Ich nickte.
Wir gingen ins Schlafzimmer, und ich setzte mich auf die Bettkante. Denise stand vor mir. Sacht fuhr sie mir mit dem
Stift über eine Braue. Ich spürte die Wärme ihres Körpers und legte meine Hände auf ihre Hüften. »Warum hast du uns nicht zu diesem Zimmer geführt?«
Sie hielt inne, blickte mir ins Gesicht. »Ich begann zu fürchten, daß du mich nie lieben würdest - daß du meintest, ich sei noch zu sehr Kind.«
»Bist du bei allen so - bei allen, die du haben willst?« fragte ich.
»Es hat noch nie jemanden gegeben, bei dem ich so
empfunden habe wie bei dir.«
»Und warum ich? Was ist an mir?«
Sie befeuchtete den Stift mit der Zunge und strich mir dann wieder über die Braue. »Das weiß ich nicht. Aber immer wenn ich in deine Nähe komme, werde ich ganz wild.«
»Jetzt auch?«
Sie nickte. »Findest du mich schrecklich?«
»Nein. Ich versteh’s nur nicht, das ist alles.«
»Dann hast du vielleicht noch nie jemanden richtig geliebt.«
Sie legte den Augenbrauenstift aus der Hand. »Ich glaube,
so ist’s gut. Sieh dir das mal im Spiegel an.«
»Ja, in Ordnung«, sagte ich, als ich mein sonderbares
Spiegelbild betrachtete.
»Bruder Jonathan würde sich freuen, wenn du heute nachmittag zu ihm in die Versammlung der fünften Ebene kämst.«
»Wann ist denn das?«
»Um vier.«
»Und wie lange dauert’s? Um sechs Uhr muß ich Lonergan anrufen.«
»Ungefähr eine Stunde.«
»Okay.«
Sie lächelte plötzlich. »Ich freue mich. Und jetzt werde ich dir etwas zu essen besorgen. Dann gehen wir zusammen zu dem Meeting.«
Der fensterlose Raum mochte etwa vier mal fünf Meter groß sein und hatte eine unverschalte Dachbalkendecke. Als wir eintraten, waren bereits sechs andere Personen da, drei Männer und drei Frauen, die paarweise dort saßen, die Augen auf eine Wand mit einem hohen, hölzernen Kreuz gerichtet.
Genau wie Denise hatte ich mir schon vor der Tür die Schuhe ausgezogen. Jetzt setzten wir uns nebeneinander auf einen freien Flecken auf dem kahlen Fußboden. Die anderen beachteten uns nicht weiter. Sekunden später hörte ich von der Tür ein Geräusch. Ich blickte über die Schulter zurück und sah Bruder Jonathan, der in einer braunen Soutane eintrat. Schweigend schloß er hinter sich die Tür, ging dann mit bloßen Füßen zur Mitte des Raums, wo er sich auf den Fußboden sinken ließ. Das einzige Licht kam von den Altarkerzen, die vor dem Kreuz standen.
Sekundenlang herrschte absolutes Schweigen. Dann begann Bruder Jonathan zu sprechen.
»Vor zweitausend Jahren wandelte Er unter uns. Ein Mensch unter Menschen. Aber Er war auch Gottes Sohn, und Er kam zur Erde, um für unsere Sünden zu büßen und uns von unseren Ängsten zu befreien. Und unserer Sünden und unserer Ängste wegen gab Er Sein Leben am Kreuz dahin. Seine Gruft befand sich in einer kleinen Pyramide, die von den Juden vor Tausenden von Jahren bei ihrer Flucht aus Ägypten erbaut worden war. Und durch die Spitze dieser Pyramide gab Gott Seinem einzigen Sohn das Leben zurück, und Jesus erhob sich aus Seinem Grab und brachte uns diese Botschaft: Ich habe für euch mein Leben dahingegeben, auf daß ihr mit mir das ewige Leben teilen könnt. Gebt ihr mir eure Sünden und euren Glauben, und ihr werdet für alle Zeit bei mir im Himmelreich sein.«
Leise klang es im Chor: »Amen.«
Bruder Jonathan fuhr fort: »Seit jener Zeit hat der Mensch immer wieder versucht, die Stufen der Pyramide zum Himmel zu erklimmen, doch seine eigene Schwäche ließ ihn nie ans Ziel gelangen. Immer wieder mußte er auf halbem Wege aufgeben. Erst als Reverend Sam das Prinzip der Sieben Ebenen entdeckte, wurde die Wahrheit offenbar. Der Mensch kann nicht zu Gott gelangen, wenn er sich zuvor nicht von den Sieben Todsünden befreit hat - Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit. Je mehr Sünden ein Mensch hat, desto niedriger ist die Ebene seiner Existenz und desto weiter ist er von Gott entfernt; je weniger Sünden er hat, desto höher ist die Ebene seiner Existenz und desto näher befindet er sich bei Gott. Und nur von der allerhöchsten Stufe kann ein Mensch emporklimmen zur Spitze der Pyramide und im reinen Licht Gottes stehen. Reverend Sam hat uns gezeigt, daß es jedem von uns möglich ist, dieses Ziel zu erreichen. Helfend reicht er seine Hand zu uns herab, um uns emporzuheben in das reine Licht des Herrn. Möge er weiter in Gottes Gnade stehen. Gelobt sei der Herr Jesus Christus. Amen.«
Raschelnde Geräusche erklangen. Alle bewegten sich sacht und antworteten dann wieder im Chor: »Amen.«
Bruder Jonathans Stimme wirkte sehr sanft. »Alle, die wir hierherkommen, befinden wir uns auf der fünften Ebene der Treppe zum Himmel. Noch haben wir eine ganze Anzahl weiterer Ebenen zu erklimmen, bevor wir hoch oben im reinen Licht stehen können. Wir werden damit beginnen, daß wir uns selbst und einander jene Sünde bekennen, die uns am heftigsten plagt. Wer will es als erster tun?«
Ein kurzes Schweigen, dann erklang die Stimme von Denise. »Ich, Bruder.«
»Und die Sünde, die du bekennst, Schwester?«
Ich ließ die Augen durch den Raum gleiten. Niemand wandte den Kopf, um nach Denise zu blicken. Alle saßen sehr still, die Hände im Schoß gefaltet und die Augen auf den Gekreuzigten an der Wand gerichtet. Auch Denise blickte zum Kruzifix.
»Ich bekenne die Sünde der Unkeuschheit, Bruder.« Sie schloß die Augen und sprach mit gedämpfter Stimme. »Vor einigen Wochen lernte ich einen Mann kennen, und seit ich ihn kenne, brennt in meinem Körper ein Feuer, und mein Gehirn ist erfüllt von lüsternen Bildern und Begierden. Wenn ich an ihn denke, werden meine Beine schwach und mein Geschlecht fließt über. Ich liege im Bett und masturbiere, und sein Bild steht immerzu vor meinem inneren Auge. In meinem Begehren nach ihm habe ich mit anderen Männern geschlafen und ihre Körper gebraucht, um die Begierde in meinem eigenen zu beschwichtigen. Doch jetzt, da ich mit ihm geschlafen habe, bin ich noch immer nicht befriedigt. Meine Begierde nach ihm bleibt ungestillt. Meine Gedanken gelten einzig dem Sex. Ich bin eine Sklavin meiner Fleischeslust, kann an nichts anderes mehr denken.«
Ihre Stimme verklang, und sie beugte den Kopf. Ich sah, daß sie weinte. Nach einem Augenblick fügte sie leise hinzu: »Ich bekenne meine Sünde und bitte den Herrgott um Rat.«
»Wir wollen uns mit unserer Schwester zum Gebet vereinen«, sagte Bruder Jonathan, und sekundenlang klang gedämpftes Gemurmel; dann fuhr Bruder Jonathan fort: »In den Augen Gottes gibt es nur Liebe, Schwester, und Liebe nimmt vielerlei Gestalt an, die körperliche Liebe ebenso wie die unkörperliche. Und manchmal bleibt nur die Möglichkeit, seine Liebe mit dem Körper auszudrücken. Erforsche sorgfältig dein Herz, Schwester. Kann es sein, daß du diesen Mann wahrhaft liebst?«
Ihre Stimme klang noch leiser als zuvor. »Ich weiß es nicht, Bruder. Alles, was ich bisher empfunden habe, war körperlich. Ich weiß, daß er mich nicht so sehr begehrt, wie ich ihn begehre, doch das mindert meine Begierde nicht. Selbst jetzt, in diesem Augenblick, fließt mein Geschlecht über, und ich brenne vor Begierde.«
»Bist du bereit, diese Begierden dem kinetischen Konduktor anzuvertrauen?«
»Ja, Bruder.«
»Dann komm mit mir, Schwester.«
Langsam erhob sich Denise. Ihre Augen waren halb geschlossen; man hätte meinen können, sie schlafe. Während sie auf Bruder Jonathan zutrat, knöpfte sie sich das Hemd auf. Dann stand sie vor ihm und zog es aus. Gleich darauf folgten ihre Jeans. Nackt legte sie sich vor ihn hin.
»Schwester Mary und Schwester Jean werden Schwester Denise bei den Händen und den Füßen halten. Die anderen werden sich uns zuwenden. Im Gebet werden sie sich mit uns vereinen.«
Zwei der Mädchen standen auf und traten zu Denise. Beide küßten sie auf den Mund. Dann setzte sich die eine mit gekreuzten Beinen dicht zu ihrem Kopf und nahm und hielt ihre Hände. Die andere setzte sich dicht zu den Füßen und griff nach ihren Fußgelenken. Ich blickte zu den anderen. Ihre Gesichter wirkten nicht neugierig, nur nachdenklich. Offenbar war dies etwas, das alle aus eigener Erfahrung kannten.
Bruder Jonathan schien mit irgend etwas zu hantieren. Dann erkannte ich neben ihm einen Gegenstand, der wie ein kleiner Transformator aussah. In der Hand hielt er eine Art Glasstab, knapp dreißig Zentimeter lang. Von diesem Glasstab führte ein schwarzes Kabel zum Transformator; Bruder Jonathan befestigte es gerade daran. Dann hörte man ein Knistern, und wie ein Funken schien es im Glasstab zu irrlichtern, eine Art bläuliches Flämmchen. Gleich darauf roch es schwach nach Ozon. Jetzt leuchtete das Licht im Glasstab gleichmäßiger, es warf eine sonderbar fahle Helle über alle Gesichter. Das Knistern klang nun lauter.
Bruder Jonathan hob den Stab hoch über seinen Kopf. »O Herr! Im Namen Deines Sohnes Jesus Christus flehe ich zu Dir. Lausche der Kommunikation unserer Schwester in Sünde, während sie durch die Kraft jener Energie zu Dir spricht, mit der Du uns Leben gabst.«
»Amen.« Die Stimmen der anderen tönten jetzt kräftiger. Langsam senkte Bruder Jonathan den Stab. Denise hielt die Augen geschlossen; sie bewegte sich nicht. »Bist du bereit, Schwester?«
Er berührte ihren rechten Arm mit dem Stab. Das Knistern verstärkte sich, für einen Augenblick ging durch den Arm ein Zucken, dann lag sie wieder still. Langsam strich er ihr den Arm entlang bis zur Schulter. Jetzt kam der andere Arm an die Reihe. Ganz allmählich näherte er sich ihren Brüsten, und nun begann sie sich zu bewegen. Zuerst wand sie ihren Körper nur leicht hin und her, dann bäumte sie ihn geradezu ekstatisch empor, dem Stab entgegen. Schließlich begann sie zu Stöhnen, und ich wußte, was sie empfand: Genau die gleichen Laute hatte ich von ihr gehört, als wir in der vergangenen Nacht im Bett gewesen waren. Steif erhoben sich ihre Brustwarzen unter der Berührung des Glasstabs, und wild schleuderte sie ihren Körper hin und her. Jetzt begriff ich, warum die beiden Mädchen dort bei ihr saßen: Mit aller Kraft mußten sie sie festhalten.
»O Gott!« schrie sie. »Ich fange an zu kommen. Ich kann’s nicht zurückhalten! Ich komme, ich komme!« Der Stab glitt jetzt über ihren Leib, und sie schleuderte ihm ihre Hüften entgegen, als sei er eine lebendige Kraft. »Ich kann nicht aufhören zu kommen!« schrie sie. Der Stab war jetzt an ihrem Schambein. »Steck ihn in mich rein!« gellte sie.
Mit unbewegtem Gesicht hielt Bruder Jonathan den Stab über ihrem Schambein. Sie wand sich unaufhörlich und schrie.
»O Gott, ich kann nicht aufhören! Ich kann nicht aufhören!« Ihr Gesicht war wie im Schmerz verzerrt, und ruckhaft drehte, nein, riß sie den Kopf hin und her. »Ich komme! Es ist zuviel! Es ist zuviel!« Plötzlich bäumte sie sich wie im Krampf gegen den Stab. »Oh, nein! Alles in mir explodiert!« Ihre Stimme wurde zum schrillen Kreischen; dann sackte sie plötzlich zurück, schlaff, mit blassem Gesicht und geschlossenen Augen.
Stumm bewegte Bruder Jonathan den Stab über ihre Beine bis zu den Füßen. Dann streckte er die Hand nach dem Transformator, berührte ihn. Langsam schwand das Licht aus dem Stab, und Bruder Jonathan legte ihn beiseite. Denise lag sehr still. Das einzige Geräusch im Raum war unser Atem.
Bruder Jonathan blickte zu den beiden Mädchen, und sie gingen zu ihren Plätzen zurück.
Denise schlug die Augen auf. »Ist es vorbei?«
Er nickte. »Ja. Kannst du allein auf dein Zimmer gehen, oder brauchst du Hilfe?«
Sie setzte sich auf, griff nach ihrem Hemd. »Es wird schon gehen.« Während sie sich ihre Jeans anzog, stützte er sie mit ruhiger Hand. »Ich danke dir, Bruder Jonathan«, sagte sie. »Und ich danke auch euch, meine Brüder und Schwestern. Ich liebe euch alle.«
»Wir lieben dich«, klang es im Chor zurück.
Bruder Jonathan erhob sich, legte ihr die Hände auf die Schultern und küßte sie auf den Mund. »Vergiß nicht, Schwester, der Körper ist nichts als Fleisch. Es ist die Seele, die ihm Leben gibt, und die Liebe, welche beide miteinander verbindet.«
Sie nickte, und ohne mich anzusehen, ging sie ruhig zur Tür, öffnete sie und verließ den Raum.
Bruder Jonathan betrachtete mich mit anteilnehmendem Blick. »Ich danke euch, meine Brüder und Schwestern. Das Meeting ist zu Ende. Frieden und Liebe.«
»Frieden und Liebe«, erwiderten sie und gingen einer nach dem anderen hinaus.
Ich erhob mich und wartete, bis alle den Raum verlassen hatten. Bruder Jonathan kniete neben dem Transformator, über den er jetzt eine Hülle deckte.
»Wirkt das Ding tatsächlich?« fragte ich.
»Moses sprach zu dem Herrn durch einen brennenden Dornbusch.«
»Das ist nicht das gleiche.«
Seine Stimme klang geduldig. »Alles, was einem Menschen hilft, mit Gott in Kommunikation zu treten, ist wirksam.«
»Danke, Bruder Jonathan«, sagte ich.
»Frieden und Liebe«, erwiderte er. Als ich den Raum verließ, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon fast sechs. Und mir schien es jetzt weniger wichtig, mit Gott zu sprechen als vielmehr mit Lonergan.
Lonergans Stimme klang leise und müde an mein Ohr. »Hast du schon mal daran gedacht, in Mexiko zu leben?«
»Ich vertrage das Wasser dort nicht. Da bekomme ich dauernd Durchfall.«
»Du machst es mir wirklich nicht leicht. Die haben es nicht gern, wenn man ihre Leute so zurichtet.«
»Dann sind wir miteinander quitt. Denn mir gefällt nun mal der Gedanke nicht, von denen umgelegt zu werden. Sag’s mir ganz offen, Onkel John - kannst du dafür sorgen, daß sie mich in Ruhe lassen, oder kannst du’s nicht?«
Ich hörte ein leises Seufzen und begriff, daß er nicht mehr der Onkel John meiner Kindheit war. Immerhin ging er auf die Siebzig zu, und ein langer Tag nahm ihn jetzt wohl härter mit, als er es selbst gern wahrhaben wollte. »Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Vorher war das für die Killer nur ein Auftrag, jetzt ist’s was Persönliches. Einer der Männer wird nie wieder gehen können.«
»Das ist wirklich hart.«
»Ich brauche einen Punkt, wo ich den Hebel ansetzen kann. Irgend etwas, das sich für eine Einigung einhandeln läßt.« Er lachte trocken. »Außer dir, meine ich.«
»Ronzi meinte, die würden mich in Ruhe lassen, wenn ich mich mit einer Partnerschaft einverstanden erkläre.«
»Das war gestern«, sagte er, »als sie noch nicht wußten, was auf dem Parkplatz passiert war. Ronzi rief mich dann heute morgen an. Ich soll dir ausrichten, daß das Angebot nicht mehr gilt.«
»Ich sollte ihn heute abend anrufen.«
»Tu’s nicht. Wahrscheinlich hat er eine elektronische Wanze an der Leitung.«
»Was soll ich also tun?«
»Nichts weiter. Hauptsache, du bleibst von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht beruhigen sie sich in ein oder zwei Wochen, und ich kann mit ihnen reden.«
»Aber was soll mit dem Blatt werden? Nach dieser Nummer geht es in die Binsen.«
»Nun, dann geht es eben in die Binsen. Du kannst die ja bitten, dich darin einzuwickeln, bevor sie dich verscharren.«
Ich schwieg.
