Auf Jims Befehl hin entfernten sie sich schnell. Erst als sie sich wieder in der Luft befanden, entspannte sich Jim. Er befahl Adok, der am Steuer saß, den Gleiter hochzuziehen und bis zu der größtmöglichen Entfernung wegzufliegen, aus der sie das Lager auf ihren Nachtsichtschirmen noch im Auge behalten konnten. Adok gehorchte. Ungefähr sechs bis acht Minuten später schwenkten sie in eine Umlaufbahn in ungefähr fünftausend Meter Höhe in einer Entfernung von zehn Meilen vom Lager ein. Lautlos wie eine Wolke schwebte das Aufklärungsfahrzeug wie ein riesiges Spielzeug am Ende einer unsichtbaren Schnur von mehr als zehn Meilen Länge über dem schläfrigen Lager unter ihm.

Jim saß bewegungslos auf seinem Sitz und sah auf den Nachtsichtschirm vor Adok in der Steuerung des Gleiters in seinem vorderen Teil. Neben ihm saßen Ham, der Gouverneur und natürlich auch Adok selbst. Sie alle sahen auf den Schirm, hatten aber, mit Ausnahme von Jim, keine Ahnung, worauf sie lauerten.

Für eine relativ lange Zeit hatte es den Anschein, als würde sich aus ihrer Beobachtung nichts Außergewöhnliches ergeben. Von Zeit zu Zeit streckte Jim die Hand aus, verstellte die Vergrößerung des Nachtschirms und holte die Straßen und Gebäude näher heran. Die Nachtpatrouillen zogen ohne besondere Vorkommnisse ihre Runden. Die meisten Gebäude blieben dunkel, und so schien es auch zu bleiben.

Doch dann zuckte ohne Warnung ein kleiner Lichtblitz auf, kaum heller als eine Laterne. Er schien aus dem Mittelpunkt des Versammlungsgebäudes des Gouverneurs zu kommen.

„Ich denke, das ist.“, fing Jim an, als Ham sich an ihm vorbeiwarf, Adok buchstäblich die Steuerung aus der Hand riß, den kleinen Gleiter herumzog und mit Höchstgeschwindigkeit von der Szene wegflog, die sie gerade beobachtet hatten.

Adok wehrte sich als der ausgebildete Soldat, der er war, nicht gegen seinen vorgesetzten Offizier. Nach einem kurzen, instinktiven Griff nach der Steuerung in dem Augenblick, in dem sie ihm aus der Hand genommen wurde, glitt er aus dem Führersitz und überließ Ham seinen Platz.

Jim lehnte sich nach vorne und sprach in Hams Ohr.

„Antimaterie?“ fragte Jim.

Ham nickte. Einen Moment später erreichte sie die Druckwelle und wirbelte den kleinen Gleiter wie ein unbedeutendes Insekt, das von der Hand eines Riesen getroffen wird, durch den Nachthimmel.

Ham klammerte sich an der Steuerung fest, und schließlich gelang es ihm, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bekommen. In seinem Innenraum hatten sie alle einige Schläge einstecken müssen. Der kleine Gouverneur hatte halb das Bewußtsein verloren und blutete aus der Nase. Jim half Adok dabei, den kleinen Mann aufzurichten und ihn an seinem Sitz festzuschnallen. Ironischerweise war in dem Augenblick, in dem sie von der Druckwelle erreicht worden waren, niemand von ihnen angeschnallt gewesen.

„Hat es irgendeinen Sinn zurückzufliegen?“ fragte Jim Ham. Der Adjutant schüttelte den Kopf. „Da gibt es nichts mehr zu sehen“, sagte er. „Nur noch einen Krater.“

„Wieviel Antimaterie war Ihrer Ansicht nach dazu notwendig?“ fragte Jim.

Ham schüttelte den Kopf.

„Mit den Mengen kenne ich mich nicht genau aus, Sir“, sagte er. „Der gesamte Sprengkörper ist ungefähr so groß, daß Sie ihn bequem in einer Hand halten könnten, aber das ist die Gesamtkonstruktion. Das Element selbst darin ist vielleicht nicht größer als ein Sandkorn, soviel ich weiß. Sir?“

„Ja?“ sagte Jim.

„Darf ich Sie vielleicht fragen, Sir“, sagte Ham mit ruhiger Stimme, „was Sie zu der Überzeugung gebracht hat, daß sich in dem Lager dort unten Antimaterie befindet?“

„Das war eine Vermutung, Adjutant“, sagte Jim düster. „Auf einer ganzen Anzahl von Faktoren begründet - hier und auf der Thronwelt.“

„Dann war es also eine Falle“, sagte Ham ohne eine spürbare Emotion in seiner Stimme. „Eine Falle für mich und meine -ich bitte um Entschuldigung, Sir - und Ihre Starkianer. Wir sollten durch die Tür eindringen, die sie offengelassen haben -der unbewachte Zugang direkt von oben zum Hauptgebäude. Die gesamten zehn Einheiten wären ausgelöscht worden.“

Er versank in Schweigen.

„Aber, Sir“, sagte Adok, sah zuerst ihn an und wandte sich dann an Jim, „die Kolonialtruppen müssen doch gewußt haben, daß auch sie vernichtet werden würden.“

„Wie kommst du darauf, daß sie Bescheid wußten, Starkianer?“ sagte Ham. „Es gibt keinerlei Grund für die Annahme, daß derjenige, der ihnen die Antimaterie geliefert hat, ihnen mitteilen sollte, was sie da bekamen.“

Adok gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Kurze Zeit später richtete sich Ham wieder an Jim.

„Sir?“ sagte er. „Darf ich den Kommandanten fragen, was Noyaux sind?“

„Soziale Gruppen, Adjutant“, sagte Jim. „Familiengruppen, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, andere Familiengruppen auf jede erdenkliche Art zu belästigen, zu beleidigen und gegen sie zu intrigieren, aber nicht wirklich gegen sie zu kämpfen.“

„Sie.“ - Ham sah kurz zu dem Gouverneur hinüber - „. bilden Noyaux?“

„Ihre vornehmsten Familien“, sagte Jim. „Gewöhnlich sind ihre Streitereien nur ein Zeitvertreib, weil sie im Unterbewußtsein nicht wirklich vorhaben, sich gegenseitig zu verletzen, so fest sie auch bewußt glauben mögen, daß sie bei der leisesten Provokation zum Kampf bereit sind. Es geht aber im Grund darum, daß Noyaux sich nie gegenseitig vertrauen. Als wir uns den Posten von Notrals Wachbereich zur Befragung geholt haben, hat Cluth daraus sofort geschlossen, daß die Person von der Thronwelt, die ihm die Antimaterie geliefert hat, wer immer das auch sein mag, ihn verraten hat. Er hat versucht, sie von ihrem bewachten Aufbewahrungsort zurückzuholen, und dabei ist sie zufällig detoniert. Eigentlich hatte ich nicht darauf gehofft, sondern ich wollte das Lager aufspalten. Dann hätten wir die Möglichkeit bekommen, durch einen Überraschungsangriff auf Cluths Partei die Antimaterie in unsere Hand zu bekommen.“

„Ich verstehe, Sir“, sagte Ham. Einen Moment lang blieb er still. „Und jetzt, Sir?“

„Jetzt“, sagte Jim grimmig, „machen wir uns so schnell wie möglich auf den Heimweg zur Thronwelt.“

„Jawohl, Sir!“ bestätigte Ham.

Danach sagte er nichts mehr, und sowohl Jim als auch Adok saßen wortlos im Gleiter. In der kleinen Kabine herrschte Stille, bis der Gouverneur das volle Bewußtsein wiedererlangte und seinen toten Vetter zu betrauern begann und unter unterdrücktem, leisem Schluchzen Cluths Namen zu murmeln begann.

Kapitel 9

Das Schiff, das Jim und die Starkianer auf diese Welt gebracht hatte, war eine kleinere Ausgabe des Raumschiffs, mit dem Jim von Alpha Centauri III hergekommen war. Es war gerade groß genug, um die zehn Einheiten aufzunehmen, und benötigte nur eine Person als Wache in der Zentrale des Schiffs. Es wurde auf die gleiche ökonomische Weise gelenkt, wie das für die meisten Dinge aus dem Besitz der Hochgeborenen zutraf. Wer auch immer für die Leitung des Schiffs verantwortlich war, brauchte sich nur sein Ziel vorzustellen und konnte es dann dem Schiff überlassen, diese Vorstellung aufzulösen, sie dem Ziel selbst anzupassen und es dann dorthin zu bringen. Bei ihrem Wegflug von der Thronwelt hatte Ham II das Schiff geführt, weil Jim kein geistiges Bild von dem Bestimmungsort hatte. Nun, auf der Rückreise zur Thronwelt, brauchte Jim keine Hilfe. Er mußte sich nur eine beliebige Stelle auf der Oberfläche der Thronwelt vorstellen - sein eigenes Quartier, wenn es sein mußte -, und den Rest übernahm das Schiff. Er machte sich also ein geistiges Bild, und das Schiff gehorchte.

Kurz vor der Landung aber nahm er Ham II und Adok beiseite.

„Adjutant“, sagte er zu Ham, „halten Sie Ihre Männer an Bord zurück, wenn wir gelandet sind. Gehen Sie nicht direkt in Ihr Quartier zurück, um sich zurückzumelden. Warten Sie hier im Schiff, bis ich Sie rufen lasse.“

Ham blieb eine lange Sekunde lang wortlos stehen.

„Das verstößt gegen die normalen Gepflogenheiten“, sagte er schließlich. „Ich nehme an, das ist ein Befehl?“ „Das ist ein Befehl“, sagte Jim.

„In diesem Fall.“, sagte Ham, „kann ich mich darüber nur auf einen Befehl des Kaisers hin hinwegsetzen, oder wenn wir Grund zu der Annahme haben, daß es gegen den Wunsch des Kaisers verstößt, wenn wir an Bord bleiben. Nach dem, was wir erlebt haben, bin ich nicht geneigt zu glauben, daß diese Ihre Befehle den Wünschen des Kaisers widersprechen könnten.“

„Sie dürfen mir glauben, Adjutant“, sagte Jim langsam. „Ich habe nur das Wohlergehen des Kaisers im Auge, und im Interesse dieses Wohlergehens ist es wahrscheinlich besser, wenn Sie und Ihre Leute außer Sicht an Bord dieses Schiffs bleiben und noch nicht in Ihr Quartier zurückkehren.“

„Jawohl, Sir“, sagte Ham II bestätigend. „Gehen Sie in Ihr eigenes Quartier zurück, Sir?“

„Ja“, sagte Jim, „und Adok nehme ich mit.“

Er berührte Adok am Arm und transportierte sie beide in sein Quartier zurück. Es war leer. Er suchte Ros Apartment auf.

Er fand Ro mit all ihren Haustieren vor - ihren und Afuans -, und sie war damit beschäftigt, die Nägel des affenartigen Tiers zu schneiden, aber sie ließ in ihrer Wiedersehensfreude ihre Geräte fallen und sprang ihn praktisch an.

„Jim!“ sagte sie. „Jim!..“

Er ließ sich einen Augenblick lang von ihr umarmen und drückte sie ebenfalls kurz an sich. Dann streichelte er kurz ihren Kopf und griff hinter sich, um ihre Hände zu lösen und ihrer Umarmung zu entkommen.

„Es tut mir leid“, sagte er sanft. „Aber die Situation drängt etwas.“

Sie kicherte fast lasziv und ignorierte die Tatsache, daß er ihre Hände festhielt. Ihr Blick tastete ihn ab.

„Ist das deine Starkianer-Uniform?“ fragte sie. „Wie groß du darin aussiehst. Sind die Bänder, die du da trägst, noch aktiviert?“

„Ja“, sagte Jim, der nicht wußte, was er mit ihrer etwas überdrehten Stimmung anfangen sollte, und hoffte, daß eine ruhige Antwort auch sie beruhigen würde.

„Tatsächlich?“ kicherte sie wieder. „Zeig’s mir! Brich für mich durch die Wand dort.“

Sie unterbrach sich plötzlich und wurde ernst.

„Nein, nein, was sage ich denn?“ Ihre übermütige Stimmung war plötzlich von ihr gewichen. Sie sah ernst zu ihm hoch. „Was ist los, Jim? Du siehst besorgt aus!“

„Besorgt?“ Er ließ ihre Handgelenke los. „Eigentlich nicht -obwohl sich vielleicht etwas abspielt, worüber man besorgt sein könnte. Sag mal, Ro, was ist hier auf der Thronwelt blau?“ „Blau? Du meinst die Farbe Blau?“ fragte sie. Er nickte mit dem Kopf. „Also. normalerweise ist Weiß die Farbe, die wir verwenden. Das weißt du. Manchmal ein wenig Rot. Ich glaube nicht, daß es heutzutage auf der Thronwelt noch viel gibt, das blau ist - bis auf den einen oder anderen Gegenstand, den vielleicht ein Hochgeborener von einer der KolonieWelten mitgebracht hat.“

„Überlege es dir“, sagte Jim und starrte sie unverwandt an. „Überlege es dir genau.“

„Aber da gibt es wirklich keine. oh“, unterbrach sich Ro selbst. „Es sei denn, du willst die gewöhnlichen Dinge mitrechnen. Der Himmel hier ist blau. Und das Wasser ist blau. Oh, und.“ - sie unterbrach sich wieder und lächelte -„. irgendwo im Palast ist noch die blaue Bestie des Kaisers versteckt, wenn du die mitrechnen willst.“

„Blaue Bestie?“ Seine Frage kam so scharf und abrupt, daß sie blaß wurde.

„Aber ja, Jim“, sagte sie und starrte ihn an, „aber das ist nichts. Das ist nur ein Spielzeug, das er früher hatte, als er noch ein kleines Kind war. Er hat dann nur angefangen, nachts schlimm davon zu träumen, und da haben sie es vor ihm versteckt. Ich weiß nicht, wer es versteckt hat oder wo es sich befindet, und ich glaube auch nicht, daß das heute noch jemand weiß. Es wurde aber dann so schlimm, daß alles, was blau war, ihn. durcheinanderbrachte. Das ist der Grund, warum nie etwas Blaues herumliegen darf, wo der Kaiser es sehen könnte. Warum ist das für dich so wichtig?“

Er hörte zwar die Frage am Ende ihres Berichts, aber sie klang für ihn wie ein unwichtiges Geräusch in weiter Ferne. Seine Gedanken rasten, und er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten.

„Ich muß sofort Vhotan treffen“, sagte er. „Wie kann ich ihn finden, Ro?“

„Jim, was ist denn nur los?“ Nun war sie wirklich besorgt. „Vhotan ist beim Kaiser. Beim Kaiser kannst du nicht einfach so hereinplatzen. Oh, ich weiß, du hast das schon einmal getan und bist damit durchgekommen, aber jetzt kannst du das wirklich nicht machen. Besonders jetzt nicht.“

„Warum besonders jetzt nicht?“ fragte Jim.

„Jim.“, sagte sie unsicher und trat einen Schritt vor ihm zurück. „Bitte nicht.“

Jim brachte unter größter Anstrengung einen ruhigen Ausdruck in sein Gesicht.

„Also gut“, sagte er. „Sag es mir. Warum ist Jetzt so besonders wichtig?“

„Es ist nur so, daß zur Zeit gerade auf den Kolonie-Welten diese Schwierigkeiten aufgetaucht sind“, sagte Ro. „Vhotan hat Starkianer losgeschickt, um den Gouverneuren der niedrigeren Rassen bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zu helfen, so daß hier auf der Thronwelt jetzt keine mehr zurückgeblieben sind. Er hat keine Sekunde lang Zeit, um mit irgend jemandem zu reden.“

Sie unterbrach sich und starrte ihn wieder an. „Jim, wirst du mir vielleicht jetzt sagen, was los ist!“

Aber wieder hörte er sie kaum. Seine Gedanken hatten sich nach dieser neuen Information in rasender Schnelligkeit in eine neue Richtung in Bewegung gesetzt. Einen Moment lang starrte er mit leeren Augen aus dem durchsichtigen Fenster des Haustier-Raums auf das Meeresufer. Auch hier ein Meeresufer? Die Vorstellung, daß Afuan einen Sandstrand und ein Stück Ozean mit sich herumtransportieren mußte, um Afuans Haustieren eine Aussicht zu liefern, war so lächerlich, daß sie seine Gedanken mit einem Ruck wieder praktischen Überlegungen zuführte.

„Ich möchte mich mit Slothiel in Verbindung setzen“, sagte er und sah wieder Ro an. „Dann müssen wir vier - du, ich, Slothiel und Adok - losgehen und Vhotan aufsuchen, ob er beim Kaiser ist oder nicht.“

„Bist du verrückt, Jim?“ sagte sie. „Du kannst nicht so mit Kraftverstärkern um die Arme zum Kaiser gehen! In seiner Gegenwart darf niemand mehr als einen Stab tragen. Seine Starkianer würden dich automatisch im gleichen Moment töten, in dem du so auftauchst. Wenn du schon mit dieser Verrücktheit weitermachen willst, dann lege wenigstens diese Bänder ab! Auch du, Adok!“

Sie sah an ihm vorbei zu dem Starkianer. Ihre eigenen Hände entfernten bereits die Kraftverstärker vom Jims linkem Oberarm. Was sie sagte, war zweifellos völlig berechtigt, und nach einer Sekunde begann er, ihr zu helfen. Kurze Zeit später besaß er bis auf den Stab an den Schlaufen an seinem Gürtel keine Waffen mehr. Er sah sich um und bemerkte, daß auch Adok seine Bänder abgelegt hatte.

