielen Dank. Auf Wiedersehen, Reverend Sam.«
»Auf Wiedersehen, Gareth.«
Ich legte auf, sah Bobby an. »Du hast recht. Dein Vater sieht in allen Menschen nur das Gute.«
Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Der letzte Arglose.«
»Nicht der letzte«, sagte ich. »Der erste.«
Nachdem er gegangen war, blieb ich eine Weile still sitzen und überlegte. Der Gedanke an Bruder Jonathan ließ mir noch immer keine Ruhe. Einem Impuls folgend, ließ ich Denise zu mir bitten.
Auch sie hatte geweint. »Arme Verita. Ich habe sie geliebt. Ihre Aura war so rein.«
»Sie war wirklich ein guter Kerl«, sagte ich. »Hör zu, Denise, ich brauche Hilfe. Wenn meine Fragen dir allzu sehr zusetzen, so sag mir das bitte. Ich möchte auf keinen Fall Unruhe in dir auslösen.«
»Ich liebe dich, Gareth. Ich werde alles tun, um dir zu helfen.«
»Als Bruder Jonathan dich in der Klause in der - wie habt ihr das noch genannt? - Umwandlung hatte, wurdest du von ihm doch gewissermaßen exorziert. War wirklich die Erinnerung an mich das, was er aus dir auszutreiben versuchte?«
»So schien es jedenfalls.« Sie zögerte. »Damit fingen unsere Sitzungen immer an. Er sagte mir, ich müßte dich gleichsam ausscheiden, aus Seele und Körper.«
»Habt ihr sonst noch über etwas gesprochen?«
»Ich glaube, ja. Aber ich erinnere mich nicht mehr richtig daran. Nach den Fragen über dich schien alles andere immer irgendwie zu - zu verschwimmen.«
»Das kam von den Pentothalspritzen, die er dir gab«, erklärte ich. »Als ich dich ins Krankenhaus brachte, fanden sich in deinem Blut immer noch Spuren davon. Und bei einer dieser Injektionen mit einer unsterilisierten Nadel wurde die Gelbsucht auf dich übertragen.«
»Das ist das Wahrheitsserum, nicht wahr?«
»Ja. Aber es kann auch für Hypnose benutzt werden. Vielleicht gab es irgend etwas, das du vergessen solltest, ohne daß es dir bewußt wurde.«
»Ich wüßte nicht, was das gewesen sein könnte. Im ersten Jahr dort unten war ich allerdings seine Sekretärin und mußte auf alles ein Auge haben. Sogar seine Berichte habe ich alle getippt.«
»Berichte? An wen?«
»Ach, an einen Haufen Leute. Soweit es religiöse Dinge betraf, gingen die entsprechenden Berichte natürlich an Reverend Sam. Die anderen gingen an ... an .« Ein Ausdruck von Ratlosigkeit erschien auf ihrem Gesicht. »Komisch, aber ich scheine mich einfach nicht erinnern zu können.«
»Was betrafen die anderen Berichte denn?«
Sie überlegte einen Augenblick, schüttelte dann den Kopf. »Daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern.«
Wortlos sah ich sie an, wartete.
»Tut mir leid, Gareth«, sagte sie. »Tut mir wirklich leid.«
Ich lächelte. »Ist schon gut.«
»Dann gehe ich jetzt wohl besser wieder an meine Arbeit.«
Ich wartete, bis sie fast schon an der Tür war, ehe ich meiner Eingebung folgte. Dann sagte ich scharf: »Lonergan!«
»Ich weiß schon«, versicherte sie, ohne sich umzudrehen, »er bekommt immer die oberste Kopie.« Sie sagte es automatisch und ging dann weiter, als ob sie überhaupt nicht gesprochen hätte. Erst als sie ganz an der Tür war, schaute sie zurück und sagte: »Bis später, Gareth.«
»Bis später, Denise.«
Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Dann rief ich die Personalabteilung an. Eine Männerstimme meldete sich: »Hier Erikson.«
»Haben Sie alle Personalakten der Club- und Hotelangestellten, Mr. Erikson?«
»Ja, Sir, im Computer.«
»Ich brauche ein paar Informationen. Können Sie zu mir ins Büro heraufkommen?«
»Bin sofort bei Ihnen, Mr. Brendan.«
Zehn Minuten später hatte ich alle Informationen, die ich wünschte.