»Gareth.«
»Ja?«
»Tu nichts Törichtes. Gib mir nur etwas Zeit.«
»Du hast all die Zeit, die du brauchst, Onkel John. Aber ich nicht. Wenn das Blatt zwei Wochen nicht erscheint, dann bin ich wieder dort, wo ich war - ein Nichts auf der Straße.«
»Aber wenigstens ein lebendiges Nichts. Glaub mir - du wirst andere Spiele zum Spielen finden.«
»Sicher.« Ich hängte auf und hörte, wie die Münzen in den Apparat fielen. Als ich mich umdrehte, sah ich wenige Meter von mir entfernt Denise.
»Ich wollte dich zum Abendessen holen.«
Ich nickte, und wir gingen Seite an Seite.
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Was tut dir leid?«
»Ich hab’s für dich nur schlimmer gemacht. Ich hätte ihnen nicht sagen dürfen, wo du warst.«
»Es ist nicht deine Schuld.«
Sie legte eine Hand auf meinen Arm. Unwillkürlich blieb ich stehen. »Ich wirke in deinen Augen wohl - lächerlich?«
»Wieso meinst du das?«
»Nun, ich -«, Sie brach ab, sagte dann: »Diesmal hat der Glasstab nicht geholfen, zum ersten Mal nicht. Bruder Jonathan meint, daß wir das noch mehrmals wiederholen müssen, ehe ich von dieser Sünde befreit sein kann.«
»Bist du denn sicher, daß es eine Sünde ist?«
»Ich verstehe nicht.«
»Lehrt Reverend Sam nicht, daß Liebe keine Sünde ist? Daß es gut ist, einander zu lieben? Liebe kann auch etwas sehr Körperliches sein.«
»Das hat ja auch Bruder Jonathan gesagt. Aber ich weiß nicht. So wie jetzt habe ich noch niemals empfunden. Ich will dich haben, immerzu. Das ist das einzige, woran ich denken kann.« Wir waren weitergegangen, standen nun am Eingang zum Eßraum. »Die ganze Zeit spreche ich darüber, was ich für dich empfinde. Was aber fühlst du für mich? Wie wirke ich auf dich?«
»Ich finde dich wunderschön.«
»Das meine ich nicht«, sagte sie hastig. »Aber meine Gefühle - wie soll ich damit bloß fertig werden?«
Ich lächelte sie an. »Gewöhne dich dran, Baby. Das passiert dir ohnehin nur, solange du jung bist. Das wird sowieso bald vorbei sein.«
Ihre Stimme klang gekränkt. »Glaubst du das wirklich?«
Ich gab keine Antwort.
»Ich möchte, daß du mir die Wahrheit sagst«, beharrte sie. Und so sagte ich ihr die Wahrheit, meine Wahrheit. »Im Augenblick habe ich mehr, um drüber nachzudenken, als mir lieb ist. Vögeln kommt dabei als letztes.«
Abrupt machte sie kehrt, lief den Korridor entlang und ließ mich allein an der Tür zum Eßraum zurück. Ich warf einen Blick hinein und sah, daß mich Bruder Jonathan beobachtete. Mit der Hand wies er auf einen leeren Sitz an seiner Seite.
An seinem Tisch saßen noch sechs junge Männer. Sie nickten mir nur wortlos zu und ließen sich bei ihrer Mahlzeit nicht weiter stören.
»Hier langt jeder nach Herzenslust zu«, erklärte Bruder Jonathan und deutete auf eine Schüssel in der Mitte des Tisches.
Es gab einen Eintopf aus Rindfleisch, Möhren und Kartoffeln, ein einfaches, doch herzhaftes Essen. Ich nahm mir auch ein Stück Brot. Da es keine Butter dazu gab, tunkte ich es ein. Aus einem Krug goß ich mir Milch in ein Glas. Sie war angenehm kühl und sehr erfrischend.
Schweigend aßen alle. Nach Beendigung der Mahlzeit stand einer nach dem anderen auf und sagte: »Frieden und Liebe.« Sie ließen Bruder Jonathan und mich allein am Tisch zurück. Ich blickte mich im Raum um. Als ich gekommen war, hatten hier rund vierzig Leute gegessen. Jetzt waren nur noch einige da, welche die Tische abräumten.
»Kaffee habe ich in meinem Büro«, sagte Bruder Jonathan. »Möchtest du welchen?«
»Ja, gern.«
Sein Büro befand sich in einem kleinen Raum unmittelbar an der Eingangsdiele. Er zog die Tür hinter sich zu, und wenige Minuten später stellte er eine Tasse vor mich hin.
»Whisky habe ich auch«, sagte er.
»Ich dachte, das sei gegen die Hausordnung.«
Er lächelte. »Ist auch nur für rein medizinische Zwecke.«
Ich nickte. »Ich bin auch gar nicht so richtig auf dem Damm.«
Er füllte zwei Gläser. »Frieden und Liebe«, sagte er.
»Frieden und Liebe«, erwiderte ich.
Er leerte sein Glas fast auf einen Zug, und als meines noch halb voll war, goß er sich schon wieder nach. Dann sah er mich an. »Du kannst nicht hierbleiben«, sagte er. »Das weißt du.«
»Weshalb nicht? Wegen Denise?«
»Nein, damit werden wir schon fertig. Aber du selbst -hinter dir sind sie her. Auf deinem Kopf steht ein Preis, und in wenigen Tagen würden die dich hier aufstöbern.«
»Wer hat Ihnen das gesagt? Denise?«
»Nein.«
»Wie haben Sie’s dann herausgefunden?«
»Ich habe dir doch gesagt, daß ich Polizist war. Und ich verfüge noch immer über ein paar Kontakte. Daß du mit Denise davon bist, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Und die werden nicht allzu lange tüfteln müssen, bis ihnen klar wird, wohin sie mit dir gegangen sein könnte.«
Ich schwieg.
»Tut mir leid«, versicherte er, »aber ich kann das Risiko nicht eingehen. Hier wären zu viele Menschen gefährdet.«
»Und was ist, wenn die Kerle Denise finden?«
»Sie werden sie hier nicht finden. Ich schicke sie fort. Morgen abend wird sie bereits über tausend Kilometer von hier entfernt sein.«
Ich trank meinen Whisky aus. »Wann soll ich die Farm verlassen?«
»Heute nacht, wenn alle schlafen. Ich werde kommen und dich holen. Benutze das Zimmer, in dem du gestern nacht mit Denise gewesen bist. Deine Kleider sind übrigens schon dort.«
Ich stand auf. »Danke, Bruder Jonathan.«
»Wie steht’s bei dir mit Geld? Kommst du zurecht?«
»Ich glaube schon.«
»Frieden und Liebe.«
»Frieden und Liebe«, sagte ich und verließ das Büro.
Ich fand meine Sachen in tadellosem Zustand vor. Sie hingen auf einem Bügel an der Tür. Rasch zog ich mich aus und ging ins Bad. Während ich noch beim Duschen war, erlosch plötzlich das Licht. Ich fluchte laut. Dann fiel mir ein, daß dies die automatische Stromschaltung war. In ein großes Badetuch gehüllt, suchte ich nach einer Kerze. Ich fand sie, steckte sie an - und erst jetzt sah ich, daß Denise im Raum war.
Wie verloren saß sie auf dem Rand des schmalen Bettes. An ihren Augen sah ich verschmiertes Make-up. Das blaugeschlagene Auge war noch immer stark verfärbt. »Du gehst fort«, sagte sie.
Mit dem Tuch rieb ich mir den Kopf trocken, gab keine Antwort.
»Ich wußte es sofort, als Bruder Jonathan deine Sachen herbringen ließ.«
Ich war mit dem Trocknen fertig und griff nach meinem Hemd.
»Ich möchte mit dir kommen.«
»Das geht nicht«, sagte ich schroff.
»Warum nicht?« Es klang fast wie die Frage eines Kindes.
»Weil das lebensgefährlich wäre, deshalb. Und Bruder Jonathan möchte nicht, daß dir oder auch mir etwas passiert.«
»Passiert? - Ach, das ist mir alles egal - wenn ich nur bei dir sein kann.«
Ich schlüpfte in meine Jeans und setzte mich dann auf einen Stuhl, um mir Socken und Schuhe anzuziehen. Sie erhob sich vom Bett und kniete vor mir nieder. »Bitte nimm mich doch mit. Ich liebe dich.«
»Es geht nicht. Tut mir leid.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Ihre Stimme war wie ein einziger gedämpfter Klagelaut. »Nie mache ich etwas richtig. Ich dachte, hier würde es gut sein -hier würden wir sicher sein.«
Ich strich ihr übers Haar. Sie griff nach meiner Hand und preßte sie an ihre Lippen. »Wenn ich hierbliebe«, sagte ich, »wäre niemand sicher. Du nicht, Bruder Jonathan nicht und auch niemand sonst. Und gerade diese jungen Menschen - die wußten doch von überhaupt nichts.«
»Ich bitte ja nicht für alle Zeit«, flüsterte sie, und ich fühlte ihren Atem an meinen Fingern. »Ich weiß, daß ich nicht gut genug für dich bin. Nur eine kleine Weile möchte ich mit dir Zusammensein. Wenn du dann willst, daß ich gehe, dann gehe ich auch.«
Ich schob eine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu mir empor. »Das ist es doch nicht, Baby. Das ist es ganz und gar nicht. Bei dieser Sache sind schon genug Leute zu Schaden gekommen, und ich will auf gar keinen Fall, daß einem von euch etwas passiert.«
Sie schwieg. Dann sah ich, daß sie die Innenseite meiner Hand betrachtete. »Weißt du, daß du zwei Lebenslinien hast?« fragte sie.
Für einen kurzen Augenblick begriff ich nicht, wovon sie sprach. »Nein«, erwiderte ich dann.
Mit einem Finger zog sie eine Linie nach, die von meiner
Handwurzel bis zum Ansatz meines Zeigefingers führte. »Dir
wird nichts zustoßen. Du hast ein langes Leben vor dir.«
»Da ist mir doch gleich wohler«, sagte ich.
»Doch gerade jetzt verlaufen deine Lebenslinien parallel zueinander.« Ihr Finger berührte meinen Handteller fast genau in der Mitte. »Und die erste Lebenslinie hört ungefähr hier auf.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Der Ausdruck ihrer Augen wirkte sehr ernst. »Das weiß ich nicht. Aber es bedeutet, daß eines deiner Leben bald zu Ende sein wird.«
»Na, hoffentlich nicht das, das mit meinem Atem zu tun hat.«
»Ich mach keine Witze«, fuhr sie gereizt auf.
Ich schwieg.
»Ich verstehe mich auf die Handlesekunst. Ich bin da sogar sehr gut.«
»Ich glaube dir ja«, versicherte ich.
»Nein, das tust du nicht«, sagte sie verdrossen.
Ich lächelte ihr zu. »Wird es dich erleichtern, wenn wir uns zanken?«
Ihre Lippen zitterten. »Ich will mich nicht mit dir zanken. Nicht am letzten Abend, an dem wir zusammen sind.«
»Dann versuche, ruhig zu bleiben.«
»Wann gehst du?«
»Bruder Jonathan sagte, er würde mich holen.«
»Das wird wahrscheinlich so gegen Mitternacht sein, wenn er kommt, um seine letzte Runde zu machen. Dann bleibt uns noch Zeit für einen Abschiedsfick.«
Ich lachte laut auf. »Du machst wirklich Witze.«
»O nein!« Sie erhob sich und begann, ihr Hemd aufzuknöpfen.
Ich griff nach ihren Händen, hielt sie fest. »Baby«, sagte ich, »im Augenblick geht mir so viel anderes durch den Kopf, daß ich ihn bestimmt nicht hochbekomme.«
»Das laß nur meine Sorge sein.«
»Und selbst, wenn ich ihn hochkriege - kommen kann ich sicher nicht.«
Ich sollte recht behalten. Doch das spielte weiter keine Rolle. Denn sie kam so ungeheuer oft, daß sie das sozusagen gleich für mich mit übernahm. Als schließlich Bruder Jonathan an die Tür klopfte, waren wir wieder vollständig angezogen.
Seine erfahrenen Augen betrachteten die Szene. Das zerwühlte Bett entging ihnen nicht.
Ich blickte zu Denise. »Es ist Zeit.«
»Ich begleite dich hinaus zum Auto«, sagte sie.
Schweigend verließen wir das Gebäude und gingen zur Scheune. Bruder Jonathan ließ die Torflügel aufschwingen. Sie knarrten laut. Wir traten ein, und ich stieg ins Auto. Der alte Valiant war robust wie eh und je. Er zeigte nicht die geringsten Mucken. Ohne jede Verzögerung sprang der Motor an.
Durch das offene Fenster reichte mir Bruder Jonathan die Hand. »Alles Gute, Gareth. Frieden und Liebe.«
Er drehte sich um und verließ die Scheune. Denise blieb zurück. Sie beugte sich durch das Fenster und küßte mich. »Wenn du zurückkommst, rufst du mich dann an?«
»Das weißt du doch.«
»Ich werde hier auf dich warten.«
Erst jetzt fiel mir ein, daß Bruder Jonathan ja gesagt hatte, er werde sie weit fortschicken. Offenbar wußte sie noch gar nichts davon. Nun, ich würde es ihr besser auch nicht verraten. Und so nickte ich nur.
»Ich liebe dich«, sagte sie und küßte mich wieder. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Frieden und Liebe.«
»Frieden und Liebe«, sagte ich, legte den ersten Gang ein und fuhr hinaus. Als ich den lehmigen Fahrweg entlangrollte, sah ich im Rückspiegel, daß Bruder Jonathan seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte und mit ihr zum Haus zurückging. Ich bog um eine Kurve, und hinter mir war nichts weiter als dunkle Nacht.
Erst als ich von der Autobahn nach San Francisco in eine Tankstelle einbog, bemerkte ich den braunen Umschlag auf dem Sitz neben mir. Durchs Fenster steckte der Tankwart seinen Kopf zu mir herein.
»Volltanken«, sagte ich.
Während er hinter das Auto ging, öffnete ich den braunen Umschlag. Er enthielt tausend Dollar in Hundert-DollarScheinen und ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auf dem stand: »Deine Pistole habe ich verschwinden lassen. Fahre zu Reverend Sams Frieden-und-Liebe-Mission in San Francisco und frage nach Bruder Harry. Er hat für Dich ein Flugticket nach Honolulu für morgen und auch Informationen über Deinen Kontakt dort. Frieden und Liebe.«
Eine Unterschrift fand sich nicht. Aber sie wäre auch überflüssig gewesen. Ich steckte das Geld ein, überlas die Sätze noch einmal, zerriß das Papier sodann. Dann stieg ich aus und warf die Fetzen in die Abfalltonne.
»Soll ich mir Ihren Wagen mal etwas genauer ansehen?« fragte der Tankwart.
»Ja, sehen Sie nur alles nach«, sagte ich und verschwand in Richtung Toilette.
Als ich zurückkam, wartete er mit der Rechnung auf mich. »Ein Liter Öl hat gefehlt. Außerdem habe ich Ihre Heizung und Ihre Batterie in Ordnung gebracht. Sechs fünfzehn.«
Ich gab ihm sieben Dollar und stieg wieder ein. Es war jetzt halb sechs, und immer stärker dämmerte der neue Tag herauf. Am Ende von North Beach erreichte ich die Mission, ein altes, graues Gebäude, das eher wie ein Lagerhaus aussah als wie eine Mission.
Ich trat auf die Eingangstür zu, doch bevor ich klopfen konnte, wurde sie von einem Mann mittlerer Größe geöffnet,
der einen braunen Anzug anhatte. »Bruder Gareth?« fragte er mit farbloser Stimme.
Ich nickte.
»Ich bin Bruder Harry«, sagte er und reichte mir die Hand. »Frieden und Liebe.«
»Frieden und Liebe«, erwiderte ich. Sein Händedruck war schlaff.