„Jetzt“, sagte er zu Ro, „auf zu Slothiel. Du mußt ihn für uns finden. Ich weiß noch nicht einmal, wo er wohnt.“

Sie berührte seinen Arm, und ohne Übergang standen sie sofort in einer anderen Wohnung.

„Slothiel!“ rief Jim, aber aus keiner der drei Türen zu dem Raum, in dem sie erschienen waren, kam eine Antwort.

„Er ist nicht hier“, sagte Ro. „Und es hat keinen Sinn, überall auf der Thronwelt nach ihm zu suchen. Möglicherweise ist er uns einen Sprung voraus, und wir holen ihn so nie ein. Am besten wäre es wohl, hier auf ihn zu warten, Jim.“

„Warten?“ sagte Jim. „Warten ist das einzige, was wir uns nicht leisten können. Wir können es einfach nicht.“

Er stockte, denn Slothiel war vor ihm erschienen. „Willkommen zu Hause, Jim“, sagte Slothiel. „Du bist der erste unserer siegreichen Helden, der zurückkommt. Ich habe gehört, daß dein Schiff gelandet ist, aber in deinem Quartier habe ich dich gerade eben nicht angetroffen. Ich habe es bei Ro versucht - und dort habe ich nur einen Haufen abgelegter Kraftverstärker gefunden. Also bin ich hierher zurückgekehrt, um nachzusehen, ob eine Nachricht für mich da ist - und da bist du also!“

Er lächelte und winkte Ro und Jim höflich zu Polstern hin. Adok ignorierte er.

„Setzt euch“, sagte Slothiel. „Wie wäre es mit etwas zu essen und zu trinken? Ich kann euch.“

„Nichts!“ unterbrach Jim. „Slothiel, sind Sie dem Kaiser gegenüber loyal?“

Slothiel hob seine Augenbrauen.

„Mein lieber Ex-Wolfling“, sagte er mit schleppender Stimme, „alle Hochgeborenen sind dem Kaiser gegenüber loyal. Wie könnten wir denn sonst uns selbst gegenüber loyal sein?“

„Es gibt Loyalität und Loyalität“, sagte Jim unverblümt. „Ich habe Sie nicht danach gefragt, ob sie im akademischen Sinn loyal sind. Ich habe Sie gefragt, ob sie loyal sind, wie das -sagen wir einmal - ein Starkianer ist?“

Slothiel wurde etwas steifer. Seine weißen Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Was ist das hier für ein hochnotpeinliches Verhör, Jim?“ fragte er, aber in einem Tonfall, der über spöttische Distanziertheit hinausging. Unter einer oberflächlichen Distanziertheit klang deutliches Interesse mit.

„Sie haben mir noch nicht geantwortet, Slothiel“, sagte Jim. „Muß ich denn antworten?“ murmelte Slothiel im Tonfall eines Mannes, der sich zwischen zwei Gerichten auf einem Tablett entscheidet. Seine Augen aber waren weiter unverwandt auf Jim gerichtet. „Ich bin schließlich ein Hochgeborener, und das hier ist nur ein Ex-Wolfling, ein Angehöriger der niedrigeren Rassen. ja, ich werde antworten. Ich bin loyal, Jim.“ Seine Stimme war plötzlich hart geworden und hatte jede Spur von sanftem Spott verloren. „Also, worum geht es? Und ich erwarte eine unumwundene, direkte Antwort!“

„Meine zehn Einheiten von Starkianern“, sagte Jim ruhig, „sind auf Athiya in eine militärische Falle gelockt worden, die keinerlei Falle gewesen wäre, wenn man sie nicht mit Antimaterie-Waffen bestückt hätte.“

„Antimaterie?“ Slothiels Gesicht verzog sich kurz erstaunt, entspannte sich aber schnell wieder, als sein Hochgeborenenverstand die unglaubliche Aussage akzeptierte und schnell weiterarbeitete, um ihre Implikationen zu überprüfen. „Ja, du hast recht, Jim. Darüber müßten wir uns mit Vhotan unterhalten.“

„Das hatte ich schon die ganze Zeit vor“, sagte Jim. „Ich wollte nur noch warten, bis ich Sie gefunden habe, damit ich Sie mit uns anderen mitnehmen kann.“

„Mit uns anderen?“ Slothiel sah Ro und Adok an. „Du und ich reichen aus.“

„Nein“, sagte Jim. „Ich brauche Adok als Zeugen für das, was geschehen ist. Und Ro bleibt bei uns, weil das für sie am sichersten ist.“

„Am sichersten?“ Slothiel warf Ro, die die beiden Männer verwirrt beobachtete, einen schnellen Blick zu. „Ah ja, ich verstehe, was du meinst. Wer auch immer dahintersteckt, könnte sie gefangennehmen und sie als Geisel gegen uns verwenden, wenn wir sie ungeschützt lassen. Also los, Starkianer!“

Er winkte Adok nahe an sich heran, und die vier transportierten sich als Gruppe an ihr Ziel.

Sie erschienen in einem Raum, der nicht der gleiche wie der war, in dem Jim Vhotan und den Kaiser zum ersten Mal getroffen hatte. Dieser Raum war größer, etwa so groß wie ein Ballsaal, und hatte einen Wohnbereich an seinem einen Ende. Alle anderen Wände des Saals, bis auf die, vor der sich der Wohnbereich befand, waren bis zu der hohen, weißen Decke mit hellgrünen Wandbehängen bedeckt. In der Mitte des Saals stand ein merkwürdiges Instrument mit einem basketballartigen Kopf, der sich langsam drehte. Dieser Drehung folgend, spielten verschiedene Muster in vielen Farben außer Blau blitzend an der Decke. Der Kaiser saß - fast lag er - auf einem großen Polster am Rande des Saals und starrte angespannt auf diese Muster.

In seiner Nähe standen drei Starkianer, die Stäbe trugen und mit Kraftverstärkern ausgerüstet waren. Vhotan stand in ungefähr sechs Meter Entfernung vom Kaiser über eine mit Knöpfen ausgestattete Fläche gebeugt. Dieses Mal saß er zwar nicht, aber sonst entsprachen seine Position und seine Handlungen denen bei Jims letztem Besuch.

Beim Erscheinen der vier Menschen hatten die Starkianer automatisch ihre Stäbe gezogen. Vhotan sah scharf auf, bemerkte Slothiel und winkte die Stäbe in die Schlaufen am Gürtel zurück. Er wandte sich von der Fläche ab und sah die Gruppe an. Jim warf er einen etwas finsteren Blick zu.

„Man hat mich noch nicht von der Rückkehr deiner zehn Einheiten in ihr Quartier benachrichtigt“, sagte er zu Jim. „Die Leute kann ich jetzt gut gebrauchen.“

„Das ist der Grund, warum ich ihnen befohlen habe, noch nicht in ihr Quartier zurückzukehren“, antwortete Jim.

Vhotan runzelte heftig die Stirn.

„Was meinst du damit?“ fragte er scharf. „Und wer hat dir die Autorität verliehen.“

Er wurde von dem plötzlichen Erscheinen eines Dieners unterbrochen - eines Mannes von dem gleichen Aussehen wie Melness, der eine kleine weiße Schachtel trug.

„Das ist gerade für Sie abgegeben worden, Vhotan“, sagte der Diener. „Es wurde über Afuan geschickt, und zwar von dem Gouverneur von.“ Der Diener nannte den Reichsnamen für Alpha Centauri.

„In Ordnung“, sagte Vhotan finster. Der Diener verschwand. Vhotan trug die Schachtel zu seinem Tisch hinüber, betastete sie einen Moment und hob dann ihren Deckel an. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch weiter.

„Was ist das?“ fragte er. Er wollte sich gerade wieder zu ihnen umdrehen, als eine neue Stimme ihn unterbrach.

„Das ist doch Erz“, sagte die Stimme. Es war der Kaiser, der aus seiner träumerischen Betrachtung der fließenden Muster an der Decke erwacht war und nun herüberkam, um interessiert in die Schachtel zu sehen. Seine Hand senkte sich herab und erschien wieder mit etwas, das wie ein grobgeschnittener

Granit brocken von ungefähr acht Zentimeter Durchmesser aussah. „Da ist auch noch ein Brief.“

Er holte eine Karte aus der Schachtel und sah darauf.

„Darauf steht ,Auf Bitten meines guten Freundes Jim Kell’“, sagte der Kaiser und drehte sich beim Lesen wieder Vhotan und der Gruppe zu, „,sende ich diese Gesteinsprobe von seiner Heimat, dem Planeten Erde, als Souvenir für den Hochgeborenen Vhotan.’“

Der Kaiser lächelte begeistert und hob seine Augen zu Vhotan.

„Das ist ein Geschenk für dich, Vhotan“, sagte er vergnügt, „von unserem Ex-Wolfling hier! Da, du nimmst es wohl besser an dich!“

Der Kaiser warf das Gesteinsstück dem älteren Hochgeborenen zu, dessen lange Hände sich automatisch hoben, um es in der Luft aufzufangen.

Vhotans Hände schlossen sich um den fliegenden Gegenstand, und sofort war er in gleißend blaues Licht getaucht - in ein Licht, das in die Augen stach und seine Umrisse veränderte, so daß aus seiner menschlichen Gestalt etwas Undeutliches, aber Schweres, Dickes und Tierisches wurde.

Der Kaiser schrie, stolperte rückwärts und hob die beiden langfingrigen Hände, um sein Gesicht vor dem Anblick zu schützen.

„Neffe.“ Es war die Stimme Vhotans, aber sie war verändert und zu einem brummenden Baß verzerrt. Er hob leuchtend blaue, prankenartige Arme aus Licht und ging einen Schritt auf den Kaiser zu.

Der Kaiser schrie wieder auf und stolperte nach hinten. Beinahe wäre er über ein Polster gefallen, konnte sich aber auf den Beinen halten. Seine Absätze klapperten laut auf dem nackten Boden vor dem Wohnbereich. Er hob einen langen Arm und streckte einen Finger aus.

„Die blaue Bestie!“ schrie er zu den Starkianern hinüber. „Tötet sie! Tötet sie!“

Wenn die Starkianer überhaupt zögerten, so dauerte das nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde. Die drei Stäbe wurden zur gleichen Zeit gezogen, hoben sich, und die blau leuchtende Gestalt Vhotans, der noch immer mit ausgestreckten Armen auf den Kaiser zuging, wurde mit Feuer überschüttet.

Die Gestalt brach zusammen. Das blaue Licht erlosch. Ein kleines Stück rötlichen Gesteins rollte unbeachtet auf den teppichbedeckten Boden des Wohnbereichs. Auf diesem gleichen Teppich lag Vhotan still und unbeweglich. Sein Gesicht war unberührt, aber sein Körper und seine Gliedmaßen waren durch unglaubliche Brandlinien fast voneinander getrennt.

Im Raum herrschte völlige Stille, und nichts rührte sich. Der Kaiser stand da und starrte auf Vhotan. Er starrte ihn eine lange Zeit an, bis sein Gesicht und seine Augen sich zu verändern begannen.

„Onkel?“ sagte er mit seiner zitternden, unsicheren Stimme. „Onkel?“

Langsam ging er auf Vhotan zu. Als er näher kam, senkten sich seine Schultern, und sein Gesicht verzerrte sich, als werde er gefoltert. Langsam erreichte er Vhotan und blieb über ihm stehen. Er sah auf Vhotans unberührtes Gesicht herab. Trotz seines gewalttätigen Todes war das Gesicht merkwürdig heiter und gelassen. Seine Augen und sein Mund waren geschlossen, seine Gesichtszüge hatten sich entspannt. Vom Hals an aufwärts sah er wie ein Mann aus, der für einen Moment in stille Meditation oder in Gedanken versunken ist.

„Vhotan.“, begann der Kaiser mit gequälter Stimme, aber dann erstarb die Stimme in ihm wie bei einer sprechenden Puppe, deren Mechanismus abgelaufen ist. Er fror unbeweglich in der Stellung ein, die er gerade einnahm, über Vhotan gelehnt, die Arme halb nach dem älteren Mann ausgestreckt. Einen Augenblick lang erschien es Jim unmöglich, eine solche Stellung aufrechtzuerhalten. Der Kaiser aber blieb unbeweglich wie der Gipsabdruck einer Statue stehen.

Hinter Jim rührte sich Slothiel. Er ging nach vorn auf den Kaiser zu.

„Oran“, sagte Slothiel.

Plötzlich kam vom anderen Ende des Saals amüsiertes Gelächter. Aus seinen Augenwinkeln sah Jim, wie die drei Starkianer blitzschnell herumwirbelten und ihre Stäbe zogen.

Dann ertönten drei seltsame, hustende Geräusche, und als Jim seinen Kopf ganz erhoben hatte, sah er die drei Starkianer stolpern und fallen. Sie blieben so still wie Vhotan auf dem polierten Boden des Saals liegen.

Jim drehte sich um und sah zum hinteren Ende des polierten Bodens. Dort stand Galyan direkt vor einem der grünen Vorhänge und hielt einen schwarzen Stab in der rechten und eine seltsame Handfeuerwaffe mit einem langen, gewundenen Lauf in der linken Hand. Hinter Galyan standen Afuan und Melness. Als Jim sie bemerkte, warf Galyan die Handfeuerwaffe verächtlich von sich. Sie rutschte über den polierten Boden, bis ihr Weg durch ein Bein eines der toten Starkianer blockiert wurde.

Von Melness und Afuan gefolgt, ging Galyan auf das andere Ende des Saals zu, in dem sich der Wohnbereich befand. Seine Absätze hallten merkwürdig laut auf der polierten Fläche des Bodens. Als er näher kam, lachte er wieder über die kleine Gruppe, die dort stand.

„Du bist ein ziemliches Problem, Wolfling“, sagte er zu Jim.

„Du kommst nicht nur lebend zurück, sondern zwingst mich auch noch, früher zu handeln, als das geplant war, nachdem du zurückgekommen bist. Aber es ist ja doch noch gut ausgegangen.“

Er erreichte das Ende des polierten Bodens und betrat den Teppich. Er blieb stehen und richtete seinen Blick von Jim auf Slothiel.

„Nein, Slothiel“, sagte er spöttisch. „Nicht ,Oran’. ,Galyan’. Wir werden dir beibringen müssen, ,Galyan’ zu sagen.“

Kapitel 10

Galyans Worte schienen wie ein Echo um sie herumzuhallen. Jim sah Slothiel an und bemerkte, daß der andere Hochgeborene sich versteifte und aufrichtete. Mit Ausnahme des Kaisers selbst war Galyan der größte aller Hochgeborenen, die Jim gesehen hatte, aber Slothiel war fast genauso groß. Erst jetzt, als er seine sorgfältig lässig gebeugte Haltung aufgab, konnte man sehen, wie groß er wirklich war. Die beiden Männer, beide über zwei Meter zehn groß, standen sich in einer Entfernung von ungefähr vier Metern auf dem Teppich gegenüber.

„Du hast mir noch nie etwas beibringen können, Galyan“, sagte Slothiel mit trockener, harter Stimme. „An deiner Stelle würde ich nicht davon ausgehen, jetzt damit beginnen zu können.“

„Slothiel, sei kein Idiot!“ mischte sich Afuan ein, aber Galyan unterbrach sie.

„Das ist ohne Belang“, sagte er scharf. Seine zitronengelben Augen waren noch immer unverwandt auf Slothiel gerichtet. „Wer sind wir denn, daß wir Slothiel sagen sollten, was er zu tun hat? Wie er schon sagte - wir haben ihm noch nie etwas beibringen können.“

„Wir?“ Slothiel lachte bitter. „Sprichst du schon im Pluralis majestatis, Galyan?“

„Habe ich wir gesagt?“ antwortete Galyan. „Da muß ich mich versprochen haben, Slothiel.“

„Du willst ihn also nicht umbringen?“ sagte Slothiel und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf die gefrorene Gestalt des Kaisers.

„Ihn umbringen?“ sagte Galyan. „Natürlich nicht. Ihn pflegen - das werde ich tun. Vhotan hat sich nie richtig um ihn gekümmert. Ihm geht es nämlich nicht gut, mußt du wissen.“

„Und Ihnen?“ fragte Jim.

Galyans Augen zuckten einen kurzen Moment lang zu Jim hinüber.