Bei seiner Bewerbung hatte jeder Angestellte drei persönliche Referenzen angeben müssen. Und eine der drei Referenzen, die sich bei sämtlichen Generalmanagern und Einkäufern fand, war John Lonergan.
Die ganze Sache wurde sonnenklar.
Er hatte es mir ja selbst klipp und klar gesagt. Damals, als ich nach der Explosion vor dem kleinen Laden am Santa Monica Boulevard zu ihm ins Auto gestiegen war: Hätte er nicht schützend seine Hand über mich gehalten, so wäre ich von Julio den Wölfen zum Fraß vorgeworfen worden. Später, in Mexiko, hatte Dieter es angedeutet, als er mir sagte, daß ohne die Einwilligung meines Onkels Julio gar nicht in Los Angeles existieren könne und daß Lonergan der einzige Mensch sei, der Julio davon abbringen könne, den Flugplatz für seine Zwecke zu benutzen.
Vermutlich hatte Julio keinen einzigen Tag darauf verzichtet, den Flugplatz zu benutzen. Hatte nicht darauf zu verzichten brauchen. Und als ich das Hotel dann übernahm, hatte Lonergan alles Gewünschte beisammen. Vermutlich war es das profitabelste Ein-Mann-Kartell aller Zeiten gewesen. Dreihundert Millionen Dollar pro Jahr mit eingebautem Profit bei jeder Station, von der Herstellung bis zum Verkauf.
Und nicht einen einzigen Penny hatte es ihn gekostet. Er hatte alles mit meinem Geld gemacht.
Es war sechs Uhr abends und Lonergan nirgends aufzuspüren. Nicht zu Hause, nicht in seinem Beverly-Hills-Büro, nicht in der Silver Stud. Meine Mutter befand sich den ganzen Tag bei irgendwelchen Bekannten in Newport Beach, konnte mir im Augenblick also auch nicht helfen. Allerdings wurde sie zum Abendessen zurückerwartet, und so bat ich den Butler, ihr zu sagen, sie solle mich sofort anrufen.
Der Summer tönte. »Mr. Courtland aus New York für Sie am Apparat, Mr. Brendan.«
»Sie machen ja Überstunden«, sagte ich. »Bei Ihnen ist es doch bereits neun.«
»Wie immer man in der Öffentlichkeit darüber denken mag, unsere Bürozeit endet keineswegs mit Börsenschluß«, erklärte er humorlos. »Irgendwelche neuen Entwicklungen?«
»Einige.«
»Irgend etwas, wovon ich dem Börsenausschuß Mitteilung machen kann?«
»Das glaube ich kaum.«
»Was ist mit dieser Frau, die Selbstmord verübt hat? Es läßt sich doch nicht von der Hand weisen, daß sie in Ihrer Organisation womöglich das Trojanische Pferd war.«
»Sie war es nicht.«
»Wie ich höre, schickt man die neueste Nummer Ihres Magazins zu Tausenden zurück«, sagte er.
»Nicht zu Tausenden. Zu Millionen.«
Einen Augenblick schwieg er betroffen. »Soll ich Ihr Erscheinen beim morgigen Essen der Vermögensberater vielleicht absagen?« fragte er dann.
»Hat man die Einladung rückgängig gemacht?«
»Nein.«
»Dann werde ich dort sein.«
»Ich versuche nur, Ihnen mögliche Peinlichkeiten zu ersparen«, sagte er. »Viele der Herren haben Ihr Aktienangebot in den Himmel gepriesen. Jetzt sind sie weitgehend davon überzeugt, von Ihnen getäuscht worden zu sein. Sie können ziemlich grob werden, und in einer rosigen Gemütsverfassung befinden sie sich derzeit wirklich nicht.«
»Ich mich auch nicht. Wir sehen uns morgen.« Ich legte auf und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.
