„Lorava!“
Der dünne, junge Hochgeborene erschien.
„Der Kaiser verleiht diesem Wolfling hier ehrenhalber eine Offiziersstelle als Kommandeur einer Starkianer-Einheit. Kümmere dich um die Einzelheiten und weise ihm eine Sektion der Palastwache zu. und schicke mir Melness her.“
Lorava verschwand wieder. Ungefähr drei Sekunden später erschien ein anderer, kleinerer Mann an seiner Stelle.
Er war ein schlanker, drahtiger Mann in dem typischen weißen Umhang und dem Kilt. Sein Haar war kurz geschnitten, und seine Haut trug fast die gleiche Farbe wie Jims, aber sie hatte einen stumpfen, gelblichen Ton. Sein Gesicht war klein und scharf geschnitten, und die Pupillen seiner Augen waren buchstäblich schwarz. Er gehörte deutlich nicht zu den Hochgeborenen, aber ihn umgab eine Aura von Sicherheit und Autorität, die selbst die der bewaffneten Leibwächter überschritt, die Starkianer genannt wurden.
„Melness“, sagte Vhotan, „dieser Mann ist ein Wolfling - er ist derjenige, der vor einigen Stunden in der Arena seine Künste vorgeführt hat.“
Melness nickte. Seine schwarzen Augen zuckten von Vhotan zu Jim und dann wieder zurück zu dem großen, alten Hochgeborenen.
„Der Kaiser verleiht ihm ehrenhalber eine Offiziersstelle bei den Starkianern der Palastwache. Ich habe Lorava angewiesen, sich um die Einzelheiten zu kümmern, aber du sollst zusehen, daß seine Verpflichtungen genau festgelegt werden.“
„Ja, Vhotan“, antwortete Melness. Seine Stimme war ein fester, männlicher Tenor. „Ich kümmere mich darum - und um ihn.“
Danach verschwand auch er seinerseits. Vhotan sah noch einmal Jim an.
„Melness ist der Majordomo des Palasts“, sagte Vhotan. „Eigentlich hat er zumindest theoretisch den Befehl über alle Bewohner der Thronwelt, die keine Hochgeborenen sind. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast, wende dich an ihn. Du kannst jetzt in dein Quartier zurückkehren. Und komme nicht wieder hierher, wenn du nicht gerufen wirst!“
Jim stellte sich den Raum vor, in dem er Ro und Slothiel zurückgelassen hatte. Er spürte die federleichte Berührung in seinem Kopf und befand sich sofort wieder dort.
Wie er sah, waren beide noch da. Ro rannte in dem Augenblick, in dem sie ihn sah, auf ihn zu und umarmte ihn. Slothiel lachte.
„Du bist also zurückgekommen“, sagte der Hochgeborene lässig. „Ich hatte bereits das dumpfe Gefühl, daß dir das gelingen würde. Ich habe sogar Ro deshalb eine Wette um einen Punkt angeboten - aber sie mag Wetten nicht. Was ist dir geschehen?“
„Ich bin ehrenhalber zum Offizier bei den Starkianern befördert worden“, sagte Jim ruhig. Er sah Slothiel in die Augen. „Außerdem sagt Vhotan, daß der Kaiser dein Angebot, für mich als Sponsor aufzutreten, prompt bearbeiten wird.“
Ro ließ ihn los, trat zurück und starrte ihn erstaunt an. Slothiel ging so weit, überrascht eine Augenbraue zu heben.
„Jim!“ sagte Ro voller Bewunderung. „Was. was ist denn wirklich passiert?“
Jim berichtete es ihnen kurz. Als er fertig war, stieß Slothiel einen fröhlichen, bewundernden Pfiff aus.
„Entschuldigt mich“, sagte er. „Das sieht mir nach einer guten Möglichkeit aus, einige kleine Wetten abzuschließen, bevor der Rest der Thronwelt von deiner Beförderung erfährt.“
Er verschwand. Ro dagegen hatte sich nicht gerührt. Jim sah auf sie herab und erkannte die Sorgenfalten, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatten.
„Jim“, sagte sie zögernd, „Vhotan hat über mich genau diese Frage gestellt, ja?. Ob ich vielleicht vorgeschlagen hätte, daß du so zum Kaiser vordringst? Und das hat er gefragt, nachdem ihm eingefallen ist, daß ich eine Angehörige von Afuans Haushalt bin?“
„Ganz richtig“, sagte Jim. Er lächelte etwas dünn. „Interessant, nicht?“
Ro schüttelte sich plötzlich.
„Nein, keineswegs!“ sagte sie eindringlich, aber mit leiser Stimme. „Beängstigend ist das! Ich wußte, daß ich dir verschiedenes beibringen und dir dabei helfen kann, unter normalen Umständen hier zu überleben. Wenn aber hier etwas vor sich geht, wofür andere Hochgeborene dich benutzen wollen.“ Ihre Stimme erstarb. Ihre Augen waren dunkel vor Besorgnis.
Jim sah sie einen Augenblick lang prüfend an. Dann sprach er.
„Ro“, sagte er langsam, „sag mal: Fehlt dem Kaiser etwas?“
Sie sah erstaunt zu ihm auf.
„Fehlt etwas?. Du meinst, ob er krank ist?“ Plötzlich lachte sie. „Jim, von den Hochgeborenen wird keiner jemals krank -am allerwenigsten der Kaiser.“
„Irgend etwas stimmt mit ihm nicht“, sagte Jim. „Und allzu geheim kann es nicht sein, wenn es so auftritt wie in der Arena nach dem Stierkampf. Hast du bemerkt, wie er sich verändert hat, als er anfing, mit mir zu sprechen, nachdem der Stier tot war?“
Sie schien es nicht zu registrieren, daß er sie geduzt hatte. „Verändert?“ Sie starrte ihn buchstäblich an. „Verändert? In welcher Beziehung?“
Jim erzählte es ihr.
„. und du hast seinen Blick nicht bemerkt oder die Laute gehört, die er von sich gegeben hat?“ fragte Jim. „Natürlich nicht - wenn ich es mir jetzt überlege, war dein Platz wahrscheinlich nicht so nahe.“
„Aber, Jim!“ Sie legte ihm mit der bekannten, eindringlichen Geste ihre Hand auf den Arm. „Jeder Platz in der Arena verfügt über seine eigene Sichtanlage. Als du mit diesem Tier gekämpft hast.“ - Sie brach kurz ab und schüttelte sich, sprach dann aber hastig weiter - „,. konnte ich dich so nahe sehen, wie ich wollte, als stünde ich so nahe bei dir wie jetzt. Als du dich der kaiserlichen Loge zugewandt hast, hatte ich dich noch genau in meiner Sicht. Ich habe genau zugesehen, als der Kaiser zu dir sprach, und wenn er etwas Ungewöhnliches getan hätte, dann hätte ich das auch bemerkt!“
Er starrte sie an.
„Du hast das nicht gesehen, was ich beobachtet habe?“ fragte er nach einer Sekunde.
Sie sah ihm weiter mit offensichtlich ehrlichem Ausdruck ins Gesicht, aber er hatte mit plötzlicher innerlicher
Empfindsamkeit das sichere Gefühl, daß sie irgendwie seinem Blick auswich - ohne das aber selbst zu bemerken.
„Nein“, sagte sie. „Ich habe gesehen, wie er mit dir gesprochen hat, und ich habe gehört, wie er dich einlud, ihn zu besuchen, nachdem du dich ein wenig ausgeruht hast. Nicht mehr als das.“
Sie stand weiter da und sah ihm weiter in dieser äußerlichen Ehrlichkeit in die Augen, wandte aber zur gleichen Zeit innerlich ihren Blick von ihm ab. Sie bemerkte das nicht, aber für ihn war es offensichtlich. Die Sekunden verstrichen, und plötzlich wurde ihm klar, daß sie konditioniert war. Sie war nicht in der Lage, den tranceähnlichen Zustand zu durchbrechen, in dem sie sich befand. Er war derjenige, der ihn unterbrechen mußte.
Er wandte gerade rechtzeitig den Kopf von ihr weg, um den grauhäutigen, kahlköpfigen Starkianer ungefähr zwei Meter entfernt von ihnen im Raum erscheinen zu sehen.
Jim richtete sich auf und starrte ihn an.
„Wer bist du?“ fragte Jim.
„Mein Name ist Adok I“, antwortete der Neuankömmling. „Aber ich bin du.“
Jim runzelte die Stirn und sah den Mann mit finsterem Gesicht an, der jedoch keinerlei Reaktion auf seinen Gesichtsausdruck zeigte.
„Du bist ich?“ wiederholte Jim. „Das verstehe ich nicht.“ „Aber Jim!“ mischte sich Ro ein. „Er ist natürlich dein Stellvertreter. Du kannst ja schließlich nicht selbst ein Starkianer sein. Genausowenig wie ein.“ Sie suchte nach einem Vergleich, gab es aber wieder auf. „Sieh ihn dir doch an! Und im Vergleich dazu dich!“ sagte sie erklärend.
„Die Hochgeborene hat völlig recht“, sagte Adok I. Er hatte eine tiefe, flache, emotionslose Stimme. „Offizierspatente werden in der Regel ehrenhalber an solche Personen vergeben, die nach Geburt und Ausbildung keine Starkianer sind. In solchen Fällen wird immer ein Stellvertreter gestellt.“
„Er ist also ein Stellvertreter“, sagte Jim. „Wie wirst du denn in diesem Fall offiziell in den Akten geführt?“
„Wie ich schon sagte, bin ich offiziell du“, antwortete Adok I. „Ich heiße offiziell James Kell. Ich bin ein Wolfling von einer Welt, die sich.“ - die Zunge des Starkianers hatte etwas Schwierigkeiten mit der Aussprache des unbekannten Wortes -„. Erde nennt.“
„Hast du mir nicht gesagt, du heißt Adok I?“ sagte Jim. Der extrem ernste Gesichtsausdruck des Starkianers führte ihn in Versuchung zu lächeln, aber ein Instinkt hielt das Lächeln innerlich und von seinem Gesicht fern.
„Inoffiziell, und nur für dich, Jim“, sagte der andere, „heiße ich Adok I. Enge Bekannte von dir, wie die Hochgeborene
Dame hier, können entweder Adok I oder Jim Kell zu mir sagen - das ist gleichgültig.“
„Ich werde dich Adok I nennen“, sagte Ro. „Und du darfst Ro zu mir sagen.“
„In Ordnung, Ro“, sagte Adok I in einem Tonfall, als wiederhole er einen gerade erteilten Befehl, und versicherte gleichzeitig, daß er bereit und in der Lage sei, ihn auszuführen.