„Nur Geduld, kleiner Wolfling“, schnurrte Galyan. „Du bist bald dran. Im Augenblick amüsiere ich mich noch mit Slothiel.“

„Du amüsierst dich?“ sagte Slothiel mit grimmiger Ironie, die sich dem grausamen Humor in Galyans Stimme anpaßte. „Du solltest dir besser Erklärungen überlegen, wie Vhotan gestorben ist.“

„Ich?“ lachte Galyan leise. „Die Starkianer des Kaisers haben auf den Befehl des Kaisers hin Vhotan getötet. Das hast du gesehen.“

„Und wer hat die Starkianer getötet?“ fragte Slothiel.

„Du natürlich“, sagte Galyan. „Du bist verrückt geworden, als du mit ansehen mußtest, wie ohne Grund Vhotans Tod befohlen wurde.“

„Ohne Grund?“ wiederholte Slothiel. „Und was ist mit dem getarnten blauen Zerrlicht? Jim hat das nie über den Gouverneur von Alpha Centauri schicken lassen. Dafür bist du verantwortlich.“

Galyan zuckte mit einem Finger. Melness hastete nach vorn und zur Seite, um das kleine granitartige Felsstückchen vom Teppich aufzuheben und es in eine Tasche seines Kilts zu stecken. Er zog sich hastig wieder hinter Galyan zurück.

„Welches Zerrlicht?“ fragte Galyan.

„Ich verstehe“, sagte Slothiel. Er holte tief Luft. „Aber ich habe die Starkianer natürlich nicht umgebracht.“

„Das würde ich an deiner Stelle bei anderen Hochgeborenen nicht verbreiten“, sagte Galyan. „Der Kaiser wird jetzt jemanden brauchen, der sich um ihn kümmert - jetzt, wo Vhotan tot ist, nehme ich die Stelle unseres Onkels ein. Wenn du herumläufst und solche wilden Geschichten erzählst, ist es gut möglich, daß der Kaiser beschließt, für dich zu deinem eigenen Nutzen Isolation und Behandlung anzuordnen.“

„So? Aber selbst wenn ich nichts sage“, meinte Slothiel mit schleppender Stimme, „sind diese drei Starkianer dort mit einem schweren Interdisperser getötet worden. Wenn die anderen Starkianer zurückkommen, werden sie sich darüber Gedanken machen, daß drei von ihnen mit einem Stab allein getötet worden sind, obwohl sie alle drei voll aktivierte Kraft Verstärker trugen, und sie werden sich fragen, wie das möglich war. Ich kann beweisen, daß ich seit Jahren nicht mehr im Arsenal für schwere Waffen war.“

„Ohne Zweifel“, sagte Galyan. „Du hast aber gesagt: ,wenn die anderen Starkianer zurückkommen’. Sie werden nicht zurückkommen, verstehst du?“

Slothiel sah sich plötzlich nach Jim um. Jim nickte.

„Der Wolfling hat also die Nachricht über unsere kleinen Fallen auf den Kolonie-Welten zurückgebracht, nicht wahr?“ meinte Galyan. Sowohl Jim als auch Slothiel sahen wieder auf den großen Hochgeborenen. „Du weißt also Bescheid, Slothiel. Die Starkianer kommen nicht zurück. Ich habe vor, neue Starkianer zu schaffen - und die werden mir gehorchen und nicht dem Kaiser. Du siehst auf jeden Fall die Wahl, vor der du stehst. Halte den Mund - oder du wirst von der Bildoberfläche entfernt.“

Slothiel lachte, griff neben sich und zog den Stab aus den Schlaufen in Adoks Gürtel.

Auch Galyan lachte, aber mit einem halb ungläubigen Ton von Verachtung in seiner Stimme.

„Hast du tatsächlich den Verstand verloren, Slothiel?“ sagte er. „Wir haben als Jungen gefochten. Deine Reflexe sind schnell, aber du weißt, daß niemand schneller ist als ich. Außer.“ Er nickte zu der noch immer gelähmten Gestalt des Kaisers hinüber.

„Als Männer haben wir es aber noch nicht versucht“, sagte Slothiel. „Außerdem habe ich die ganze Schauspielerei hier auf der Thronwelt satt. Ich glaube, ich möchte dich gern umbringen.“

Er trat einen Schritt vor. Galyan ging hastig auf den polierten Boden des Saals zurück und zog langsam den Stab aus den Schlaufen in seinem eigenen Gürtel.

„Wie wäre es mit einer Wette?“ sagte er. „Wetten wir um genug Lebenspunkte, daß es zu einer Verbannung reicht, Slothiel. Wie wäre es mit fünfzig Lebenspunkten? Damit dürften wir beide über das Limit kommen.“

„Erzähl mir hier nichts von Spielereien“, sagte Slothiel. Fuß um Fuß ging er langsam auf Galyan zu, der seinerseits ebenso langsam in einem großen Bogen vor ihm zurückwich. „Ich glaube, an Wetten habe ich keinen Spaß mehr. Ich brauche etwas Aufregenderes.“

Sie hatten inzwischen fast die Mitte des Bereichs mit dem polierten Fußboden erreicht. Noch immer trennten sie ungefähr vier Meter, aber sie neigten sich in ihrer Größe nach vorn und zogen ihre breiten Schultern vor, so daß es den Anschein hatte, als trenne sie kaum mehr als eine Armlänge.

Aus Slothiels Stab zuckte abrupt der weiße Blitz seiner Entladung. Zur gleichen Zeit lehnte er sich zurück und zur Seite in dem Versuch, Galyan auszumanövrieren und von der Seite zu erreichen.

Galyan aber duckte sich unter den weißen Blitzstrahl, der an die Stelle zuckte, wo sich gerade eben noch sein Kopf befunden hatte, drehte sich, noch immer geduckt, pfeilschnell auf seinem Absatz herum, so daß er sich Slothiel zuwandte. Auch sein Stab spuckte nun weißes Feuer.

Wäre er ein wenig schneller gewesen, hätte es Galyan schaffen können, mit seinem Feuerstrahl die Entladung aus Slothiels Stab zu unterlaufen. Die Zeit aber, die Galyan für seine Wendung brauchte, reichte für Slothiel aus, um seine eigene Waffe zu senken, so daß die Entladung aus Galyans Waffe direkt auf Slothiels Blitz traf und die beiden Ströme aus weißem Feuer sich harmlos in einem Funkenregen verloren. Von diesem ersten Augenblick an verloren die Feuerströme aus den beiden Stäben nie mehr den Kontakt zueinander.

Nach diesem ersten riskanten Manöver der beiden Männer (und Jim hatte mit Adok den Gebrauch der Stäbe oft genug geübt, um einschätzen zu können, wie groß das Risiko gewesen war) - Slothiels Angriff und Galyans Abwehr -kämpften die beiden Hochgeborenen defensiv und vorsichtig und führten mehr als ein Dutzend einigermaßen herkömmliche direkte Begegnungen durch. Wie Jim während seiner Übungen mit Adok festgestellt hatte, war der Kampf mit den Stäben dem Säbelfechten sehr ähnlich, wenn man sich Säbel vorstellte, die oft und unerwartet ihre Länge änderten. Der Entladungspunkt des Feuerstroms aus den Stäben - der Punkt, an dem die Entladung ihre größte Zerstörungskraft entwickelte - lag an der Spitze eines inneren Kegels aus rein weißem Licht, und dieser Kegel konnte von demjenigen, der den Stab in der Hand hielt, beliebig von einer Entfernung von zehn Zentimetern bis zu vier Metern verschoben werden. An diesem Punkt entwickelte der Stab seine größtmögliche Energie. Bei einer direkten Abwehr konnte die Kegelspitze eines Stabes nur durch die Kegelspitze eines anderen blockiert und neutralisiert werden. Verfehlte aber eine Kegelspitze ihr Ziel, so konnte der gegnerische Stab seine Kegel spitze in den Feuerstrom hinter den Entladungspunkt des Gegners richten und den Kegel ablenken, so daß der Kegel des Angreifers ungehindert sein Ziel erreichte.

Es ging daher nicht nur darum, den Feuerstrom aus dem Stab des Gegners abzulenken, sondern er mußte mit einem Teil des eigenen Feuerstroms abgelenkt werden, und zwar mit dem Teil, der stärker als der Strom des Gegners am Berührungspunkt war.

Slothiel und Galyan bewegten sich auf dem polierten Fußboden und vermieden es sorgfältig, sich an eine der grün verhangenen Wände drücken zu lassen. Die Begegnungen ihrer Waffen erzeugten einen ständigen Funkenregen, der plötzlich zu Lichtfontänen explodierte, wenn die beiden Kegelspitzen in direkten Kontakt miteinander kamen. Galyan lächelte grimmig mit dünnen Lippen und schmalen Nasenflügeln. Slothiel auf der anderen Seite kämpfte nach seinem ersten wilden Angriff mit einer Art träumerischer Grazie und entspanntem Gesicht, als sei dies nicht ein Duell bis zum Tod, sondern ein unbedeutender sportlicher Wettkampf, bei dem er vielleicht einen kleinen Betrag auf seinen Sieg gewettet hatte.

Slothiels offensichtliche Lässigkeit war jedoch kein echter Hinweis auf den Verlauf des Duells. Vor kaum mehr als vor einigen Wochen hätte es für Jim eher wie ein perfekt einstudierter Tanz ausgesehen, den zwei große Männer mit Fackeln in ihrer Hand durchführten - ein Tanz, mit dem mehr als alles andere der Bewegungsrhythmus der Männer und die Schönheit des Feuers in ihren Händen vorgeführt werden sollte. Inzwischen wußte er es jedoch besser, und weil er es besser wußte, konnte er erkennen, daß für dieses Duell nur ein Ende denkbar war. So elegant und schnell Slothiel auch war -Galyan hatte ihn doch schon ein halbes Dutzend Male beinahe am Schluß einer Begegnung der Kegelspitzen der beiden Waffen erwischt. Früher oder später würden es Slothiels Glück und Geschick nicht verhindern können, daß er bei der Ablenkung des Feuers aus der Waffe seines Gegners ein wenig zu langsam war.

Galyan war tatsächlich der schnellere der beiden, und das hieß in einem solchen Duell alles.

So konnten sie auch alle das Ende beobachten. Galyan sprang plötzlich nach links, hob seine Flamme etwas an, senkte sie unter Slothiels abwehrenden Feuerstrom, hob sie sofort wieder an und führte sie über Slothiels linken Oberschenkel und seinen linken Oberarm, mit dem er seine Waffe hielt.

Slothiel sank auf dem polierten Boden auf sein rechtes Knie. Sein linker Arm hing nutzlos herab, sein Stab fiel auf den Boden und rutschte etwas von ihm weg.

Er lachte in Galyans Gesicht hoch.

„Das findest du also witzig, was?“ keuchte Galyan. „Ich werde dir dein Lächeln vom Gesicht wischen!“

Galyan hob seinen Stab und richtete ihn auf Slothiels Gesicht.

„Galyan!“ brüllte Jim und rannte nach vorn.

Der Klang seiner Stimme hielt Galyan nicht auf, aber die schnellen Schläge von Jims Schuhen auf dem polierten Boden schafften es. Galyan fuhr wie eine Katze herum.

Jim hatte beim Laufen seinen eigenen Stab aus dem Gürtel gezogen. Es blieb ihm gerade genug Zeit, um ihn anzuheben und die Flamme aus ihm herauszujagen, bis Galyans Stab sich ebenfalls entlud und mit einem Funkenregen auf sie traf.

Jim schob die Flammen aus beiden Stäben nach oben, löste sich und trat zurück. Galyan lachte.

„Wolfling, Wolfling.“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Dir ist wohl nie wirklich klargeworden, was es heißt, ein Hochgeborener zu sein, nicht wahr? Ich werde dir wohl eine Lektion erteilen müssen, meinst du nicht auch?“

„Jim!“ rief Slothiel vom Boden hinter Galyan aus. „Tu’s nicht! Du hast keine Chance! Lauf!“

„Ihr täuscht euch beide“, sagte Jim. Nun, da er sich tatsächlich mit Galyan eingelassen hatte, arbeitete sein

Verstand eiskalt, und die entfernte Kühle seiner Stimme reflektierte diese Eiseskälte in seinem Innern.

Er begann den Kampf gegen Galyan, und sie führten mindestens ein Dutzend Angriffs- und Verteidigungsmanöver durch. Galyans Augenbrauen hoben sich.

„Gar nicht schlecht“, sagte er. „Für jemanden, der kein Hochgeborener ist, sogar sehr gut - und für einen Wilden unglaublich gut. Es tut mir wirklich leid, dich zu verschwenden, Wolfling.“

Jim antwortete nicht. Er kämpfte konservativ und vorsichtig weiter und war nur bemüht, die Kegelspitze aus Galyans Waffe immer vor der aus seiner eigenen zu halten und sicherzustellen, daß er nicht an die Wand gedrückt wurde. Hätte er nicht schon auf der Erde Fechterfahrung mit Florett, Degen und Säbel sammeln können, wäre es ihm in den wenigen Wochen, in denen er mit Adok den Gebrauch des Stabs eingeübt hatte, nie gelungen, genug davon lernen zu können. Diese Erfahrung aber, kombiniert mit seiner angeborenen Begabung, zahlte sich nun aus. Langsam wurden seine Bewegungen im Verlauf des Duells immer sicherer.

„Wenn ich es mir überlege - warum soll ich dich eigentlich verschwenden?“ keuchte Galyan während einer der Begegnungen, in der sich ihre Gesichter bis auf einige Zentimeter einander genähert hatten. Die weiße Gesichtshaut des Hochgeborenen glänzte vor Schweiß.

„Sei vernünftig, Wolfling, und zwinge mich nicht dazu, dich zu töten. Slothiel muß sowieso sterben - jetzt. Für dich aber hatte ich große Pläne. Ich hatte dich als Anführer meiner neuen Starkianer vorgesehen.“

Jim blieb weiter still, steigerte aber die Geschwindigkeit seines Angriffs. Plötzlich hörte er seitlich das Geräusch laufender Füße auf dem kahlen Boden und Ros Stimme, die rief:

„Bleib zurück!“

Jim wagte im Augenblick nicht aufzusehen, aber einige Sekunden später fand er sich mit dem Gesicht auf den Wohnbereich gerichtet. Mit einem schnellen Blick sah er Ro neben dem gefallenen Slothiel stehen und Afuan mit dem Stab in Schach halten, den Slothiel fallen lassen hatte. Melness lag zu Adoks Füßen ausgestreckt, und es sah so aus, als sei das Genick des obersten Dieners gebrochen. Nur die unbewegliche Gestalt des Kaisers über dem toten Vhotan war unverändert.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ fuhr Galyan plötzlich Jim an. „Ich erwarte eine Antwort, wenn ich mit dir spreche, Wolfling!“

Jim wehrte einen hohen Angriff der größeren Gestalt ab und trat, sich daraus lösend, wortlos nach links.

„Also gut!“ sagte Galyan und zeigte mit einem fast mechanischen Lächeln seine Zähne. „Jetzt reicht es mir! Bisher habe ich mit dir nur gespielt, weil ich hoffte, du würdest zur Vernunft kommen. Damit ist es jetzt vorbei. Jetzt stirbst du, Wolfling!“

Der Hochgeborene griff plötzlich mit einem Funkenregen an, und Jim mußte um sein Leben kämpfen. Galyan hatte durch seine größere Reichweite einen enormen Vorteil, und der größere Mann nutzte diese Reichweite und die Sprungkraft seiner langen Beine nach besten Kräften zu seinem Vorteil aus. Jim parierte zwar ständig und schnell, sah sich aber gezwungen zurückzuweichen. Er trat langsam zurück, aber Galyan bedrängte ihn aus der Nähe und zwang ihn damit noch weiter zurück. Jim versuchte, nach rechts einen Bogen zu schlagen, sah diesen Weg aber durch den grellweißen Blitz aus Galyans Waffe abgeschnitten. Er versuchte, nach links auszubrechen, doch Galyans Reichweite war größer. Jim konnte aus den Augenwinkeln die anderen Wände des Raums erkennen und schätzte aus ihrer Entfernung, daß die vierte Wand dicht hinter seinem Rücken sein mußte. Wenn es Galyan gelang, ihn an diese Wand zu drängen, so bekam der Hochgeborene dadurch einen Vorteil, der das Duell schnell zu seinem Ende führen mußte.

Galyan bleckte nun ständig die Zähne, und von seinem Kinn tropfte der Schweiß. Seine weit überlegene Reichweite verhinderte jedes Ausweichen nach rechts oder links, und sehr bald war für Jim auch der Weg nach hinten versperrt.

Aus diesem Flammengefängnis, mit dem Galyan ihn umgab, blieb nur ein einziger Ausweg. Er mußte Galyan in seiner größten Stärke übertreffen. Jim mußte Galyans Angriff mit einem eigenen Angriff begegnen und ihn damit zunächst zum Abstoppen bringen, um ihn dann seinerseits zum Rückzug zu zwingen. Bei einem solchen Angriff konnte es auf Galyans überlegene Reichweite nur eine Antwort geben - und das war Geschwindigkeit. Jim mußte schneller sein als der Hochgeborene.

Es hatte keinen Sinn, länger zu zögern. Jim beendete eine Abwehr und griff heftig an. Galyan zog sich unter der ersten Wut von Jims Angriff überrascht und rein reflexiv drei Schritte zurück, aber dann hielt er seine Stellung.