»Ja, Mr. Brendan?«
»Chartern Sie ein Flugzeug, das mich heute nacht nach New York bringen soll. Voraussichtlich werde ich irgendwann zwischen Mitternacht und drei Uhr früh an Bord sein.«
»Ja, Mr. Brendan. Übrigens möchte Ihre Mutter Sie jetzt sprechen. Sie hatten ja wohl gebeten, daß sie sich meldet.«
»Hallo, Mutter.«
»Gareth, du tust mir ja so leid.« Sie schien es aufrichtig zu meinen.
»Bin soweit okay, Mutter.«
»Wie konnten diese Mexikaner dir nur so schreckliche Dinge antun? Wo du zu allem auch noch so gut zu diesem Mädchen gewesen warst. Verhalfst ihr aus einem völlig untergeordneten Posten zu einer absolut gehobenen Position. Aber als ich damals ihre Stimme am Telefon hörte, wußte ich ja sofort, daß ihr nicht zu trauen war. Wir haben gerade darüber gesprochen, heute beim Lunch auf der Jacht der Fischers. Eine wirklich wunderschöne Jacht haben sie. Siebzig -«
»Mutter«, unterbrach ich sie, »wer sprach darüber?«
»Wir alle. Aber dann erklärte Onkel John, was wirklich geschehen war, und du tatest uns allen so entsetzlich leid.«
»Onkel John war mit dir zusammen?«
»Ja.«
»Ist er jetzt bei dir?«
»Nein. Er hatte eine Verabredung zum Abendessen.«
»Mit wem?«
»Ich glaube, er hat den Namen dieses netten jungen Mannes erwähnt - Dieter von Halsbach.«
»Vielen Dank, Mutter.« Ohne Aufwiedersehen zu sagen, legte ich auf, betätigte dann den Knopf der Gegensprechanlage. »Finden Sie heraus, ob Marissa noch in ihrem Büro ist.«
Sie war es nicht, und so gab ich Anweisung, es immer wieder in ihrer Wohnung zu versuchen. Eine halbe Stunde später klappte es endlich. »Weißt du vielleicht, wo Dieter zu Abend ißt?« fragte ich.
»Nein. Gegen halb sechs sah ich ihn noch im Büro. Dann stürzte er in aller Eile davon, zu irgendeiner wichtigen Verabredung.«
»Wo könnte er sein?«
»Falls ich etwas erfahre, werde ich dafür sorgen, daß er dich anruft.«
»Danke.«
»Gareth, es tut mir ja so leid - Verita, meine ich. Du glaubst doch sicher nicht, was in den Zeitungen steht.«
»Nein.«
»Gott sei Dank. Ich auch nicht.«
Ich beschloß, Bobby zu Hause anzurufen. Da es in der Welt der Schwulen keine Geheimnisse gab, konnte er mir womöglich helfen.
»Meinst du, du kannst herausbekommen, wo Dieter heute nacht ist?« fragte ich.
»Ich wird’s versuchen«, sagte er. »Könnte aber einige Zeit dauern. Wo kann ich dich gegebenenfalls erreichen?«
»In meinem Büro.«
Um Viertel nach zehn meldete er sich. »Dieter hat im Greek Chorus eine Suite reserviert.«
»Im Greek Chorus?«
»Ganz recht. Eine Suite, für die ganze Nacht. Und Abendessen und alles, was sonst noch dazu gehört. Unser Freund muß eine ziemlich dicke Brieftasche haben.«
Ich legte auf. Die Geschichte ergab keinen rechten Sinn. The Greek Chorus war das teuerste Schwulenbordell auf der Welt. Interessenten mußten ausnahmslos rechtzeitig reservieren lassen, und der Mindestpreis betrug fünfhundert Dollar. Aber ich hatte von Rechnungen bis zu zehntausend Dollar gehört, für einen einzigen Abend. Allerdings waren die Zehntausend ein Ausnahmefall gewesen: Ein Araber, eigens zu diesem Zweck im Flugzeug gekommen, hatte alles und alle in Reichweite gekauft.
The Greek Chorus befand sich in einer Luxusvilla, die früher einem Filmstar gehört hatte. Sie lag oben in den Hollywood Hills. Tony lenkte die Limousine in die Auffahrt und hielt vor dem Eingang. »Warten Sie auf mich«, sagte ich, während ich auf die Klingel drückte.