Jim schüttelte den Kopf. Die Mischung von Charakteristika, die der Starkianer an den Tag legte, amüsierte ihn. Der Mann schien bis zur Hölzernheit humorlos, gehorsam bis zur Unterwürfigkeit und schien es in Verbindung mit diesen Eigenschaften für bestes Benehmen zu halten, Jim mit der vertrauten Kurzform seines Namens anzureden und zu duzen. Darüber hinaus schien Adok I Jim gegenüber in einer seltsamen Mischung zur gleichen Zeit unterwürfig und überheblich zu sein. Es hatte deutlich den Anschein, als käme es dem Starkianer nicht entfernt in den Sinn, Jim die Fähigkeiten zuzutrauen, die Aufgaben auszuführen, für die er selbst vorgesehen war. Auf der anderen Seite hielt er sich offensichtlich selbst für eine Kreatur für jegliche Launen Jims - seinen ergebenen Diener. Abrupt überlegte sich Jim jedoch, daß für eine Untersuchung des Charakters von Adok I auch noch später Zeit war. Eine dringlichere Frage stand an.
„Also gut“, sagte Jim, „da ich dich jetzt schon einmal habe -aber was soll ich mit dir anfangen?“
„Zunächst sollte ich etwas mit dir anfangen, Jim“, sagte Adok. Er sah zu Ro hinüber. „Wenn Ro uns entschuldigt, kann ich sofort mit deiner Einweisung in Notwendigkeiten und Pflichten eines Offiziers beginnen - die jene übersteigen, die ich für dich übernehmen kann.“
„Ich muß mich sowieso um meine Tiere kümmern“, sagte Ro. „Ich komme später und besuche dich, Jim.“
Sie berührte ihn leicht am Arm und verschwand.
„Also gut, Adok“, sagte Jim und wandte sich wieder dem Starkianer zu. „Womit fangen wir an?“
„Wir sollten mit einer Inspektion der Quartiere deiner Einheit beginnen“, sagte Adok. „Wenn ich dir vielleicht den Weg zeigen darf, Jim.“
„Na los“, sagte Jim und befand sich sofort mit Adok in einem riesigen, fensterlosen Raum mit einer hohen Decke. Trotz der Größe des Raums spürte Jim in sich ein Gefühl von Enge, das ihn bedrückte, als sei er eingesperrt.
„Wo sind wir?“ fragte er Adok, denn der spiegelblanke Fußboden, der sich vor ihnen erstreckte, war in allen Richtungen über weite Strecken hinweg leer. Nur einige weit entfernte Gestalten waren zu erkennen, die sich in der düsteren Beleuchtung und der Entfernung fast verloren.
„Wir sind auf dem Exerzierplatz.“ Adoks Kopf drehte sich Jim zu, und er sah mit den ersten Gefühlsregungen, die er bisher gezeigt hatte, zu ihm hinüber. Nach einer Sekunde wurde es Jim klar, daß Adok Überraschung zeigte. „Wir befinden uns außerdem unter der Planetenoberfläche.“ Adok sagte ihm in Längenmaßen des Reichs, wie tief der Exerzierplatz lag. Es entsprach ungefähr einer halben Meile unter der Oberfläche des Planeten. „Beunruhigt dich das? Die Hochgeborenen beunruhigt es, aber von den Dienern nur wenige.“
„Nein, es beunruhigt mich nicht“, sagte Jim. „Etwas gespürt habe ich allerdings.“
„Wenn dich das beunruhigen sollte, mußt du es vor mir zugeben“, sagte Adok. „Wenn dich irgend etwas stört oder dir Angst macht, solltest du es mir sagen, selbst wenn du es sonst niemand mitteilen willst. Das braucht außer mir niemand zu wissen, aber ich muß unbedingt darüber informiert werden, wenn du emotionell geschwächt bist, damit ich Maßnahmen ergreifen kann, um dich vor einer solchen Schwäche zu schützen und sie vor anderen zu verbergen.“
Jim lachte, und das Geräusch hallte unheimlich durch die sie umgebenden Entfernungen. Es war für Humor ein seltsamer Ort und Moment, aber Jim fand Adok I eigentlich sympathisch.
„Mach dir keine Gedanken“, sagte Jim zu dem Starkianer. „Gewöhnlich fühle ich mich nicht emotionell geschwächt. Wenn es aber doch der Fall sein sollte, werde ich es dich wissen lassen, das verspreche ich dir.“
„Gut“, sagte Adok ernst. „Also, ich habe dich zuerst an diesen Punkt des Exerzierplatzes gebracht, weil ich bei einigen Paraden nicht deine Stelle übernehmen kann. Bei manchen Paraden müssen wir beide anwesend sein. Jetzt, da du zu diesem Punkt gebracht worden bist, kannst du sofort an ihn zurückkehren, falls du dich aus irgendeinem Grund für die Parade verspätet hast. Jetzt gehen wir in die Waffenkammer, und dort holen wir deine Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Zur gleichen Zeit kannst du dir auch diesen Ort einprägen.“
Der nächste Raum, in dem sie erschienen, war heller erleuchtet und bedeutend kleiner als der Exerzierplatz. Es war ein langer schmaler Raum, dessen beide Längsseiten aus aneinandergereihten Fächern bestanden. Darin befanden sich die Lederbänder und die Bänder aus dem silbrigen Material, wie sie Adoks Beine, Arme und Körper umgaben und die Jim an den gleichen Stellen bei den Starkianern, beim Kaiser und bei Vhotan gesehen hatte. Er forderte Jim jedoch vorerst noch nicht dazu auf, sie anzulegen, sondern ging nur mit ihm direkt zu einigen Fächern und suchte sich eine Reihe davon aus. Er trug sie selbst, während er Jim zuerst zu den Kasernen, in denen die Starkianer lebten - die Unterkünfte seiner Einheit waren denen nicht unähnlich, die man ihm selbst zugewiesen hatte; sie waren nur kleiner und lagen unterirdisch -, und dann zu einer Sporthalle, einem Speiseraum, einer Art von unterirdischem Park, in dem Gras und Bäume unter einer künstlichen Sonne wuchsen, und schließlich zu einer Art Vergnügungs- und Einkaufszentrum führte, wo zahlreiche Starkianer sich unter eine weit größere Menge von anderen Dienern aus den niedrigeren Rassen mischten.
Adok schloß schließlich diese kurze Besichtungstour zu den verschiedenen Lokalitäten dadurch ab, daß er Jim in einen großen Raum brachte, der ganz ähnlich wie der ausgestattet war, in dem er den Kaiser und Vhotan getroffen hatte. Er war nicht nur genauso groß und ebenso gut ausgestattet, sondern Jim spürte außerdem noch, wie sich das Gefühl verflüchtigte, das er unter der Erde so warnend und bedrückend gespürt hatte. Dieser Raum, wozu immer er auch dienen mochte, lag offensichtlich über der Erde.
„Wer.“, wollte er gerade Adok fragen, fand seine Frage aber bereits beantwortet, bevor er sie aussprechen konnte. Der olivenhäutige Mann namens Melness erschien vor ihnen und sah nicht Jim, sondern Adok an.
„Ich habe ihn zu den Stellen geführt, die mit seiner Einheit zu tun haben“, sagte Adok zu dem höchsten Diener der Thronwelt. „Und nun habe ich ihn zu dir gebracht, wie du es befohlen hattest, Melness.“
„Gut“, sagte Melness in seinem klaren Tenor. Seine schwarzen Augen zuckten zu Jim hinüber. „Die Sponsorenschaft für deine Adoption ist vom Kaiser angenommen worden.“
„Vielen Dank für die Mitteilung“, sagte Jim.
„Ich sage dir das nicht, weil ich dir einen Gefallen tun will“, sagte Melness, „sondern weil es notwendig ist, dir die Lage klarzumachen. Als Kandidat für eine Adoption bist du theoretisch ein Hochgeborener auf Bewährung, und als solcher stehst du über mir wie über allen Dienern. Auf der anderen Seite bist du als Offizier der Starkianer, der weniger als zehn Einheiten befehligt, sowie als Angehöriger einer der niedrigeren Menschenrassen meinem Befehl unterstellt.“
Jim nickte.
„Ich verstehe“, sagte er.
„Das hoffe ich!“ sagte Melness scharf. „Wir haben hier einen Widerspruch - und solche Widersprüche werden hier dadurch gelöst, daß dir zwei offizielle Persönlichkeiten zugewiesen werden, die du beide ausfüllst. Das bedeutet, daß du in jeder Tätigkeit, Beschäftigung oder Verpflichtung, die du als Hochgeborener zur Probe, als Kandidat für eine Adoption erfüllst, mein persönlicher Vorgesetzter bist. Deinen Pflichten als Offizier der Starkianer gehst du auf der anderen Seite als Diener nach - und in allem, was damit zu tun hat, bist du mir unterstellt. Bei Tätigkeiten, in denen keine der offiziellen Persönlichkeiten beteiligt ist, kannst du dir aussuchen, welche Stellung du einnehmen möchtest - Hochgeborener oder Diener. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich oft für den Diener entscheidest.“
„Wahrscheinlich nicht“, sagte Jim und beobachtete den kleineren Mann ruhig. Die Blicke der schwarzen Augen zuckten zu ihm wie Blitze.
„Wegen dieses Konfliktes von Persönlichkeiten“, sagte Melness, „habe ich keine direkte Autorität über dich. Ich kann dich aber, wenn nötig, von deinem Dienst bei der Starkianer-Einheit suspendieren und beim Kaiser eine formelle Beschwerde gegen dich vorbringen. Komme bloß nicht auf die dumme Idee, daß der Kaiser nicht auf eine Beschwerde von mir reagieren würde.“
„Nie und nimmer“, sagte Jim sanft. Melness sah ihn noch einen Moment lang an und verschwand.
„Also, Jim“, sagte Adok bei seinem Ellbogen, „wir können jetzt wieder in deine Unterkunft zurückkehren, wenn du willst, und ich werde dir den Gebrauch deiner Waffen und Ausrüstungsgegenstände erklären.“
„Einverstanden“, sagte Jim.
Sie transportierten sich in Jims Quartier zurück. Dort legte Adok Jim die Bänder und Gurte an, die sie aus der Waffenkammer geholt hatten.