Er lachte, kurz keuchend. Er schien etwas sagen zu wollen, entschloß sich aber dann offensichtlich, seinen Atem zu sparen, denn weder er noch Jim konnten viel davon erübrigen. Sie führten mehr als ein Dutzend Angriffe und Verteidigungen praktisch in direkter Berührung durch, und keiner von beiden gab auch nur einen Zoll nach.

Dieses mörderische Tempo konnte keiner der beiden Männer noch eine weitere Minute durchhalten, ohne aus Erschöpfung und Atemlosigkeit zusammenzubrechen, aber Jim ließ nicht nach, und langsam wurden Galyans Augen immer größer. Er starrte Jim über die beiden zusammenstoßenden Feuerströme und durch den Funkenregen an.

„Du. kannst. doch. nicht.“, keuchte er.

„Ich kann.“, schnaufte Jim.

Unerwarteterweise verzog sich Galyans Gesicht zu einer Grimasse rasender Wut. Er löste sich aus Jims Angriff und begann sofort, mit seinem Stab einen Kreis von Feuer zu schlagen - fast wie das Manöver, das man beim Kampf mit Stäben Moulinet nennt.

Es handelte sich um den einfachen, brutalen Versuch, mit seiner Kegelspitze die aus Jims Waffe zu überholen. Wenn es Galyan gelang, schneller als der abwehrende Kegel zu werden, blieb ihm der Bruchteil einer Sekunde, in der er Jims Abwehr von oben durchbrechen und ihn vernichten konnte. Galyans Flamme zog ihren Kreis und hielt die Geschwindigkeit mit seinem Stab. Dieses verzweifelte Rennen hielt für einen vollen Kreisbogen an, ohne daß Galyans Waffe einen Vorsprung herausholen konnte - und dann war es Jims Kegelspitze, die vorzog.

Er holte einen Vorsprung heraus, begann den nächsten Kreis, brach über den Feuerstrahl aus Galyans Waffe durch und schoß die volle Kraft seiner Flamme in die ungeschützte Brust des größeren Mannes.

Galyan schwankte und fiel. Dabei schwang er seine Waffe herum nach unten und berührte mit dem Ende seines Stabs Jim direkt unter den Rippen an seiner Seite, bevor er ihm aus der Hand und auf den Boden fiel. Jim spürte in seinem Innern eine plötzliche Kälte und Leere. Dann sank Galyan zu seinen Füßen zu Boden.

Jim hob langsam den Kopf. Er atmete schwer, um seinen erschöpften Körper wieder mit Sauerstoff zu versorgen.

Er sah durch schweißüberströmte Augen, daß Slothiel jetzt den Stab in der Hand hielt, den vorher Ro an sich gebracht hatte, und Afuan damit bedrohte. Nicht nur das, sondern Jim stellte auch noch verblüfft fest, daß Slothiel wieder auf den

Beinen war, wenn er sich auch schwer auf Ro stützte. Sobald er zum Gehen wieder genug Luft geschnappt hatte, bewegte sich Jim langsam von Galyans Leiche auf Slothiel und Ro zu.

„Jim.“, sagte Slothiel voller Verwunderung, sah ihn an und steckte den Stab zurück in die Schlaufen an seinem Gürtel. Er ignorierte Afuan, als Jim näher kam. „Was bist du?“

„Ein Wolfling“, sagte Jim. „Wie kommt es, daß du wieder auf den Beinen bist?“

Slothiels Lachen enthielt nicht nur Freude.

„Mit der Hilfe unserer Energiequellen heilen unsere Wunden schnell. So ist das bei uns Hochgeborenen“, sagte er. „Aber wie steht es bei dir?“

„Es geht“, sagte Jim. Er hielt seinen Ellenbogen fest gegen die Seite seiner Brust gedrückt. „Aber ich habe noch eine Leiche zum Wegräumen zurückgelassen. Ich glaube, für mich ist es Zeit, wieder nach Hause zu gehen.“

„Nach Hause?“ wiederholte Slothiel.

„Zurück zur Erde - auf den Planeten, von dem ich gekommen bin“, sagte Jim. „Je besser das alles vertuscht wird, desto besser ist es für den Kaiser. Mich wird niemand vermissen, wenn ich verschwinde, und den anderen Hochgeborenen kann man ja erzählen, daß Galyan in einem Wahnsinnsanfall Vhotan und die Starkianer getötet hat und ihr ihn daher töten mußtet, bevor er auch noch den Kaiser umbrachte.“

Er sah zu Afuan hinüber, die wie eine große, weiße Statue dastand.

„Das heißt“, sagte Jim, „wenn ihr die Prinzessin dazu überreden könnt, den Mund zu halten.“

Slothiel sah nur kurz zu ihr hinüber.

„Afuan wird mir nicht widersprechen“, sagte Slothiel. „Galyan hatte den Plan, vom Kaiser die Entscheidung treffen zu lassen, daß ich Isolierung und Behandlung brauche, wenn ich ihm widerspreche. Das gleiche kann nun sehr gut für sie zutreffen.“

Er drehte sich um, ließ Ro los und ging, zwar ein wenig hinkend, aber völlig aus eigener Kraft, von dem polierten Boden auf den Teppich und zur unbeweglichen Gestalt des Kaisers. Jim und Ro folgten ihm.

Slothiel berührte den Kaiser leicht am Arm.

„Oran“, sagte er sanft.

Einen Augenblick lang rührte der Kaiser sich nicht. Dann richtete er sich langsam auf, drehte sich um, und ein warmes Lächeln erfüllte dabei seine Züge.

„Slothiel!“ sagte er. „Schön von dir, so schnell zu kommen. Weißt du, daß ich Vhotan nirgends finden kann? Vor ein paar Minuten noch war er hier, und ich könnte schwören, daß er den Raum nicht verlassen hat, aber er ist vollständig verschwunden.“

Der Kaiser schaute über die große Fläche des polierten Fußbodens, sah auf die behängten Wände, zurück in den Wohnbereich und an die Decke, wo noch immer die bunten Muster spielten. Er sah überallhin, nur nicht auf die stille Gestalt zu seinen Füßen.

„Weißt du, Slothiel, ich hatte einen Traum“, sprach der Kaiser weiter und sah den anderen Hochgeborenen verträumt an. „Das war gerade letzte Nacht - oder zumindest irgendwann kürzlich. Ich habe geträumt, daß Vhotan tot sei, Galyan tot sei und alle meine Starkianer tot seien. Und als ich mich im Palast und auf der Thronwelt umsah, um andere Hochgeborene zu finden und ihnen das zu erzählen, war niemand da - weder im Palast noch auf der ganzen Welt. Ich war völlig allein. Du meinst doch wohl auch, man sollte mich nicht so allein lassen, nicht wahr, Slothiel?“

„Solange ich lebe, wird das nicht geschehen, Oran“, sagte Slothiel.

„Ich danke dir, Slothiel“, sagte der Kaiser. Er sah sich jedoch noch einmal im Raum um, und seine Stimme wurde ein wenig ärgerlich. „Trotzdem hätte ich gern gewußt, was aus Vhotan geworden ist. Warum ist er nicht hier?“

„Er mußte für eine Zeitlang weggehen, Oran“, sagte Slothiel. „Er hat mir gesagt, ich soll bei dir bleiben, bis er wiederkommt.“

Das Gesicht des Kaisers strahlte wieder mit einem warmen Lächeln auf.

„Na, dann ist ja alles in Ordnung!“ sagte er vergnügt. Er legte eine Hand um Slothiels Schulter und sah sich erneut im Raum um.

„Da ist ja auch Afuan - und die kleine Ro und unser kleiner Wolfling. Ex-Wolfling, sollte ich wohl sagen.“

Er sah Jim an, und langsam verschwand sein Lächeln und machte einem feierlichen, fast traurigen Gesichtsausdruck Platz.

„Du gehst weg, nicht wahr - Jim?“ Er hatte den Namen offensichtlich mühsam aus einer Ecke seines Gedächtnisses hervorgekramt. „Ich meine doch, ich habe gerade jemanden so etwas sagen hören.“

„Ja, Oran“, sagte Jim. „Ich muß jetzt gehen.“

Mit noch immer feierlichem Gesicht nickte der Kaiser.

„Ja, das habe ich gehört“, sagte der Kaiser halb zu sich selbst. Seine Augen richteten sich auf Jim. „Weißt du, manchmal höre ich Dinge, auch wenn ich nicht wirklich zuhöre. Ich verstehe sie auch - manchmal verstehe ich sie besser als jeder andere Hochgeborene. Es ist gut, daß du wieder zu deiner Heimatwelt zurückkehrst, Jim.“

Die Hand des Kaisers glitt von Slothiels Schulter herab. Er trat einen Schritt vor, blieb vor Jim stehen und sah auf ihn herab.

„Da draußen seid ihr noch voll von junger Energie, Jim“, sagte er. „Und wir hier sind müde. Manchmal sehr müde. Für dich und deine Wolflinge wird alles in Ordnung gehen, Jim. Das kann ich sehen, weißt du - solche Dinge sehe ich sehr oft ganz klar.“

Seine zitronengelben Augen schienen sich zu umwölken und in eine unendliche Ferne zu schauen, so daß er nicht auf Jim, sondern durch ihn hindurchsah.

„Ich habe bemerkt, daß du deine Sache gut machst, Jim“, sagte er. „Du und die anderen Wolflinge. Und was für dich gut ist, das ist gut für alle - für uns alle.“ Seine Augen wurden wieder klar und sahen direkt auf Jim. „Irgend etwas sagt mir, daß du mir einen sehr wertvollen Dienst erwiesen hast, Jim. Ich meine, ich sollte deine Adoption zu Ende bringen, bevor du weggehst. Ja, ich erkläre dich von diesem Augenblick an zum Hochgeborenen, Jim Kell.“ Plötzlich lachte er leicht. „. Ich gebe dir nichts, was du nicht schon besitzt.“

Er richtete sich auf und drehte sich wieder zu Slothiel um.

„Was soll ich jetzt tun?“ fragte er Slothiel.

„Ich denke, Sie sollten Afuan jetzt in ihre Wohnung zurückschicken“, sagte Slothiel, „und ihr sagen, sie soll dort bleiben, bis sie wieder von Ihnen hört.“

„Ja.“ Der Kaiser ließ seinen Blick herumschwenken und richtete ihn auf Afuan, aber sie sah ihn nur einen Augenblick lang an und wandte sich dann wütend Jim und Ro, die neben ihm stand, zu.

„Dreckskerl! Wilder!“ fauchte sie. „Kriech in die Büsche und deck sie!“

Jim verkrampfte sich, aber Ro hielt seinen linken Arm fest.

„Nein!“ sagte sie fast stolz. „Das ist nicht nötig. Siehst du das nicht - sie ist eifersüchtig! Eifersüchtig auf mich!“

Sie hielt ihn noch immer fest am Arm und sah in sein Gesicht hoch.

„Ich gehe mit dir, Jim“, sagte sie. „Mit zurück auf deine Welt.“

„Ja“, sagte der Kaiser unerwartet, aber nachdenklich. „Ja, das ist richtig. So habe ich es gesehen. Die kleine Ro sollte mit ihm gehen.“

„Afuan!“ sagte Slothiel scharf.

Die Prinzessin warf ihm einen Blick zu, der ebenso haßerfüllt war wie der, den sie gerade auf Jim und Ro gerichtet hatte. Sie verschwand.

Jim verschwamm plötzlich alles vor den Augen. Er nahm sich unter größter Anstrengung zusammen, und der Raum um ihn herum beruhigte sich wieder.

„Dann müssen wir uns schnell auf den Weg machen“, sagte er. „Ich schicke dir die Starkianer von meinem Schiff, Slothiel. Du kannst sie ja in der Nähe des Kaisers stationieren, bis es dir gelungen ist, so viele wie möglich von den Einheiten zurückzurufen, die zu den Kolonie-Welten geschickt wurden. Wenn du den Befehl schnell erteilst, dürften nicht allzu viele in Galyans Antimaterie-Fallen geraten.“

„Das werde ich tun. Adieu, Jim“, sagte der Kaiser. Er trat nach vorne und streckte seine Hand aus. Jim befreite seinen linken Arm aus Ros Griff und nahm die langen, schmalen Finger ungeschickt in seine eigene linke Hand.

„Adok“, sagte der Kaiser, ohne Jims Hand loszulassen. Er sah dabei jedoch den Starkianer an. „Hast du eine Familie?“ „Nicht mehr, Oran“, sagte Adok in seinem üblichen, neutralen Tonfall. „Mein Sohn ist erwachsen, und meine Frau ist in die Frauensiedlung zurückgegangen.“

„Möchtest du mit Jim gehen?“ fragte der Kaiser.

„Ich.“ Zum ersten Mal, seit Jim ihn kannte, schienen dem Starkianer die Worte zu fehlen. „Ich habe keine Erfahrung in Mögen oder Nichtmögen, Oran.“ „Wenn ich dir den Befehl erteile, mit Jim und Ro zu gehen und für den Rest deines Lebens bei ihnen zu bleiben“, sagte der Kaiser, „gehst du dann gern mit?“

„Ja, Oran - gern“, sagte Adok.

Der Kaiser ließ Jims Hand los.

„Du wirst Adok brauchen“, sagte er zu Jim.

„Vielen Dank, Oran“, sagte Jim.

Ro packte ihn wieder fest am Arm.

„Adieu, Oran. Adieu, Slothiel“, sagte Ro. Sofort standen sie nicht mehr in dem Saal im Palast, sondern am Dock im Raumflughafen, wo Jim das Schiff mit seinen zehn Starkianer-Einheiten zurückgelassen hatte.

Als sie erschienen, stand Ham wie eine Wache direkt vor dem Schiff. Er drehte sich schnell Jim zu.

„Gut, Sie wiederzusehen, Sir“, sagte er.

Unerwarteterweise spürte Jim, wie das Schiff und das Dock vor seinen Augen wieder zu schwanken und sich zu drehen begannen. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, sich wieder einen klaren Kopf zu verschaffen, um zu hören, was Adok zu Ham sagte.

„Der Hochgeborene Vhotan und Prinz Galyan sind tot“, teilte er ihm hastig mit. „Außerdem sind drei Starkianer umgekommen. Der Hochgeborene Slothiel hat Vhotans Stelle eingenommen. Du und deine Leute sollen sich beim Kaiser melden.“

„Jawohl, Sir“, bestätigte Ham und verschwand.

Abrupt standen Jim, Ro und Adok im Schiff. Wieder verlor Jim kurz die Orientierung, und er spürte, wie Ro ihm sanft dabei half, sich auf die ebene Fläche eines Polsterbetts zu legen.

„Was ist los - Adok!“ Er hörte ihre Stimme, aber wie aus weiter Entfernung, als stünde sie am hinteren Ende eines abschüssigen Gangs, in dem er immer schneller und immer weiter von ihr wegrutschte. Er konzentrierte sich mit aller Kraft und stellte sich in Gedanken zuerst den Raumhafen auf Alpha Centauri III und danach den Raumhafen auf der Erde vor, von dem aus er abgeflogen war. Das war seine letzte Anstrengung - von jetzt an mußte das Schiff übernehmen. Nach dem zu urteilen, was er in den Archiven der Lernzentren auf der Thronwelt gelesen hatte, zweifelte er jedoch nicht daran, daß es dem Schiff gelingen würde, nach den Anweisungen, die er erteilt hatte, die Erde zu finden.

Er entspannte sich und ließ sich weiter den abschüssigen Gang hinabgleiten. Eines blieb ihm aber noch zu tun. Er kämpfte sich für eine Sekunde zurück ins Bewußtsein und zu Ro.

„Galyan hat mir im Sterben die Seite verbrannt“, murmelte er ihr zu. „Ich sterbe jetzt. Deshalb mußt du es ihnen an meiner Stelle auf der Erde sagen, Ro. Sag ihnen. alles.“

„Aber du wirst nicht sterben!“ Ro weinte und umklammerte ihn fest mit beiden Armen. „Du stirbst nicht. das darfst du nicht.“

Aber noch während sie ihn hielt, entglitt er ihrem Griff und rutschte - dieses Mal ohne weitere Unterbrechung oder Hoffnung auf Wiederkehr - jenen langen, abschüssigen Gang hinunter in bodenlose Finsternis.

Kapitel 11

Als Jim nach dieser langen Reise in die Dunkelheit endlich wieder die Augen öffnete und Licht sah, brauchte er mit der Hilfe dieses Lichts lange, um die Umrisse der Gegenstände um ihn herum zu erkennen. Er fühlte sich, als sei er jahrelang tot gewesen. Allmählich aber schärfte sich sein Blick. Die Aufnahmefähigkeit kehrte zurück. Es drang ihm in das Bewußtsein ein, daß er auf dem Rücken auf einer Fläche lag, die härter als jedes Polster war - und die Decke, die er anstarrte, war zwar weiß, hatte aber eine merkwürdig körnige Struktur und war nahe über ihm.