Der Mann, der die Tür öffnete, war sehr breitschultrig und trug einen Smoking. Unmittelbar hinter ihm stand ein anderer Mann von ähnlichem Typ, gleichfalls im Smoking. »Haben Sie eine Reservierung?« fragte der erste Mann.
»Nein, aber ich bin nur für wenige Stunden in der Stadt, und ich habe so viel von diesem Etablissement gehört.«
»Tut mir leid«, sagte der Mann und trat einen Schritt zurück. »Nur Reservierungen.« Er wollte die Tür schließen.
Ich stellte meinen Fuß dazwischen und ließ eine HundertDollar-Note sehen.
Mit ausdruckslosem Gesicht betrachtete er den Schein.
Ich fügte einen zweiten Hunderter hinzu. Und einen dritten und einen vierten und einen fünften. Dann stoppte ich. Wenn ich’s übertrieb, konnte das ins Gegenteil umschlagen: ihn mißtrauisch machen.
»Wie ist Ihr Name?« fragte er.
»Gareth.«
»Einen Augenblick, Sir. Vielleicht habe ich Ihren Namen im Buch übersehen.«
Er verschwand nach drinnen und sprach mit dem anderen Mann. Sekunden später war er zurück. »Bitte um Verzeihung, Sir, daß ich Sie habe warten lassen«, sagte er und steckte die fünf Scheine ein. »Doch da war ein Fleck, der Ihren Namen teilweise verdeckte.«
Ich folgte ihm durch die Tür. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme, Sir«, sagte er, während er mich mit einer Geste zum Stehenbleiben aufforderte. »Haben Sie bitte die Freundlichkeit, Ihre Arme hochzuheben.«
Ich tat es, und er tastete mich sehr professionell von oben bis unten ab. »Wir gestatten hier drin keine Pistolen oder Messer«, sagte er entschuldigend und richtete sich wieder auf. »Das geschieht zu Ihrem eigenen Schutz wie auch zum Schutz der übrigen Gäste.«
Wir durchquerten die prachtvoll ausgestattete Eingangshalle. Die elegante Luxusvilla aus den zwanziger Jahren war zu einem Schwulenparadies umgestaltet worden. »Bevorzugen Sie irgendeinen bestimmten Typ, Sir?« fragte er.
»Nicht unbedingt. Ich würde sie gern alle sehen.«
»Ja, Sir«, sagte er und öffnete eine Tür. Das plötzlich aufspringende Stimmengewirr bewies, daß man allergrößten Wert darauf gelegt hatte, die Räume schalldicht zu machen. »Dies ist der Salon, Sir. Die Preise berechnen sich nach der Person, auf die Ihre Wahl fällt. Fünfhundert Dollar gelten als Minimum. Speisen und Getränke sind inklusive.«
»Danke.« Ich blieb einige Sekunden stehen, um meine Augen an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. Dann strebte ich auf die halbkreisförmige Bar am anderen Ende des Raums zu. Auf Chaiselongues und Couches ringsum lagerten Gruppen von Männern, viele von ihnen nackt. Bei den Bekleideten handelte es sich vermutlich um Gäste. Die Nackten musterten mich, während ich an ihnen vorüberging, doch irgendwelche Avancen machte keiner.
Ein Mann in Smokingjacke beugte sich über die Theke. »Was darf es sein, Sir?«
»Whisky mit Eis.« Ich schob ihm einen Fünf-Dollar-Schein zu, als Trinkgeld.
»Sorry, Sir«, sagte er und wehrte entschieden ab. »Trinkgelder sind nicht gestattet. Sie sind unser Gast, Sir.«
»Danke.« Ich lehnte mich gegen die Theke und ließ, während ich einen kräftigen Schluck nahm, meine Augen durch den Raum gleiten. Dann entdeckte ich jemanden, den ich kannte, und lächelte unwillkürlich
Meinen Drink in der Hand, durchquerte ich den Salon und blieb vor dem nackten, schwarzhäutigen Mann stehen, der mit geschlossenen Augen auf einer Chaiselongue lag. »Jack«, sagte ich leise.
Überrascht öffnete King Dong die Augen.
»Schläfst bei der Arbeit, wie?« Ich lächelte.