„Es gibt zwei Waffenarten“, sagte Adok, nachdem Jim alles angelegt hatte. „Das.“ - er tippte auf den kleinen schwarzen Stab, den er in die Schleifen in dem Gürtel an Jims Lendenschurz gesteckt hatte - „. verfügt über eine unabhängige Energieversorgung und ist unter normalen Umständen die einzige Waffe für den Dienst auf der Thronwelt.“
Er machte eine Pause, streckte dann eine Hand aus und berührte das silbrige Band um Jims Oberarmmuskulatur leicht.
„Die hier dagegen“, sagte Adok, „gehören zu den Waffen zweiter Klasse. Im Moment sind sie noch völlig nutzlos, weil sie erst durch eine drahtlose Energieübertragung eingeschaltet werden müssen. Diese Bänder sind sowohl eine Waffe als auch ein Kraftverstärker.“
„Kraftverstärker?“ fragte Jim.
„Ja“, sagte Adok. „Sie beschleunigen deine Reflexe, indem sie deine körperlichen Reaktionen in einer bestimmten, vorher eingestellten Geschwindigkeit erfolgen lassen - die bei allen, die nicht den Hochgeborenen angehören, erheblich über der natürlichen Reflexgeschwindigkeit liegt. Später werden wir die Funktion des Kraftverstärkers als Waffe zweiten Grades einüben. Vielleicht bekommst du dann irgendwann die Genehmigung dazu, das Testgelände zu benutzen, damit du konkrete Erfahrungen mit den Waffen selbst sammeln kannst. Es liegt ziemlich tief unter der Oberfläche der Thronwelt.“
„Ich verstehe“, sagte Jim und musterte die silbernen Bänder. „Dann kann ich wohl annehmen, daß sie sehr stark sind?“ „Ein ausgebildeter Starkianer“, sagte Adok, „der voll mit betriebsbereiten Waffen der zweiten Klasse ausgerüstet ist, entspricht ungefähr zwei bis sechs Einheiten vollbewaffneter Männer von den Kolonie-Welten.“
„Die Kolonie-Welten haben also keine Starkianer?“ fragte Jim.
Adok gelang es zum zweiten Mal, eine kaum merkliche Gemütsbewegung zu zeigen. Dieses Mal schien er schockiert zu sein.
„Die Starkianer dienen dem Kaiser - und nur dem Kaiser!“ sagte er.
„So?“ sagte Jim. „Auf dem Schiff, das mich zur Thronwelt gebracht hat, habe ich mit einem Hochgeborenen namens Galyan gesprochen, und Galyan hatte einen Starkianer - oder zumindest jemanden, der genau wie ein Starkianer aussah. Er war sein Leibwächter.“
„Dabei gibt es nichts Ungewöhnliches, Jim“, sagte Adok. „Der Kaiser leiht seine Starkianer an andere Hochgeborene aus, wenn die Hochgeborenen sie brauchen, aber sie sind eben nur ausgeliehen. Sie bleiben trotzdem Diener des Kaisers, und letzten Endes erhalten sie ihre Befehle nur vom Kaiser.“
Jim nickte. Adoks Worte riefen ihm die Erklärungen ins Gedächtnis zurück, die ihm Melness vor kurzem gegeben hatte. Jims Gedanken verfolgten die Verbindung weiter.
„Der unterirdische Bereich der Thronwelt wird nur von Dienern bewohnt. Ist das richtig, Adok?“ fragte Jim.
„Das ist richtig, Jim“, sagte Adok.
„Wenn mich meine dienstlichen Verpflichtungen von jetzt an hier unten festhalten“, sagte Jim, „möchte ich doch noch mehr davon sehen. Wie groß ist das Gelände?“
„Es gibt ebenso viele unterirdische Räume wie überirdische“, sagte Adok. „Vielleicht sogar noch mehr, denn ich kenne sie nicht alle.“
„Wer weiß besser Bescheid?“ fragte Jim.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Adok mit den Achseln zucken, aber diese Geste hätte seiner Natur wenig entsprochen.
„Ich weiß es nicht, Jim“, sagte er. „Vielleicht. Melness.“ „Ja“, sagte Jim nachdenklich. „Sicher. Wenn jemand das weiß, dann ist es Melness.“
Im Verlauf der nächsten Wochen nahm Jim an verschiedenen Paraden auf dem unterirdischen Exerzierplatz teil. Er fand heraus, daß seine Verpflichtungen bei solchen Angelegenheiten nur darin bestanden, daß er sich mit der entsprechenden Bekleidung vor seine Einheit zu stellen hatte. Sie bestand aus achtundsiebzig Starkianern, einem Unteroffizier, Adok und ihm selbst.
Als er aber an der ersten Parade teilnahm, bedeutete es für ihn einen Schock, den riesigen unterirdischen Raum vollständig, Reihe um Reihe, von leidenschaftslosen, kahlköpfigen, kleinen und grobknochigen Männern ausgefüllt zu sehen, die die Starkianer waren. Jim hatte angenommen, daß die Thronwelt als Planet von voller Größe eine große Menge von Dienern aller Arten beherbergte, unter denen die Zahl der Starkianer einen gewissen Prozentsatz ausmachte. Bis er es mit eigenen Augen sah, war es ihm jedoch nicht klar gewesen, wie viele Starkianer es gab. Nach einer kurzen anschließenden Berechnung auf der Grundlage dessen, was Adok ihm über die Größe des Exerzierplatzes gesagt hatte, kam er zu der Schätzung, daß er in dem Gelände mindestens zwanzigtausend bewaffnete Männer gesehen hatte.
Wenn Adoks Worte tatsächlich zutrafen, daß jeder Starkianer vier oder fünf Einheiten von achtzig Soldaten von den Kolonie-Welten entsprach, dann waren die Starkianer, die er gesehen hatte, militärisch in etwa einer Dreiviertelmillion Männern ebenbürtig. Und Adok hatte ihm gesagt, daß dieser Exerzierplatz nur einer von fünfzig war, die unterirdisch über die Thronwelt verteilt waren.
Es war vielleicht nicht so sehr überraschend, daß die Hochgeborenen der Thronwelt sich jeder Bedrohung gewachsen fühlten, die von einer Kolonie-Welt oder einer Verbindung von Kolonie-Welten ausgehen könnte.
Jim fand heraus, daß neben den Paraden seine Pflichten auf eine Trainingssitzung mit Adok beschränkt waren, die alle zwei Tage unter Benutzung der Waffen der zweiten Klasse in der Sporthalle stattfanden.
Die Silberbänder, die die Bewaffnung zweiter Klasse darstellten, waren noch immer nicht als Waffen in Betrieb genommen worden, aber in der Sporthalle wurden sie in ihrer Eigenschaft als Kraftverstärker aktiviert. Daher bestanden die Übungen, die er auf Anweisung von Adok auszuführen hatte, nur aus Laufen, Springen und der Überwindung verschiedener Hindernisse mit der Unterstützung der Kraftverstärker. Diese Übungen dauerten auf Anweisung Adoks beim ersten Mal nur ungefähr zwölf Minuten. Anschließend brachte er Jim behutsam, fast zärtlich in sein Quartier zurück und ließ ihn sich auf das Polster legen, das dort als Bett diente. Währenddessen nahm Adok sanft die Silberbänder ab.
„Jetzt mußt du mindestens drei Stunden lang ruhen“, sagte Adok ihm.
„Warum?“ fragte Jim und sah neugierig zu der gedrungenen Gestalt hoch, die über ihm stand.
„Weil sich der Körper nicht sofort an den Effekt gewöhnt, den diese Kraftverstärker ausüben“, sagte Adok. „Denke daran, daß deine Muskeln zu schnelleren Bewegungen gezwungen worden sind, als das von Natur aus für sie vorgesehen war. Du meinst vielleicht jetzt, du fühlst dich steif und müde, aber das ist noch gar nichts gegen das Gefühl, das du in drei Stunden spüren wirst. Die beste Methode, um den Muskelkater und die Müdigkeit, die sich beim ersten Gebrauch des Kraft Verstärkers einstellen, so gering wie möglich zu halten, besteht in völliger Ruhe für drei Stunden nach der Übung. Mit der Zeit wirst du durch den Gebrauch abgehärtet werden, und dein Körper wird sich daran gewöhnen, zu für ihn unnatürlich schnellen Reflexen gezwungen zu werden. Dann wirst du keine Auswirkungen mehr spüren, wenn du dich nicht wirklich überanstrengst, und dann brauchst du dich nicht mehr nach jeder Übung auszuruhen.“
Jim hielt sein Gesicht ausdruckslos, und Adok verschwand, nachdem er vorher aufmerksamerweise das Licht des Raumes verdunkelt hatte. In der düsteren Beleuchtung sah Jim nachdenklich an die weiße Decke über seinem Kopf.
Er spürte in seinen Muskeln keinerlei Ermüdung oder Schmerzen, aber die Hauptwirkung würde sich laut Adok erst in drei Stunden einstellen. Er wartete deshalb gewissenhaft diese drei Stunden lang, bevor er sich von dem Bett rührte.
Als aber diese Zeit verstrichen war, fühlte er sich immer noch nicht anders. Er war nicht steif, und nichts tat ihm weh. Er fügte diese Information seinem allmählich wachsenden Wissensschatz über die Thronwelt und ihre Bewohner in seinem Kopf hinzu.
Sie paßte nicht sofort zu den anderen Stücken des Puzzles, das sich in seinen Gedanken zusammensetzte. Seit jenem Tag aber, an dem er als kleiner Junge endlich der Tatsache ins Auge geblickt hatte, daß ihm keine andere Wahl blieb, als die Einsamkeit seines Lebens schweigsam zu ertragen, hatte er sich eine fast unendliche Geduld erworben, und die half ihm auch jetzt. Das Bild, das sich in seinem Kopf bildete, war noch nicht zu entziffern. Noch nicht. Bis es soweit war. Adok hatte angenommen, daß er nach Ablauf der drei Stunden durch seine allgemeine körperliche Ermüdung praktisch zur Unbeweglichkeit verurteilt sein würde. Da es ihm bisher noch nicht gelungen war herauszufinden, ob er überwacht wurde -und in der letzten Zeit hatte er auch in Erwägung gezogen, daß nicht nur die Hochgeborenen ihn aus ihren eigenen Gründen überwachten, sondern auch die Diener aus ihren eigenen Gründen - fand er sich damit ab zu bleiben, wo er war.
Er blieb auf seinem Polster-Bett ausgestreckt liegen und zwang sich selbst durch reine Willenskraft zum Einschlafen.
Er wachte auf, weil Ro ihn sanft schüttelte. Sie stand in seinem halbdunklen Zimmer neben seinem Bett.