Unter größter Anstrengung gelang es ihm, seinen Kopf zur Seite zu drehen. Er bemerkte Umrisse, die er allmählich als kleinen Nachttisch, einige Stühle und einen weißen Wandschirm erkannte, wie er in Krankenhäusern verwendet wird. Alles in allem sah er ein einzelnes Zimmer mit einem Fenster am hinteren Ende, das ein gelbes Sommersonnenlicht einließ, wie er es nun einige Zeitlang nicht mehr gesehen hatte. Durch das Fenster konnte er nur den Himmel sehen, einen blauen Himmel, auf dem vereinzelte weiße Wolkenfetzen verteilt waren. Er lag da, starrte in den Himmel und versuchte langsam, sich Klarheit über die Ereignisse zu verschaffen.

Offensichtlich befand er sich auf der Erde. Das bedeutete, daß mindestens fünf Tage vergangen sein mußten, seit er bewußtlos geworden war. Wenn er aber auf der Erde war, was hatte er dann hier zu suchen? Wo war hier? Und wo waren Ro und Adok, von dem Schiff ganz zu schweigen? Von der Tatsache, daß er am Leben zu sein schien, wozu er sicherlich kein Recht hatte, gar nicht zu reden.

Er lag bewegungslos da und überlegte. Nach kurzer Zeit berührte er geistesabwesend die Stelle an seiner Seite, wo die Flamme aus Galyans Stab in ihn eingedrungen war, als der Hochgeborene starb. Seine Seite fühlte sich jedoch glatt an und schien in Ordnung zu sein. Voller Neugier schob er die Decken zur Seite, hob das blaue Schlafanzugoberteil, das er trug, hoch und untersuchte seine Seite. Soweit er sehen konnte, sah sein Körper aus, als sei er nie verwundet worden.

Er deckte sich wieder zu und lehnte sich zurück. Er fühlte sich gut, wenn auch ein wenig schwer, als hafte die Schlaffheit eines langen Schlafs noch an ihm. Er drehte seinen Kopf um und sah auf den kleinen Tisch neben seinem Bett. Darauf stand eine Isolierkanne aus Plastik, ein Glas mit Wasser, in dem noch Reste von Eis schwammen, und eine kleine Schachtel mit Papiertaschentüchern. Die Anzeichen sprachen unübersehbar dafür, daß er sich in einem Krankenhaus befand. Das wäre nicht weiter überraschend gewesen, wenn er an seiner Seite noch die tiefe Wunde getragen hätte, die Galyans Stab ihm zugefügt hatte. Die Wunde fehlte jedoch.

Er sah sich weiter um. Unter der obersten Platte des Tischs neben seinem Bett befand sich eine senkrechte Platte, an der ein Telefon magnetisch befestigt war. Er nahm den Hörer auf und lauschte, aber es kam kein Rufzeichen. Probeweise versuchte er, auf der Wählscheibe auf der Innenseite des Hörers einige Nummern zu wählen, aber das Telefon blieb tot. Er brachte es auf seinen Platz zurück und entdeckte dabei einen Knopf auf der senkrechten Fläche.

Er drückte den Knopf.

Nichts geschah. Nach einer Wartezeit von ungefähr fünf Minuten drückte er wieder darauf.

Dieses Mal dauerte es nur Sekunden, bis die Tür aufging. Ein Mann kam herein - ein kräftig gebauter junger Mann, der kaum kleiner als er selbst war. Er trug weiße Hosen und eine weiße Jacke. Er kam zu dem Bett, sah wortlos auf Jim herab und griff nach Jims linkem Handgelenk. Er hob das Handgelenk, zählte den Puls und sah dabei auf seine Armbanduhr.

„Ja, ich bin noch am Leben“, sagte Jim zu ihm. „Welches Krankenhaus ist das hier?“

Der Pfleger, denn das schien er zu sein, gab einen kehligen, unverbindlichen Laut von sich. Er hörte auf zu zählen, ließ Jims Handgelenk wieder auf das Bett fallen und drehte sich zur Tür um.

„Augenblick mal!“ sagte Jim und richtete sich in seinem Bett auf.

„Nur liegen bleiben!“ sagte der Mann mit einer tiefen, barschen Stimme. Er öffnete hastig die Tür, ging hinaus und warf sie praktisch hinter sich zu.

Mit einer einzigen, schnellen Bewegung schob Jim die Decken zur Seite und sprang aus dem Bett. Er ging die drei Schritte bis zur Tür und packte den Griff, aber seine Finger rutschten auf dem glatten, unbeweglichen Metall ab, als er versuchte, ihn zu drehen. Sie war verschlossen.

Er schüttelte einmal den Griff und trat zurück. Sein erster Impuls - sofort nach seiner Geburt durch die Vorsicht seines nun vollständig wachen Verstandes wieder unterdrückt - war, gegen die Tür zu hämmern, bis jemand kam. Statt dessen stand er jetzt davor und sah sie nachdenklich an.

Dies alles erschien ihm immer weniger wie ein Krankenhaus und sah immer mehr wie eine Anstalt für gefährliche Geisteskranke aus.

Er drehte sich schnell um und ging zum Fenster. Was er dort sah, bestätigte seinen wachsenden Verdacht über die Art seiner Umgebung. Vom Bett aus unsichtbar, bedeckte ein Geflecht aus dünnem Draht die gesamte Fensteröffnung und ging stellenweise ungefähr zehn Zentimeter über das Fenster selbst hinaus. Der Draht sah verhältnismäßig dünn aus, war aber zweifellos stark genug, um jemanden an der Flucht zu hindern, der über keine Werkzeuge verfügte.

Jim sah aus dem Fenster heraus nach unten, aber was er sah, sagte ihm kaum etwas - nur eine grüne Rasenfläche, die auf allen Seiten von großen Pinien begrenzt wurde. Die Bäume waren hoch genug, um jede Sicht auf das zu versperren, was hinter ihnen lag.

Jim drehte sich um, ging zu seinem Bett zurück und setzte sich nachdenklich auf den Rand. Kurze Zeit später legte er sich hin und deckte sich wieder zu.

Mit der Geduld, die ihm in so hohem Maß angeboren war, wartete er.

Es dauerte mindestens noch zwei Stunden, bis wieder etwas passierte. Dann öffnete sich die Tür ohne vorherige Warnung, und der Pfleger kam wieder herein. Hinter ihm erschien ein schmächtiger Mann in den späten Vierzigern oder frühen Fünfzigern. Sein Haar über dem schmalen Gesicht lichtete sich bereits. Er trug einen weißen Ärztekittel. Sie traten gemeinsam an das Kopfende des Bettes, und der schmächtige Mann in dem weißen Ärztekittel sah Jim an.

„Also gut“, sagte er und drehte seinen Kopf leicht zu dem Pfleger um. „Wir brauchen Sie nicht.“

Der Pfleger ging hinaus und schloß die Tür leise hinter sich. Der Arzt, denn das mußte er sicher sein, griff nach Jims Hand und fühlte ihm wie der andere Mann den Puls.

„Ja“, sagte er nach einem Moment wie zu sich selbst. Er ließ den Arm fallen, schlug die Decke zurück, hob die Schlafanzugjacke und untersuchte Jims Seite - jene Seite, die verwundet worden war. Seine Finger tasteten hier und da. Abrupt verkrampfte Jim sich.

„Schmerzen?“ fragte der Arzt.

„Ja“, sagte Jim mit neutraler Stimme.

„Aha, das ist interessant“, sagte der Arzt. „. wenn es wahr ist.“

„Doktor“, sagte Jim ruhig. „Stimmt mit Ihnen etwas nicht? Oder mit mir?“

„Nein, bei Ihnen ist alles in Ordnung“, sagte der Arzt, zerrte Jims Schlafanzug wieder herunter und deckte ihn zu. „Was mich betrifft - ich glaube es nicht. Ich glaube nur das, was ich bei Ihrer Einlieferung gesehen habe - und das war eine kleine Perforation an Ihrer rechten Seite.“

„Und was glauben Sie nicht?“ fragte Jim.

„Ich glaube nicht, daß Sie an der Stelle, wo ich diese Perforation vorgefunden habe, eine Verbrennung erlitten haben, einen verbrannten Bereich von mindestens fünf Zentimeter Breite und fünfzehn Zentimeter Tiefe, und daß die Verletzung erst sechs Tage alt sein soll“, sagte der Arzt. „Ja, ich habe im Fernsehen Bilder von Ihrem Schiff gesehen, und ich weiß, was diese große Frau mir erzählt hat, aber ich glaube es nicht. Zunächst einmal wären Sie bei derartigen inneren Verletzungen schon lange tot gewesen, bevor Sie hier angekommen sind. Ich bin bereit zu glauben, daß eine kleine Perforation ohne sichtbare Narbe verheilt, aber die ganze Geschichte, die nehme ich Ihnen nicht ab.“

„Gibt es irgendeinen Grund dafür, daß Sie das sollten?“ fragte Jim sanft.

„Nein, den gibt es nicht“, sagte der Arzt. „Deshalb mache ich mir darüber auch keine Gedanken. Was mich betrifft, so geht es Ihnen gut, und Sie sind für alles bereit - und das werde ich ihnen sagen.“

„Wer ist ,ihnen’?“

Der Arzt starrte auf ihn herab.

„Doktor“, sagte Jim ruhig, „aus irgendeinem Grund scheinen Sie von mir eine schlechte Meinung zu haben. Das können Sie halten, wie Sie wollen. Sie sind aber meiner Meinung nach nicht dazu berechtigt, einen Patienten im unklaren zu lassen -nicht nur darüber, wo er ist, sondern auch darüber, wer die Leute sind, die sich offensichtlich für ihn verantwortlich fühlen. Sie haben von einer großen Frau gesprochen, die Ihnen von mir erzählt hat. Ist sie jetzt draußen?“

„Nein, das ist sie nicht“, sagte der Arzt. „Was die Antwort auf Ihre Frage betrifft: Die Leute, die die Verantwortung für Sie übernommen haben, sind Beamte der Weltregierung. Mir hat man die Anweisung erteilt, mit Ihnen nur über Ihre Behandlung zu sprechen und über sonst nichts. Sie brauchen keine Behandlung mehr, und daher fehlt mir eine Entschuldigung für weitere Gespräche mit Ihnen.“

Er drehte sich um und ging auf die Tür zu. Mit dem Türgriff in der Hand schien er gelinde Gewissensbisse zu verspüren, denn er blieb stehen und drehte sich wieder zu Jim um.

„Sie schicken bald jemanden zu Ihnen, wenn ich ihnen gesagt habe, daß es Ihnen gut geht“, sagte er. „Dem können Sie dann alle Fragen stellen, die Sie auf dem Herzen haben.“

Er wandte sich wieder von Jim ab, versuchte die Tür zu öffnen und fand sie verschlossen. Er hämmerte mit der Faust dagegen und rief nach jemandem, der offensichtlich auf der anderen Seite stand. Nach einem Moment wurde sie vorsichtig aufgeschlossen, und es wurde ihm erlaubt, durch die geringstmögliche Öffnung hindurchzuschlüpfen. Die Tür wurde zugeworfen, und der Riegel fiel mit einem Klicken ins Schloß.

Die Wartezeit war dieses Mal erheblich kürzer. Es dauerte nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten, bis die Tür wieder aufging - und sofort wieder verschlossen wurde - und einen Mann mit einem braunen, sonnenverbrannten Gesicht und einem grauen Anzug einließ. Er kam herein, nickte Jim ohne zu lächeln zu und zog energisch einen der Stühle ans Bett. Jim richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.

„Mein Name ist Daniel Wylcoxin“, sagte der Mann. „Sie können mich Dan nennen, wenn Sie wollen. Sie werden vor einem Untersuchungsausschuß der Regierung auftreten müssen, und ich bin Ihnen als Rechtsbeistand zugewiesen worden.“

„Was ist, wenn ich Sie nicht will?“ fragte Jim mild.

„Dann brauchen Sie mich natürlich nicht zu nehmen“, sagte Wylcoxin. „Die Befragung durch den Untersuchungsausschuß hat eigentlich mit einem Prozeß nichts zu tun. Der kommt später, falls sich der Ausschuß zu einem solchen Schritt entschließen sollte. Sie brauchen nach dem Gesetz eigentlich keinen Rechtsbeistand, und wenn Sie mich nicht haben wollen, werde ich Ihnen nicht aufgezwungen. Es ist auf der anderen Seite unwahrscheinlich, daß der Untersuchungsausschuß einen anderen Rechtsbeistand für Sie akzeptieren würde, da Sie -wie ich schon sagte - im Grund keinen Rechtsbeistand brauchen.“

„Ich verstehe“, sagte Jim. „Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen.“

„Nur zu“, sagte Wylcoxin, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Arme flach auf die Armlehnen.

„Wo bin ich?“ fragte Jim unverblümt.

„Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen“, sagte Wylcoxin. „Das hier ist ein Regierungskrankenhaus für besondere Fälle und Situationen, die Geheimhaltung verlangen. Ich selbst bin auch in einem verschlossenen Wagen hierhergebracht worden. Ich weiß nicht, wo wir sind - nur so viel, daß wir nicht mehr als zwanzig Minuten Fahrt vom Regierungszentrum entfernt sind, wo ich mein Dienstzimmer habe.“

„Wo ist mein Raumschiff? Und wo sind die Frau und der Mann, die mit mir gekommen sind?“

„Ihr Schiff steht auf dem Raumflughafen des Regierungszentrums“, sagte Wylcoxin. „Es ist von Wachen umringt, die jedermann eine Viertelmeile davon entfernt halten. Ihre beiden Begleiter sind noch an Bord des Schiffs -wofür Sie sich bei dem Gouverneur von Alpha Centauri III bedanken können. Er befindet sich zur Zeit auf der Erde, und als die Leute von der Regierung Ihre beiden Freunde herauswerfen und das Schiff mit ihren eigenen Männern besetzen wollten, hat der Gouverneur ihnen das offensichtlich ausgeredet. Es sieht so aus, als sei die Frau eine sogenannte Hochgeborene, und der Gouverneur hat offensichtlich vor jedem, der diese Bezeichnung trägt, die Hosen gestrichen voll. Man kann es ihm wahrscheinlich nicht übelnehmen, schätze ich.“

Wylcoxin unterbrach sich und sah Jim neugierig an.

„Soviel ich weiß, führen die Hochgeborenen das Reich?“ fragte er schließlich.

„Ganz richtig“, sagte Jim in neutralem Tonfall. „Was tue ich hier?“

„Diese Frau, diese Hochgeborene.“

„Ihr Name ist Ro“, unterbrach Jim ihn grimmig.

„Also gut, Ro“, sagte Wylcoxin. „Sie hat die ersten Regierungsvertreter empfangen, als sie nach der Landung des Raumschiffs an Bord kamen. Soweit ich weiß, war das eine recht prominente Gruppe, weil der Gouverneur von Alpha Centauri III, der der Weltregierung hier einen Besuch abstattet, es als eines der Schiffe der Hochgeborenen erkannt hat. Wie auch immer, Ro hat sie an Bord gelassen und ihnen eine recht beachtliche Geschichte erzählt, unter anderem auch darüber, daß Sie im Verlauf eines Duells gegen einen Prinzen des Reichs verwundet wurden. Sie sagte, es ginge Ihnen schon viel besser, hatte aber keine Einwände, als die Regierung eines ihrer Krankenhäuser zu Ihrer Pflege anbot. Es ist ihnen offensichtlich gelungen, sie davon zu überzeugen, daß die Art von medizinischer Pflege, die Sie gewohnt sind, Ihnen auf Dauer mehr helfen würde als alles, was sie hätte tun können.“

„Ja“, murmelte Jim. „Sie gehört nicht zu den mißtrauischen Naturen.“

„Offensichtlich nicht“, sagte Wylcoxin. „Sie hat es auf jeden Fall zugelassen, daß man Sie mitnahm. Und jetzt sind Sie hier. Der Untersuchungsausschuß soll zusammentreten, sobald es Ihnen gut genug geht, um vor ihm erscheinen zu können. Soviel ich weiß, hat der Arzt Ihnen das bereits bescheinigt. Deshalb wird die Anhörung wahrscheinlich morgen früh beginnen.“

„Wozu wollen sie mich denn anhören?“ fragte Jim.

„Also.“ Wylcoxin lehnte sich in seinem Stuhl vor. „Das ist das Problem. Die Befragung vor dem Untersuchungsausschuß hat, wie ich schon sagte, nichts mit einem Prozeß zu tun. Er wird theoretisch nur zusammengerufen, um die Regierung zu informieren, damit sie weiß, wie sie sich Ihnen, Ihren Freunden und dem Schiff gegenüber verhalten soll. Ich nehme an, Sie haben so etwas erwartet. Es handelt sich nur um eine Art Konferenz, die herausfinden soll, was dagegen spricht, gegen Sie einen Prozeß wegen Hochverrats einzuleiten.“

Der letzte Teil von Wylcoxins Satz senkte sich sanft in die Stille des Krankenhauszimmers. Jim sah ihn eine Sekunde lang an.