»Komm herein. Seit vier Uhr warte ich bereits auf dich. Ich begann, mir Sorgen zu machen.«
Ich lächelte ihn an. »Der Valiant ist nun mal nicht gerade das allerschnellste Auto.«
»Du bist hier. Nur das ist jetzt wichtig«, sagte er, während er mich einen Gang entlangführte. »Ein Zimmer ist für dich schon bereit. Dort kannst du dich ausruhen, bis du zum Flugplatz mußt.«
»Wann fliegt die Maschine?«
»Um fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Aber mach dir keine Sorgen. Ich bin ja da und kümmere mich darum, daß du zur Zeit hinkommst. Kann ich deine Autoschlüssel haben?«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Man hat mir gesagt, daß dein Auto >heiß< ist. Da wird es wohl besser sein, wenn wir’s nicht auf unserem Grundstück herumstehen, sondern möglichst schnell verschwinden lassen.«
Ich gab ihm die Schlüssel. »Was soll mit dem Auto werden?«
»Es wird verschrottet.«
Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Wenn man ein Auto wirklich spurlos verschwinden lassen will, so ist das die beste Methode. Trotzdem gab’s mir einen Stich. Irgendwie war mir die kleine alte Karre ans Herz gewachsen.
Das Zimmer, in das er mich führte, war einfach möbliert: Bett, Stuhl, Kommode. Durch ein schmales Fenster fiel Licht. Plötzlich fühlte ich mich so erschöpft, daß ich kaum noch eines Gedankens fähig war. Nur schlafen wollte ich noch, schlafen.
»In ein paar Stunden bin ich wieder da«, sagte er. »Mit deinem Frühstück. Ich halte es für besser, wenn du hier im Zimmer bleibst. Wir wollen nicht, daß dich jemand sieht und vielleicht erkennt.«
Ich nickte. Sprechen war zu anstrengend. Er schloß die Tür hinter sich, und ich streckte mich angezogen auf dem Bett aus. Ich hatte nur noch genug Kraft, um mir die Schuhe von den Füßen zu streifen. Und dann war ich weg - fiel wie in ein pechschwarzes Loch.
Zum Frühstück wurde ich nicht wach, doch Bruder Harry weckte mich zum Mittagessen. »Du mußt eine Stunde vor Abflug auf dem Flugplatz sein«, sagte er fast entschuldigend, als er das Tablett vor mir auf den Stuhl stellte.
»Okay.« Ich blickte aufs Tablett. Eintopf. Hätte ich mir denken können. »Eigentlich habe ich gar keinen richtigen Hunger«, sagte ich. »Ich werde später auf dem Flugplatz was essen.«
»Das Badezimmer ist dort drüben. Rasier dich lieber noch. Blonde Bartstoppeln passen nicht zu schwarzen Haaren.« Mit einer Handbewegung wies er zur anderen Tür. »Im Arzneischränkchen findest du einen Rasierapparat.«
Ich duschte und rasierte mich. Allmählich fühlte ich mich frischer. Als ich wieder aus dem Bad kam, wartete Bruder Harry auf mich. Der Eintopf auch. Aber meinen Gaumen konnte er auch jetzt nicht kitzeln. »Eigentlich könnte ich doch gleich zum Flugplatz fahren«, sagte ich. »Oder sprechen irgendwelche Gründe dagegen?«
»Nicht, daß ich wüßte«, erklärte er und vergewisserte sich noch einmal: »Also gleich?«
»Ja«, bestätigte ich und fühlte, daß ich plötzlich genug hatte von winzigen Zimmern mit überschmalen Betten und Fenstern, die kaum mehr als Löcher waren.
Wir fuhren mit seinem alten Ford und hielten vor dem Abfluggebäude. Er zog einen Umschlag hervor, den er mir reichte. »Hier ist dein Ticket drin«, sagte er. »In Honolulu wird Bruder Robert auf dich warten. Er bringt dich zur Mission.«
»Wie erkenne ich ihn?«
»Er findet dich.«
»Danke.«
»Schon gut«, sagte er. »Frieden und Liebe.«
»Frieden und -« Ich brach ab. »Darf ich etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Warum nehmt ihr meinetwegen so viel Mühe auf euch? Ich bin nicht einmal Mitglied eurer Kirche. Und doch genügte schon ein Wort von Bruder Jonathan.«
»O nein«, sagte er rasch. »Das war nicht Bruder Jonathan. So viel Autorität besitzt er nicht.«
»Wer besitzt sie dann?« Eine überflüssige Frage. Noch bevor sie heraus war, kannte ich die Antwort.
»Reverend Sam«, erklärte er mit respektvoll gedämpfter Stimme. »In der Kirche geschieht nichts ohne sein Wissen. Er trägt Sorge für uns alle. Gott segne ihn. Frieden und Liebe.«
»Frieden und Liebe.« Ich stieg aus und sah ihm einen Augenblick nach. Sein Wagen tauchte in den Verkehrsstrom ein, der sich in Richtung City bewegte. Im Flughafengebäude überprüfte ich die Tafel mit den Abflugzeiten. Es war jetzt erst halb drei, was nichts anderes hieß, als daß ich noch über eine Stunde warten mußte. Ich steuerte auf die nächste Bar zu.
An der Theke war kein Platz frei, und so setzte ich mich an einen der kleinen Tische. Im Handumdrehen war die Kellnerin mit dem Bestellten wieder da - einem doppelten Whisky mit Eis.
Wahrscheinlich, überlegte ich, hatte Bruder Jonathan sofort Reverend Sam angerufen, als ich auf der Farm aufgetaucht war. Ja, natürlich. Jonathan hätte von sich aus all diese
Arrangements nicht getroffen. Die Sache war von A bis Z durchorganisiert.
Nun gut. Aber weshalb war Reverend Sam der Ansicht, daß ich Schutz brauchte?
»Noch einen doppelten, Sir?«
Überrascht blickte ich auf. Mir war nicht bewußt gewesen, daß ich mein Glas schon ausgetrunken hatte. Dabei spürte ich überhaupt nichts. Die schienen ihren Whisky ganz kräftig zu wässern. Ich nickte, und sie kam mit dem zweiten Drink. Hinter der Theke sah ich eine Uhr: Viertel vor drei. »Gibt’s hier ein Telefon?« fragte ich.
»Gleich draußen vorm Eingang, Sir.«
Ich bezahlte. »Bin bald wieder da«, sagte ich und ließ den Drink auf dem Tisch stehen. Von der Kasse holte ich mir einen Haufen Vierteldollarstücke. Dann machte ich mich daran, mit Reverend Sam telefonisch Verbindung zu bekommen.
Ich erreichte ihn zu Hause. »Wie geht’s Bobby?« fragte ich.
»Viel besser. Die Ärzte hoffen, ihn gegen Ende der Woche auf normale Kost setzen zu können.« Er senkte seine Stimme. »Wo sind Sie jetzt?«
»San Francisco International.«
Aus seiner Stimme klang unverkennbar Erleichterung.
»Dann fliegen Sie also nach Honolulu?«
»Die Maschine startet in einer Stunde.«
»Gut. Als Lonergan mir sagte, wie schlimm es stand, war mir klar, daß ich etwas tun mußte.«
»War es Lonergans Idee, mich sozusagen ins Exil zu schicken?«
»Nein. Aber als ich ihm sagte, was wir tun könnten, fand er, das sei eine gute Lösung.«
Ich schwieg.
»Ich habe alle Arrangements getroffen. Man wird sich gut um Sie kümmern.«
»Danke«, sagte ich.
»Sie brauchen mir nicht zu danken. Schließlich sind Sie Bobbys wegen in diese Lage geraten.« Er zögerte einen Augenblick. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, rufen Sie mich nur an.«
»Soweit ist alles in Ordnung.«
»Dann machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, daß Lonergan schon bald alles ins Lot bringt, und dann können Sie wieder zurückkommen.«
»Sicher.«
»Guten Flug. Möge Gott Sie schützen.«
»Frieden und Liebe«, sagte ich und hängte auf. Dann versuchte ich mit einer Reihe von Anrufen Lonergan zu erreichen, doch vergeblich. Zu Hause war er nicht, und in seinem Büro oder im Silver Stud wußte auch niemand, wo er sich befand. Nicht mal, als ich’s übers Autotelefon in seinem Wagen versuchte, meldete sich jemand.
Ich fühlte mich beunruhigt. Die Sache gefiel mir nicht. Nein, ganz und gar nicht. Das sah mir alles sehr nach Absicht aus, nach Regie. Lonergan wußte, daß ich nicht wegwollte. Doch immer weiter entfernte ich mich vom Schauplatz des Geschehens. Verdammt noch mal: Ich wußte nicht mal, ob der Drucker rechtzeitig mit der Arbeit hatte anfangen können. Wieder warf ich 25 Cents ein. Gleich darauf war die Verbindung mit der Redaktion hergestellt.
»HollywoodExpress.« Ich erkannte Veritas Stimme.
Da sie ihrerseits zweifellos meine Stimme erkennen würde, unterließ ich es, meinen Namen zu nennen. »Bei dir alles in Ordnung?«
»Ja. Und bei dir?«
»Auch. Kannst du sprechen? Irgend jemand dort?«
»Ich bin allein. Sind schon alle fort.«
»Hat der Drucker alles rechtzeitig bekommen? Wie war das mit dem fehlenden Text?«
»Keine Sorge. Deine Freundin hat sich bewährt. Die ganze Nacht hat sie durchgearbeitet, um damit fertig zu werden.«
»Gut.«
»Kommst du zurück?«
»Natürlich komme ich zurück. Weshalb fragst du?«
»Weil Lonergan sagte, daß du nicht zurückkommen wirst, nicht hierher. Er war zusammen mit Ronzi hier. Oben in der Wohnung hatten sie ein Gespräch, bei dem auch Persky anwesend war. Als sie wieder herunterkamen, sagte Lonergan, daß du das Blatt an Ronzi verkaufst und daß Persky die Leitung übernimmt. Lonergan und Ronzi gingen dann, und Persky sagte zu mir, ab nächste Woche würde ich nicht mehr gebraucht.«
Ich fühlte, wie kalte Wut in mir hochstieg. Mein Onkel zog seine übliche Nummer ab. Spielte Gott. »Blech«, sagte ich. »Das wird nicht passieren.«
»Was kannst du tun? Wenn du zurückkommst, finden sie dich und bringen dich um. Diese Kerle, die Killertypen, das sind wirklich üble, ganz üble Burschen.«
»Fahr nach Hause und warte dort, bis du von mir hörst.« Ich hängte auf und ging zur Abflugtafel. Um halb vier startete eine Maschine nach Los Angeles.
Und in der saß ich dann.
Der Gebrauchtwagenhändler, ganz auf biederer Geschäftsmann getrimmt, kniff die Augen gegen die tiefstehende Spätnachmittagssonne zusammen. »Und hier unser Sonderangebot für diese Woche. Die Fernsehwerbung für die Marke läuft auch heute wieder auf vollen Touren.«
Ich faßte das Corvair-Cabrio genauer ins Auge. Das schwarze Dach und die Vinyl-Sitze wirkten frisch poliert, buchstäblich auf Hochglanz gequält, und die gelbe, gleichfalls glänzende Karosserie schien einer »Wachskur« unterzogen worden zu sein. »Wieviel wollen Sie dafür haben?«
»Achthundert, inklusive. Und ehrlich - das ist direkt geschenkt. ‘65 hat der Wagen knapp zweieinhalbtausend gekostet. Ist noch wie neu, kaum gefahren.«
»Wieviel?«
»Überzeugen Sie sich selbst, da auf dem Tacho.«
Ich öffnete die Tür, warf einen Blick drauf. Rund dreißigtausend. Ich sah wieder zu ihm hin.
Er nickte. »Na, was sag ich. Ist doch praktisch nichts. Seine Hunderttausend macht der glatt. Hab ihn selbst ausprobiert. Die wahre Wonne, da am Steuer zu sitzen. Mit dem Wagen fährt man ruhig und sicher wie - wie in Abrahams Schoß.«
Ich hob die Motorhaube hoch. Der Motor machte soweit einen ganz ordentlichen Eindruck. Schien einigermaßen gründlich gesäubert worden zu sein. Was die Reifen betraf -sie hatten noch eine ganze Menge Profil drauf, sahen nicht sehr abgefahren aus. Ich ging zum vorderen Teil des Autos und öffnete den Kofferraum. Beim Corvair war alles andersherum: der Motor hinten, der Kofferraum vorn. Ich besah mir den Reservereifen. Hier fand sich aber auch nicht mehr die Spur von Profil. Stellenweise war der Reifen so stark abgefahren, daß durch den schwarzen Gummi kahle Flecken schimmerten.
Ich schaute meinen biederen Geschäftsmann auffordernd an. Er hatte die Antwort schon bereit. »Sie wissen ja, wie manche Leute sind. Drehen jeden Cent dreimal rum. Für einen Reservereifen wollen die am liebsten überhaupt nichts hinblättern.«
»Na schön. Kann ich mit dem Wagen eine Probefahrt machen?«
»Nicht nötig. Für den Fall, daß Sie nicht zufrieden sein sollten, haben Sie ja unsere Rückerstattungsgarantie. Reklamieren Sie innerhalb von drei Monaten, rechnen wir Ihnen den Preis voll auf jedes andere Auto an, das Sie wählen.«
»Trotzdem würde ich’s gern erst ausprobieren. Nur um zu sehen, ob ich mich auch wohl fühle.«
»Na, gar keine Frage. Natürlich fühlen Sie sich da drin wohl. Sie brauchen nur das Verdeck runterzuklappen, und schon fühlen Sie sich wohler als je in Ihrem Leben. Denn da fangen sofort die Bienen an, um Sie rumzuschwirren, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Na, bestens. Im Augenblick wüßte ich allerdings gern, ob er auch fährt.«
Ein oder zwei Sekunden starrte er mich stumm an, dann nickte er. »Okay.« Er drehte sich um und winkte einen Mann herbei. »He, Chico, fahr mal mit dem hier mit.«
Der Mexikaner hatte gerade an einem Auto herumgeputzt. Er ließ seinen Lappen fallen und trat zu uns. Ich stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Dem Geräusch nach lief der Motor einwandfrei. Ich schaltete das Radio ein, Rockmusik dröhnte auf. Der Reihe nach überprüfte ich alles. Auf Knopfdruck glitt das Verdeck ohne jede Schwierigkeit herunter. Die Scheibenwischer funktionierten tadellos. Ich schaltete die Scheinwerfer an, stieg dann aus und ging im Bogen um das Auto herum. Auch in diesem Punkt war alles einwandfrei.
Vor dem Wagen stehend, rief ich: »Fernlicht an!«
Der Mexikaner verstand. Gleich darauf flammte das Fernlicht auf. Alles bestens.
»Jetzt die Richtscheinwerfer.«
Sie schwenkten nach rechts, nach links. Gleichfalls in Ordnung. Ich stieg wieder ein. Der Biedermann beobachtete mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. »Möchte nur alles prüfen«, sagte ich.
»Ist schon okay.«
Ich lenkte das Auto vom Platz, fuhr eine kurze Strecke. Die Bremsen waren gut, die Gänge inklusive Rückwärtsgang nicht zu beanstanden, und auch die Steuerung konnte als recht ordentlich gelten.
Ich fuhr auf den Platz zurück, und der Mexikaner stieg aus und machte sich wieder an seine Arbeit. Der Biedermann kam herbei und lehnte sich gegen die Tür. Ich war am Steuer sitzen geblieben.
»Na, was meinen Sie?« fragte er.
»Ist okay«, sagte ich. »Sechshundert.«
Er lachte.
Ich zog das Geldbündel hervor, so daß er erst mal Witterung nehmen konnte. »Bargeld lacht«, sagte ich.
Er blickte auf die Scheine, dann zu mir. »Siebenhundertfünfzig.«
Ich strich mit dem Daumen über das knisternde Papier.
»S echshundertfünfundzwanzig.«
»Sieben.«
»Sechsfünfundsiebzig, und wir schließen ab.«
»Okay, das Auto gehört Ihnen. Kommen Sie ins Büro, damit wir die Papiere ausfüllen können.«
»In Ordnung.« Ich schaltete den Motor aus. Als ich wieder hochschaute, sah ich auf seinem Gesicht erneut jenen sonderbaren Ausdruck. »Sind Sie Rockmusiker?« fragte er.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Na, die machen sich ja meistens ziemlich irre zurecht. Ich habe sonst jedenfalls noch nie jemanden mit orangefarbenen Haaren gesehen.«
Ich betrachtete mich im Rückspiegel. Tatsächlich: Meine Haare hatten eine höchst merkwürdige Orange-Tönung angenommen. Scheiße. Was für ein Färbemittel mochte Denise da nur benutzt haben?
»Hatte Ihre Mutter vielleicht orangefarbene Haare?«
»Nein.«
»Oder Ihr Vater?«
Ich grinste ihn an. »Weiß ich nicht. Ich hab ihn nie ohne Hut gesehen.«
»Sieht wirklich komisch aus.«
»Das kann man laut sagen«, stimmte ich zu.