„Galyan möchte, daß du jemanden triffst“, sagte sie. „Er hat das durch Afuan ausrichten lassen. Es ist der Gouverneur der Kolonie-Welten auf Alpha Centauri.“
Einen Augenblick lang blinzelte er schläfrig. Doch dann wurde ihm die Bedeutung ihrer Worte klar, und er war sofort hellwach.
„Welchen Grund hätte ich denn dafür, den Gouverneur der Welten von Alpha Centauri treffen zu wollen?“ fragte er und richtete sich abrupt von seinem Polster auf.
„Aber er ist dein Gouverneur!“ sagte Ro. „Hat dir das noch niemand gesagt, Jim? Jede neue Koloniewelt wird sofort dem räumlich nächsten Gouverneur zugewiesen.“
„Nein“, sagte Jim, schwang seine Beine über die Bettkante und stand auf. „Nein, das hat mir noch niemand gesagt. Heißt das, daß ich dem Gouverneur gegenüber irgendwelche Verpflichtungen habe?“
„Also.“ Ro zögerte. „Theoretisch kann er dich sofort von der Thronwelt wegbringen, weil du unter seine Autorität fällst. Auf der anderen Seite ist die Sponsorenschaft für deine Adoption angenommen. Das heißt für ihn praktisch, daß er davon erfährt, und dann wird er es besser wissen und nichts tun, um einem möglichen zukünftigen Hochgeborenen auf die Füße zu treten. Du mußt auch daran denken, daß es für seine Welten einen enormen Prestigegewinn bedeutet, wenn jemand aus seinem Verfügungsbereich zumindest Hochgeborener auf Probe wird. Mit anderen Worten: Er kann dir eigentlich nichts tun. Du kannst auf der anderen Seite die Möglichkeit eines Besuchs bei ihm nicht ablehnen, wenn er schon einmal hier ist. Das verbietet die Höflichkeit.“
„Ich verstehe“, sagte Jim grimmig. „Sie haben dich hierhergeschickt, um mich abzuholen?“
Ro nickte. Er streckte eine Hand aus, und sie ergriff sie. Das war eine einfache, mühelose Methode, jemanden an eine Stelle zu bringen, an der er vorher noch nicht gewesen war. Man hatte Jim gesagt, daß eine gewisse geistige Anstrengung dazu notwendig war, jemanden ohne physischen Kontakt an einen Ort zu transportieren, der ihm unbekannt, dem Führer aber bekannt war. Adok wählte natürlich, wie früher auch Ro, die distanziertere Methode, aber Ro hatte es sich inzwischen angewöhnt, ihn bei der Hand zu nehmen, wenn sie irgendwohin zusammen mit ihm gelangen wollte.
Sofort standen sie in einem relativ kleinen Raum - einem Raum jedoch, der durch die zahlreichen in der Luft hängenden Schreibflächen, die sparsame Verteilung von Sitzkissen und seinen allgemeinen Charakter auf die gleiche Funktion als Büro verwies, wie er das bereits in dem Raum vorgefunden hatte, in den er von Galyan an Bord des Schiffes gebracht worden war.
In dem Raum befanden sich die üblichen Arbeitskräfte und die einzelne Starkianer-Leibwache. Außerdem fanden sie noch Galyan und einen Mann mit der Gesichtsfarbe der nordamerikanischen Indianer vor, wie sie für die Bewohner von Alpha Centauri typisch war. Dieser Mann aber war fast einen Meter achtzig groß, ein gutes Stück größer als die meisten Bewohner von Alpha Centauri III, die Jim während seines Aufenthalts dort getroffen hatte.
„Da bist du ja, Jim - und du auch, Ro“, sagte Galyan bei ihrem Erscheinen leise und drehte sich zu ihnen um. „Jim, ich dachte, du würdest vielleicht gern den Herrn deiner Region treffen wollen - Wyk Ben von Alpha Centauri III. Wyk Ben, darf ich dir Jim Kell vorstellen. Für ihn ist hier auf der Thronwelt eine Sponsorenschaft angeboten worden.“
„Sehr angenehm“, antwortete Wyk Ben, drehte sich hastig um und lächelte Jim zu. Im Gegensatz zu der zischenden Aussprache der Hochgeborenen, die für Jim inzwischen fast natürlich klang, lispelte der Gouverneur von Alpha Centauri leicht.
„Ich wollte dich nur kurz treffen, um dir Glück zu wünschen, Jim. Deine Welt ist gerade erst in unseren Verfügungsbereich gekommen. und. äh. ich bin sehr stolz!“
Wyk Ben lächelte Jim glücklich zu. Er schien es nicht zu bemerken, wie die übrigen drei Leute reagierten, die an der Unterhaltung beteiligt waren. Ro runzelte mit leichten Vorahnungen die Stirn, Galyans zitronengelbe Augen zeigten einen sardonischen Humor, und Jim verhielt sich nüchtern und reserviert.
„Also. das wollte ich dir nur sagen. Ich werde nicht mehr von deiner Zeit in Anspruch nehmen“, sagte Wyk Ben eifrig.
Jim starrte auf ihn herab. Es war absurd, daß er wie ein kleiner Hund, der mit dem Schwanz wedelte, seinen Diensteifer und Stolz zeigte. Damit verband sich eine gewisse Unkenntnis der allgemeinen Verhältnisse auf der Thronwelt. Jim konnte nicht verstehen, warum Galyan ein Zusammentreffen mit diesem Mann gewünscht hatte, aber er heftete die Tatsache geistig ab, daß Galyan tatsächlich ein Zusammentreffen zwischen ihm und dem Gouverneur von Alpha Centauri arrangiert hatte.
„Noch einmal vielen Dank“, sagte Jim. „Ich bin tatsächlich beschäftigt. Ich bin mit dem Starkianer, der mein Stellvertreter ist, für eine Übungsstunde verabredet.“ Er sah zu Ro hinüber.
„Ro?“
„Schön, dich wiederzutreffen, Jim“, sagte Galyan langsam in einem Tonfall, der der amüsiert schleppend klingenden Stimme Slothiels sehr ähnelte. Er hatte deutlich das erreicht, was er sich von einer direkten Gegenüberstellung von Jim und Wyk Ben erhofft hatte, aber es hatte keinen Sinn, dieser Sache hier und jetzt weiter nachzugehen. Jim drehte sich zu Ro um und streckte seine Hand aus. Sie ergriff sie, und sofort befanden sie sich wieder in seinem Zimmer.
„Worum drehte sich das alles?“ fragte Jim.
Ro schüttelte verwirrt den Kopf.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie unglücklich. „Und wenn auf der Thronwelt etwas passiert, das man nicht versteht, ist das ein Gefahrensignal. Ich werde versuchen, das herauszubekommen, Jim - bis später.“
Sie verschwand hastig.
Jim blieb allein zurück und rekonstruierte in seinen Gedanken noch einmal die Begegnung mit Wyk Ben. Ihm kam der Gedanke, es könne die Gefahr bestehen, daß sich die Dinge zu schnell entwickelten und er überrollt wurde. Er sprach laut in dem leeren Raum.
„Adok!“
Es dauerte vielleicht drei Sekunden - nicht mehr -, und die Gestalt des Starkianers erschien vor ihm.
„Wie geht es dir?“ fragte Adok. „Brauchst du.“
„Nichts“, sagte Jim brüsk. „Adok, gibt es im Bereich der Diener dort unten irgendwelche Bibliotheken?“
„Bibliotheken?“ Einen Moment verzog sich Adoks Gesicht zu dem Ausdruck, den Jim langsam als Äußerung von extremer Verwirrung zu interpretieren lernte. Doch dann hellten sich seine Züge wieder auf. „Ach ja, natürlich, du meinst ein Lernzentrum. In Ordnung, Jim, ich bringe dich hin. Ich war zwar selbst noch nie da, aber ich weiß, wo es ist.“
Adok wagte sich so weit vor, Jim am Arm zu berühren, und sie standen in dem unterirdischen Park, durch den Jim schon vorher mit Adok gegangen war. Adok zögerte, wandte sich nach links und ging auf eine Seitenstraße zu.
„Hier entlang, denke ich“, sagte er.
Jim ging hinter ihm her aus dem Park heraus und die Straße hinunter, bis sie zu einer breiten Treppenflucht kamen, die zu einem hohen, offenen Portal in einer Mauer aus polierten braunen Steinen führte.
Einige Menschen gingen die Stufen herab oder herauf und betraten das Portal oder kamen aus ihm heraus - alles Diener, keine Starkianer. Jim beobachtete sie genau, wie er das bereits unterwegs bei allen Dienern getan hatte. Nun, als sie die Stufen emporstiegen, wurde seine Aufmerksamkeit belohnt. Als er und Adok gerade die erste Stufe betraten, kam ein Mann, gelbhäutig und schwarzäugig wie Melness, aus dem Portal. Als er die Treppe hinunterging, richteten sich seine Augen auf einen der Diener, der gerade eintrat - einer der kleinen, braunen Männer mit dem langen, glatten Haar. Der braune Mann fuhr sich scheinbar zufällig mit der Handfläche über die Taille in Höhe des Gürtels. Der gelbhäutige Mann, der wie Melness aussah, wechselte seinen Schritt nicht und beantwortete die Geste, indem er lässig die rechte Hand hob und zwei Finger an den Oberarm legte. Es dauerte nur einen Augenblick, und er ließ seinen Arm wieder an seine Seite herabsinken.
Die beiden gingen mit einer anderen Geste aneinander vorbei, ohne sich anzusehen, und entfernten sich in entgegengesetzten Richtungen.
„Hast du das gesehen?“ fragte Jim mit leiser Stimme Adok, als sie das Portal betraten. „Diese Gesten? Worum ging es da?“
Adok ließ mit seiner Antwort ungewöhnlich lange auf sich warten, so daß Jim sich umdrehte, um ihn anzusehen. Soweit Jim das erkennen konnte, hatte Adok eine ernste Miene aufgesetzt.
„Das ist merkwürdig“, sagte der Starkianer fast zu sich selbst. „In der letzten Zeit hat es davon tatsächlich mehr gegeben.“
Er hob seine Augen zu Jim hoch.
„Das ist ihre stumme Sprache.“
„Was haben sie denn gesagt?“ fragte Jim. Adok schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Es ist eine alte Sprache -die Hochgeborenen haben davon zum ersten Mal vor Tausenden von Jahren bei der ersten Diener-Revolte erfahren. Die Diener haben sie schon immer benutzt, aber wir Starkianer waren davon ausgeschlossen. Das kommt daher, daß wir immer loyal dem Kaiser gegenüber sind.“
„Aha, so ist das“, sagte Jim. Er verlor sich in seinen Gedanken.