„Sie sagten, ich hätte das erwartet?“ fragte Jim ruhig. „Was bringt Sie zu der Annahme, daß ich nach meiner Rückkehr so etwas erwartet habe?“

„Also.“ - Wylcoxin machte eine kurze Pause und sah ihn scharf an - „. nach Ihrer Abreise mit den Hochgeborenen von Alpha Centauri III zur Thronwelt ist Maxwell Holland zurückgekommen und hat offensichtlich berichtet, nach Ihren eigenen Worten hätten Sie nicht vor, sich an Ihre Befehle zu halten, sondern auf der Thronwelt so viele Schwierigkeiten zu machen, wie es Ihnen beliebe. Holland wird morgen auf jeden Fall eine Aussage machen, die in diese Richtung geht. Haben Sie das nicht gesagt, was Sie nach seinen Worten gesagt haben sollen?“

„Nein“, sagte Jim. „Ich habe gesagt, daß ich von jetzt an meinem eigenen Urteil folgen müsse.“

„Das kann sich vielleicht für den Ausschuß gleich anhören“, sagte Wylcoxin.

„Das hört sich so an“, sagte Jim, „als sei der Ausschuß bereits fest entschlossen, mich wegen - wie war das doch -Hochverrats schuldig zu befinden?“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Wylcoxin. „Ich stehe natürlich persönlich automatisch auf Ihrer Seite. Und Ihre Seite sieht nach meiner Beurteilung nicht gut aus. Sie sind sorgfältig als der Mann ausgewählt worden, der auf die Thronwelt geschickt werden sollte, und Sie sind dafür unter großen Mühen und Kosten ausgebildet worden, damit Sie sich unter diesen Hochgeborenen bewegen können, um sie zu beobachten. Dann sollten Sie sich mit Ihren Beobachtungen wieder auf der Erde melden, damit die Regierung eine Entscheidung darüber fällen kann, ob wir wirklich ein verlorener Teil des Reichs sind und uns nun als solchen bezeichnen müssen, oder ob es auch die Möglichkeit gibt, daß wir uns hier auf der Erde davon getrennt entwickelt haben -und wirklich eine völlig andere Rasse als diese sogenannten Menschen des Reichs sind. Richtig?“

„Ja, das ist richtig“, sagte Jim.

„So weit, so gut“, sagte Wylcoxin. „Sie haben aber nun nach den Berichten dieser Ro keineswegs nur beobachtet, sondern gleich zu Anfang schon einen Streit mit einem der Hochgeborenen angefangen und ihn an Bord des Schiffs unterwegs zur Thronwelt mit einem Messer verletzt. Als Sie dort einmal angekommen waren, haben Sie sich einer militärisch organisierten Leibwache des Kaisers angeschlossen, und zu guter Letzt sind Sie in eine Intrige verwickelt worden, in deren Verlauf der Onkel und der Vetter des Kaisers umgekommen sind und dazu noch einige Leibwachen. Ist das richtig?“

„Damit werden die konkreten Ereignisse berichtet“, sagte Jim mit ruhiger Stimme, „aber in verzerrter Form. Das gleiche gilt für das Vorspiel zu den Ereignissen. Sie werden ebenso bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.“

„Sagen Sie damit, daß diese Ro eine Lügnerin ist?“ fragte Wylcoxin.

„Ich sage, daß sie es nicht in dieser Form erzählt hat“, sagte Jim. „Bitte sagen Sie mir, ob Sie die Geschichte direkt von ihr oder aus zweiter Hand von jemandem gehört haben, dem sie es erzählt hat?“

Wylcoxin lehnte sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück und rieb sich das Kinn.

„Ich habe sie aus zweiter Hand“, gab er zu. „Wenn aber der Mann, von dem ich sie gehört habe, sie so darstellen kann, wie ich sie Ihnen gerade dargestellt habe, dann wird das auch die Version sein, die die Zeugen der Regierung morgen vor dem Ausschuß vortragen werden.“

„Mehr denn je hört es sich so an, als sei ich für den Ausschuß bereits schuldig“, sagte Jim.

„Vielleicht.“ Wieder rieb sich Wylcoxin nachdenklich am Kinn. Plötzlich sprang er auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ich werde es Ihnen sagen“, sagte er und blieb direkt vor Jim stehen. „Ich war nicht überglücklich, Ihnen als Rechtsbeistand zugewiesen zu werden. Vielleicht hat man mich selbst einer leichten Gehirnwäsche unterzogen.“

Er stockte kurz.

„Ich sage das nicht, weil Sie bisher etwas gesagt haben, was meine Einschätzung und mein Gefühl Ihnen und der Situation gegenüber geändert hätte“, sagte er hastig. „Ich sage das einfach nur deshalb, weil Sie mir darüber die Augen geöffnet haben, daß vielleicht - ich sage vielleicht - auf der anderen Seite ein gewisses Maß von Vorurteilen vorhanden ist.“

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl vor Jim.

„Also gut“, sagte er, „hören wir uns doch einmal Ihre Seite an. Was hat sich von der Zeit an, als Sie Alpha Centauri III verlassen haben, bis zu Ihrer Landung hier abgespielt?“

„Ich bin auf die Thronwelt gebracht worden“, sagte Jim und sah den anderen direkt an, „um, wie Sie sagten, herauszubekommen, ob die Thronwelt von mit uns verwandten Menschen bewohnt wird, oder ob wir eine völlig andere Rasse sind. Alles, was sich darüber hinaus abgespielt hat, war von den Notwendigkeiten diktiert.“

Wylcoxin blieb einige Sekunden lang, nachdem Jim zu Ende gesprochen hatte, ruhig sitzen, als erwartete er, daß Jim weitersprach.

„Ist das alles, was Sie zu sagen haben?“ fragte er dann.

„Im Augenblick ist das alles“, sagte Jim. „Ich werde dem Ausschuß morgen eine vollständigere Geschichte erzählen, wenn er mir zuhören will.“

„Sie sagen mir also absichtlich nichts von dem, was Sie wissen und was Ihnen helfen könnte“, sagte Wylcoxin. „Verstehen Sie denn nicht, daß ich Ihnen nur helfen kann, wenn Sie mir gegenüber so offen wie möglich sind?“

„Ich verstehe das“, sagte Jim. „Aber offen gesagt vertraue ich Ihnen nicht. Ich vertraue Ihrem guten Willen und Ihrer Ehrlichkeit mir gegenüber, aber ich habe kein Vertrauen in Ihre Fähigkeit, das zu verstehen, was ich Ihnen sagen könnte. Ich würde irgend jemand anders, der noch nicht auf der Thronwelt gewesen ist, genausowenig vertrauen.“

„Hören Sie mal, Mann“, sagte Wylcoxin, „das schließt die gesamte Bevölkerung der Erde ein!“

„Ganz richtig“, sagte Jim. „Ich glaube nicht, daß jemand von der Erde mir viel helfen könnte. Nicht wenn Max Holland, wie Sie sagen, gegen mich aussagen wird und es so aussieht, als sei der Ausschuß entschlossen, Gründe dafür zu finden, mich wegen Hochverrats vor Gericht zu stellen.“

„Dann kann ich Ihnen unmöglich etwas nützen!“

Wylcoxin sprang von seinem Stuhl auf und ging auf die Tür zu.

„Augenblick noch“, sagte Jim. „Sie können mir vielleicht nicht durch Ihre Verteidigung helfen, aber vielleicht auf andere Art.“

„Wie?“ Wylcoxin drehte sich fast aggressiv mit einer Hand am Türgriff um.

„Zunächst einmal“, sagte Jim ruhig, „könnten Sie mich für unschuldig halten, bis mir meine Schuld nachgewiesen ist.“ Eine Sekunde lang blieb Wylcoxin mit dem Türgriff in der Hand stehen, dann senkte sie sich herab. Er kam langsam zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl.

„Ich entschuldige mich“, sagte er und sah zu Jim hoch. „Also gut. Sagen Sie mir, was ich tun kann.“

„Als erstes“, sagte Jim, „können Sie morgen mit mir als mein Rechtsbeistand vor den Ausschuß gehen. Weiter können Sie mir einige Fragen beantworten. Erstens - warum sind der Ausschuß und die Regierung und die Leute hier allgemein so versessen darauf, mich wegen Hochverrats als schuldig zu befinden? Ich habe doch weiter nichts getan, als mit einem wertvollen Raumschiff und zwei Menschen von dieser Thronwelt zurückzukehren. Ich vermag keinen Grund dafür zu sehen, warum eines von beiden ein Hinweis darauf sein soll, daß ich während meines Aufenthalts auf der Thronwelt hochverräterische Gedanken gehegt habe. Da ist natürlich Max

Holland, der mich hereinlegen will, aber wenn es nur er ist, muß ich mir meiner Ansicht nach nicht übermäßig Gedanken machen.“

„Verstehen Sie das denn nicht?“ Wylcoxin sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. „Dieses ganze Gerede von Hochverrat - das kommt doch nur davon, daß man Angst davor hat, Sie hätten auf der Thronwelt etwas angestellt, wofür sich das Reich bei der Erde schadlos halten will - in Form von Bezahlung oder von Rache.“

„Warum?“ fragte Jim.

„Warum.“ Wylcoxin stotterte nicht, aber er stand nahe davor. „Vielleicht sind Sie daran schuld, daß ein Onkel und ein Vetter des Kaisers tot sind. Ist es denn nicht möglich, daß der Kaiser jemanden für diese Todesfälle bezahlen lassen will?“ Jim lachte leise. Wylcoxins Augenbrauen hoben sich in Erstaunen und Verwirrung.

„Halten Sie das für witzig?“ fragte der andere.

„Nein“, sagte Jim. „Ich sehe jetzt nur, woher das alles kommt, diese Angst, die zu einer Anklage wegen Hochverrats gegen mich führt. Auf Hochverrat steht die Todesstrafe, nicht wahr?“

„Manchmal.“, sagte Wylcoxin widerwillig. „Aber wovon sprechen Sie denn?“

„Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht erklären“, sagte Jim. „Sagen Sie mal, können Sie Ro auf dem Raumschiff aufsuchen?“

Wylcoxin schüttelte den Kopf.

„Das habe ich bereits versucht“, sagte er. „Die Behörden wollen mich nicht an das Schiff heranlassen.“

„Können Sie ihr eine Botschaft zukommen lassen?“ fragte Jim.

„Ich glaube, das könnte ich schaffen.“ Wylcoxin runzelte die Stirn. „Ich weiß allerdings nicht, ob ich eine Antwort für Sie übermitteln darf.“

„Eine Antwort ist nicht notwendig“, sagte Jim. „Ro hat mich ohne Widerspruch an die Ärzte von der Erde übergeben. Sie muß ihnen also vertrauen, was mich betrifft. Das bringt mich zu der Überzeugung, daß sie keine Ahnung davon hat, was der Ausschuß morgen mit mir vorhat. Können Sie ihr sagen, wie seine Pläne aussehen und welche Haltung er mir gegenüber morgen wahrscheinlich einnehmen wird?“

„Ich glaube schon“, sagte Wylcoxin und fügte noch energischer hinzu: „Ja, ich weiß sogar, daß ich das kann! Wenn nichts anderes möglich ist, kann ich es ihr ja morgen sagen, wenn sie herkommt.

Sie werden sie wohl vorladen, damit sie vor dem Ausschuß ihre Geschichte wiederholt. Sie kommt ohne Zweifel morgen dorthin.“

„Mir wäre mehr daran gelegen, wenn Sie es ihr noch heute abend mitteilen könnten“, sagte Jim.

„Das müßte für mich eigentlich möglich sein.“ Wylcoxin sah ihn seltsam an. „Was erwarten Sie denn von ihr? Sie kann ja wohl schlecht eine andere Geschichte als vorher erzählen.“ „Das erwarte ich auch nicht von ihr“, sagte Jim.

„Sie haben aber doch gesagt, daß niemand auf der Erde Ihnen helfen kann. Damit bleiben nur Ro und der andere Passagier, den Sie von der Thronwelt mitgebracht haben“, sagte Wylcoxin. „Ich kann Sie nur warnen. Die beiden sind jetzt schon praktisch die Hauptbelastungszeugen der Anklage. Sie haben, kurz gesagt, niemanden, der für Sie aussagt.“

„Vielleicht doch.“ Jim lächelte leicht. „Da ist noch der Gouverneur von Alpha Centauri III.“

„Der!“ Wylcoxins Augen leuchteten auf. „An ihn hatte ich nicht gedacht! Richtig - er hat für Ihre Ro ein gutes Wort eingelegt, als sie an Bord des Raumschiffs bleiben wollte. Vielleicht sagt er morgen zu Ihrer Verteidigung aus. Soll ich mich mit ihm in Verbindung setzen?“

Jim schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. „Überlassen Sie das mir.“

Wylcoxin schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht“, sagte er hilflos. „Ich weiß es einfach nicht. Aber wahrscheinlich bin ich jetzt in der Sache drin. Sonst noch etwas?“

Er sah zu Jim auf.

„Nein“, sagte Jim. „Überbringen Sie nur diese Nachricht an Ro, wenn Sie können.“

„In Ordnung.“ Wylcoxin stand auf. „Ich komme morgen ungefähr eine halbe Stunde, bevor es für Sie Zeit ist, ins Regierungszentrum gebracht zu werden, vorbei und begleite Sie.“

Er ging zur Tür, schüttelte den Türgriff und hämmerte mit der Faust an die Tür.

„Hier ist Wylcoxin!“ rief er durch die Tür. „Laßt mich raus!“ Eine Sekunde später ging die Tür vorsichtig auf. Wylcoxin sah zu Jim herüber.

„Also gute Nacht“, sagte er. „Und viel Glück.“

„Vielen Dank“, sagte Jim.

Wylcoxin ging hinaus, und hinter ihm wurde die Tür geschlossen und verriegelt.

Jim legte sich auf das Bett und schloß die Augen. Einen Moment lang drohte die Fülle von Gedanken, die ihn sofort bestürmten, ihn zu überwältigen, aber mit eiserner Selbstkontrolle bot er ihnen Einhalt und brachte sie zum Schweigen. Kurze Zeit später schlief er wie ein bewaffneter Soldat im Feld ein.

Kapitel 12

Daniel Wylcoxin kam am nächsten Morgen um acht Uhr fünfzehn und begleitete Jim auf seiner Fahrt im verschlossenen Wagen zum Sitzungszimmer in einem der Regierungsgebäude im Regierungszentrum. Wylcoxin teilte ihm mit, daß die Befragung durch den Untersuchungsausschuß für neun Uhr angesetzt war.

Jim fragte den anderen nur, ob es ihm gelungen sei, sich mit Ro in Verbindung zu setzen. Wylcoxin nickte.

„Sie wollten mich nicht an das Schiff heranlassen, um dort mit ihr zu reden“, sagte Wylcoxin, „aber ich habe sie über ein Feldtelefon von der Wache um das Schiff herum erreicht, das eingerichtet worden ist, damit sie mit ihr und dem anderen Mann an Bord in Verbindung bleiben können. Ich habe ihr eine Menge Fragen gestellt, deren Antworten ich angeblich als Ihr Rechtsberater brauchte. Die Information, die ich ihr übermitteln sollte, habe ich dabei sozusagen zwischen den Zeilen einfließen lassen.“

„Gut“, sagte Jim.

Danach aber und während der halbstündigen Fahrt in das Regierungszentrum zog Jim sich in sich selbst zurück und ignorierte die Fragen, die Wylcoxin ihm stellte. Das ging so weit, daß dem anderen endlich der Geduldsfaden riß und er Jim am Ellbogen schüttelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wollen Sie mir nicht ein paar Antworten geben?“ fragte Wylcoxin. „In einer halben Stunde muß ich mich da oben hinstellen und dem Anschein nach als Ihr Rechtsberater auftreten. Zumindest theoretisch soll ich Sie unterstützen. Einige Antworten sind Sie mir einfach schuldig! Sie dürfen nicht vergessen, daß ich mich für Sie mit Ro in Verbindung gesetzt habe, und das war nicht leicht. Es gab nur eine einzige Kommunikationsmöglichkeit vom Raumhafen zu Ihrem Schiff und ihr, und das war das Feldtelefon.“

Jim sah ihn an.

„Das Regierungszentrum liegt weniger als zehn Minuten von seinem Raumhafen entfernt“, sagte er. „Ist das richtig?“ „Also. ja“, sagte Wylcoxin verwirrt.

„Wenn man mich im Regierungszentrum eingesperrt hätte, dann hätte ich Sie nicht gebraucht, um mich mit Ro in Verbindung zu setzen“, sagte Jim. „Aus dieser Entfernung hätte ich direkt mit dem Schiff sprechen können.“

Wylcoxin sah ihn mit einer Mischung von Unglauben und Verwirrung auf seinem Gesicht an.