Ich meldete den Wagen unter Lonergans Namen und nannte seine Büroadresse. Nachdem wir die ausgefüllte Registrierkarte mit Klebeband an der Windschutzscheibe befestigt hatten, fuhr ich zu einem Geschäft für Büroartikel und kaufte dort vier Liter Gummilösung. Dann ging ich zu einem Telefon und rief Verita zu Hause an.
»Hallo.« Ihre Stimme klang nervös. Als sie erkannte, wer am Apparat war, atmete sie vor Erleichterung hörbar auf. »Oh, Gary, ich habe mir deinetwegen ja solche Sorgen gemacht. Wo bist du?«
»In der Stadt.«
»Zwei Männer sind mir in einem schwarzen Buick vom Büro nach Hause gefolgt. Jetzt steht das Auto auf der anderen Straßenseite, und sie sitzen drin.«
Überraschen konnte das kaum. Es war klar, daß sie früher oder später jeden beschatten würden, mit dem ich Verbindung aufnehmen mochte. Bloß - wer waren sie eigentlich? »Sehen sie aus wie Bullen?«
»Ich weiß nicht. Aber nach dem Nummernschild sind sie nicht von hier, sondern aus Nevada.«
Das war wirklich eine Hilfe. Um Bullen handelte es sich nicht. Wer die Kerle auch sein mochten - sie waren mir immer noch lieber als die losgelassene Bullenmeute von Los Angeles auf der Suche nach mir. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Die werden dir nichts tun. Sie wollen was von mir.«
»Das ist mir klar. Aber ich möchte dich sehen.«
»Wirst du auch. Könntest du für mich mit deinem Vetter Julio Vasquez Verbindung aufnehmen? Wir waren zusammen in Vietnam.«
»Er ist ein gefährlicher Mann, Gary.«
»Das weiß ich.« Julio Vasquez war der König der Chicano-Unterwelt. Dort geschah praktisch nichts ohne sein Wissen und ohne seinen Willen. »Aber die Männer, mit denen wir’s zu tun haben, sind gleichfalls gefährlich.«
»Ich werde ihn anrufen.«
»Versuche, ein Treffen für mich zu vereinbaren.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Für neun, falls möglich.« Jetzt war es ungefähr halb sieben.
»Gut, ich versuch’s.«
»Okay. In einer Stunde melde ich mich wieder.« Um ein Haar hätte ich hinzugefügt: »Frieden und Liebe.« Schien verflixt ansteckend zu wirken.
In einem nahen Schnellrestaurant stärkte ich mich mit einem Steak und Pommes frites. Die Stunde schleppte sich hin. Doch endlich hing ich wieder am Apparat.
»Er sagt, er kann sich erst um zehn mit dir treffen«, erklärte Verita, und ihr leichter Akzent klang stärker durch als sonst: Zeichen für ihre innere Anspannung.
»Na gut. Wo?«
»Er sagt, ich soll dich zur Garage bringen.«
»Sag mir, wo die ist. Dann kann ich allein hinfinden.«
»Das geht nicht. Ich habe ihm versprechen müssen, das niemandem zu sagen, auch dir nicht.«
»Hast du ihm von den beiden Männern vor deinem Haus erzählt?«
»Nein.«
»Dann ruf ihn noch einmal an und hol das nach. Ich melde mich in einer Viertelstunde wieder.«
Nach einer in Ruhe genossenen zweiten Tasse Kaffee wählte ich abermals ihre Nummer. »Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, nur keine Sorge. Er wird sich drum kümmern.«
»Okay.«
»Du sollst mit deinem Auto zu mir kommen, aber nicht direkt vor dem Haus parken, sondern um die Ecke. Um halb zehn verlasse ich die Wohnung, um dich unten zu treffen. Er will übrigens wissen, was für einen Wagen du fährst.«
»Ein gelbes Corvair-Cabrio mit schwarzem Verdeck.«
»Gemietet?«
»Gekauft.«
»Großer Fehler«, sagte sie. »Es wird behauptet, daß der Wagen nicht sicher ist.«
Ich lachte. »Allmählich gewöhne ich mich daran, gefährlich zu leben.«
Als ich, wie sie’s mir aufgetragen hatte, ein Stück von ihrem Haus entfernt »um die Ecke« hielt, sah ich einen hochgewachsenen Chicano in einer Lederjacke, der an einem Laternenpfahl lehnte. Es war genau fünfundzwanzig Minuten nach neun. Er trat zu mir ans offene Fenster. Über seiner rechten Brusttasche sah ich Buchstaben, die Initialen und einen Namen ergaben: J. V. Kings.
»Señor Brendan?« fragte er.
»Ja.«
»Setzen Sie sich auf den Rücksitz. Ich werde fahren.«
Das tat ich, und er schob sich hinters Lenkrad. Ohne den Kopf zu drehen, sagte er: »Am besten legen Sie sich gleich auf den Boden vor den Sitz.«
Übermäßig bequem war’s dort unten nicht. Ich nahm die Dosen mit der Gummilösung und stellte sie auf den Sitz.
Etwa eine Minute später hörte ich Veritas Stimme. »Qué pasa?«
Er sagte hastig etwas, gleichfalls auf spanisch. Auf der Beifahrerseite schwang die Tür auf. Verita nahm Platz, und ich spürte, wie sich die Rückenlehne ihres Sitzes leicht nach hinten wölbte. Jetzt sagte sie wieder etwas auf spanisch zu ihm. Das einzige Wort, das ich verstand, war »Buick«.
»Okay«, erwiderte er und ließ den Motor an. Dann legte er einen Gang ein. Wir waren höchstens hundert oder hundertfünfzig Meter gefahren, als ich hinter uns ein lautes Krachen hörte. Gedankenlos hob ich den Kopf und warf einen Blick durch die Heckscheibe.
Am Laternenpfahl bei der Ecke »hing« ein Buick. Ein Zweitonner hatte ihn dort festgeklemmt.
»Runter!« fauchte der Chicano.
Ich drehte mich um und sah, daß Verita mich anstarrte. »Hi, Baby«, sagte ich grinsend und legte mich wieder auf den Boden.
»Gary!« rief sie entsetzt. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Die sind ja orange.«
Nichts verriet mir, wo wir uns befanden. Das einzige, was ich vom Fußboden aus sah, waren die vorüberhuschenden Lichter der Straßenlaternen. Ungefähr zehn Minuten später bog der Chicano offenbar auf eine Rampe ein. Das Neonlicht, das jetzt hereinfiel, schien darauf hinzudeuten, daß wir in einem Parkhochhaus waren. Höher und höher ging es hinauf. Schließlich hielt der Wagen.
Der Chicano stieg aus. »Sie können jetzt aufstehen.«
Ich stemmte mich auf den Rücksitz hoch und saß dort einen Augenblick, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Dann stieg ich aus. Verita warf sich in meine Arme.
»Ich habe mir um dich solche Sorgen gemacht«, sagte sie.
Ich küßte sie auf die Wange. »Mit mir ist alles in Ordnung. Und mit dir?«
»Jetzt, wo ich dich sehe, fühle ich mich wieder besser.«
»Kommt«, sagte der Chicano.
Er führte uns zum Aufzug. Auf einem Schild neben der Tür stand: 5. Parketage. Wir stiegen ein, er drückte auf den Knopf, und rasch ging es hinunter zum Tiefparterre. Wir folgten ihm durch einen schlecht beleuchteten Gang zu einer Tür, die sich in einen hellerleuchteten Raum öffnete.
Ein paar Chicanos, alle in Lederjacken, genau wie unser Fahrer, hockten hingerissen vor einem Farbfernseher. Für uns hatten sie kaum einen Blick.
Unser Fahrer durchquerte den Raum und öffnete eine zweite Tür. Er sagte etwas auf spanisch, erhielt eine Antwort, kam zurück und sagte: »Ihr sollt reinkommen.«
Wir traten ein, und der Fahrer schloß hinter uns die Tür; er selbst blieb draußen. Julio saß hinter einem Schreibtisch. Vor ihm lagen irgendwelche Papiere und eine 9 mm Automatic, ein
häßliches, bläulich schimmerndes Ding. Er erhob sich, kam hinter dem Schreibtisch hervor, hielt mir die Hand hin.
Obwohl er keineswegs groß war, besaß er einen sehr kräftigen Händedruck. »Hallo, Lieutenant.«
»Hallo, Sergeant«, sagte ich und schüttelte ihm gleichfalls kräftig die Hand.
Die Zähne, die unter seinem Schnurrbart sichtbar wurden, wirkten sehr weiß. »Sie sehen ja so anders aus.« Er musterte mich verwundert. »Ihre Haare sind ja orange.«
»Scheiße«, sagte ich.
Er trat auf Verita zu und umarmte sie. Rasch wechselten sie miteinander ein paar spanische Worte. Dann setzte er sich wieder hinter, seinen Schreibtisch und forderte uns mit einer Handbewegung auf, auf den Stühlen davor Platz zu nehmen.
»Wir sind zwar eng miteinander verwandt, aber ich bekomme von der Familie nicht allzuviel zu sehen. Ist auch eine sehr große Familie. Manchmal glaube ich schon fast, daß es hier bei uns keinen einzigen gibt, mit dem ich nicht verwandt wäre.«
Ich nickte nur.
Er fuhr fort: »Wir sind sehr stolz auf sie. Sie hat an vielen Schulen und Universitäten studiert.«
»Julio!« rief sie und sprach dann spanisch.
Er lächelte. »Meine Kusine ist bescheiden. Sie mag es nicht, wenn ich sie rühme.« Sein Gesicht wurde ernst. »Sie sitzen schwer in der Klemme, Mann.«
»Das ist das Problem meines ganzen Lebens. Wenn ich nicht in der einen Scheiße sitze, dann in der anderen.«
»Na, diesmal stecken Sie jedenfalls besonders tief drin.«
Ich musterte ihn. Er schien ziemlich genau im Bilde zu sein. »Ja, allerdings«, sagte ich.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab, lauschte einen Augenblick, legte wieder auf. »Die beiden Männer aus dem Buick«, sagte er, »die sind jetzt im Gefängnishospital. Die
Polizei fand zwei Blasters und ein automatisches Gewehr in ihrem Wagen. Es sind Syndikatsmänner aus Vegas.« Er zündete sich ein Zigarillo an. »Offenbar ist man wirklich scharf darauf, Sie umzulegen, wenn man so viel schwere Artillerie herschickt.«
Ich grinste. »Die werden nicht sehr begeistert sein, wenn sie hören, daß es Ihr Laster war, der die Kerle matt gesetzt hat.«
»In meinem Revier haben die nichts zu suchen, wenn sie mich nicht vorher um Erlaubnis bitten.«
»Und hätten Sie ihnen dann Ihr Okay gegeben?«
Unsere Blicke trafen sich. »Um Sie zu schnappen, ja. Aber Verita hatten sie auf jeden Fall in Ruhe zu lassen.«
Ich schwieg. Er begriff sicher, woran ich dachte. Beide wußten wir, was ein Blaster anrichten konnte. Das hatten wir in Vietnam erlebt. Wäre Verita im Ernstfall in meiner Nähe gewesen, nur einen halben oder einen ganzen Meter von mir entfernt, so wäre sie genauso in zwei Teile geteilt worden wie ich.
»Warum wollen Sie mich sprechen?« fragte er.
»Ich glaube, das wissen Sie.«
Er schwieg einen Augenblick. »Es ist nicht mein Krieg.«
»In Vietnam, das war auch nicht unser Krieg. Und doch waren wir beide dort.«
Er wußte, was ich meinte. Damals war er vom Vietcong in einem mörderischen Kreuzfeuer festgenagelt worden. Die einzige Deckung, die es für ihn gab, bestand darin, unter Leichen zu kriechen: unter die Gefallenen seines eigenen Zuges. Doch es war nur eine Frage der Zeit, wann die Geschosse das tote Fleisch über ihm zerfetzen und ihren Weg zu ihm finden würden. Ich holte ihn heraus.
»Ich bin Ihnen eins schuldig, Lieutenant«, sagte er, als ich ihn zum Verbandsplatz schleppte. Eine Kugel hatte ihn im Schenkel erwischt. Er wurde nach Saigon zurücktransportiert, und er verstand es dann, sich im Vorratslager des Lazaretts einen Job zu verschaffen. Als ich ihn ein paar Monate später wiedersah, war er bereits der größte Drogen-Dealer in der Army.
Er hörte, daß ich Urlaub hatte, und suchte mich sofort auf. Während der nächsten vier Tage glaubte ich, in einer Phantasiewelt zu leben. Als erstes holte er mich aus dem Loch raus, in dem ich einquartiert war, und sorgte dafür, daß ich im besten Hotel eine Suite bekam. Und dann ging’s richtig los, eine Party ohne Ende: Whisky, Champagner und Drogen aller Art, außerdem Delikatessen in Hülle und Fülle und jede Menge Mädchen. Er beschaffte mir sogar Papiere, die mich dazu berechtigt hätten, in Saigon zu bleiben. Aber damals gehörte ich noch zu den Beschränkten. Ich kehrte zu meiner Einheit zurück.
Ich erinnere mich noch, wie wir, unmittelbar bevor ich ins Flugzeug stieg, zusammen an der Startbahn standen. »Mann, das war zuviel«, hatte ich gesagt. »Wie wollen Sie sich nur eingewöhnen, wenn Sie wieder zu Hause sind?«
Er lächelte, doch hinter dieser Maske war er sehr ernst. »Ich bin reich, Lieutenant«, sagte er, »und ich habe hier draußen viel gelernt. Wenn ich wieder zu Hause bin, dann wird mir die Stadt gehören. Scheint ohnehin an der Zeit, daß die Mexikaner sie zurückerobern.«
Später erfuhr ich, daß er bei seiner Rückkehr nach Los Angeles nicht nur über ein Schweizer Bankkonto verfügte, sondern auch rund zehn Kilo über seinem Normalgewicht wog. Rings um seinen Körper hatte er, von den Achselhöhlen bis zu den Hüften, Cellophanbeutel mit purem, unverschnittenem Schnee gebunden. Später, in den Städten des Ostens, auf ein Zwanzigstel verschnitten, besaß diese Menge einen Straßenverkaufswert von zehn Millionen Dollar.
Dorthin, so hörte ich, war es von ihm auch sehr bewußt gelenkt worden. »Sollen die Nigger und die Spaghettifresser es doch haben«, hatte er gesagt. »Für Mexikaner ist das nichts.
Die sniffen und snorten und smoken zwar, und sie fressen und saufen, aber wenn sie eine Nadel in sich reinstecken müßten, kneifen sie, weil sie alle Feiglinge sind und ihr eigenes Blut nicht sehen können.«
So lautete eine Version. Eine andere besagte allerdings, er habe das Zeug verwandt, um mit dem Syndikat zu einer Abmachung zu gelangen: Indem er den Schnee für ein Zehntel des wirklichen Werts hergab, sicherte er sich die Herrschaft in seinem Revier.
Ob die erste oder die zweite Version der Wahrheit entsprach oder ob diese ganz anders aussah, ich wußte es nicht. Tatsache war allerdings: Es war wirklich sein Revier. Seit er im mexikanischen Viertel die Oberhand hatte, ging es dort ruhiger zu. Selbst der Schulbesuch sollte sich gebessert haben.
Ich blickte zu Verita. »Ich will mit deinem Vetter über bestimmte Dinge sprechen. Ich möchte nicht, daß du darin verwickelt wirst.«
»Ich stecke bereits drin. Ich habe dich hergebracht.«
»Du bist Juristin. Du weißt, was ich meine. Solange du von nichts weißt, gibt es für dich auch keine Mitwisser- oder Mittäterschaft.«
Sie blieb stumm, doch der Ausdruck von Trotz auf ihrem Gesicht war unverkennbar.