Sie gingen durch eine große Halle aus dem gleichen polierten braunen Stein in einen ausgedehnten Innenraum, der Reihe um Reihe von rotierenden, leuchtenden Kugeln angefüllt war -wie kleine Sonnen. Sie rotierten - wenn sie das wirklich taten - zu schnell, um der Bewegung mit dem Auge folgen zu können, bewegten sich aber offensichtlich ständig.
Adok blieb stehen. Er zeigte auf die Miniatursonnen.
„Das ist eines der Archive“, sagte er. „Ich weiß nicht, welches, weil sie nicht für unsere Benutzung vorgesehen sind, sondern eines der überirdischen Lernzentren für junge Hochgeborene speisen. Auf der rechten Seite dort hinten gibt es aber Lesenischen, in denen man die gespeicherten Informationen abrufen kann, und zwar nicht nur von hier, sondern aus allen Archiven der Thronwelt.“
Er führte Jim aus dem Raum mit den Miniatursonnen in einen langen, schmalen Korridor mit einer Reihe von offenen Türen auf seiner rechten Seite. Adok ging vor ihm her durch den Korridor und in eine der Türen hinein.
Sie führte in einen kleinen Raum - der erste, der nicht bereits benutzt wurde - mit einem Stuhl und einer Art Tisch oder Schreibtisch mit einer erhabenen Fläche, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad anstieg.
Jim setzte sich vor diese Fläche. Bis auf zwei kleine schwarze Knöpfe oder Rädchen an ihrer Unterkante schien sie völlig leer zu sein. Adok aber reichte über Jims Schulter und berührte einen der Knöpfe, und aus der schrägen Fläche wurde sofort ein weißer Bildschirm. In seiner Mitte hob sich schwarz ein einziges Wort in der Kurzschrift des Reiches ab. Das Wort hieß bereit.
„Sprich damit“, sagte Adok.
„Ich möchte die Berichte über die Expeditionen des Reichs einsehen, die in den hiesigen Archiven vorhanden sind“, sagte Jim langsam zu dem Schirm. „Ich möchte dabei besonders über jene informiert werden, die über.“ - hier gab er die Bezeichnung des Reichs für Alpha Centauri - „. hinausgegangen sind.“
Die Buchstaben der Reichsschrift, die für bereit standen, verschwanden von dem Schirm. An ihre Stelle trat eine geschriebene Zeile, die sich langsam von links nach rechts bewegte.
Jim saß da und las. Es hatte den Anschein, als sei das Abrufsystem des Archivs nicht dafür ausgerüstet, die von ihm gewünschte Information direkt herauszusuchen. Es konnte ihm nur eine riesige Fülle von Angaben über solche Expeditionen liefern, die in der Vergangenheit in die allgemeine Richtung, in der Alpha Centauri von der Thronwelt aus lag, gestartet worden waren. Jims Aufgabe war es nun, alle Berichte über Expeditionen in diese allgemeine Richtung durchzusuchen, wenn er die finden wollte, die bis zur Erde gekommen war -wenn das überhaupt jemals einer Expedition gelungen war. Jim war es klar, daß diese Aufgabe nicht in einer Sitzung zu bewältigen war. Das würde Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen dauern.
„Ist es möglich, das hier zu beschleunigen?“ fragte er und sah zu Adok auf. Adok streckte seine Hand nach dem zweiten Knopf aus und drehte an ihm. Die Schriftzeile begann, sich schneller über den Schirm zu bewegen. Adoks Hand senkte sich herab, und Jim nahm den Knopf selbst in die Hand. Er beschleunigte die Schrift weiter, bis der Knopf bis zum Anschlag durchgedreht worden war und damit offensichtlich seine größtmögliche Geschwindigkeit erreicht hatte. Adok gab ein leises Geräusch von sich, das sich wie ein schlecht unterdrücktes überraschtes Grunzen anhörte.
„Was gibt’s?“ fragte Jim, ohne seine Augen von der schnell vorbeihuschenden Zeile zu heben.
„Du liest fast so schnell wie ein Hochgeborener“, sagte Adok.
Jim machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er blieb bewegungslos vor dem Schirm sitzen und bemerkte kaum, wie die Zeit verstrich, bis das Ende eines Satzes von Berichten zu Ende kam und eine kurze Unterbrechung auftrat, bis der nächste begann. In diesem Augenblick bemerkte er, daß er fast verkrampft dasaß, weil er sich so lange nicht von der Stelle gerührt hatte.
Er richtete sich auf, schaltete die Maschine für einen Moment aus und sah sich um. Unvermittelt drang in sein Bewußtsein ein, daß Adok noch immer neben ihm stand. Der Starkianer hatte sich offensichtlich auch nicht gerührt.
„Hast du die ganze Zeit hier gewartet?“ fragte Jim. „Wie lange habe ich gelesen?“
„Einige Zeit“, sagte Adok ohne sichtbare Emotion. Er nannte Jim einen Zeitraum in den Einheiten des Reichs, der etwas mehr als vier Stunden entsprach.
Jim schüttelte den Kopf und stand auf. Doch dann fiel ihm etwas ein, und er setzte sich wieder hin, um den Schirm wieder anzuschalten. Er bat um Informationen über die stumme Sprache.
Der Schirm antwortet ihm - aber nicht mit einer stummen Sprache, sondern mit zweiundfünfzig. Offensichtlich hatten zweiundfünfzig Revolten der Diener stattgefunden, über die Aufzeichnungen existierten. Jim machte sich eine geistige Notiz, sich bei seinem nächsten Besuch des Archivs über diese Revolten zu informieren. Allem Anschein nach hatten die Hochgeborenen nach jedem Aufstand Nachforschungen angestellt und waren den Geheimnissen der jeweiligen stummen Sprache auf die Spur gekommen. Als sich jedoch einige Hunderte oder Tausende von Jahren später die nächste Revolte erhob, hatte sich in der Zwischenzeit eine völlig neue Sprache entwickelt.
Es handelte sich dabei im Grund weniger um Sprachen als um eine Reihe von Zeichen - wie die Zeichen, die der Werfer und der Fänger in einem Baseballspiel oder die Spieler und der Trainer am Spielfeldrand austauschen. Man rieb die Finger aneinander oder kratzte sich an der Nase, und das war ein deutlich sichtbares Signal - oder ein Teil der jeweiligen stummen Sprache. Das Problem lag nicht darin, das Signal wahrzunehmen, sondern es zu interpretieren. Es war die Frage, was es dieses Mal bedeutete.
Jim überflog die Angaben über die stumme Sprache, schaltete die Maschine aus und stand auf. Er und Adok verließen das Archiv und gingen unter Jims Führung aus dem Gebäude, die Treppen hinunter und zurück in den Wohnbereich in der Nähe des Parks.
Sie spazierten fast eine Stunde lang durch die Straßen, sahen sich die Läden und Vergnügungsbetriebe an, und Jim achtete im stillen auf weitere Zeichen und Signale aus der neuesten stummen Sprache.
Er sah viele davon, aber keines von ihnen ergab nach den vorausgegangenen zweiundfünfzig Versionen der Sprache einen Sinn. Er prägte sich trotzdem sorgfältig jedes Signal ein, das er sah, und merkte sich auch die Bedingungen, unter denen es verwendet wurde. Nach einiger Zeit verließ er Adok und kehrte in sein eigenes Zimmer zurück.
Er war kaum fünf Minuten zurück, als Ro in Begleitung von Slothiel erschien. Jim nahm sich vor, Ro irgendwann danach zu fragen, welches Warnsystem ihr mitgeteilt hatte, daß er in sein Quartier zurückgekehrt war, und wie man ihm ausweichen oder es abschalten konnte.
Als er jedoch aufstand, um die beiden zu begrüßen, stellte er diesen Gedanken zurück, als er den leicht besorgten Gesichtsausdruck bei Ro und den grimmigen Humor bei Slothiel bemerkte.
„Ich nehme an, es ist etwas passiert?“ fragte Jim.
„Deine Annahme ist richtig“, sagte Slothiel. „Deine Adoption wird genehmigt, und Galyan hat gerade den Vorschlag gemacht, daß ich zu deinen Ehren eine große Party geben soll. Mir war gar nicht klar, daß er so sehr mit dir befreundet ist. Also, was ist deiner Meinung nach der Grund für ein solches Verhalten?“
„Wenn Sie solch eine Party geben“, sagte Jim, „wird der Kaiser dann auch daran teilnehmen?“
„Der Kaiser und Vhotan“, antwortete Slothiel. „Ja, sie werden fast sicher kommen. Warum?“
„Weil“, sagte Jim, „das der Grund ist, aus dem Galyan Ihnen vorgeschlagen hat, die Party zu geben.“
Slothiel runzelte die Stirn. Er tat das auf eine leicht hochnäsige Art und deutete damit an, ein Angehöriger der niedrigeren Rassen solle keine Äußerungen von sich geben, die ein Hochgeborener nicht völlig verstehen kann.
„Warum sagst du das?“ fragte Slothiel.
„Weil Melness ein sehr kluger Mann ist“, sagte Jim.
Kapitel 7
Slothiel richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
„Das reicht jetzt, Wolfling!“ bellte er. „Das sind jetzt genug Frage-und-Antwort-Spielchen!“
„Jim.“, begann Ro warnend.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Jim und sah den größeren Mann fest an. „Die Erklärung betrifft nicht mich - sie betrifft den Kaiser, und deshalb werde ich sie nicht Ihnen geben. Sie werden mich auch nicht dazu zwingen. Erstens einmal können Sie das nicht, und zweitens wäre es von Ihnen unhöflich, es zu versuchen, da Sie es sind, der als Sponsor für meine Adoption auftritt.“
Slothiel stand völlig unbeweglich.
„Glauben Sie mir“, sagte Jim, dieses Mal aber eindringlich, „wenn es mir freistünde, Ihnen zu antworten, würde ich es tun. Ich darf Ihnen vielleicht etwas versprechen. Wenn Ihnen bis zum Ende der Party der Kaiser oder Vhotan noch nicht die Zusicherung gegeben haben, daß ich gute Gründe dafür hatte, Ihnen nichts zu sagen, werde ich jegliche Fragen zu dem gesamten Bereich beantworten, die Sie mir zu stellen haben. Einverstanden?“
Für eine weitere lange Sekunde blieb Slothiel stocksteif stehen und sah mit brennenden Augen auf Jim herab. Dann verschwand die Spannung abrupt von ihm, und er lächelte sein altes, träges Lächeln.