„Ich möchte Ihnen das nur klarmachen“, sagte Jim ruhig. „Es hat für mich keinen Zweck, wertvolle Zeit darauf zu verschwenden, Ihnen Antworten zu geben, die Sie dann nicht verstehen können, selbst wenn Sie sie glauben wollten. Was die Angehörigen des Ausschusses, Max Holland und die anderen Zeugen anbetrifft - es ist völlig gleichgültig, was sie sagen oder mich fragen. Ich verlange von Ihnen jetzt, da Sie Ro Bescheid gesagt haben, nur noch, daß Sie neben mir sitzen und das tun, was Ihnen notwendig erscheint, wenn sich diese Angelegenheit weiterentwickelt.“

Jim versank wieder in seinen Gedanken, und dieses Mal ließ Wylcoxin ihn mit ihnen allein.

Sie erreichten das Regierungszentrum und das Gebäude, in dem der Untersuchungsausschuß tagen sollte. Jim wurde bis zum Eintreffen seiner Mitglieder in einem kleinen Nebenraum festgehalten. Dann wurden er und Wylcoxin in den bereits gefüllten Sitzungsraum gebracht.

Jim und Wylcoxin wurde ein Platz direkt vor dem Podest mit einem langen Tisch angewiesen, an dem die sechs Mitglieder des Ausschusses sitzen sollten. Als er hereinkam, bemerkte er Max Holland und Styrk Jacobsen - die Leiter des Programms zu seiner Ausbildung für die Reise zur Thronwelt - und Ro sowie eine Handvoll von anderen, unbedeutenden Persönlichkeiten aus der Zeit, in der er für die Ausbildung und den Auftrag ausgesucht worden war. Sie saßen inmitten der Menge einige Reihen hinter den vorderen Tischen.

Als er hereinkam, fing Ro seinen Blick auf. Sie machte einen etwas blassen und besorgten Eindruck. Sie trug einen Überwurf und einen Rock aus einfachem, weißem, stoffähnlichem Material, und ihre Kleidung unterschied sich nicht nennenswert von den leichten Kleidern in Sommerfarben, die die Frauen von der Erde in dem Raum trugen, aber der allgemeine Gesamteindruck ihrer Erscheinung hob sie aus der Masse heraus, als sei ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Jims Augen hatten sich an die Größe und die scharfgeschnittenen Gesichter der Hochgeborenen auf der Thronwelt gewöhnt, und nun machten die Menschen von seiner eigenen Welt gegen seinen Willen mit ihrem Gedränge im Sitzungsraum einen kleinen, eingeschrumpften und unbedeutenden Eindruck. Ro ignorierte alle anderen und sah besorgt zu ihm herüber. Als Jim sich hinsetzte, lächelte er ihr beruhigend zu, bevor er ihr und den anderen Menschen auf den Sitzen hinter ihm notgedrungenerweise den Rücken kehren mußte. Die sechs Ausschußmitglieder, Repräsentanten der verschiedenen Verwaltungsbereiche der Erde, kamen herein. Auf eine Anweisung hin erhob sich das Publikum und wartete, bis die Ausschußmitglieder sich gesetzt hatten. Zur gleichen Zeit erhob sich ein erregtes Raunen in der Menge, denn mit dem Ausschuß kam ein kleiner, rötlich-brauner Mann herein und setzte sich rechts neben Alvin Heinmann, den Abgeordneten des mächtigen mitteleuropäischen Sektors. Jim sah mit feierlichem Gesichtsausdruck zu ihm zurück. Der Ausschuß nahm Platz, und dem Publikum wurde mitgeteilt, es könne sich nun wieder hinsetzen, während der Ausschuß die Verhandlung eröffnete.

„. und im Protokoll soll festgehalten werden“, sagte Heinmann etwas nasal in die Aufnahmesensoren, die in dem vor ihm stehenden Tisch eingebaut waren, „daß der Gouverneur von Alpha Centauri III sein Einverständnis dazu gegeben hat, diesem Untersuchungsausschuß inoffiziell beizuwohnen, um ihm seine Erfahrungen und Kenntnisse zu dem zu untersuchenden Thema zugute kommen zu lassen.“

Heinmann schlug mit dem zeremoniellen Hammer auf den Tisch und rief den Untersuchungsbeamten der Regierung dazu auf, über den Gegenstand der Sitzung zu berichten.

Der Untersuchungsbeamte kam der Aufforderung nach. Der Begriff Hochverrat wurde sorgfältig vermieden, aber der Beamte kreiste ihn mit seinen Worten geschickt ein, bis es im Bewußtsein der Zuhörerschaft über das Ziel dieser Befragung keinen Zweifel mehr geben konnte. Der Untersuchungsausschuß war nicht zusammengetreten, um die Frage zu klären, ob die Regierung gegen Jim einen Hochverratsprozeß in Gang setzen solle, sondern ob der leiseste Zweifel daran bestehen könne, daß sie das nicht tat. Der Untersuchungsbeamte setzte sich wieder hin, und Styrk Jacobsen wurde aufgerufen, um Fragen des Ausschusses zu beantworten.

Die Fragen gingen hauptsächlich um Jims Hintergrund und den Vorgang, mit dem er aus einigen hundert Kandidaten ausgewählt worden war, die ihrerseits vorher nach einer weltweiten sorgfältigen Vorauswahl bestimmt worden waren, um für die Reise zur Thronwelt ausgebildet zu werden.

„. James Kell“, sagte Jacobsen, „verfügte in vielfacher Hinsicht über außergewöhnliche Qualifikationen. Sein allgemeiner körperlicher Zustand war ausgezeichnet - was er auch sein mußte, denn wir hatten vor, den Mann, den wir entsenden wollten, als Stierkämpfer auszubilden. Darüber hinaus hatte Jim zu der Zeit, als er unsere Aufmerksamkeit erregte, nicht nur Abschlüsse in Geschichte, Chemie und Anthropologie, sondern sich darüber hinaus noch einen beachtlichen Ruf als Autorität in dem Feld sozialer und kultureller Studien erworben.“

„Würden Sie sagen“, unterbrach Heinmann ihn, „daß er sich charakterlich deutlich von den anderen Kandidaten unterschied?“

„Er war ein starker Individualist. Das waren sie allerdings alle“, sagte Jacobsen trocken. Er war ein hagerer, aufrechter Mann in den Sechzigern und stammte ursprünglich aus Odense in Dänemark. Jim erinnerte sich daran, daß Jacobsen ihn von Anfang an, im Gegensatz zu Max Hollands direkter instinktiver Abneigung, offenbar instinktiv gern gemocht hatte.

„. das gehörte zu den Voraussetzungen für den Auftrag“, sagte Jacobsen gerade. Danach führte er der Reihe nach diese Voraussetzungen an, wie sie ursprünglich verlangt worden waren. Sie bestanden, grob gesagt, aus außergewöhnlichen intellektuellen und physischen Fähigkeiten, emotioneller Stabilität und einer weitgefächerten akademischen Ausbildung.

„Noch einmal zu dieser emotionellen Stabilität“, hakte Heinmann wieder ein. „Fanden Sie ihn nicht ungewöhnlich, sagen wir einmal. unsozial? Bis zu dem Punkt, daß er sich unkommunikativ verhielt und sich von den ihn umgebenden Menschen absonderte? Ich meine damit, ob er nicht von Anfang an ein recht deutlicher Einzelgänger war?“

„Ja. Aber wieder“, sagte Jacobsen, „gehörte das genau zu den Eigenschaften, die wir suchten. Unser Mann sollte mitten in eine unbekannte Kultur geworfen werden - weit unbekannter als alles, was er hier auf der Erde antreffen könnte. Wir wollten ihn so selbständig wie möglich haben.“

Jacobsen war keinen Schritt zurückgewichen. Obwohl Heinmann die Befragung noch einige Zeit weiterführte, weigerte sich der silberhaarige Mann nachzugeben. Nach seiner Aussage war Jim nicht mehr und nicht weniger als das, was der Projektleiter für die Ausbildung und die Aufgabe gesucht hatte.

Bei Max Holland, der nach Jacobsen vor den Ausschuß gerufen wurde, sahen die Antworten völlig anders aus.

„. die übrigen Mitglieder des an dem Projekt beteiligten Teams“, sagte Holland und lehnte sich mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern nach vorn über den Tisch, „waren nicht in der Lage, die auf dem Spiel stehenden Risiken abzuschätzen - ich meine damit das Risiko für die Erde als Ganzes. In ihren Mitteln und ihrer Bevölkerung ist die Erde im Vergleich zum Reich wie ein Küken im Vergleich zu einem Elefanten. Das Küken ist so klein, daß es wahrscheinlich sicher ist, weil es ignoriert wird, solange es nicht zufällig oder durch einen Fehler unter einen der Füße des Elefanten gerät. Dann ist es verloren. Nach meiner Einschätzung bestand für das gesamte Projekt die ernste Gefahr, daß es uns unter die Elefantenfüße des Reichs brachte, und zwar entweder zufällig oder durch einen Fehler des Mannes, den wir zur Erforschung und Beobachtung ihrer Thronwelt ausschicken wollten.

Und meine Befürchtungen wurden durch Charakter und Verhalten von James Kell selbst verstärkt.“

Holland wurde wie Jacobsen von Heinmann und einigen anderen Ausschußmitgliedern eingehend befragt. Im Gegensatz zu Jacobsen war Holland aber durchaus gewillt, von Jim ein gefährliches Bild zu entwerfen. Nach seiner Aussage war Jim ihm dadurch aufgefallen, daß er ein geradezu paranoider Sonderling und bis zum Größenwahn selbstsicher und arrogant war. Dann gab er kalt die Unterhaltung wieder, die er unter den Tribünen auf Alpha Centauri III mit Jim geführt und in der Jim ihm mitgeteilt hatte, daß er von jetzt an seine eigenen Entscheidungen treffen müsse.

„Dann war dieser Mann also Ihrer Meinung nach schon vor seiner Ankunft auf der Thronwelt fest entschlossen“, sagte Heinmann, „die ihm erteilten Anweisungen zu ignorieren und nach eigenem Ermessen zu handeln, ganz gleich, welche Konsequenzen sich daraus auch für die übrigen Bewohner der Erde ergeben mochten?“

„Ja“, sagte Holland so inbrünstig wie ein Bräutigam bei der Trauung. Damit war sein Auftritt vor dem Untersuchungsausschuß beendet.

Ro wurde als nächste aufgerufen, aber ihr Auftritt bestand nur darin, daß sie dasaß und einer Aufzeichnung ihres Berichts darüber zuhörte, was mit Jim vom Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung an Bord des Raumschiffs von Prinzessin Afuan bis zu ihrer Ankunft auf dem Raumflughafen des Regierungszentrums auf der Erde geschehen war.

Nach dem Ende dieser Aufzeichnung räusperte sich Heinmann und lehnte sich nach vorne, als wolle er mit ihr sprechen, aber der Gouverneur von Alpha Centauri III neben ihm lehnte sich hastig zu ihm herüber und flüsterte dem Vorsitzenden des Ausschusses etwas ins Ohr. Heinmann hörte ihm zu und sank dann auf seinem Stuhl zurück. Ro wurde ohne weitere Fragen vom Ausschuß entlassen.

Während dieses gesamten Vorgangs war Wylcoxin neben Jim unruhig auf seinem Sitz herumgerutscht. Jetzt lehnte er sich herüber und sprach eindringlich mit leiser Stimme auf Jim ein.

„Sehen Sie sich das an!“ sagte er. „Lassen Sie mich wenigstens von meinem Recht Gebrauch machen, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Dieser Gouverneur von Alpha

Centauri hat einen Fehler gemacht, als er Heinmann daran hinderte, ihr Fragen zu stellen. Es war vielleicht ihr gegenüber gut gemeint, aber für Sie war das keine Hilfe. Sie will ja für Sie aussagen. Ich bin sicher, wir könnten mit ihr im Zeugenstand einen guten Eindruck machen!“

Jim schüttelte den Kopf. Die Diskussion war sowieso sinnlos, denn Jim blieb keine Zeit mehr, weil er nun seinerseits zur Beantwortung von Fragen vom Untersuchungsausschuß aufgerufen wurde. Heinmann fing recht milde mit einer Aufzählung von Jims Qualifikationen für seine Entsendung als Beobachter auf die Thronwelt an. Danach aber drang er allmählich immer weiter in problematischere Bereiche vor.

„Haben Sie jemals die Berechtigung für dieses Projekt angezweifelt?“ fragte er Jim.

„Nein“, sagte Jim.

„Aber zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Ihrer Nominierung als Beobachter und Ihrer Ankunft auf der Thronwelt scheinen sich bei Ihnen solche Zweifel eingestellt zu haben.“ Heinmann durchwühlte die Notizen auf dem Tisch vor sich, bis er endlich fand, was er gesucht hatte. „Nach Mr. Hollands Aussage haben Sie auf Alpha Centauri III folgendes gesagt. ich zitiere:. Max, es ist zu spät. Sie können nicht mehr eingreifen. Ich bin eingeladen worden. Von jetzt an treffe ich meine eigenen Entscheidungen. Ist das richtig?“

„Nein“, sagte Jim.

„Nein?“ Heinmann sah ihn über die Notizen, die er in der Hand hielt, mit gerunzelter Stirn an.

„Die Formulierung stimmt nicht“, sagte Jim. „Tatsächlich habe ich folgendes gesagt: ,Es tut mir leid, Max, aber früher oder später mußte es ja dazu kommen. Von jetzt an kann ich mich nicht mehr von dem Projekt leiten lassen, sondern muß meinem eigenen Urteil folgen.“

Heinmanns Stirnrunzeln verstärkte sich.

„Da sehe ich keinen entscheidenden Unterschied“, sagte er. „Max Holland offensichtlich auch nicht“, sagte Jim. „Aber ich - sonst hätte ich es nicht mit diesen Worten gesagt.“

Jim spürte, wie ihn unter der Tischoberfläche jemand krampfhaft am Ärmel zupfte.

„Langsam!“ zischte ihm Wylcoxins Stimme leise ins Ohr. „Bremsen Sie sich um Gottes willen!“

„Tatsächlich?“ sagte Heinmann mit einem leichten Anklang von Triumph in seiner Stimme. Er lehnte sich zurück und sah sich nach rechts und links zu den anderen Ausschußmitgliedern am Tisch um. „Und Sie streiten ab, daß Sie in Ihrem Gepäck gegen den Einwand von Mr. Holland ein Messer und einen Revolver mitgenommen haben?“

„Nein“, sagte Jim.

Heinmann hustete trocken, zog ein weißes Taschentuch heraus und betupfte sich damit die Lippen, verstaute dann das Taschentuch wieder und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Na bitte“, sagte er. „Damit wäre die Sache wohl klar.“

Er griff nach einem frischen Blatt Papier und schrieb mit Bleistift etwas darauf.

„Sie haben.“ - fing er an und lehnte sich wieder über den Tisch vor - „. den Bericht über Ihre Aktionen von Ihrer Abreise von Alpha Centauri III bis zu Ihrer Rückkehr auf die Erde gehört, den uns Miß. äh, die Hochgeborene Ro gegeben hat. Haben Sie gegen diesen Bericht irgendwelche Einwände?“ „Nein“, sagte Jim.

Wieder verspürte er Wylcoxins Finger, die an seinem Ärmel zupften. Er kümmerte sich jedoch nicht darum.

„Keine Einwände“, sagte Heinmann und lehnte sich wieder zurück. „Dann darf ich wohl annehmen, daß Sie für Ihr außergewöhnliches Benehmen, das zu dem ursprünglichen Grund, aus dem heraus Sie auf die Thronwelt geschickt worden sind, in totalem Widerspruch steht, keinerlei Erklärungen haben?“

„Das habe ich nicht gesagt“, sagte Jim. „Der Bericht, der Ihnen vorliegt, ist richtig. Ihre Interpretation dieses Berichts ist jedoch falsch. Ebenso falsch wie Ihre Annahme, daß meine Absichten oder Handlungen gegen den Grund verstoßen, aus dem ich von der Erde auf die Thronwelt geschickt worden bin.“

„Dann sollten Sie uns diese Absichten vielleicht besser erklären, meinen Sie nicht auch, Mr. Kell?“ sagte Heinmann.

„Das habe ich vor“, sagte Jim.

Die Antwort brachte etwas Farbe in Heinmanns graue Wangen, aber der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses entschied sich offensichtlich dafür, die unausgesprochene Herausforderung zu übergehen. Er forderte Jim durch eine Handbewegung zum Weiterreden auf.

„Die Erklärung ist im Grunde recht einfach“, sagte Jim. „Die Hochgeborenen von der Thronwelt des Reichs.“ - er sah zu dem Gouverneur hinüber - „. und ich bin sicher, der Gouverneur von Alpha Centauri III wird mir da beipflichten, sind wahrhaft überlegene Wesen, und zwar nicht nur im Vergleich zu den, wie sie sagen, niedrigeren Rassen auf ihren eigenen Kolonie-Welten, Menschen, wie der Gouverneur selbst einer ist.“ - Jim sah den Gouverneur an, aber dieses Mal wich der kleine Mann seinen Augen aus -, „. sondern auch zu uns Menschen auf der Erde. Daher konnte jede Planung meines Verhaltens, so sorgfältig und gewissenhaft sie auch hier auf der Erde durchgeführt worden sein mochte, für mich in einer unbekannten Kultur kein Leitfaden sein, deren geringstes Mitglied den Besten der Erde weit überlegen ist. Ich mußte mich daher schon früh im Verlauf meiner Ausbildung mit der Tatsache abfinden, daß ich gezwungen sein würde, meine Reaktionen auf die Situation auf der Thronwelt auszurichten, meiner eigenen Urteilskraft zu folgen und mich nicht darum zu kümmern, wie die Menschen auf der Erde entschieden hätten.“

„Ich nehme an, Sie haben Ihren Vorgesetzten während der Ausbildung von dieser Entscheidung nicht unterrichtet?“ fragte Heinmann und lehnte sich noch immer in seinem Stuhl zurück.