Julio sagte etwas auf spanisch, im Stakkato-Ton. Seine Stimme klang scharf, befehlend. Wortlos stand sie auf und ging hinaus. Er sah mich an. »Also -«
»Sie braucht für alle Fälle Schutz«, begann ich. »Und ich meine, Sie sollten -«
»Schon erledigt«, unterbrach er mich. »Gleich nachdem sie mich anrief und mir von den beiden Männern erzählte.«
»Gut. Ich brauche für die nächsten zwölf Stunden sechs von Ihren Leuten.«
»Pistoleros?«
»Nein. Eine Schießerei wird es nicht geben. Aber ich brauche zähe Jungs, die nicht auf den Kopf gefallen sind und rasch und umsichtig handeln können.«
Er grübelte einen Augenblick. »Warum kommen Sie zu mir? Weshalb gehen Sie nicht zu Lonergan? Der ist doch Ihr Partner.«
»Er ist nicht mein Partner. Er ist mein Onkel, und ich trau ihm nicht. Dank seiner Manipulation war ich schon halb auf dem Weg nach Hawaii, während er mich verkaufte. Wenn ich dem noch weiter die Zügel lasse, dann sitze ich im Nu total pleite auf dem Arsch.«
»Mag sein. Aber Sie wären endgültig aus der Schußlinie und lebendig.«
»Ja. Bloß was für ein Leben? Davon habe ich endgültig die Schnauze voll. Ich bin fest entschlossen, auch mal vom guten Leben zu kosten. Und zwar richtig. Die Lektion hätte ich schon vor langer Zeit lernen können und müssen - damals von Ihnen, bei dem Wochenende in Saigon. Aber dazu war ich ganz einfach zu dumm, damals.«
Seine Augen wirkten ausdruckslos, ohne ein Lächeln oder was immer. »Was erwarten Sie denn, was bei der Sache herauskommt? Für Sie? Ihnen muß doch klar sein, daß Sie nicht gewinnen können. Die Burschen behalten das bessere Ende für sich, und das wissen Sie auch.«
»Es ist wieder ganz wie in Vietnam, nur ist es diesmal mein Krieg, und ich kämpfe für mich selbst. Wenn ich mit denen fertig bin, werden sie glauben, ich hätte eine ganze Armee und nicht nur sechs Mann. Welches Ziel ich bei alldem verfolge? Ich brauche eine bessere Ausgangsbasis für Friedensverhandlungen. Das Blatt ist mir scheißegal. Das können sie haben. Ich will nur, daß bei der Sache für mich genügend Geld herausspringt, um etwas anderes aufbauen zu können.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ein Magazin, ein richtiges Magazin. Im Augenblick hat Playboy den Markt ganz für sich allein. Ich könnte was Besseres aufziehen. Und ich würde, nein, ich werde damit Geld verdienen, unheimlich viel Geld.«
»Was die Finanzierung angeht, die wäre doch sicher kein Problem. Lonergan würde die nötige Summe bestimmt hinlegen, ich übrigens auch. Und es gibt wohl Dutzende von Leuten, an die Sie sich wenden könnten.«
»Ich will keine Partner. Ich will ganz und gar mein eigener Herr sein.«
»Jeder hat Partner.«
»Sie auch?«
Er schwieg einen Augenblick. »Ich möchte nicht, daß meinen Jungs was passiert.«
»Es wird ihnen nichts passieren.«
»Und wenn jemand auf sie schießt?«
Ich blieb stumm.
Er nahm die 9 mm vom Schreibtisch und stand auf. »Kommen Sie mit«, sagte er.
Durch die zweite Tür gelangten wir in einen Korridor. Julio schaltete das Licht an. Am Ende des Korridors befand sich ein schalldichter Schießstand.
»Sie waren doch mal ein ganz guter Schütze«, sagte er und reichte mir die Pistole.
Ich nahm die Waffe, entsicherte sie und schoß dann das ganze Magazin leer. Nachdem ich die Pistole gesenkt hatte, ging er zur Zielscheibe und kam sogleich, die Scheibe in der Hand, wieder zurück. Das Schwarze in der Mitte war praktisch völlig zerfetzt, kaum mehr als ein klaffendes Loch. »Die haben alle im Schwarzen gesessen«, sagte er. »Sie sind noch immer gut.«
Ich gab keine Antwort.
»Sie sind der Pistolero. Sie haben die Verantwortung für meine Jungs.«
»Okay.«
Wir gingen zu seinem Büro zurück, und er gab mir einen frischen Ladestreifen mit Patronen. Ich lud und vergewisserte mich dann, daß die Waffe gesichert war. Jetzt steckte ich sie in meinen Gürtel.
»Okay«, sagte er, »dann wollen wir mal zum geschäftlichen Teil kommen. Was ist für mich drin?«
Ich lächelte ihn an. »Ich fliege mit Ihnen für vier Tage nach Saigon, und wir sind quitt.«
Einen Augenblick starrte er mich stumm an, dann brach er in Gelächter aus. »Das war damals wirklich ein verrücktes Wochenende«, sagte er.
Ich sah, wie sie vorn in den Kofferraum des Corvair den letzten Sandsack packten. Weitere Sandsäcke waren bereits seitlich und außerdem hinten verstaut. Ich kniete mich hin und blickte unter den Wagen, um mich davon zu überzeugen, daß die Räder durch nichts behindert wurden. Vorn hatten wir extrastarke Stoßdämpfer anmontiert. Schien soweit alles in Ordnung zu sein.
Ich stieg ein und ließ den Motor an. Im Garagenraum fuhr ich mit dem Auto umher. Es war leicht zu manövrieren, irgendwelche Schwierigkeiten mit der Lenkung gab es nicht. Ich schaltete den Motor ab und stieg aus.
Der Chicano, der mich zum Parkhaus gefahren hatte, trat auf mich zu. »Wir haben den Sturzhelm und die Schulterpolster.«
»Dann mal her damit«, sagte ich. »Werd’ die Sachen gleich mal anprobieren.«
Es handelte sich um einen Sturzhelm und Schulterpolster, wie sie zur Ausrüstung eines Footballspielers gehören. Ich setzte den Helm auf, schob den Kinnschutz an Ort und Stelle, zog das Visier herab. Paßte alles wie angegossen. Ich nahm den Helm wieder ab und warf ihn auf den Vordersitz des Corvair. Dann zog ich mein Hemd aus und legte mir die Schulterpolster an. Jetzt versuchte ich, mein Hemd darüber zu ziehen. Doch kaum bewegte ich mich, so platzte es auch schon.
»Im Spind des Mechanikers ist ein größeres Hemd«, sagte der Chicano.
»Danke. Ich bin unten im Büro zu finden.«
»Die Schriftmaler sind fertig. Wollen Sie sich das noch ansehen, bevor Sie runterfahren?«
»Okay.« Ich folgte ihm zur anderen Seite hinüber. Stramm war über Holz weißes Tuch gespannt.
Der Chicano gestikulierte. »Haltet das so«, sagte er zu den Leuten, »daß er’s am Lieferwagen richtig sehen kann.«
Die Männer hoben die Bretter mit dem darübergespannten Tuch hoch und befestigten das Ganze seitlich am Lieferwagen. Die Buchstaben, in glänzendem Schwarz, bildeten einen sacht gewölbten Bogen. Die Blumenfarm stand dort und darunter, in Kleinbuchstaben: beverly hills. Es sah albern genug aus, um echtes Beverly Hills zu sein.
»Gut«, sagte ich. »Packt das jetzt in den Lieferwagen. Ich verständige euch dann, wenn ihr’s endgültig anbringen sollt.«
Ich fuhr nach unten.
Julio sprach mit Verita und wandte sich dann zu mir. »Alles okay, Lieutenant?«
»Könnte nicht besser sein.«
»Dein Hemd ist geplatzt«, sagte Verita.
»Ich besorge mir ein anderes.«
»Wann willst du etwas wegen deiner Haare unternehmen?«
»Gegen halb elf sollte ich wieder hier sein. Dann werden wir uns darum kümmern.«
»Ich werde sehen, daß ich was dafür besorge. Komm zu meiner Wohnung.«
»Nein, du bleibst hier. Wir haben’s nicht mit Kindern zu tun. Wenn die hören, was ihren Leuten passiert ist, werden sie vielleicht versuchen, dich zu schnappen, und ich möchte nicht, daß dir etwas passiert.«
»Ich nehme sie mit in mein Haus«, sagte Julio. »Meine Mutter wird sich freuen, sie zu sehen.«
Der Chicano trat ein. Er brachte ein blaues, verwaschenes Mechanikerhemd, das ich mir sofort anzog. Von meiner Statur hätten zwei hineingepaßt. Ich ließ es über die Jeans herabhängen.
Dann warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war jetzt Viertel vor drei morgens. »Zeit zum Start«, sagte ich.
Verita stand auf. »Gib gut auf dich acht.«
Ich küßte sie auf die Wange. »Natürlich.« Ich blickte zu Julio. »Danke.«
Sein Gesicht wirkte ernst. »Schon gut. Ich komm schon auf meine Kosten.«
»Trotzdem vielen Dank.«
»Passen Sie ja gut auf meine Jungs auf.«
»Darauf können Sie sich verlassen.«
Ich fuhr zum Garagenraum hoch, trat ans Auto. »Habt ihr die Matratze beschafft?«
»Ist auf dem Rücksitz, genau wie Sie’s gesagt haben.«
»Gut.« Ich warf einen Blick auf den Wagen. Obwohl zusammengeklappt, nahm die Matratze den Rücksitz in seiner gesamten Breite ein. »Einer von euch kann mit mir fahren. Die übrigen folgen im Lieferwagen.«
»Ich werde mit Ihnen fahren«, sagte er.
Weder in den Wohnvierteln noch auf der Schnellstraße gab es um diese Zeit Verkehr. Zwanzig Minuten nach drei bremste ich in Encino vor Ronzis Lagerhaus. Hinter mir hielt der Lieferwagen.
Das nächste Gebäude war ein weiteres Lagerhaus am Ende der Straße, die leer zu sein schien. Ich stieg aus. Der Chicano folgte mir, und einer der Männer aus dem Lieferwagen stieß zu uns.
»Wartet hier«, sagte ich. »Ich will mal nach dem Nachtwächter sehen. Falls ihr irgendwelchen Lärm hört, dann wartet nicht lange, sondern macht, daß ihr fortkommt.« Ich überquerte die Straße, schwang mich die Laderampe hoch und blickte ins Fenster. Vom Büro im hinteren Teil des Lagerhauses kam Licht, doch ich konnte nicht sehen, ob sich dort irgend jemand befand. Ich sprang von der Laderampe herunter, ging zur Rückseite des Gebäudes und stieg die Eingangsstufen rauf. Durchs Fenster konnte ich ins Büro schauen. Es war leer.
Damit hatte ich gerechnet, und darauf hatte ich gebaut. Bei den Verbindungen, über die er verfügte, fühlte Ronzi sich verdammt sicher, zu verdammt sicher. Offenbar war er fest davon überzeugt, daß niemand es wagen würde, sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
Ich stieg die Eingangsstufen wieder runter, ging seitlich um das Gebäude herum zum Parkplatz und zählte die Lieferwagen, die dort standen. Es waren vierzehn. Ich ging über die Straße zurück.
»Alles klar«, sagte ich und holte die Dosen mit der Gummilösung aus dem Corvair. Die Jungens versammelten sich um mich. »Ich möchte, daß ihr bei jedem der Lieferwagen dort etwa ein Viertel vom Inhalt dieser Dosen in den Benzintank tut.«
»Und was wird dann?« wollte einer wissen. »Fliegt der Motor in die Luft?«
»Nein. Aber den Motoren wird sozusagen die Luft ausgehen.«
»Man kann sie nicht mehr anlassen?«
»Doch, das kann man schon. Aber so fünf oder zehn Kilometer von hier fangen sie an zu stottern und haben sich bald ausgestottert.«
Sie lachten. »Mann! Da werden die Fahrer nur so schäumen.«
»Los jetzt«, sagte ich und öffnete eine Dose. »In zehn Minuten will ich von hier weg sein.« Ich wandte mich an den Chicano. »Ich möchte, daß in jedem unserer Autos einer von den Jungens am Steuer sitzt, damit wir sofort losfahren können, wenn wir zurückkommen.«
Er nickte und sagte kurz etwas auf spanisch. Aus der Gruppe löste sich einer und ging zum Lieferwagen. Er schien untröstlich, weil ihm nun der Spaß entgehen würde. Ein zweiter stieg in mein Auto und setzte sich dort hinters Steuer. Wir übrigen rannten über die Straße zum Parkplatz.
»Teamarbeit«, rief ich den anderen leise zu. »Immer zu zweit -einer macht den Tank auf, der andere schüttet das Zeug rein.«
Alles klappte so reibungslos, als hätten wir’s zuvor tagelang eingeübt. In nicht einmal einer Viertelstunde waren wir fertig und schon wieder davon.
Um vier Uhr waren wir wieder in Los Angeles und fuhren an der Silver Stud Bar vorbei. Unmittelbar dahinter bog ich in die Seitenstraße ein, und der Lieferwagen folgte mir. Hundert Meter weiter hielt ich.
»Okay«, sagte ich zu dem Chicano.
Er nickte. Was er zu tun hatte, wußte er. Während ich mir den Sturzhelm aufsetzte, ging er zum Lieferwagen und stieg dort ein. Der kleine Laster setzte sich in Bewegung. Wenig später hielt er nicht weit von der Silver Stud Bar.
Jetzt nahm ich die Matratze vom Rücksitz und baute sie vorn vor dem Beifahrersitz auf. Ich schob mich dahinter, zog die Sicherheitsweste an und schnallte sie fest. Das Auto vom Beifahrersitz aus zu steuern, zumal unter so erschwerten Umständen, würde alles andere als leicht sein, aber was half’s. Ich beugte mich seitlich über das Lenkrad und signalisierte mit meiner Taschenlampe.
Vom Lieferwagen kam sofort Antwort, ein kurzes Aufblitzen. Sie waren bereit. Ich stellte den linken Fuß auf die Bremse und legte den ersten Gang ein. Noch immer zur Seite gebeugt, um das Lenkrad halten zu können, wartete ich.
Eine Stunde schien zu vergehen, doch sicher waren es höchstens fünfzehn Minuten. Endlich kam das Signal. Die Scheinwerfer des Lieferwagens leuchteten zweimal kurz nacheinander auf. Die Straße war frei, so daß ich mit dem Corvair quer über die Fahrbahn fahren konnte. Was jetzt folgte, war eine Sache von nur wenigen Sekunden.
Ich nahm den Fuß von der Bremse, trat aufs Gaspedal. Der Start war gut, die Beschleunigung enorm. Im Bogen lenkte ich den Wagen über den Bürgersteig und dann direkt, quer über die Fahrbahn hinweg, auf die Silver Stud Bar zu. Wenigstens fünfzig bis sechzig Sachen hatte ich jetzt drauf. Mir blieb gerade noch genügend Zeit, die Matratze über mich zu zerren, bevor das Auto gegen die Eingangstür prallte und sie mit ohrenbetäubendem Krachen durchbrach. Holz splitterte, Glas klirrte, dann schrillte die Alarmanlage. Das kleine Auto pflügte in den Saloon und durch die Theke. Erst nachdem der Wandspiegel dahinter zersplittert war, kam es zum Stillstand.
Einen Augenblick saß ich benommen. Dann streckte ich automatisch die Hand nach dem Schlüssel, um den Motor abzustellen. Der Saloon glich einem Trümmerfeld. Mobiliar lag wild durcheinander. Rasch befreite ich mich von der Schutzweste.
Mit beiden Füßen stieß ich die verklemmte Tür auf und stieg aus. Ich warf noch einen letzten Blick zurück auf den Corvair.
Von wegen der hielt nichts aus! Nicht mal die Windschutzscheibe war zu Bruch gegangen. Ich rannte hinaus und sprang in den Lieferwagen, der sich bereits in Bewegung setzte.
»Einfach toll, Mann!«
»War wirklich die Wucht!«
»Er ist ein echter bracero!«
»Silencio!« rief der Chicano, der am Steuer saß, und schaute mich fragend an. »Was jetzt?«
Meine Armbanduhr zeigte halb fünf. Bis zur nächsten Aktion mußten wir vier Stunden warten. »Suchen wir uns ein Restaurant«, sagte ich. »Ich glaube, wir können jetzt was vertragen.«
Als ich mit dem Lieferwagen vor dem Grundstück beim Mulholland Drive hielt, war es zehn vor neun. Ich beugte mich hinaus und drückte auf den Signalknopf.
Am leisen Surren hörte ich, daß die Überwachungskamera in Gang gesetzt worden war. Dann erklang eine Stimme: »Wer ist da?«
»Blumenlieferung.«
Ich sah, wie sich die Kamera bewegte und den Lieferwagen abtastete. Keine Frage, daß man drinnen im Haus die Aufschrift auf der Seitenwand las. »Okay«, sagte die Stimme.
Die Torflügel schwangen auf, und ich fuhr bis zum Haus und stieg aus. Dann ging ich nach hinten, öffnete die Ladetür des Lieferwagens und nahm den riesigen Korb mit den Blumen heraus. Die Jungens beobachteten mich aufmerksam. Jetzt ging ich zum Hauseingang.
Noch bevor ich auf die Klingel drücken konnte, öffnete sich die Tür. Ich sah einen vierschrötigen Mann vor mir. Sofort schob ich ihm den großen Blumenkorb entgegen. Automatisch griff er mit beiden Händen danach. Und starrte dann, völlig überrumpelt, auf meine Pistole.
»Kein Wort!« sagte ich leise und hielt ihm den Lauf dicht vors Gesicht. Ich schob ihn ins Haus zurück. Gleich darauf waren die Jungens hinter mir versammelt, Baseballschläger in den Händen. Der Chicano gab mir meinen Sturzhelm, und ich stülpte ihn mir über den Schädel.
Das Gesicht des Mannes war kreideweiß. Es spiegelte nackte Furcht. In unseren Sturzhelmen mit heruntergelassenem Visier boten wir sicher keinen sehr friedfertigen Anblick.