„Weißt du was, Jim, damit hast du mich festgenagelt“, sagte er mit schleppender Stimme. „Ich kann wohl kaum genau den niedrigeren Menschen unter Zwang befragen, dessen Sponsor für die Adoption ich bin, oder? Besonders, weil ich die
Tatsache unmöglich geheimhalten könnte. Du wirst es einmal gut verstehen, um Punkte zu wetten, wenn du durch einen seltsamen Zufall tatsächlich einmal adoptiert werden solltest. Na gut, behalte dein Geheimnis für dich - für jetzt.“
Er verschwand.
„Jim“, sagte Ro, „ich sorge mich um dich.“
Aus irgendeinem Grund nahmen die Worte für ihn eine ungewöhnliche Bedeutung an. Er sah sie scharf an und erkannte den Grund dafür. Sie sah ihn besorgt an, aber es war eine andere Art von Sorge als die, die sie ihren Haustieren angedeihen ließ und die sie bisher für ihn gehegt hatte. Auch ihr Tonfall ließ einen entsprechenden Unterschied hören.
Er war plötzlich unerwartet tief berührt. Niemand, Mann oder Frau, hatte sich seit sehr, sehr langer Zeit Sorgen um ihn gemacht.
„Kannst du nicht wenigstens mir verraten, warum du sagst, daß Galyan die Party vorschlägt, weil Melness ein sehr kluger Mann ist?“ fragte Ro. „Das hört sich so an, als wolltest du sagen, daß es zwischen Galyan und Melness eine Verbindung gibt. Das ist aber doch zwischen einem Hochgeborenen und einem Mitglied der niedrigeren Rassen unmöglich.“
„Und wie steht es zwischen dir und mir?“ sagte Jim, der sich an ihren neuen Tonfall erinnerte.
Sie wurde rot, aber, wie er inzwischen erfahren hatte, bedeutete das nicht so viel, wie es das vielleicht bei einer anderen Frau getan hätte.
„Ich bin anders!“ sagte sie. „Galyan aber nicht. Er gehört zu den Höchsten der Hochgeborenen. Nicht nur durch Geburt -auch in seiner Haltung.“
„Aber er hat sich doch immer bemüht, Menschen von niedrigeren Rassen so viel wie möglich einzusetzen.“
„Das ist wahr.“ Sie überlegte. Dann sah sie wieder zu ihm auf. „Aber du hast mir immer noch nicht erklärt.“
„Da gibt es nicht viel zu erklären“, sagte Jim. „Nur so viel: Ich habe gesagt, das betrifft eher den Kaiser als mich, und dazu stehe ich. Was Melness und seine Klugheit betrifft, so kann ich nur sagen, daß Menschen auch aus zuviel Klugheit Fehler machen können, ebenso wie aus Dummheit. Sie können sich zu sehr bemühen, etwas zu verstecken. Im Fall von Melness sieht das so aus, daß er sich sehr bemüht hat, den Anschein zu erwecken, als passe es ihm ganz und gar nicht, daß er für mich die Verantwortung zu übernehmen hatte, als Adok mich zum ersten Mal zu ihm brachte.“
Ro runzelte die Stirn.
„Aber warum sollte es ihm nicht passen.“
„Das kann natürlich eine ganze Menge Gründe haben“, sagte Jim. „Um nur einen zu nennen - und das ist die einfachste Antwort -, die Tatsache, daß es ihm nicht gefällt, was hier passiert. Ein Wolfling wie ich bekommt einen Sponsor für eine Adoption, während ein Mann wie er nie diese Chance bekommen würde, weil er als Diener zu nützlich ist. Auf der anderen Seite hätte Melness viel zu klug sein müssen, um mir diese ablehnende Haltung zu zeigen, besonders deshalb, weil die Möglichkeit besteht, daß aus mir ein Hochgeborener wird, der es ihm dann mit gleicher Münze heimzahlen kann.“ „Warum hat er es dann getan?“ fragte Ro.
„Vielleicht hat er gedacht, ich bin ein Spion, den die Hochgeborenen ausgeschickt haben, um die Welt der Diener auszuforschen“, sagte Jim. „Außerdem hat er vielleicht einen Grund dafür gebraucht, um mich zu schikanieren und zu beobachten, während ich mich im unterirdischen Bereich der Diener aufhalte, und dieser Grund hätte mich dann nicht auf den Gedanken gebracht, er hätte mich als Spion im Verdacht.“ „Aber warum sollst du ihm denn nachspionieren?“ fragte Ro. „Das weiß ich noch nicht“, sagte Jim.
„Aber warum meinst du, das hat etwas mit dem Kaiser und mit Galyan zu tun?“ fragte Ro.
Jim lächelte auf sie herab.
„Du willst zuviel zu schnell wissen“, sagte er. „Du willst eigentlich schon mehr wissen, als ich selbst weiß. Siehst du jetzt ein, warum ich mich mit Slothiel nicht auf Fragen und Antworten einlassen wollte?“
Sie nickte langsam. Dann sah sie ihn wieder besorgt an. „Jim.“, sagte sie unerwartet. „Was warst du von Beruf? Ich meine, außer Stierkämpfer, als du noch auf deiner eigenen Welt unter deinen eigenen Leuten gelebt hast?“
„Ich war Anthropologe“, sagte er ihr. „Zum Stierkampf bin ich. erst später gekommen.“
Sie runzelte verwirrt die Stirn. Soweit er nämlich wußte, existierte das Wort Anthropologe in der Sprache des Reichs nicht, und so hatte er es einfach wörtlich aus seiner lateinischen Wurzel mit Menschenkunde übersetzt.
„Ich habe mich mit dem primitiven Hintergrund und Ursprung des Menschen befaßt“, sagte er. „Besonders den Wurzeln der Menschheit und ihrer Kulturen - aller Kulturen -und ihrer Verbindung mit der grundsätzlichen Natur des Menschen.“
Er konnte fast sehen, wie sie blitzschnell den riesigen Erinnerungsschatz der Hochgeborenen absuchte. Sie strahlte auf.
„Ach, du meinst - Anthropologie!“ Sie nannte ihm das Wort aus der Reichssprache, nach dem er gesucht hatte. Dann nahm ihr Gesicht einen sanften Ausdruck an, und sie berührte seinen Arm. „Jim! Armer Jim - kein Wunder!“
Wieder - wie er das schon so oft hatte tun müssen - mußte er den Impuls unterdrücken, ihr zuzulächeln. Er hatte sich bisher im Verlauf seines Lebens schon sehr unterschiedlich eingeschätzt, aber bis jetzt war es ihm noch nie in den Sinn gekommen, sich für ,arm’ zu halten - in keiner Bedeutung des Wortes.
„Kein Wunder?“ wiederholte er.
„Ich meine, es ist kein Wunder, daß du bei jedem Hochgeborenen einen so kalten und distanzierten Eindruck machst“, sagte sie. „Oh, damit meine ich nicht mich! Ich meine die anderen. Es ist aber kein Wunder, daß du dich so verhältst. Als ihr von uns und dem Reich erfahren habt, hat das für euch das Ende aller eurer Studien bedeutet, nicht wahr? Ihr mußtet euch mit der Tatsache abfinden, daß ihr nicht von den Affen und Urmenschen eurer eigenen Welt abstammt. Das hat bedeutet, daß ihr die gesamte Arbeit, die ihr bis dahin getan hattet, wegwerfen mußtet.“
„Nicht ganz“, sagte Jim.
„Jim, ich darf dir etwas sagen“, meinte sie. „Uns ist genau das gleiche passiert, weißt du. Ich meine uns - den Hochgeborenen. Vor einigen tausend Jahren haben die früheren Hochgeborenen geglaubt, daß sie von den Ureinwohnern dieser einen Thronwelt abstammen. Schließlich mußten sie sich eingestehen, daß noch nicht einmal das wahr war. Die Tierformen haben sich auf allen Welten, die von unseren Leuten besiedelt worden waren, zu sehr geglichen. Zum Schluß mußten sogar wir uns mit der Tatsache abfinden, daß offensichtlich alle diese Welten mit den gemeinsamen Vorfahren der gegenwärtigen Fauna und Flora ausgestattet worden sind. Dafür muß eine intelligente Rasse verantwortlich sein, die noch weit älter als selbst wir ist. Darüber hinaus gibt es noch recht deutliche Anzeichen dafür, daß unsere Vorfahren, mit denen diese Welt aufzuwarten hat, von einer überlegenen Rasse von Urmenschen abstammen, die von einem anderen Ort hierher gebracht wurde. Wie du also siehst, mußten auch wir uns mit der Tatsache abfinden, daß wir nicht die ersten intelligenten Wesen im Universum waren.“
Dieses Mal gestattete sich Jim ein Lächeln.
„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte er. „Wenn es überhaupt ein Schock für mich war, von der Existenz des Reichs zu erfahren, dann habe ich ihn inzwischen überwunden.“
Seiner Meinung nach hatte er sie beruhigt.
Es stellte sich heraus, daß die Party zur Feier der Sponsorenschaft, die Slothiel für seine Adoption übernommen hatte, in knapp drei Wochen steigen sollte. Jim verbrachte seine Zeit damit, sich bei Adok über Gebräuche und Kriegsführung der Starkianer zu informieren. Dann und wann kam er seinen wenigen nominellen Verpflichtungen bei der Militärkaste nach und arbeitete in den unterirdischen Archiven, in die Adok ihn eingeführt hatte.
In der Zwischenzeit ging er in den unterirdischen Bereichen der Diener umher und beobachtete und prägte sich alle Signale ein, die er bemerkte. In seiner Freizeit versuchte er, diese Signale aufzuzeichnen und sie in eine zusammenhängende Form zu bringen, die ihm vielleicht gestatten würde, sie zu verstehen. Zwei Tatsachen halfen ihm dabei. Zunächst einmal wußte er als Anthropologe, daß jede Zeichensprache ihre Wurzeln in der gemeinsamen, grundsätzlichen Natur des Menschen hatte. Einer der frühen Forscher hatte über seine diesbezüglichen Erlebnisse während seines Aufenthalts bei nordamerikanischen Eskimos berichtet: Man brauche niemanden, um die grundsätzlichen Kommunikationssignale zu lernen - man kannte sie bereits. Die Drohgebärde, die Aufforderung herzukommen, die Geste für Hunger, nämlich auf den Mund zu zeigen und dann den Magen zu reiben - alle diese und noch eine Menge mehr kamen jedem Menschen instinktiv in den Sinn, der versuchte, mit Handsignalen oder Körpersprache zu kommunizieren.