„Nein“, antwortete Jim. „Wenn ich es ihnen früh genug in meiner Ausbildung mitgeteilt hätte, wäre ich zweifellos abgelöst worden.“

Jim hörte rechts von sich eine kleine Explosion von Atemluft, ein lautstarker Verzweiflungsseufzer von Wylcoxin.

„Sicher, sicher“, sagte Heinmann freundlich. „Sprechen Sie weiter, Mr. Kell.“

„Dementsprechend“, sagte Jim ruhig, „habe ich dann bei meiner Ankunft auf der Thronwelt festgestellt, daß ich den Interessen der Erde am besten dadurch dienen konnte, indem ich mich in die Ereignisse um den Kaiser einmischte, statt meine neutrale Beobachterposition beizubehalten. Der Kaiser war geisteskrank, und sein Vetter Galyan hatte schon seit langem ein Komplott ausgeheckt, ihn durch Ausschaltung des Mannes, der das Reich wirklich führte, Vhotan, unter seine Kontrolle zu bekommen. Vhotan war übrigens sowohl Galyans als auch des Kaisers Onkel. Nach Galyans Plan war vorgesehen, Vhotan und die Starkianer auszuschalten, die dem Kaiser unbedingt treu ergeben sind. Galyan wollte dann Vhotans Stelle einnehmen, die Thronwelt und das ganze Reich in seine Hand bringen und eine neue Starkianer-Truppe aufbauen, die nicht dem Kaiser, sondern ihm treu ergeben sein sollte. Die Starkianer sind eine besondere Menschenzüchtung, die ursprünglich durch Genmanipulation und gezielte Zucht über mehrere Generationen hinweg erschaffen wurden. Galyan aber wußte, daß er innerhalb von zwei oder drei Generationen eine neue Rasse züchten konnte, wenn er dazu die Mittel und das Rohmaterial zur Verfügung hatte. Und dieses Rohmaterial sollte von uns kommen - von der Erde.“

Er hörte auf zu sprechen und sah die Mitglieder des Untersuchungsausschusses hinter ihrem langen Tisch an.

Kapitel 13

Es dauerte eine Sekunde oder zwei, nachdem Jim zu sprechen aufgehört hatte, bis seine letzten, ruhigen Worte seinem erdgeborenen Publikum explosionsartig ins Bewußtsein eindrangen. Die Wirkung war auf eine unbedeutende Weise dramatisch. Heinmann richtete sich kerzengrade auf. Alle anderen Mitglieder des Ausschusses an ihrem langen Tisch reagierten mit der gleichen und plötzlichen Wachheit.

„Wie war das, Mr. Kell?“ fragte Heinmann. „Sie beschuldigen Prinz Galyan - er gehört zu denen, die umgekommen sind, nicht wahr? -, er habe vorgehabt, uns genetisch zu einer Art einfältiger Leibwache für seine eigenen Belange umzubauen?“

„Ich beschuldige ihn nicht“, sagte Jim gleichmütig. „Ich berichte Ihnen eine Tatsache - die erwiesene Tatsache von Galyans Absichten. Er hat diese Absichten mir persönlich erklärt. Er hat genau das geplant, was ich berichtet habe. Ich glaube, Sie verstehen nicht.“ - zum ersten Mal schlich sich eine Spur von Ironie in Jims Stimme ein -, „. daß das für die Hochgeborenen auf der Thronwelt gar nicht so schrecklich ausgesehen hätte. Die niedrigeren Rassen von den Koloniewelten standen schon immer für den Gebrauch der Hochgeborenen zur Verfügung. Und wir waren nicht einmal so wichtig. Wir waren Wolflinge - wilde Frauen und Männer, die jenseits der Grenze der zivilisierten Welt lebten.“

Heinmann lehnte sich zurück und drehte sich um, um dem Gouverneur von Alpha Centauri neben ihm etwas zuzuflüstern. Jim blieb wortlos sitzen, bis die geflüsterte Konversation abgeschlossen war. Heinmann wandte sich wieder Jim zu und lehnte sich vor. Sein Gesicht hatte sich leicht gerötet.

„Sie haben uns vor kurzem gesagt“, sagte Heinmann, „daß die Hochgeborenen von der Thronwelt überlegene Wesen sind. Wie können Sie die Tatsache, daß sie überlegene Wesen sind, mit derartig inhumanen Plänen von Prinz Galyan in Übereinstimmung bringen? Abgesehen von der Tatsache, daß er nach Ihren Worten geplant hat, seinen Onkel umzubringen und seinen Kaiser zu beherrschen? Wenn die Hochgeborenen wirklich das sind, als das Sie sie bezeichnen - und der Gouverneur von Alpha Centauri III hier stimmt zumindest darin mit Ihnen überein -, dann mußte doch Prinz Galyan viel zu zivilisiert gewesen sein, um solche wilden und mörderischen Absichten zu hegen.“

Jim lachte.

„Ich halte es für unwahrscheinlich, daß Sie oder die anderen Mitglieder dieses Ausschusses die kulturellen Beziehungen zwischen den Hochgeborenen und den Menschen von den Kolonie-Welten verstehen - auch zu uns übrigens“, sagte er. „Galyans Komplott gegen den Kaiser war ein Verbrechen, wie es dort größer kaum denkbar ist. So würde es zumindest jeder anständige Hochgeborene wie etwa Slothiel empfinden. Aber seine Pläne mit uns waren keineswegs unmenschlich, zumindest nicht aus der Sicht eines Hochgeborenen. Im Grund wären die meisten Hochgeborenen der Meinung, wir seien glücklich zu schätzen, wenn uns Galyan seiner Aufmerksamkeit für würdig befände. Er würde Sie darauf hinweisen, daß wir von Krankheiten befreit würden und eine gesündere, glücklichere und gleichartigere Rasse wären, wenn er uns zu Starkianern gemacht hätte. Genau wie die Starkianer des Kaisers: Sie sind frei von Krankheiten, glücklich und sehen alle gleich aus.“

Wieder führte Heinmann eine geflüsterte Unterhaltung mit dem Gouverneur. Als sie aber dieses Mal zu Ende war, machten beide einen etwas verärgerten und unzufriedenen Eindruck.

„Mr. Kell, Sie versichern uns also, daß alle Ihre Handlungen auf der Thronwelt berechtigt waren“, sagte Heinmann, und mehr als bei jeder anderen Frage, die der Ausschußvorsitzende bisher gestellt hatte, schien es sich dieses Mal um eine offene, ehrliche Bitte um Information zu handeln, „und zwar nicht nur im Interesse des Kaisers, sondern auch noch der Menschen der Erde hier?“

„Ja“, sagte Jim.

„Ich möchte Ihnen gern glauben“, sagte Heinmann, und im Augenblick hörte es sich tatsächlich so an, als würde er Jim gern glauben. „Aber Sie verlangen von uns ein ganzes Stück Gutgläubigkeit. Wie war es denn zum Beispiel möglich, daß Sie von diesen Plänen des Prinzen Galyan erfahren haben, obwohl er sie doch offensichtlich hätte extrem geheimhalten müssen?“

„Sie sind geheimgehalten worden“, sagte Jim. „Aber bestimmte Gouverneure und Adlige von den Kolonie weiten.“ - seine Augen ruhten einen Augenblick lang auf dem Gouverneur von Alpha Centauri - „. mußten den Plan, die Starkianer loszuwerden, auf jeden Fall kennen. Prinzessin Afuan und Melness, der oberste Diener im Palast auf der Thronwelt, mußten um andere Teile wissen, aber Galyan behielt so viel wie möglich für sich.“

„Wie ist es Ihnen denn dann gelungen, dies alles herauszubekommen?“ fragte ein anderes Ausschußmitglied -ein kleingewachsener, fetter Mann in den mittleren Jahren, den Jim nicht kannte.

„Ich bin Anthropologe“, sagte Jim trocken. „Mein hauptsächliches Interessengebiet ist die menschliche Kultur in all ihren Erscheinungsformen und Veränderungen. In der Kultur der Menschheit gibt es eine gewisse Grenze der Veränderlichkeit, wenn eine bestimmte Bevölkerungsdichte erreicht ist, ganz gleich, wie hochentwickelt die Kultur ist. Die soziale Ordnung der Hochgeborenen auf der Thronwelt und des Adels auf den Koloniewelten, wo man sich nach dem Vorbild der Thronwelt richtete, stand im Widerspruch zu der kulturellen Ebene, die die Hochgeborenen selbst erreicht zu haben glaubten. Die Hochgeborenen - und entsprechend die Adligen aus den Kolonien - waren in kleine künstliche Cliquen oder Gruppen gespalten, die in ihrer Funktion den Noyaux grundsätzlich entsprachen.“

Jim hörte auf zu sprechen und wartete darauf, daß jemand ihn nach der Bedeutung des Wortes Noyaux fragte. Heinmann stellte diese Frage.

„Der französische Ethnologe Jean-Jacques Petit prägte den Begriff Noyaux als Bezeichnung für eine Gesellschaft innerer Widersprüche und Konflikte“, antwortete Jim. „Robert Ardrey bezeichnete sie einige Jahre später als ,nachbarschaftliche Gruppierung von Territoriumsbesitzern, die durch eine HaßLiebe-Beziehung verbunden wird’. Der Callicebus-Affe ist ein natürliches Beispiel für das Noyaux-Syndrom. Jede Callicebus-Familie verbringt ihre Zeit damit, solange sie nicht ißt oder trinkt, an die Grenzen ihres Territoriums oder Reviers zu gehen, das sie in den Baumwipfeln als ihr eigenes markiert hat, und die nächste Callicebus-Familie anzuschreien und zu bedrohen, die ebenfalls zu diesem Zweck an die Grenze ihres Reviers gekommen ist. Damit wird die noyaux-ähnliche Situation unter den Hochgeborenen exemplarisch deutlich gemacht. Der Unterschied besteht nur in der Tatsache, daß das konkrete Revier mit Position beziehen und Geschrei und Drohungen durch Intrigen ersetzt wird, um der nächsten Person oder Gruppe einen Statusverlust zuzufügen. Davon waren nur Hochgeborene wie Ro ausgenommen, weil sie ein Atavismus war - eine Rückentwicklung zu dem Stadium, als die geistige und körperliche Spezialisierung des Hochgeborenentyps noch nicht abgeschlossen war - und die anderen sie daher nicht für konkurrenzfähig hielten. obwohl sie es durchaus war.“

Wieder legte Jim eine Pause ein. Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann erhob Heinmann wieder seine Stimme.

„Vor kurzem“, sagte er, „haben Sie diese Hochgeborenen als überlegene Wesen im Vergleich mit uns hier auf der Erde bezeichnet. Jetzt vergleichen Sie sie mit einer Gesellschaft von Affen. Beides können sie nicht sein.“

„O doch, das können sie“, sagte Jim. „Ebenfalls von Ardrey stammt der Satz: Nationen bringen Helden hervor, Noyaux aber Genies. Im Fall der Thronwelt, die den Gouverneuren und Adligen der Kolonien als Beispiel diente, war der Prozeß umgekehrt. Genies brachten Noyaux hervor. Der Callicebus-Affe lebt praktisch in einem Utopia. Essen und Trinken sind direkt in den Bäumen greifbar. Ebenso leben die Hochgeborenen auf der Thronwelt in einem Utopia, denn ihre Technologie deckt für sie jeden möglichen Wunsch und jedes Bedürfnis ab. Unter normalen Bedingungen hätte das zu einer Verweichlichung geführt, und sie wären durch ihre utopischen Bedingungen leichte Beute für die Menschenrassen der Kolonie-Welten geworden, denen es nicht ganz so gut ging. So sieht der historische Umschwung in einer Gesellschaft aus, in der die Aristokratie schwach wird und von den Schichten darunter ersetzt wird.“

„Warum ist das mit den Hochgeborenen nicht geschehen?“ fragte Heinmann.

„Weil ihnen etwas Einzigartiges gelungen ist - eine praktische, sich selbst tragende Aristokratie“, sagte Jim. „Das Reich hat ursprünglich alle seine besten Köpfe auf dem Planeten versammelt, der später zur Thronwelt werden sollte. Als er dann später zur Thronwelt geworden war, zog er weiterhin jeden Hochbegabten an, der irgendwo in den Kolonien geboren wurde. Damit war ein dünner, aber kontinuierlicher Fluß von frischem Blut sichergestellt. Darüber hinaus ist der Aristokratie, die sich auf der Thronwelt entwickelte und zu den Hochgeborenen wurde, etwas gelungen, was vorher noch keine andere Aristokratie geschafft hat. Sie verlangte von jedem ihrer Angehörigen, alles über die Technologie zu wissen, die das Reich funktionieren läßt. Die Hochgeborenen waren mit anderen Worten nicht nur Universalgenies, sondern auch Universalexperten. Die Hochgeborene Ro, die hier hinter mir sitzt, könnte, hätte sie das notwendige Material, die Zeit und das Personal, die Erde in jeder technologischen Beziehung in eine perfekte kleine Kopie des Reichs verwandeln.“

Heinmann runzelte die Stirn.

„Ich sehe keinen Zusammenhang dazwischen und ihrem Noyaux-Status“, sagte der Vorsitzende.

„Eine unendlich sich selbst tragende Aristokratie“, sagte Jim, „widerspricht dem instinktiven menschlichen Evolutionsprozeß. Praktisch wird eine künstliche Situation geschaffen, in der soziale und damit individuelle Evolution nicht mehr stattfinden kann.

Eine solche Aristokratie kann zwar von außen nicht zerstört werden, muß sich aber deshalb schließlich selbst zerstören. Kurz gesagt - den Hochgeborenen blieb nach einiger Zeit keine andere Alternative als die Dekadenz. Und sie sind dekadent.“

Der Gouverneur lehnte sich zu Heinmann hinüber und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr, aber Heinmann zuckte fast ärgerlich die Achseln.

„. sobald ihnen ihre Dekadenz klargeworden war“, sagte Jim und behielt nicht nur Heinmann, sondern auch den Gouverneur im Auge. „Mir ist klargeworden, daß der Keim der Zerstörung des Reichs bereits vorhanden war. Die Noyaux, zu denen sich ihre Sozialordnung gespalten hatte, waren der Beweis ihrer Dekadenz. Mit anderen Worten: Es konnte höchstens noch einige Jahrhunderte dauern, bis das Reich begann auseinanderzubrechen, und dann blieb ganz sicher niemandem die Zeit, sich um uns hier auf der Erde Gedanken zu machen. Unglücklicherweise entdeckte ich zur gleichen Zeit Galyans Plan, selbst die Macht zu ergreifen. Nicht alle Hochgeborenen waren mit dem Ventil völlig zufrieden, das der Noyaux-Status für ihre Emotionen und Wünsche lieferte. Einige wenige - wie Galyan, Slothiel und Vhotan - wollten und brauchten echte Konflikte und Siege statt ihrer Schatten, wie sie die ständigen Streitereien zwischen den Noyaux und das Spiel um Lebenspunkte ihnen lieferten. Außerdem war Galyan gefährlich. Wie der Kaiser war er geisteskrank - aber er war auf eine praktische Weise geisteskrank, ein Mann, der im Gegensatz zu seinem Vetter seine Krankheit praktisch einsetzte. Und Galyan hatte mit der Erde Pläne. Er hätte uns in die Dekadenz des Reichs hineingesogen, bevor das Reich Zeit hatte, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen.“

Jim stockte. Er verspürte ein plötzliches Verlangen, sich zu Ro umzusehen, um festzustellen, wie sie seine Enthüllungen aufnahm, aber er wagte es nicht.

„Daher“, sagte er, „habe ich mich darangemacht, Galyan zu vernichten - und es ist mir gelungen.“

Er hörte auf zu sprechen. Der Untersuchungsausschuß an seinem Tisch, der Gouverneur, sogar das Publikum, das still in dem Raum hinter ihm saß, blieb weiter einige Sekunden lang ohne einen Laut bewegungslos sitzen, als erwarte man von ihm, daß er weitersprach. Endlich erfolgte eine langsame Welle von Bewegungen an dem langen Tisch des Ausschusses. Man hatte erkannt, daß er mit seinen Ausführungen am Ende war.

„Das ist also Ihre Erklärung“, sagte Heinmann, lehnte sich langsam nach vorne und sah Jim direkt an. „Sie haben das getan, was Sie getan haben, um die Erde vor einem dekadenten Wahnsinnigen zu retten. Woher wüßten Sie aber, daß Sie recht hatten?“