»Dir wird nichts passieren«, beschwichtigte ich ihn. »Jedenfalls nicht, wenn du lieb und brav bist. Stell den Blumenkorb hin und mach ja keinen Lärm.«
Er stellte den Korb auf den Fußboden.
»Wo ist das Hauptschlafzimmer?« fragte ich.
»Oben.«
»Okay. Dann leg dich hier lang hin, Gesicht zum Fußboden.«
In wenigen Sekunden war er gefesselt und hatte einen Klebstreifen über dem Mund.
Ich blickte zum Chicano. »Einer von euch bleibt hier, die übrigen kommen mit.«
Er nickte. Ich lief die Treppe hinauf und sah, daß es im oberen Stockwerk nur zwei Türen gab. Ich öffnete die erste. Der Raum dahinter war offenbar eine Art Arbeitszimmer. Es war leer.
Ich fand ihn im anderen Zimmer. Er saß im Bett und schlürfte Orangensaft: durch einen Strohhalm, der in einer Öffnung seines noch immer bandagierten Gesichts steckte. »Was, zum Teufel«, murmelte er und streckte die Hand nach dem Knopf neben sich.
Ich richtete die 9 mm auf ihn. »Nur zu«, sagte ich. »Im selben Moment, wo Sie auf den Knopf da drücken, fahren Sie zur Hölle.«
Seine Hand zuckte zurück, als fürchte er, sich an einem rotglühenden Eisen zu verbrennen. »Was wollen Sie?« fragte er mit zitternder Stimme.
Mit einem kurzen Nicken gab ich dem Chicano das Zeichen. Die Jungens wußten, was sie zu tun hatten. Einer ging ins Bad, die übrigen - mit Ausnahme des Chicano - verteilten sich im Haus. Sekunden später erklangen unverkennbare Geräusche. Krachen und Splittern verriet, daß dort die Fetzen flogen.
Ich trat auf das Bett zu und brachte die elektronische Alarmvorrichtung außerhalb seiner Reichweite.
»Hier ist weder Geld noch Schmuck«, versicherte er.
»Interessiert uns auch gar nicht«, erklärte ich. »Was - was wollen Sie dann?«
Auf dem Tisch neben dem Bett sah ich eine Schere. Ich gab dem Chicano meine Pistole. »Halt sie auf ihn gerichtet«, sagte ich und griff nach der Schere. Dann beugte ich mich über ihn und begann, ihm die Bandage vom Gesicht zu schneiden. »Was tun Sie da!?« rief er schrill.
»Möchte’ nur mal sehen, ob sie dir auch das Gesicht hübsch zurechtgeflickt haben, Kitty.«
Er stutzte. Offenbar begriff er erst jetzt, was sich überhaupt abspielte. »Du!?«
Ich schob das Visier hoch. »Hallo. Überrascht?«
Er starrte mich an, brachte kein Wort hervor. Auch der letzte Fetzen der Bandage war jetzt herunter. Ich betrachtete seinen Unterkiefer. »Ich frage mich«, sagte ich, »was wohl passieren würde, wenn es irgend jemandem plötzlich einfiele, diese Drähte da herauszuziehen.«
Er schrak vor mir zurück. Einer nach dem anderen kamen die Jungens wieder ins Schlafzimmer, und der Chicano sagte: »Sie sind fertig.«
Ich nahm die Pistole aus seiner Hand. »Okay. Laßt mich mit ihm allein. Geht nach unten, ich komme nach.«
»Jetzt wird er umgelegt, wie?« fragte einer.
Ich gab keine Antwort.
»Vamos!« sagte der Chicano.
Ich wartete, bis alle draußen waren. Dann sagte ich: »Das sollte dir nur beweisen, daß ich Freunde habe. Bis heute abend um sechs hast du Zeit, mir im Klartext mitzuteilen, daß du die Killer zurückgepfiffen und den Kontrakt mit ihnen widerrufen hast. Tust du das nicht, bist du ein toter Mann. Sollte mir vor Ablauf der Frist etwas passieren, bist du gleichfalls geliefert. Am besten fängst du gleich an zu beten, daß ich hübsch gesund und munter bleibe.«
Ich hob die Pistole, drückte ab. Über ihm schlug die Kugel ins Kopfbrett. »Wir verstehen uns doch?«
Es wäre Unsinn gewesen, auf eine Antwort zu warten. Kitty war längst in Ohnmacht gesunken.
Ich verließ das Schlafzimmer und ging hinunter. Im ganzen Haus lagen Trümmer, Scherben und Splitter herum. Nichts schien heil geblieben zu sein.
Zusammen gingen wir raus zum Lieferwagen. Während der Rückfahrt zur Stadt waren die Jungens sehr schweigsam. Doch schließlich konnte einer von ihnen die Frage nicht länger zurückhalten.
»Haben Sie ihn umgelegt?«
»Nein. Aber eine Mordsangst habe ich ihm eingejagt.«
Er schwieg einen Augenblick. »Wissen Sie, so ein Haus hab ich noch nie gesehen. Da war alles so hübsch, daß es mir richtig leid tat, so was zu zerschlagen.«
In Julios Büro ließ ich mich auf die Couch fallen. Als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits halb drei am Nachmittag. Julio saß hinter seinem Schreibtisch und beobachtete mich. Ich rollte herum, setzte mich hoch.
Er erhob sich, trat zu einem Schrank, öffnete ihn. Aus einer elektrischen Kaffeekanne, die auf einem kleinen Kühlfach stand, goß er Kaffee in eine Tasse und brachte sie mir.
Die schwarze, sehr heiße Flüssigkeit schien mir buchstäblich Leben einzuhauchen. »Danke«, sagte ich.
»De nada«, war seine Antwort. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Lonergan sucht überall wie verrückt nach Ihnen.«
»Was will er?«
Er hob die Schultern. »Quién sabe? Lonergan vertraut sich keinem an.«
Ich trank wieder einen Schluck Kaffee. »Ich glaube, ich sollte ihn mal anrufen. Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
»Nur zu.«
Die Mädchenstimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldete, versicherte mir, er sei momentan nicht zu erreichen. Als ich dann meinen Namen nannte, hatte ich ihn jedoch Sekunden später am Apparat. »Wo bist du?« fragte er.
»Nicht in Hawaii, soviel steht fest. Ich höre, daß du nach mir suchst.«
Seine Stimme behielt ihren neutralen Ausdruck. »Bist du verrückt geworden? Was hast du dir da in den Kopf gesetzt? Was soll das Ganze?«
»Nun, eins hab ich in Vietnam immerhin gelernt - wer in der Schlacht zu türmen versucht, kriegt eine Kugel in den Rücken.«
»Bin ich deshalb vorige Nacht auf deine Schwarze Liste geraten?«
»Kaum war ich - wie du jedenfalls annahmst - auf dem Weg nach Hawaii, da sahst du deine Chance, hinter meinem Rücken mein Blatt zu verscheuern.«
»Das war ein Handel, um -«
»Feiner Handel!«
»- um dein Leben zu retten«, fuhr er unbeirrt fort.
»Hat nur nichts genützt«, sagte ich. »Jedenfalls kann ich nicht behaupten, daß mich deine Verhandlungskünste sehr begeistern - wo vor dem Haus meiner Freundin die Killer auf mich warteten, bis an die Zähne bewaffnet. Die waren offenbar nicht zurückgepfiffen worden.«
Er schwieg einen Augenblick. »Das wußte ich nicht.«
»Du scheinst nicht mehr ganz auf Ballhöhe zu sein, Onkel John. Ich dachte, es ist deine Devise, immer alles zu wissen.«
»Kitty hat den Kontrakt inzwischen aufgehoben, von da droht also keine Gefahr mehr. Aber denen im Osten liegst du immer noch gewaltig im Magen, und Ronzi sagt, wenn er dich sieht, will er dich höchstpersönlich auseinandernehmen.«
»Du kannst Ronzi sagen, daß er gestern nacht mehr als glimpflich davongekommen ist. Ich hätte sein ganzes Lagerhaus bequem in die Luft jagen können, wenn das meine Absicht gewesen wäre. Er und seine gelackten Hintermänner sollen mal schön cool bleiben und die Sache genau durchkalkulieren. Wenn sie meinen, ich lasse mich so einfach ausbooten, dann sind sie gewaltig auf dem Holzweg, das sollte ihnen allmählich aufgehen. Bei einem echten Handel springt für beide Teile mehr heraus.«
»Du klingst ganz schön rotzig«, sagte Lonergan.
»Ich habe sie in der Schußlinie, und sie können praktisch nirgends in Deckung gehen. Ich kann zuschlagen, wann’s mir paßt. Bevor die reagieren können, bin ich schon wieder weg.«
»Und du glaubst wirklich, daß du damit durchkommst?«
»Nun, ich habe in Reverend Sams Mission etwas gelernt. Die Schwerter der Gerechten sind mächtig. Und ich bin auf Gottes Seite.«
»Was soll das heißen? Hast du die Mission hinter dir - oder
was?«
Ich lachte. »Das fragst du doch nicht im Ernst, Onkel John. Du weißt doch, wie deren Wahlspruch lautet: Frieden und Liebe.«
»Wie sehen deine Forderungen also aus?«
»Sage Ronzi, daß ich sein letztes Angebot akzeptiere. Einhunderttausend Dollar, und das Blatt gehört ihm. Ich werde dann ganz brav und leise vom Schauplatz verschwinden.«
»Ruf mich in einer Stunde wieder an.«
Ich legte auf und blickte zu Julio.
»Sie haben cojones, Lieutenant«, sagte er. »In dem Augenblick, wo Sie von hier fortgehen, sind Sie ein toter Mann.«
»Wieviel Zeit bleibt mir?«
»Wann rufen Sie ihn wieder an?«
»In einer Stunde.«
»Bis dann.«
Die Tür ging auf, und einer der Burschen trat ein. Er stellte ein Tablett auf den Schreibtisch und verschwand wieder. Julio entfernte das Tuch, mit dem es zugedeckt war, und ich sah Tortillas, Enchiladas, Hamburgitas und Teller mit heißem Chili. »Hungrig?« fragte er. Ich nickte. Sprechen konnte ich nicht, denn wie mit einem Schwall lief mir im Mund das Wasser zusammen. Während ich einen Stuhl näher zum Schreibtisch rückte, schob Julio mir das Tablett hin. Der Verurteilte aß eine sehr herzhafte Henkersmahlzeit.
»Ronzi sagt, er will sich erst mit dir treffen, sonst wird aus dem Handel nichts«, berichtete Lonergan.
Ich überlegte einen Augenblick. Konnte sein, daß sie mir eine Falle stellten. Doch eine Wahl hatte ich nicht. Die Trickkiste war leer, da lief im Augenblick nichts. Also ...
»Okay«, sagte ich. »Heute abend um zehn in der Redaktion.«
»Wir sehen dich dann«, erwiderte er und legte auf.
Meine Augen suchten Julio. »Ich gehe jetzt. Vielen Dank für alles.«
Er nickte mit ausdruckslosem Gesicht. »Ist okay.«
»Nur eine Bitte habe ich noch. Sorgen Sie dafür, daß Verita geschützt bleibt, bis Sie etwas von mir - oder über mich -hören.«
»Genau das war meine Absicht.«
Als ich bereits an der Tür war, hörte ich hinter mir seine Stimme. »Lieutenant.«
Ich drehte mich zu ihm um.
»Ihre Haare«, sagte er, »dieses Orange, einfach scheußlich. Sie sollten dagegen schleunigst was unternehmen. Muß doch jeder glauben, daß Sie ‘n Warmer sind.«
Ich lachte. »Gut, ich werde mich drum kümmern.«
Er grinste, stand dann auf und trat mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Hals- und Beinbruch, Lieutenant.«
Ich spürte seinen kräftigen Händedruck. »Danke.«
»Und falls Sie sich’s am Ende doch noch anders überlegen sollten - das mit einer Partnerschaft, meine ich -, dann können Sie von mir jede Summe bekommen.«
»Wird ich nicht vergessen, Julio.« Ich öffnete die Tür.
»Vaya con Dios, Lieutenant.«
Die Straße war jetzt, am Nachmittag, voller Leute, die Einkäufe machen wollten oder bereits gemacht hatten. Viele Frauen schleppten sich mit Tragbeuteln ab und zerrten ihre Kinder hinter sich her. Sehr bald wurde mir bewußt, daß die meisten geradezu mißtrauisch mein Haar anstarrten. Ich kam mir vor wie die allerneueste Zirkusattraktion in der Stadt.
In einem Schaufenster sah ich mein Spiegelbild. Julio hatte recht. Allerdings schien sich die sonderbare Tönung ein wenig abgewandelt zu haben: Das war nicht mehr die Farbe einer Orange, sondern einer Mandarine - einfach lächerlich.
Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich einen UnisexSchönheitssalon. Ich gab mir einen Ruck, ging hinüber und trat ein. Das Geschäft war durch eine Zwischenwand in zwei Hälften geteilt, eine für Frauen, eine für Männer. Ein Typ in violetter Jacke tänzelte auf mich zu. »Was kann ich für Sie tun, Sir?«
»Können Sie meinen Haaren wieder ihre normale Farbe geben?«
»Was für eine Farbe ist das?«
Ich öffnete mein Hemd, so daß er die Haare auf meiner Brust sehen konnte.
Seine Stimme hob sich zu einem nahezu schrillen Schrei. »Sie sind ja naturblond! Wie konnten Sie sich so etwas nur antun?«
»War gar nicht so leicht.«
»Oh - das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Wir müssen es entfärben, konditionieren -«
Ich unterbrach ihn. »Ich habe Zeit.«
Er führte mich zu einem Bedienungsstuhl. Prüfend glitten seine Finger durch meine Haare. Dann hüllte er mich sorgfältig in einen Umhang ein. »Wäre vielleicht auch Maniküren genehm?«
»Alles, was dazu gehört - von A bis Z«, sagte ich.
»Von A bis Z« dauerte drei Stunden. Als ich mich endlich aus dem Sessel erheben konnte, war es sieben Uhr, und inzwischen kannte ich die Geschichte seines Lebens auswendig. Er zog mir noch einmal den Kamm durch die
Haare und strich mit der Hand sacht über die Seite. »Das wär’s dann wohl. Wie gefällt es Ihnen?«
Ich betrachtete mich im Spiegel. So kurze Haare hatte ich seit meiner Schulzeit nicht mehr gehabt. Immerhin: Die Farbe kam meiner natürlichen Haarfarbe recht nahe. »Gut«, sagte ich.
»Macht Sie jünger, finden Sie nicht?« Ich nickte und stand auf. »Wieviel?«
»Dreißig fürs Haar. Zwei fürs Rasieren und zwei fürs Maniküren. Vierunddreißig Dollar.«
Ich gab ihm zwei Zwanzig-Dollar-Scheine. »Behalten Sie fünf Dollar für sich und geben Sie einen der Maniküre.«
»Vielen Dank.« Er begleitete mich zur Tür. »Wenn Sie das nächste Mal kommen wollen, rufen Sie mich doch vorher an. Fragen Sie nach Charles. Dann kann ich mich darauf einrichten und Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen.«
»In Ordnung. Danke, Charles.«
Die Straße war menschenleer. Ich steckte den Schlüssel ins schloß, wollte ihn umdrehen. Plötzlich warf das Nachtlicht einen Schatten quer über die Glastür, einen strichdünnen Schatten, wie von einem Draht. Irgendein Instinkt ließ mich Gefahr wittern. Ich spürte, wie sich mir im Nacken die Haare sträubten. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, warf ich mich der Länge nach aufs Trottoir, Gesicht nach unten. Im selben Augenblick gab es ein ohrenbetäubendes Krachen, und die ganze Vorderfront des Hauses, in dem sich die Redaktion befand, schien einzustürzen.
Ich lag noch auf dem Gehsteig, die Hände zum Schutz über dem Hinterkopf verschränkt, als ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Lonergans Auto zum Rinnstein gerollt kam. Während ich mich hochraffte, schwang die Tür auf.
Er stieg jedoch nicht aus, sondern beugte nur den Oberkörper vor. »Ist dir auch nichts passiert, Gareth?«
Ich blickte zum Haus. Die Mauer vor dem Redaktionsraum - einfach weg, wie fortgeblasen. »Nein, mir ist nichts passiert«, versicherte ich.
»Du legst sicher keinen Wert darauf, hier zu sein, wenn die Polizei kommt«, sagte er. »Steig ein.«
Ich tat’s und zog die Tür hinter mir zu. Das Auto fuhr los und bog dann um die Ecke. Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück und besah mir Lonergan. Auf seinen Lippen lag ein leises Lächeln.
»Was ist denn so lustig?« knurrte ich.
»Kinder sollten nicht versuchen, Erwachsenenspiele zu spielen.«
»Verdammt, ich hätte draufgehen können!« sagte ich wütend.