Zweitens war eine Sprache, die hauptsächlich aus Handzeichen bestand, notwendigerweise beschränkt. Die Botschaften, die mit einer solchen Sprache vermittelt wurden, hingen zwangsläufig in großem Ausmaß von dem Kontext ab, in dem die betreffende Geste vollzogen wurde. Daher mußte das gleiche Signal für jeden Beobachter, der über lange Zeiträume darauf achtete, häufig erscheinen.
Daher waren Jims Bemühungen letztlich von Erfolg gekrönt. Im Grund dauerte es kaum mehr als zwei Wochen, bis er das Erkennungszeichen identifizierte - die Handbewegung, die als Gruß und zur gleichen Zeit als Erkennungszeichen für die Benutzer der stummen Sprache diente. Es bestand aus nicht mehr als aus einer Berührung der Spitze des rechten Daumens mit der Seite des benachbarten Zeigefingers. Von diesem Punkt an enthüllten sich verschiedene Handzeichen ihm schnell in ihrer Bedeutung.
Seine Suche in den Archiven nach einer Expedition von der Thronwelt - oder auch von einer der damals existierenden Koloniewelten - aus in die allgemeine Richtung der Erde und ihr Sonnensystem war jedoch nicht so erfolgreich. Vielleicht gab es Aufzeichnungen über eine solche Expedition in den Archiven, vielleicht aber auch nicht. Die Aufzeichnungen, die Jim selbst dazu zu überprüfen hatte, um alle Möglichkeiten abzudecken, waren einfach zu umfangreich. Es war im Grunde etwa so, als hätte er sich vorgenommen, den gesamten Bestand einer kleinen öffentlichen Bibliothek durchzulesen.
„Und außerdem“, sagte Adok, als Jim eines Tages endlich das Problem ihm gegenüber aussprach, „mußt du bedenken, daß du sämtliche Aufzeichnungen, die du einsehen darfst, durchlesen könntest und vielleicht trotzdem nichts von einer solchen Expedition erfahren würdest, selbst wenn es Aufzeichnungen darüber gibt.“
Sie gingen gerade durch einen unterirdischen Park. Jim blieb plötzlich stehen und drehte sich zu Adok um, der automatisch ebenfalls stehenblieb und sich Jim zuwendete.
„Wie war das?“ fragte Jim. „Du hast da gerade etwas gesagt, daß ich nur einen Teil der Archivbestände einsehen darf?“ „Verzeih mir, Jim“, sagte Adok. „Ich weiß natürlich nicht, ob irgendwelche Aufzeichnungen über solche Expeditionen geheim sind. Ich meine nur - woher willst du sicher wissen, ob sie es nicht sind? Und woher willst du außerdem wissen, daß die, nach der du suchst, nicht zu denen gehört, die geheim sind?“
„Das kann ich natürlich nicht“, sagte Jim. „Mich beunruhigt nur der Gedanke, daß ich nicht auf die Idee gekommen bin, daß irgendein Teil der Geschichte dieses Planeten nicht voll zugänglich ist.“ Er dachte einen Moment lang nach. „Wer hat denn Zugang zu den geheimen Beständen des Archivs?“
„Na“, sagte Adok in dem leicht überraschten Tonfall, der für ihn der stärkste Ausdruck dieses Gefühls war, „alle Hochgeborenen haben selbstverständlich Zugang zu allen Informationen. Da du sowohl über der Erde als auch unterirdisch gehen kannst, wohin du willst, brauchst du eigentlich nur zu einem der Lernzentren für die Kinder der Hochgeborenen zu gehen.“
Er brach plötzlich ab.
„Nein“, sagte er mit leiserer Stimme. „Daran habe ich nicht gedacht. Du kannst natürlich zu einem der Lernzentren für die Hochgeborenen gehen, aber das wird dir nichts nützen.“
„Du meinst, die Hochgeborenen werden mir die Benutzung ihrer Lernzentren nicht gestatten?“ fragte Jim. Er beobachtete Adok genau. Auf der Thronwelt war nichts sicher, auch nicht die durchsichtige Ehrlichkeit einer Person wie Adok. Wenn Adok ihm nun sagte, es gäbe so etwas wie eine Bestimmung dagegen, daß er das Lernzentrum benutzte, dann war das erst das zweite Verbot auf einer einzigartig verbotslosen Welt, auf das er auf der Planetenoberfläche gestoßen war. Die erste war selbstverständlich die Bestimmung, daß niemand den Kaiser aufsuchen durfte, wenn er nicht ausdrücklich gerufen wurde. Adok aber schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte Adok. „Ich glaube nicht, daß dich jemand aufhalten würde. Es ist nur so, daß du die Lesegeräte an der Oberfläche nicht benutzen können wirst. Sie sind nämlich für den Gebrauch der jungen Hochgeborenen eingestellt, und die lesen so schnell, daß normale Menschen nicht folgen können.“
„Du hast mich doch lesen sehen“, sagte Jim. „Lesen sie noch schneller?“
„Viel schneller“, sagte Adok. Er schüttelte wieder den Kopf. „Viel, viel schneller.“
„Das macht nichts“, sagte Jim. „Bring mich zu einem der Lernzentren.“
Adok zuckte die Achseln nicht - eigentlich war es fraglich, ob er zu einer solchen Geste an seinen Schultern nicht ohnehin zu viele Muskeln hatte, selbst wenn seine Natur sie zugelassen hätte. Sofort befanden sie sich über der Erde in einem großen Gebäude, das einer enormen Loggia ähnelte - oder vielmehr einem griechischen Tempel mit einem Dach, Säulen, auf denen es ruhte, einem Fußboden, aber ohne deutliche Außenwände. Durch die Säulen waren ein grüner Rasen und ein blauer Himmel sichtbar. Auf dem Boden saßen auf verstreut liegenden Polstern Kinder aller Altersgruppen, die offensichtlich von Hochgeborenen abstammten. Jedes von ihnen sah auf einen Schirm, der geneigt vor ihnen in der Luft schwebte. Wenn sich die Kinder auf ihren Polstern bewegten, folgte er ihren Bewegungen, so daß er immer mit dem gleichen Neigungswinkel von fünfundvierzig Grad vor ihnen in der Luft hing, wie es Jim von den Lesenischen im unterirdischen Archiv her vertraut war.
Einige der Kinder sahen kurz zu Jim und Adok hinüber, aber keines von ihnen widmete den Neuankömmlingen mehr als eine Sekunde Aufmerksamkeit. Jim kam zu der Überzeugung, die Tatsache, daß weder er noch Adok Hochgeborene waren, machte sie beide praktisch unsichtbar, solange sie nicht gebraucht wurden.
Jim ging zu einem der Kinder hinüber und stellte sich dicht dahinter - ein Junge, der so groß wie Jim selbst war, jedoch einen extrem dünnen Körper und das Gesicht eines Zehn- oder Zwölfjährigen hatte. Vor dem Jungen lief die gleiche Linie von Buchstaben über den Schirm, an die sich Jim unter der Erde gewöhnt hatte. Jim sah sich diese Linie an.
Sie bewegte sich mit enormer Geschwindigkeit unscharf über den Schirm. Jim runzelte die Stirn, starrte genau darauf und versuchte, seine Wahrnehmung der Geschwindigkeit anzupassen, um den unregelmäßigen, geschwungenen schwarzen Strich in lesbare Buchstaben zu verwandeln.
Erstaunlicherweise gelang ihm das nicht.
Plötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl, das Zorn sehr nahe kam. Er war noch nie auf etwas gestoßen, das jemand anders schaffte, das er innerhalb der Grenzen seiner eigenen physischen Fähigkeiten nicht ebenfalls zustande brachte. Er war sich darüber hinaus völlig sicher, daß das Problem nicht in seiner eigenen Aufnahmefähigkeit begründet lag. Seine Augen sollten ebenso wie die Augen jedes Hochgeborenen in der Lage sein, die verschwommene Linie in Buchstaben aufzulösen. Das Problem lag in seinem Gehirn, das es ablehnte, die Informationen in der Geschwindigkeit zu entziffern, in der sie angeboten wurden.
Grimmig unternahm er eine innerliche Anstrengung. Das Sonnenlicht, der Rasen, die Säulen, die Decke und der Fußboden - sogar der Junge selbst, der ungestört weiterlas -verschwanden aus seinem Gesichtsfeld. Jim richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Schriftlinie vor ihm - allein auf die Linie. Der Druck seiner Bemühungen, sie aufzulösen, legte sich wie eine Schnur, die eng zusammengezogen wird, um seine Schläfen. Enger, immer enger.
Eine Sekunde lang hätte er es fast geschafft. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könne er in der Linie einzelne Buchstaben erkennen, und er hatte den Eindruck, als habe der Text etwas mit der Organisation der Starkianer selbst zu tun. Doch dann verwischte sich wieder alles - es war seinem Körper einfach unmöglich, die Konzentration beizubehalten. Er schwankte ein wenig, und der Rest des Universums mit den Säulen, Wänden und der Decke erschien wieder in seinem Blickfeld.
Plötzlich bemerkte er, daß der Junge auf dem Polster endlich seine Anwesenheit registriert hatte. Der junge Hochgeborene hatte aufgehört zu lesen und starrte Jim mit einem deutlichen Ausdruck des Erstaunens auf seinem Gesicht an.
„Wer bist du.?“ begann der Junge mit heller Stimme, aber Jim gab ihm keine Antwort, sondern berührte Adok am Arm und transportierte sie beide zurück in Jims Quartier, bevor die Frage beendet werden konnte.
In dem vertrauten Raum holte Jim einen Augenblick lang tief Luft und setzte sich dann auf eines der Polster. Er bedeutete Adok, auch er solle sich hinsetzen, und der Starkianer gehorchte. Nach kurzer Zeit beruhigte sich Jims Atmung, und er lächelte leicht. Er sah zu Adok hinüber.
„Du sagst ja gar nicht: ,Ich habe es dir ja gesagt’!“ sagte Jim.
Adok schüttelte den Kopf mit einer Geste, die deutlich ausdrücken sollte, daß es ihm nicht zustand, solche Dinge zu sagen.
„Na ja, du hast ja recht gehabt“, sagte Jim. Er wurde nachdenklich. „Aber nicht aus dem Grund, den du dir überlegt hast. Was mich gerade aufgehalten hat, ist die Tatsache, daß eure Sprache nicht meine Muttersprache ist. Wenn das ein Text in meiner eigenen Sprache gewesen wäre, hätte ich ihn lesen können.“
Er wandte seinen Kopf abrupt von Adok ab und sprach ins Leere.
„Ro?“ sagte er.