Langsam setzte er sich auf. »Was tun Sie denn hier, Gareth? Hätte nie gedacht, Sie mal in so einem Puff zu treffen.«
»Und was ist mit dir?« fragte ich.
»Ich arbeite hier eine Nacht pro Woche. Manchmal bringt mir das einen Tausender ein. Kann’s nämlich brauchen. Als Fotomodell ist nicht mehr viel drin.«
»Hättest du Lust, dir einen glatten Tausender zu verdienen?«
»Wenn’s um Kohlen geht, bin ich immer dabei.«
»Erinnerst du dich noch an diesen Mexikaner mit den blonden Haaren?« Ich setzte mich zu ihm auf die Chaiselongue. »Ist er heute abend hier?«
Ein Mann in Smokingjacke ging an uns vorbei. »Spielen Sie mit meinem Schwanz«, sagte King Dong. »Das ist einer von den Aufpassern.«
Ich hob sein Glied an. Und ich schwöre, daß es das Gewicht einer Boa Constrictor hatte. Der Aufpasser machte kehrt und verließ dann den Salon.
»Ja, er ist hier«, sagte King Dong.
»Weißt du auch, in welchem Zimmer er sich befindet?«
Er nickte.
»Läßt es sich irgendwie machen, daß ich zu ihm hineinkomme?«
»Dazu müßten Sie die Treppe hinauf. Und das dürfen Sie nur, wenn Sie mit einem der Jungens gehen.«
»Ich werde mit dir gehen.«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte er. »Wenn diese Kerle was merken, bin ich ‘ne tote Leiche. Das sind Killer.«
»Keiner wird etwas merken. Es wird keine Schwierigkeiten geben.«
»Dann müssen Sie denen aber erst mal fünfhundert hinblättern.«
»Ist schon okay.«
Seine tiefe Stimme dröhnte durch den Raum. »Mann, hast du’s aber eilig.« Er lachte.
Ich ging auf sein Spiel ein. »Will mein Flugzeug nicht verpassen.«
Ich folgte ihm zur Bar.
»Hab hier ‘n ganz Scharfen«, sagte er zum Barmann.
Der musterte uns mit ausdruckslosem Gesicht. »Fünfhundert Dollar, bitte«, sagte er.
Ich legte fünf Scheine auf die Theke. »Danke.«
Aus einem unteren Fach nahm er einen vergoldeten Schlüssel. »Zimmer sechzehn.«
»Könnten wir nicht sechs oder sieben haben?« fragte King Dong. »Du weißt doch, in Zimmern mit niedriger Decke arbeite ich nicht so gut.«
Der Barmann sah nach. Dann tauschte er den Schlüssel gegen einen anderen aus. »Sechs.«
»Danke«, sagte King Dong.
In einer Ecke des Salons teilte er einen Vorhang. Dahinter befand sich eine Treppe.
»Wir haben Schwein«, flüsterte er mir zu. »Er ist gleich nebenan, in Zimmer fünf.«
»Brauche ich einen Schlüssel, um hineinzukommen?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Wenn die Zimmer benutzt werden, bleiben die Türen unverschlossen. Manchmal gibt’s da nämlich Trouble, und dann müssen die Hals über Kopf rein.«
Im nächsten Stockwerk blieb er vor der Tür mit der Nummer sechs stehen. Rasch sah er sich um und vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war. »Sie können jetzt nebenan rein«, flüsterte er. »Aber seien Sie bloß vorsichtig, wenn Sie wieder rauskommen.«
Ich öffnete die benachbarte Tür und schlüpfte ins Zimmer. In derselben Sekunde verschwand King Dong in Nummer sechs.
In Nummer fünf brannten alle Lampen. Dieter lag auf dem Bett, Gesicht nach unten. Auf dem Fußboden, ganz in seiner Nähe, sah ich eine Spritze und eine verknäulte Gummischnur. An seinem ausgestreckten Arm waren deutlich Einstiche zu erkennen. Der junge Graf von Halsbach war nichts als ein Junkie.
Ich setzte ein Knie aufs Bett, schüttelte ihn an der Schulter. Dann hörte ich plötzlich ein Geräusch. Es kam von einem Vorhang auf der anderen Seite des Raums. Rasch ging ich hin und zog den Vorhang zurück.