»Dann wärst du weniger smart gewesen, als ich angenommen hatte«, meinte er gelassen. »Aber du hast noch immer viel zu lernen.«
Ich starrte ihn mürrisch an.
Plötzlich besaß seine Stimme die Schärfe eines Messers. »Wie lange, glaubst du wohl, wärst du am Leben geblieben, wenn ich dich nicht beschützt hätte? Zuerst mit Reverend Sam, später dann mit Julio Vasquez. Zwei Minuten, nachdem dein Mädchen bei ihm angerufen hatte, setzte er sich mit mir in Verbindung. Hätte ich nicht mein Okay gegeben, wärst du den Wölfen zum Fraß vorgeworfen worden.«
Einen Augenblick starrte ich ihn wortlos an. Dann nickte ich. »Okay, Onkel John. Ich entschuldige mich. Was tun wir jetzt?«
»Das ist schon besser, Gareth.« Er lächelte und lehnte sich ins Polster zurück. »Zuerst verhandeln wir mit Ronzi wegen des Blattes. Mit dem Verkauf dürfte alles klargehen. Ich hatte für den billigen Fetzen ja nie viel übrig, aber als eine Art Startloch für dich hat er seine Schuldigkeit ja wohl getan.«
»Und was tue ich dann, Onkel John?«
Seine Augen begegneten ruhig meinem forschen Blick. »Das ist ganz und gar deine Sache. Von jetzt an sind die Entscheidungen, die du triffst, wirklich deine eigenen Entscheidungen.«
Ich schwieg.
»Natürlich würde ich mich freuen, wenn du dich entschließen könntest, zu mir zu kommen - mit einzusteigen.«
»Solche Spiele sind nichts für mich, Onkel John«, sagte ich fast leise. »Das hast du gerade selbst betont.«
In seinen Augen zeigte sich ein nachdenklicher Ausdruck. »Weißt du denn, was du am liebsten tun würdest?«
»Ja, Onkel John. Ich glaube schon.«
Zweites Buch Die obere Seite
Der Pilot ging mit der Lear auf tausend Meter herunter und zog eine weite Schleife, so daß wir die ganze Küste von Mazatlan überblicken konnten. Blaugrün schlug das Wasser des Pazifik an Sandstrände von geradezu funkelndem Weiß. Murtagh beugte sich über den Tisch vor und wies mit dem Finger durchs Fenster. »Wir werden’s gleich sehen können, Mr. Brendan.«
Mein Blick folgte der Richtung, in die sein Finger zeigte. Zuerst sah ich nichts als grünen Dschungel. Dann tauchte plötzlich die Landebahn auf, ein schmaler Streifen inmitten der Bäume, und weiter dahinter das Hotel.
Auf den ersten Blick wirkte das elf Stockwerke hohe Gebäude, eine moderne Konstruktion aus Beton, Metall und Glas, wie ein Fremdkörper in dieser Wildnis. Doch der Eindruck wandelte sich, als ich die Bungalows mit den schilfoder strohgedeckten Dächern sah und die einzelnen Swimming-pools und die Tennisplätze und die weiten Golfplätze. Näher am Strand gab es Cabanas und einen Pool von olympischem Ausmaß. In einer Art Hafen lagen, eines neben dem anderen festgemacht, Sportfischerboote. Wie Möwen schienen sie auf den Wellen zu reiten, und ich begriff, daß diese Hotelanlage eine Welt für sich war.
»Wo würde das Kasino hinkommen?« fragte ich.
»In die unmittelbare Nähe des Hotels«, erwiderte Murtagh.
Inzwischen lag das Hotel weit hinter uns. In der Ferne konnten wir die Häuser von Puerto Vallarta erkennen und hinter uns, wie eine Art Gebilde aus Staubdunst, La Paz. Der Pilot zog die Maschine ganz herum und hielt, tiefergehend, auf den Landestreifen zu. Er fuhr das Fahrgestell aus, und ich spürte, wie ein leichter Ruck durch die Lear ging. Wenig später setzten wir auch schon auf.
Als der Pilot die Fahrt abbremste, wurden wir für einen Augenblick gegen unsere Sitzgurte gedrückt. Dann rollte die Maschine mit mäßiger Geschwindigkeit auf ein kleines Gebäude zu.
Lonergan saß mit ausdruckslosem Gesicht neben mir. Auf der anderen Seite des Passagierraums saßen Verita und Bobby, die ihre Gurte jetzt lösten. Hinter ihnen schwatzten Bobbys vier Modelle, und seine beiden Assistenten waren bereits dabei, ihre Ausrüstung und ihr Gepäck für den Ausstieg bereitzustellen.
Bobby stand auf. »Wenn wir uns beeilen, können wir wenigstens noch eine Serie schießen, bevor’s dunkel wird. Müßte doch ein paar Superschüsse geben - im Sonnenuntergang am Strand.«
»Wir werden alles bereit machen«, erwiderte einer der Assistenten.
Bobby sah mich an. »Was hast du vor?«
»Mich erwarten Meetings. Mach du nur. Wir sehen uns alle beim Dinner.«
Sie waren von Bord und in Richtung Strand verschwunden, noch ehe Murtagh uns mit der Gruppe bekannt gemacht hatte, die zu unserem offiziellen Empfang erschienen war.
Zu den sechs Leuten gehörte auch der Bürgermeister der Stadt. Alle waren klein, mit einer Ausnahme. Dieser Mann, blond, blauäugig, mit sonnengebräuntem Gesicht und blendend weißen Zähnen, maß mindestens einsachtzig. Er hieß Dieter von Halsbach, war zwar in Mexiko geboren, aber als Sohn deutscher Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Mexiko ausgewandert waren. Er war hier der jefe. Als wir einander die Hände schüttelten, spürte ich untrüglich etwas, wovon in den vertraulichen Berichten über ihn nichts gestanden hatte - er war schwul.
Lonergan und ich stiegen mit ihm in eine weiße CadillacLimousine. Verita, Murtagh und die anderen folgten in einem zweiten Auto.
»Ich habe Ihnen drei Bungalows reserviert, Mr. Brendan«, sagte Dieter von Halsbach.
»Danke«, erwiderte ich. Seine Erklärung klang recht pompös. Nach allem, was ich bisher gesehen hatte, stand zu erwarten, daß wir die einzigen Gäste sein würden. Durch das Fenster betrachtete ich die gepflegten Gärten, an denen wir während der Fahrt zum Hotel vorüberkamen. »Da haben Sie wirklich großartige Arbeit geleistet.«
»Nun, wir haben auch weder Kosten noch Mühe gescheut. Vater und ich sind der Ansicht, daß man eine Sache richtig machen muß.«
Ich musterte Lonergan mit einem kurzen Seitenblick. Falls er beeindruckt war, so ließ er sich davon nichts anmerken. Das Auto fuhr am Hoteleingang vorbei und bog dann in eine Straße ein, die in Richtung Strand führte. Wenig später hielten wir vor einem Bungalow.
Durch das schmiedeeiserne Tor folgten wir Dieter in den Patio, wo sich ein Swimming-pool befand. Orangen- und Zitronenbäume voller Früchte verbreiteten einen sanften Duft, der sich belebend mit dem salzigen Hauch vermischte, der vom Meer herüberstrich. Ein livrierter Butler und ein Zimmermädchen öffneten uns die Tür.
Im Wohnzimmer befand sich eine volleingerichtete Bar.
»Machen Sie sich’s bequem, Gentlemen«, sagte Dieter. »Nach den Reisestrapazen werden Sie sich, wie mein Vater und ich annehmen, vorerst ausruhen wollen. Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns dann um zehn beim Abendessen.«
Er verschwand in seiner Limousine. Das Personal war mit unserem Gepäck beschäftigt. Ich blickte zu Lonergan. »Nun?« fragte ich.
Er wußte, was ich meinte. »Achtzehn Millionen ist zuviel«, war seine prompte Antwort.
»Sie haben dreißig Millionen in die Anlage reingesteckt.«
»Das ist ihr Pech. Warum hat er uns übrigens nicht ins Hotel geführt? Er will wohl nicht, daß wir sehen, wie das Personal in der Halle Murmeln spielt.«
Ich lachte. »Langsam will mir scheinen, daß du ein sehr mißtrauischer Mensch bist, Onkel John.«
»Im ersten Jahr nach der Eröffnung gerieten sie mit sechs Millionen in die roten Zahlen. Vergangenes Jahr waren es vier Millionen. Macht zehn Millionen in nur zwei Jahren.«
»Sie haben’s verkehrt aufgezogen. Sie wollten daraus ein Paradies für Jet-Setter machen. Aber die kommen einfach nicht hierher.«
Er gestattete sich ein flüchtiges Lächeln. »Du bist sicher, hier etwas auf die Beine stellen zu können?«
»Allerdings. Sonst wäre ich nicht hier.«
»Achtzehn Millionen ist jedenfalls zuviel.«
»Da werden wir schon klarkommen.«
»Bloß nichts überstürzen. Bevor es zu irgendwelchen Verhandlungen kommt, wird man alles sehr genau unter die Lupe nehmen müssen.«
Ich ging zur Bar. »Möchtest du einen Drink?«
»Nein, danke. Ich werde lieber den Rat des jungen Mannes befolgen und mich ein bißchen hinlegen.«
Er ging in sein Zimmer, und ich machte mir einen Whisky mit Eis. Das Glas in der Hand, blickte ich durchs Fenster zum Meer. Der Sand war sehr hell und das Wasser verlockend blau. Ich verließ den Bungalow und schlenderte zum nahen Strand. Dort blieb ich stehen und schlürfte meinen Whisky. Der Anblick des Wassers war unwiderstehlich. Mit den Augen suchte ich den Strand ab. Niemand war zu sehen. Ich stellte das Glas auf den Boden, zog mich rasch aus und watete nackt ins Meer.
Das Wasser war angenehm warm. Sanft streichelte es meinen Körper. Ich schwamm eine größere Strecke, machte dann kehrt und blickte, wassertretend, zum Ufer. Den gesamten
Strand konnte ich sehen. Das Hotel bildete optisch eine Art Trennmarke: Zur anderen Seite hin machte das Ufer eine Biegung.
Auf der entgegengesetzten Strandseite, vielleicht einen halben Kilometer vom Hotel entfernt, sah ich Bobby und seine Leute, die ihre letzten Vorbereitungen für die Aufnahmen trafen. Sie vergeudeten keine Zeit. Bobby war es ernst, als er sagte, daß er vor Einbruch der Dunkelheit noch eine Serie »schießen« wolle.
In ruhigem Tempo kraulte ich zu meiner Uferstelle zurück. Auf meinem Rücken spürte ich die Wärme der Sonnenstrahlen, und ich fühlte mich rundum wohl und zufrieden. Gar keine Frage: Die Halsbachs hatten hier etwas, woraus sich eine runde Sache machen ließ. Nur eines hatte Vater und Sohn offenbar nie richtig begriffen: daß so was allen Leuten zugänglich sein mußte und nicht nur ein paar Auserwählten.
Als ich aus dem Wasser kam, stand neben meinen Kleidern ein Mädchen mit ausgebreitetem Badetuch. Wortlos ließ ich es mir umlegen.
»Ich bin Marissa«, sagte sie. »Graf Dieter hat mich Ihnen als Dolmetscherin zugeteilt.«
Sie hatte langes schwarzes Haar, dunkle Augen und hohe Backenknochen - der Name Marissa schien mir zu ihrem Typ wenig zu passen. Ebensowenig wie die lose geschnittene Bauernbluse und der weichfallende mexikanische Rock.
»Das ist kein mexikanischer Name«, sagte ich.
Sie lächelte und ließ ihre weißen, ebenmäßigen Zähne sehen. »Meine Mutter ist Mexikanerin, mein Vater Österreicher. Ich wurde nach seiner Mutter benannt.«
»Sind Sie mit Dieter verwandt?«
»Er ist mein Vetter.« Sie hob meine Sachen vom Boden auf. »Wollen wir zum Bungalow zurückgehen? Das Personal spricht kein Englisch. Vielleicht kann ich Ihnen also helfen, falls Sie irgend etwas von ihnen wollen.«
»Gut, gehen wir zurück«, erwiderte ich. Am Eingang zum Bungalow blieb ich stehen und nahm meine Sachen, die sie noch in den Händen hielt. »Ich brauche keine Dolmetscherin«, erklärte ich. »Meine Assistentin spricht Spanisch.«
Sie zögerte einen Augenblick, nickte dann. Aus ihrer Stimme klang Enttäuschung. »Wie Sie wollen. Doch falls Sie sonst irgendwelche Wünsche haben sollten, so stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich werde im Hotel, im Büro für Gästebetreuung, zu finden sein.«
»Danke«, sagte ich und lächelte. »Sehe ich Sie beim Abendessen?«
»Wenn Sie das möchten?«
»Ich würde mich freuen.«
»Bis nachher also.«
Das Klingeln des Telefons weckte mich. Es war Bobby. »Kann ich dich einen Augenblick sehen? Ich habe eine großartige Idee.«
»Komm nur rüber«, sagte ich und stand sofort auf. In einen Bademantel gehüllt, ging ich ins Wohnzimmer. Es war leer. Ich warf einen Blick in Lonergans Zimmer, dessen Tür einen Spalt offenstand. Auch dort war er nicht. Er war offenbar überhaupt nicht im Bungalow.
Durch die Fenster fiel Tageslicht herein: Obwohl es bereits nach acht Uhr war, konnte von Dunkelheit noch nicht die Rede sein.
Der Butler trat ein. Seine weißen Zähne blitzten. »Sí, Señor?«
»Whisky mit Eis«, sagte ich, probeweise.
Ich hatte Glück. So viel Englisch verstand er immerhin. Er ging zur Bar, machte mir meinen Drink. Ich nahm das Glas und trat hinaus in den Patio. Die Sonne schien zwar nicht mehr, doch die Luft war immer noch recht warm.
Ich fühlte mich prächtig. Sehr entspannt, von innen her richtig locker. Dieser Ort hatte ganz entschieden was für sich. Gar kein Vergleich mit Los Angeles, wo mir die gesamte Welt unablässig in den Ohren schrillte. Herrgott, hier war ich wirklich mal aus alldem heraus.
Im schmiedeeisernen Tor tauchte Bobby auf. »Die verstehen hier wirklich zu arrangieren«, sagte er. »Das mit den Bungalows haut hundertprozentig hin. Meine Jungens und ich sind in einem, und die Mädchen sind gleich nebenan.«
»Wie ist’s bei euch denn gelaufen?«
»Na, so leidlich. Ein paar gute Schüsse habe ich ja gemacht, aber die Mädchen waren nicht richtig einsatzbereit.«
»Wieso denn das?«
»Ich hatte vergessen, sie zurechttrimmen zu lassen.«
Ich lachte.
»Eigentlich sollte man doch meinen, daß die selbst dafür sorgen würden«, sagte er verdrossen. »Die wußten doch, daß sie hierherkommen, um etwas zu zeigen. Da hätten sie sich da unten doch ruhig ein bißchen die Wolle scheren können. Doch außer bei der Blonden ist es, als ob man mit der Kamera durch einen Urwald hindurchschießt.«
»Und nun?«
»Ich habe sie zum Muschi-Frisör abkommandiert. Morgen werden sie einsatzbereit sein.«
»Hoffentlich schafft er’s«, sagte ich. Der Muschi-Frisör war einer von Bobbys Gehilfen. Sein Job bestand darin, das Schamhaar zurechtzustutzen, sämtliche Härchen zu entfernen, die sich zwischen den Hinterbacken finden mochten, und - vor den Aufnahmen - für das Make-up zu sorgen.
»Ich will’s ihm geraten haben«, sagte Bobby mit Nachdruck.
»Deine großartige Idee, Bobby - worum geht’s dabei?«
»Ich würde gern King Dong herholen für ein DschungelLayout mit ein paar von den Mädchen. Den Aufhänger für die Story denke ich mir so: Die Girls sind wie weiße Jäger gekleidet, und sie stoßen auf ihn, der nur einen Lendenschurz trägt, wo aber unten sein Dong - sein Ding - zu sehen ist. Das drehte sie an, und sie versuchen, ihn zu zivilisieren. Er dreht den Spieß um, und am Ende ist er der Louis Nummer eins in der Stadt.«
»Hübsche Idee, wirklich ganz lustig«, sagte ich. »Wird aber nicht leicht zu machen sein. Als wir ihn das letzte Mal im Heft hatten, haben wir eine Menge Zunder bekommen - schlechte Publicity.«
»Die kam doch nur von den Knilchen, die ihn um seinen Riemen beneidet haben. Aber die Ausgabe hat hunderttausend mehr verkauft als jede andere, und die Nummer ist als Rarität nach wie vor heiß begehrt.«
»Also, ich weiß nicht recht ...« Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Der in jeder Beziehung riesige Neger und die weißen Frauen - das brachte immer alle möglichen Miesmacher in Rage.