Von einem Tisch, der mit Speisen geradezu überladen war, blickten mich drei dunkle Augenpaare an. Ich starrte auf die ungepflegten, verwahrlosten Gesichter. Kinder waren es, wahrhaftig Kinder.
»Qué pasa?« fragte einer der Jungen und stand auf. Sein nackter kleiner Körper war weich und rund. Er schien der älteste zu sein, konnte jedoch höchstens neun Jahre zählen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nada.«
Er setzte sich wieder und aß weiter, als sei er keinen einzigen Augenblick gestört worden. Ich ließ den Vorhang los und ging zum Bett zurück.
Wieder schüttelte ich Dieter, härter diesmal. Endlich öffnete er die Augen, schließlich schien er mich sogar zu erkennen.
»Wo ist Lonergan?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf, stöhnte dann. »Wieder weg.«
»Wie lange schon?«
»Seit einer Stunde, einer halben Stunde. Weiß nicht. Hab geschlafen.«
»Schlaf nur weiter«, sagte ich.
Er schloß wieder die Augen. Ich ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt, spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Rasch ging ich zur nächsten Tür. King Dong saß wartend auf dem Bettrand.
»Okay«, sagte ich. »Gehen wir.«
Er stand auf, zog die Bettdecke zurück und zerwühlte die Laken. Dann feuchtete er ein Handtuch an, warf es über die Decken und betrachtete sein Werk kritisch. »Jetzt können wir gehen. Wollte bloß nichts riskieren. Wenn die hier alles so hübsch ordentlich vorfinden, dann werden sie vielleicht mißtrauisch.«
»Du kannst dir die tausend Dollar morgen im Büro abholen«, sagte ich und folgte ihm die Treppe hinunter.
Der Mann an der Tür machte eine Verbeugung. »Ich hoffe, alles war zu Ihrer Zufriedenheit, Sir.«
»Einfach tadellos«, sagte ich.
»Danke, Sir. Bitte, beehren Sie uns wieder.«
Als ich einstieg, ließ Tony den Motor an. Ich warf einen Blick auf die Digitaluhr im Armaturenbrett. Zehn Minuten nach Mitternacht. Wo Lonergan um diese Zeit zu finden war, wußte ich genau.
Die Silver Stud war genauso voll Menschen und Lärm wie eh und je. Überhaupt schien alles unverändert zu sein. Nur die Puppe, die am Klavier drauflos hämmerte, war nicht mehr dieselbe.
Vor dem Collector blieb ich stehen. Wie gewöhnlich hatte er eine Flasche Whisky vor sich auf dem Tisch. Er betrachtete mich mit einem Lächeln. »Mann, ist aber lange her.« Wir schüttelten uns die Hände. »Setzen Sie sich doch und genehmigen Sie sich einen Drink«, forderte er mich auf. »Wir haben Sie erwartet.«
Er schenkte mir ein.
»Lonergan da?« fragte ich.
Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Der Whisky half.
Er nickte. »Hat grade ‘ne Besprechung. Ist aber gleich fertig. Dann können Sie zu ihm.«
Wieder hatte ich einen schlechten Geschmack im Mund. Wieder mußte der Whisky helfen.
»Wie gefällt Ihnen die Puppe da am Piano?« fragte er mich enthusiastisch.
»Das Lied hab ich doch schon mal gehört, wie?«
In einem breiten Lachen ließ er seine Zähne blitzen, klatschte sich auf die Schenkel. »Kann doch nichts dafür, daß ich auf so flotte Pianistinnen stehe!« Unter dem Tisch ertönte ein Summer. »Sie können jetzt rauf.«
Lonergan saß hinter seinem Schreibtisch. Mit kühlem Blick musterte er mich. »Du hast mich gesucht, wie ich höre.«
»Schon den ganzen Tag.«
»Aus irgendeinem besonderen Grund?« fragte er mit geradezu sanfter Stimme.
»Du weißt schon Bescheid.«
»Meinst du? Nun, sag’s mir doch.«
»Du hast mich hinters Licht geführt, für deine Zwecke benutzt. Und du hast Julio und Verita und weiß Gott wieviel andere umgebracht.«
Seine Stimme war völlig ruhig. »Das kannst du nicht beweisen.«
»Ja, das stimmt. Ich wollte nur, daß du Bescheid weißt.«
»Ich habe deinen Kopf aus der Schlinge gerettet. Ich habe dafür gesorgt, daß du aus allem rausbleibst. Jetzt kannst du diesen Kerlen von Wall Street beim Lunch eine feine Rede halten und ihnen alles erklären. In ein paar Tagen läuft die ganze Chose wieder, und du bist prächtig raus.«
»Und weiter ist dazu nichts zu sagen?«
»Was willst du denn noch?«
»Ich will Verita wiederhaben. Lebendig und gesund und glücklich. Genauso, wie sie war, als ich sie zum letzten Mal sah.«
»Den Wunsch kann dir nur Gott erfüllen. Verlange von mir etwas, das ich tun kann.«
»Scheiße. Du und ich, wir werden uns nie verstehen.«
»Ich glaube, ich verstehe dich. Du bist wie dein Vater. Du hältst dich für hart, aber innen bist du Brei. Er hatte nicht das Zeug zum richtigen Mann, und du hast es auch nicht.«
»Aber du hast es?«
Er nickte. »Mir nimmt keiner etwas.«
»Du meinst, du gibst keinem etwas.«
»Wortklauberei.«
»Liebe«, sagte ich.
Seine Stimme klang kalt. »Was ist das?«
»Wenn du fragen mußt, wirst du es nie wissen.«
»Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann gehst du wohl besser. Bis New York sind es rund viertausend Kilometer, und wenn du nicht rechtzeitig zu deinem Mittagessen kommst, bist du erledigt.«
Ich ging auf die Tür zu, blieb abrupt stehen. Ein Bild zuckte mir durchs Gehirn: drei dunkle Augenpaare, drei verwahrlost wirkende Gesichter. Und plötzlich tauchte eine ferne Erinnerung in mir auf. »Eines würde ich gern noch von dir erfahren, Onkel John«, sagte ich.
»Und das wäre?«
»Als mein Vater damals am Strand auf uns stieß, warst du gerade dabei, mein Kinderschwänzchen zu behandeln, nicht wahr?«
In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, doch ich sah, daß er kalkweiß wurde. Das genügte. Ich verließ sein Büro und ging, ohne mich auch nur einmal umzudrehen, die Treppe hinunter.
In meinen Augen brannten Tränen, doch ich unterdrückte sie. Ich hatte ihn wirklich lieben wollen. Die Klavierspielerin saß jetzt beim Collector am Tisch. Als ich vorbeiging, winkte er mir zu. Ich drängte mich durch die überfüllte Bar. Beim Ausgang stand eine Gruppe von Leder-Boys. Die Tränen ließen meinen Blick verschwimmen, und ich stieß gegen einen von ihnen.
Ich trat einen Schritt zurück. »Verzeihung«, sagte ich.
»De nada«, erwiderte er und wandte rasch sein Gesicht ab. Doch ich hatte ihn bereits erkannt. Über seiner Brusttasche sah ich die glänzenden Buchstaben: J. V. Kings. Es war derselbe Bursche, der mich in Julios Auftrag vor langer, sehr langer Zeit in der Nähe von Veritas Appartement abgeholt hatte. Einen Augenblick zögerte ich. Sollte ich zu Lonergan zurückgehen und ihn warnen? Aber dies war sein Krieg, nicht meiner. Ich hatte genug davon, in den Kriegen anderer zu kämpfen.
Ich verließ die Bar und stieg ins Auto. »Okay«, sagte ich, »zum Flughafen, Tony.«
Vom Flughafengebäude aus rief ich Eileen an. »Ich bin auf dem Weg nach New York«, erklärte ich. »Warte also nicht auf mich. Morgen abend bin ich wohl wieder zurück.«
»Viel Glück«, sagte sie. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich«, erwiderte ich und hängte auf.
Die Vorzüge einer gecharterten Maschine bestehen nicht zuletzt darin, daß man sich auf einem komfortablen Bett langlegen kann. Ich schlief während des ganzen Fluges, und als ich in New York aus der Maschine kletterte, sah ich die Schlagzeile in den New York Daily News. Lonergan war tot. Ich kaufte nicht mal ein Exemplar, um den Bericht zu lesen.