Bobby faßte mich am Arm. »Laß mich mal machen. Wenn wir die Bilder haben, kannst du ja immer noch deine Entscheidung treffen.«
»Okay.« Ich lachte. »Ist vielleicht ganz originell. Gib mir Bescheid, wenn du schießt. Ich würde gern sehen, was passiert.«
»Okay, wann gibt’s Abendessen?«
»Um zehn.«
»Dann werde ich mich duschen und umziehen.« Er verschwand. Wenig später tauchten Lonergan und Verita auf. »Möchtet ihr einen Drink?« fragte ich, als der Butler erschien.
»Einen trockenen Martini«, sagte Lonergan.
»Tequila«, sagte Verita.
Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. »Nanu. Ich dachte, du bist auf Whisky eingeschworen.«
»Wir sind in Mexiko.« Sie lächelte. »Ich bin jetzt zu Hause.«
Der Butler brachte die Drinks und verschwand. Lonergan nahm mir gegenüber Platz, Verita setzte sich in den Sessel neben ihm. »Wir haben einen Spaziergang gemacht und uns dabei ein bißchen umgesehen.« Lonergan nickte bekräftigend.
»Und was für einen Eindruck hast du, Onkel John?« fragte ich.
»Die haben das Geld hier wirklich reingesteckt«, erwiderte er. »Da gibt’s gar keinen Zweifel. Aber Verita hat etwas Interessantes herausgefunden, und ich meine, du solltest es hören.«
Ich sah sie an. »Ja?«
»Ich habe mich den ganzen Nachmittag mit dem Personal unterhalten. Auf diese Weise erfährt man mehr. Die Leute wissen so manches, wovon nicht einmal die Besitzer eine Ahnung haben.«
Ich nickte.
»Die Leute haben so ihre Ansicht, weshalb hier der Erfolg ausgeblieben ist.«
»Nämlich?«
»Dieter hatte seinen internationalen Set hergeholt. Die übernahmen dann praktisch das Kommando. Als er ihnen schließlich sagte, sie sollten mal ein bißchen langsamer treten, da verkehrten sich plötzlich die Fronten, und sie stellten sich gegen ihn - belegten das Hotel sogar mit einer Art Bannfluch. Und du kennst diese Leute ja. Die beherrschen praktisch den Jet Set. Sagen sie okay, so kommt die Society gerannt, siehe Capri, siehe Acapulco, siehe Südfrankreich. Sagen sie, es ist nicht mehr >in<, so ist man erledigt, siehe Patinos Besitz unten an der Küste oder auch Porto Cervo, Aga Khans Anlage auf Sardinien.«
»So ungeheuer plausibel finde ich das nicht«, sagte ich. »Ich meine, so leicht überwirft man sich ja nicht, und weshalb sollte Dieter es zum Bruch mit seinen Freunden kommen lassen, denn das waren sie doch?«
»Nach der einen Version hat ihm irgendeine reiche Tunte seinen festen Freund abspenstig gemacht.« Von ihrem Handrücken leckte sie etwas Salz ab, dann nippte sie an ihrem Tequila. »Nach der anderen Version hat sein Vater von ihm verlangt, daß er sie rauswirft. Er will nämlich, daß Dieter heiratet und für einen Stammhalter sorgt. Die Frau hat er seinem Sohn auch schon ausgesucht, eine Kusine zweiten Grades oder so.«
»Heißt sie Marissa?«
Verita nickte. »Das ist der Name, den er erwähnte. Sie arbeitet im Büro. Hast du sie kennengelernt?«
»Ja. Dieter hatte sie für mich als Dolmetscherin abbeordert. Ich erklärte ihr, daß ich ja dich habe und sie nicht brauche. Aber ich habe sie gebeten, mit uns zu Abend zu essen.«
»Ich dachte, du hast geschlafen«, sagte Lonergan.
Ich lachte. »Das war, bevor ich mich ein bißchen langlegte. Ich ging schwimmen, und als ich aus dem Wasser kam, war sie da.«
»Die Reichen und die Schwerreichen bekommst du jetzt bestimmt nicht mehr her«, sagte Lonergan.
»Das ist gut so«, erwiderte ich. »Denn das bedeutet, daß Halsbach praktisch gar keine Wahl bleibt. Wir sind die einzigen Interessenten weit und breit, und wenn wir abspringen, dann ist für sie Feierabend.« Ich trat hinter die Bar und schenkte mir nach. »Soeben ist das Angebot, das ich ihnen machen wollte, um fünfzig Prozent geschrumpft.«
»Du wolltest neun Millionen bieten?«
»Nein. Das wäre ja die Hälfte von dem, was sie verlangt haben. Zwölf Millionen wollte ich bieten. Jetzt sind’s nur noch sechs.«
»Da ist noch etwas, was du wissen solltest«, sagte Lonergan.
»Und das wäre?«
»Eine neue Information aus meinem Büro. Es heißt, daß Julio hier unten seine Hand mit im Spiel hat, und zwar beträchtlich.«
»Gibt es dafür Beweise?«
Er hob die Schultern. »Nun - immerhin ist die Start- und Landebahn kaum mehr als einen Katzensprung von Culiacan entfernt.«
Ich wußte, worauf er hinauswollte. Culiacan war das Rauschgiftzentrum von Mexiko. Was immer an Drogen aus Mexiko in die Vereinigten Staaten gelangte, hatte Culiacan als Start- oder aber als Umschlagplatz. »Und unsere Gastgeber, hängen die womöglich mit drin?« fragte ich.
»Darüber bin ich nicht im Bilde.«
Ich trank einen Schluck und blickte zu Verita. »Gehst du morgen die Bücher durch?«
»Murtagh sagte, es würde alles für mich bereit sein.«
»Okay. Halte Augen und Ohren offen. Wenn dir irgend etwas aufstößt, selbst wenn es noch so trivial erscheint, dann sag mir Bescheid.«
Als wir das Hauptgebäude betraten, warteten Dieter und sein Vater bei der Bar. Der alte Graf, Anfang Sechzig, war schlank und kaum kleiner als sein Sohn. Er hatte kurzgestutztes, eisengraues Haar, scharfe und harte blaue Augen und auf der linken Wange eine Narbe, vermutlich ein »Schmiß« aus Studententagen. Hätte er ein Monokel getragen, so wäre er einer jener Gestalten, wie man sie aus den Filmen der 40er Jahre kannte, zum Verwechseln ähnlich gewesen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennzulernen, Mr. Brendan«, sagte er. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Gutes, hoffe ich.«
Er lächelte. »Natürlich. Hier hören wir nur auf das Gute, das man uns über andere erzählt.«
»Nur so läßt sich leben«, sagte ich. Meine Bemerkung schien für ihn verloren. Zumindest reagierte er nicht darauf. »Im übrigen vielen Dank. Die Unterbringung ist ganz vorzüglich und der Service offenbar auch.«
»Das Vergnügen ist auf unserer Seite. Ich hoffe nur, daß Sie genügend Zeit haben werden, um alles ausgiebig genießen zu können.«
»Ich werde mich bemühen.«
Marissa trat auf uns zu, und ich sah, daß seine Augen aufglänzten. Das indianisch aussehende Mädchen, das ich am Nachmittag kennengelernt hatte, schien sich aufgelöst zu haben, und an ihre Stelle war eine hochgewachsene, aristokratisch wirkende Dame in einem langen, enganliegenden weißen Kleid getreten, zu dem die braune Haut und das über die Schultern fallende schwarze Haar überaus wirkungsvoll kontrastierten.
Sie küßte ihn auf die Wange. »Meine Nichte, die Baroneß Marissa«, sagte er stolz.
»Wir haben uns bereits kennengelernt«, informierte sie ihn und reichte mir die Hand. »Mr. Brendan.«
»Baroneß«, sagte ich lächelnd.
Sie ließ meine Hand los und wandte sich den anderen zu. Wenig später folgten wir dem Grafen hinaus in den Patio, wo unter einem großen Baum eine gedeckte Tafel auf uns wartete. Marissa saß zwischen dem Grafen und mir, und ich war nicht ganz sicher, ob der Duft, den ich roch, von ihr kam oder aber vom nahen Garten.
Das Essen war in seiner Art recht europäisch, sehr förmlich und sehr langweilig. Man machte Konversation. Im Gegensatz zu uns, die wir vor lauter Steifheit fast umkamen, hatten Bobby, seine Gehilfen und die Mädchen offenbar ihren Mordsspaß. Von ihrem Tisch, der ein Stück entfernt stand, klang lautes Gelächter herüber.
Lonergan und der alte Graf schienen ausgezeichnet miteinander zurechtzukommen. Vielleicht war ihr Alter ein gemeinsames Band. Lonergan jedenfalls genoß unverkennbar das Essen und auch die Geschichten, die der Graf zu erzählen wußte. Ich meinerseits langweilte mich so, daß ich es schließlich nicht mehr aushielt und mich, Kopfschmerzen vorschützend, in den Bungalow zurückzog.
Dort setzte ich mich in den Patio und blickte zum Nachthimmel empor. Noch nie, so schien mir, hatte ich so viele Sterne gesehen.
Ich hörte ein leises Quietschen. Es kam vom schmiedeeisernen Tor. Wie eine sanfte Wolke schwebte Marissas weißes Kleid durch die Dunkelheit. »Ich komme, um zu sehen, wie es Ihnen geht«, sagte sie.
»Ich wußte nicht, daß Sie eine Baroneß sind.«
»Bin ich eigentlich auch nicht. Doch es bereitet meinem Onkel nun einmal großes Vergnügen, mich als Baroneß vorzustellen. Mein Onkel ist sehr altmodisch.«
»Wie ist er in diese Sache hineingeraten? Scheint zu einem Mann seines Typs so ganz und gar nicht zu passen.«
»Er hatte das Gefühl, daß er irgend etwas unternehmen mußte. Alles Land hier gehört ihm. Und die Regierung drohte dauernd damit, ihn zu enteignen und das Land unter den campesinos aufzuteilen, falls nicht irgend etwas sonst geschähe.«
»Das ist doch noch kein Grund, dreißig Millionen Dollar quasi den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.«
»Nun, er selbst investierte das Land und ungefähr sechs Millionen. Die Behörden brachten zehn Millionen auf, und der Rest kam von privaten Investoren.«
»Wer sind die?«
»Das weiß ich nicht.«
»Mexikaner oder Ausländer?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Er hätte sich vielleicht lieber ein paar Leute aus Las Vegas holen sollen.«
Sie schwieg.
Ich deutete auf den Sessel neben mir. »Kommen Sie, setzen Sie sich doch.«
Sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Sind Sie aus freien Stücken gekommen, oder hat Dieter Sie hergeschickt?«
Sie zögerte einen Augenblick. »Dieter hat mich geschickt.«
»Hat er Ihnen vielleicht auch noch gesagt, daß es zu Ihrem Job gehört, mit mir zu schlafen?«
Wieder blieb sie stumm.
»Was passiert, wenn aus seinem Handel mit mir nichts wird?«
»Die Behörden haben damit gedroht, sie zu enteignen, sie würden alles verlieren.«
»Und um den Handel möglichst unter Dach und Fach zu bringen, schickt man also Sie zu mir. Wirklich nicht fair, Ihnen eine solche Verantwortung aufzubürden.«
Sie hob die Arme, fingerte dann im Nacken unter dem langen, schwarzen Haar. Als sie die Arme wieder senkte, glitt das Kleid an ihrem Körper herunter. Sie löste sich daraus, stand nackt vor mir. Jetzt wußte ich plötzlich, woher jener Duft stammte, den ich vorhin an der Tafel wahrgenommen hatte.
Ich betrachtete sie, ohne mich ihr auch nur einen Zentimeter zu nähern. »Sie sind schön«, sagte ich. Und sie war es wirklich.
»Was soll ich tun?«
Ich beugte mich vor, hob das Kleid vom Boden auf und reichte es ihr. »Wenn Sie vielleicht zwei Aspirin für mich finden könnten ... ich habe wirklich Kopfschmerzen.«
Sie nahm das Kleid, drückte es gegen ihre Brüste. Aus ihrer Stimme klang Unglauben, Verwirrung. »Sie wollen also nicht -«
Ich lachte. »Wollen schon, o ja. Aber das wäre so, als würde ich mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Geld erschwindeln. Im Augenblick bin ich noch keineswegs zu einem Handel entschlossen. Und wenn wir ficken und ich kaufe dann nicht, so hätten Sie einen Fick völlig umsonst vergeudet.«
Zum ersten Mal lachte sie. Dann ließ sie ihr Kleid wieder zu Boden fallen. »Wer will schon so kleinlich sein - bei einem Fick unter Freunden?« fragte sie.
Um acht Uhr morgens klingelte das Telefon. Ich streckte die Hand nach dem Hörer aus. Durch den geöffneten Eingang zum Bad sah ich, hinter der Glastür der Duschkabine, Marissas Silhouette. Wasser plätscherte, spritzte, strömte.
»Unh«, grunzte ich in den Hörer.
»Klingt, als hättest du eine tolle Nacht hinter dir«, sagte Eileen.
»Jaah. Was gibt’s denn?«
»Während du dich da unten so prachtvoll amüsierst, möchte ich dich wissen lassen, daß es in der Organisation noch ein paar Leute gibt, die arbeiten.«
»Das müssen wir schleunigst ändern«, sagte ich. »Das versaut uns unser ganzes Image. Die Welt glaubt, für uns sei das ganze Leben eine einzige Party.«
»Ich werde mich am besten gleich in die nächste Maschine setzen«, sagte sie scherzend. »Allerdings kann ich mir denken, daß du erst mal Ohren für ein paar gute Neuigkeiten hast.«
»Als da wären?«
»Wir haben gerade die Verkaufszahlen für Januar und Februar bekommen. Wir haben die Dreieinhalb-Millionen-Grenze überschritten.«
»Na, was sagt man!«
»Aber das ist noch nicht alles. Lifestyle Digest hat’s auf 1,1 Millionen gebracht. Nicht übel, würde ich sagen.«
»Tscha, was machen wir bloß verkehrt?«
»Das weiß ich nicht. Aber wir sollten unbedingt dafür sorgen, daß wir es auch weiterhin tun.«
Ich lachte.
»Wie ist’s denn so dort unten?« fragte sie.
»Genaueres kann ich dir noch nicht sagen. Verita steigt heute in die Bücher, und ich gehe auf große Besichtigungstour.«
»Warum du dir eine solche Hotelanlage für Urlauber zulegen willst, verstehe ich einfach nicht. Die beiden Magazine sind doch die reinen Geldmaschinen.«
»Bevor ich in die Sache mit den Clubs einstieg, mußte ich das gleichfalls von verschiedener Seite hören: Wozu
eigentlich? Inzwischen wirft allein der Londoner Club pro Jahr sechs Millionen ab.«
»Was auf das Konto der Spielbank geht. Dort, wo es eine solche Lizenz nicht gibt - in New York, Chicago und Los Angeles -, sind die Clubs froh, wenn sie ohne Verlust wirtschaften.«
»Wir brauchen sie. Für unser Image. Im neuen Club in Atlantic City wird auch um Geld gespielt werden, und hier gibt’s auch eine Lizenz dafür.«
»Wenn’s das ist, worauf du aus bist, warum bist du dann nicht in Las Vegas eingestiegen?«
»Ich rechne mir gerade hier eine sehr gute Chance aus. Und bis das Ganze richtig läuft, könnte man erst mal den Urlaubsbetrieb gehörig ankurbeln - per Einzel- und Pauschalreisen. Und das ließe sich wohl ausschließlich über unser eigenes Reisebüro abwickeln.«
»Und du meinst, da gäbe es keine Transportschwierigkeiten, bei nur zwei Linienflügen pro Tag?«
»Wir werden halt Charterflüge organisieren. Von Los Angeles direkt hierher zur Küste. Außerdem werden die Maschinen von Princess Lines hier zwischenlanden.«
»Aber unterm Strich, Gareth, sind das doch alles kleine Fische - verglichen mit dem, was die Magazine einbringen: immerhin fast drei Millionen pro Monat.«
Ich schwieg.
Sie hakte nach. »Wozu also, Gareth? Ich meine, warum tust du das überhaupt?«
Ich überlegte einen Augenblick. »Nun eben - um was zu tun, um was zu unternehmen. Es ist die action, die mir Spaß macht.«
»Ich glaube nicht, daß es das ist«, sagte sie. »Aber falls du irgendwann mal etwas Zeit haben solltest, können wir uns ja darüber unterhalten.« Unvermittelt klang ihre Stimme sehr weich. »Du fehlst mir.«
Ehe ich antworten konnte, hatte sie aufgelegt. Wirklich ausgezeichnet: Die Dame verstand sich auf ihr Fach. Von einem Drängen oder gar von Druck ihrerseits konnte wahrhaftig nicht die Rede sein. Sie ließ das in aller Ruhe heranreifen. Und die Zeit arbeitete für sie. Das wußten wir beide. Früher oder später würde ich garantiert verfügbar sein.