Beim Mittagessen traf ich ein, als man bereits das Dessert servierte. Erstauntes Stimmengewirr wurde bei meinem Eintritt laut. Ich blickte stur geradeaus und marschierte direkt zur Mitte der langen Tafel. Wie erwartet, befanden sich dort ein leerer Stuhl und eine Tischkarte mit meinem Namen.
Einen Augenblick später erhob sich der Mann neben mir und bat um die allgemeine Aufmerksamkeit. Im Saal wurde es still. »Ladies und Gentlemen«, sagte er angespannt. »Mr. Gareth Brendan.«
Es gab nicht einmal Höflichkeitsapplaus. Während ich ans Mikrophon trat, starrte mich ein Meer von Gesichtern in tödlichem Schweigen an.
»Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, ich will mich kurz fassen. Wie Sie wissen, ist die erste öffentliche Anleihe der Gareth Brendan Publications Limited ein Riesenerfolg. Ihnen allen, die Sie so entscheidend dazu beigetragen haben, möchte ich meine Wertschätzung und meinen Dank ausdrücken.«
Ich hielt inne. Das Schweigen war eisig. »Leider sind jedoch gewisse Umstände eingetreten, die den Wert dieser Anleihe zu verdunkeln drohen. Ich bin in vielen Dingen ein naiver Mensch. Ich möchte ganz einfach das Gefühl haben, daß es unter Ihnen welche gibt, denen das Wohl ihrer Klienten noch mehr am Herzen liegt als ihre eigenen Gewinne.
Von Mr. Courtland bin ich darüber informiert worden, daß die Anleihe unwiderruflich ist, es sei denn, ich selbst widerrufe sie. In diesem Augenblick ist es noch mein Aktienkapital und meine Firma. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß das Aktienangebot offiziell zurückgezogen wird.«
Wort- und Satzfetzen klangen an meine Ohren. Der Lärm wuchs so sehr an, daß ich trotz des Mikrophons meine Stimme heben mußte, um mich verständlich machen zu können. »Damit in Verbindung mit besagtem Angebot niemand einen finanziellen Verlust erleidet, erkläre ich mich zur Rückerstattung aller Unkosten bereit, die im Zusammenhang damit entstanden sind. Ich danke Ihnen.«
Ich verließ den Platz am Mikrophon und begann, dem Ausgang zuzustreben. Das laute Stimmengewirr steigerte sich fast zum Gebrüll. Mein Blick fiel auf Courtland. Er stand wie betäubt, buchstäblich wie vom Blitz getroffen. Blässe überzog sein Gesicht, eine Siebzehn-Millionen-Dollar-Blässe.
Reporter umdrängten mich, packten mich beim Jackett, schrien mir ihre Fragen in die Ohren. Ich aber verließ wortlos den Saal.
Kaum war ich wieder im Hotel, klingelte das Telefon. Ich erkannte Eileens Stimme.
»Ich habe von deiner Rede in den Nachrichten gehört«, sagte sie. »Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht bin ich dumm.«
»Nein. Du bist großartig.« Der Klang ihrer Stimme wandelte sich. »Du hast es schon gehört - das mit deinem Onkel?«
»Ja.«
»Es ist schrecklich.«
»Nein, das ist es nicht«, sagte ich, und genauso meinte ich es auch. »Lonergan hat zu viele Leben ruiniert, inklusive meins. Damit ist es jetzt zu Ende.«
Sie schwieg.
»In ungefähr einer Stunde fliege ich wieder ab. Was meinst du - wollen wir uns nicht in Las Vegas treffen und uns einen schönen Tag machen?«
»Hast du für einen Tag nicht schon genug Geld verloren?«
»Das habe ich eigentlich weniger gemeint. Ich meinte eher so was wie Hochzeitstag.«
Einen Augenblick herrschte am anderen Ende der Leitung verblüfftes Schweigen. »Ist das dein Ernst?« fragte sie dann ungläubig.
»Natürlich ist das mein Ernst. Ich liebe dich.«