Adok und er warteten, aber es kam keine Antwort, und Ro erschien nicht. Das war nicht überraschend. Ro war eine Hochgeborene und hatte im Gegensatz zu Adok, Messen einzige Verpflichtung es war, auf Jims Ruf zu warten und ihm zu dienen, ihre eigenen Aufgaben und Verpflichtungen.
Jim transportierte sich in Ros Apartment. Als er es leer fand, ließ er ihr einen Zettel zurück, in dem er sie bat, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, sobald sie zurückkam. Ungefähr zweieinhalb Stunden später erschien sie plötzlich neben ihm und Adok im Hauptraum seines Quartiers.
„Das wird eine große Party“, sagte sie übergangslos. „Jeder wird kommen. Man wird den großen Versammlungsraum benutzen müssen. Es muß sich herumgesprochen haben, daß es mit dieser Feier etwas Besonderes auf sich hat.“ Sie brach plötzlich ab. „Das hatte ich vergessen. Du wolltest mich aus irgendeinem Grund sprechen, Jim?“
„Richtig“, sagte Jim. „Könntest du einen von diesen Leseschirmen aus den Lernzentren in deinem Apartment aufstellen lassen?“
„Aber natürlich!“ sagte Ro. „Möchtest du einen benutzen, Jim? Warum läßt du dir nicht einen Schirm bei dir hier aufstellen?“
„Mir wäre es lieber, wenn es nicht allgemein bekannt ist, daß ich damit arbeite“, sagte Jim. „Es ist doch wohl nicht zu ungewöhnlich, daß jemand wie du einen solchen Schirm bei sich zu Hause haben möchte?“
„Nicht ungewöhnlich. Nein.“, sagte Ro. „Wenn du es so haben möchtest, dann wird es natürlich auch so gemacht. Aber worum geht es denn?“
Jim berichtete ihr von seinem Versuch, mit der gleichen Geschwindigkeit wie der junge Hochgeborene zu lesen, hinter dem er in dem Lernzentrum gestanden hatte.
„Und du meinst, deine Lesegeschwindigkeit wird sich durch Übung erhöhen?“ fragte Ro. Sie runzelte die Stirn. „Vielleicht solltest du dir nicht zuviel erhoffen.“
„Das tue ich nicht“, sagte Jim.
Innerhalb von wenigen Stunden war der Schirm eingerichtet und schwebte in einem der weniger benutzten Räume von Ros Apartment. Von da an verbrachte Jim die Zeit, die er vorher für das Archiv in dem unterirdischen Bereich verwendet hatte, in Ros Apartment.
Im Verlauf der nächsten Woche machte er jedoch kaum Fortschritte. Er gab es völlig auf und benutzte die letzten Tage vor der Party damit, mit Adok in dem unterirdischen Dienstbotenbereich umherzuwandern und die stumme Sprache zu beobachten, die dort im Gebrauch war. Er verstand sie inzwischen völlig, aber lästigerweise war das meiste, was er aufnahm, durch Handzeichen weitergegebener Klatsch, aber auch Klatsch konnte sich durchaus als nützlich erweisen, wenn er richtig gesammelt und ausgewertet wurde.
Jim kehrte von dem letzten dieser Ausflüge nur ungefähr eine Stunde vor der Party zurück. Er fand in dem Hauptraum seines Quartiers Lorava vor, der dort stand und auf ihn wartete.
„Vhotan erwartet dich“, sagte Lorava abrupt, als Jim erschien.
Ohne weitere Vorwarnung fand sich Jim zusammen mit Lorava in einem Raum wieder, in dem er bisher noch nicht gewesen war. Adok stand an seiner anderen Seite. Die Einladung war also offensichtlich auch an den Starkianer ergangen.
Vhotan saß auf einem Polster vor einer in der Luft schwebenden Platte, an deren Oberseite einige Knöpfe in verschiedenen Farben und Formen angebracht waren. Er drückte scheinbar ziellos diese Knöpfe oder drehte an ihnen, tat das aber mit einem Ernst und einer Intensität, die andeuteten, daß seine Handlungen keineswegs unwichtig waren. Trotzdem unterbrach er seine Tätigkeit bei ihrem Erscheinen, erhob sich von seinem Polster und kam zu Jim herüber.
„Dich brauche ich etwas später, Lorava!“ sagte er.
Der dünne, junge Hochgeborene verschwand.
„Wolfling“, sagte Vhotan zu Jim, und seine gelblichen Augenbrauen zogen sich zusammen, „der Kaiser wird an deiner Party teilnehmen.“
„Ich glaube nicht, daß das meine Party ist“, antwortete Jim. „Meiner Ansicht nach ist das Slothiels Party.“
Vhotan wischte den Einwand mit einer kurzen Bewegung seiner schmalen Hand zur Seite.
„Du bist der Anlaß dafür“, sagte er. „Und du bist der Grund, warum der Kaiser daran teilnehmen will. Er möchte sich noch einmal mit dir unterhalten.“
„Selbstverständlich“, sagte Jim. „Ich kann jederzeit kommen, wenn der Kaiser mich rufen möchte. Dazu bedarf es keiner Party.“
„Er zeigt sich in der Öffentlichkeit von seiner besten Seite!“ sagte Vhotan scharf. „Aber das ist jetzt gleich. Es geht darum, daß der Kaiser während der Party mit dir sprechen will. Er wird dich zur Seite nehmen und dir wahrscheinlich eine Menge Fragen stellen wollen.“
Vhotan zögerte.
„Ich werde gern jede Frage des Kaisers beantworten“, sagte Jim.
„Ja. genau das wirst du tun“, sagte Vhotan mürrisch. „Du mußt jede seiner Fragen vollständig beantworten. Verstehst du? Er ist der Kaiser, und ich möchte, daß du seine Fragen so lange beantwortest, bis er die nächste stellt, auch wenn er dir nicht seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken scheint. Du sprichst also weiter, bis er die nächste Frage stellt oder dir sagt, du sollst still sein. Verstehst du?“
„Völlig“, sagte Jim. Er sah in die zitronengelben Augen des älteren Hochgeborenen.
„Ja. Na gut“, sagte Vhotan, drehte sich abrupt um, ging zu seiner Konsole von Knöpfen zurück und setzte sich wieder davor.
„Das ist alles. Du kannst jetzt in deine Unterkunft zurückkehren.“
Seine Finger begannen wieder, sich über die Knöpfe zu bewegen. Jim berührte Adok am Arm und transportierte sich in den Hauptraum seines Apartments zurück.
„Was hältst du davon?“ fragte er Adok.
„Was ich davon halte?“ fragte Adok langsam zurück.
„Ja“, sagte Jim. Er sah den Starkianer scharf an. „Meinst du nicht, daß das, was er da gesagt hat, zum Teil recht merkwürdig war?“
Adoks Gesicht blieb völlig ausdruckslos.
„Nichts, wobei es um den Kaiser geht, kann je merkwürdig sein“, sagte er. Seine Stimme klang seltsam abgeklärt. „Der Hochgeborene Vhotan hat dir die Anweisung erteilt, alle Fragen vollständig zu beantworten. Das ist alles. Mehr kann nicht dahinterstecken.“
„Ja“, sagte Jim. „Adok, du bist als mein Stellvertreter an mich ausgeliehen worden, aber du gehörst doch noch immer dem Kaiser, nicht wahr?“
„Das habe ich dir bereits gesagt, Jim“, sagte Adok mit der gleichen ausdruckslosen, abgeklärten Stimme. „Alle Starkianer gehören immer dem Kaiser, ganz gleich, was sie sind oder was sie tun.“
„Ich erinnere mich“, sagte Jim.
Er wandte sich ab, um hinauszugehen und die Starkianer-Gurte und Bänder abzulegen, die er getragen hatte. Er legte das weiße Gewand an, das alle männlichen Hochgeborenen trugen. Er hatte es sich für die Gelegenheit ausgesucht, trug aber keine Wappen oder sonstige Kennzeichen darauf.
Er hatte sich kaum angezogen, als Ro erschien. Sie erschien so kurz, nachdem er sich umgezogen hatte, daß er sich zum wiederholten Male fragte, ob er nicht doch stärker überwacht wurde - und zwar nicht nur von Ro, sondern auch von anderen -, als er dachte, aber jetzt hatte er keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
„Hier“, sagte sie etwas atemlos, „zieh das an.“
Er bemerkte, daß sie ihm etwas hinhielt, das wie ein schmales Band aus weißem Satin aussah. Als er zögerte, nahm sie seinen linken Arm und legte es um sein Handgelenk, ohne auf seine Zustimmung zu warten.
„Jetzt“, sagte sie, „berühre meines.“ Sie hob ihr eigenes linkes Handgelenk, an dem sie ein ähnliches Stück weißen Stoff trug, das an ihr haftete, als habe es ein Eigenleben. Es war das einzige stoffähnliche Material, das sie trug. Im übrigen war sie von den Schultern bis zu den Knöcheln mit dem gleichen halb durchsichtigen, wolkigen Material bekleidet, wie er es bei Afuan und den anderen hochgeborenen Frauen bei dem Stierkampf auf Alpha Centauri III gesehen hatte.
Sie nahm Jims Handgelenk und legte es mit seinem Band auf ihres.
„Was ist das?“ fragte Jim.
„Ach, das weißt du natürlich nicht“, sagte sie. „Bei einer Party, besonders bei so einer großen wie dieser hier, bewegen sich die Leute so viel umher, daß es unmöglich ist, jemanden im Auge zu behalten, um ihn bei Bedarf finden zu können. Wir beide haben aber jetzt unsere Sensoren einander angepaßt, und du brauchst dich nur auf mich zu konzentrieren, und sofort bist du da, wo ich mich in dem großen Versammlungsraum gerade aufhalte. Du wirst schon sehen.“ Sie lachte leicht. Zu seiner Überraschung hatte sie blanke Augen und war ziemlich aufgeregt. „Bei solchen Gelegenheiten wie der hier geht immer alles sehr durcheinander!“
Als sie sich ungefähr vierzig Minuten später zu dem großen Versammlungsraum aufmachten, sah Jim sofort, was sie gemeint hatte. Der große Versammlungsraum war ein Gebäude ohne Wände wie das Lernzentrum, dessen Dach auf Säulen ruhte, nur daß es größer war. Der tiefschwarze, polierte Boden, auf dem die weißen Säulen zu schweben schienen, hatte deutlich einen Umfang von einigen Quadratmeilen. Auf diesem Boden standen Gruppen von weiblichen und männlichen Hochgeborenen in ihren üblichen weißen Gewändern und unterhielten sich. Zwischen ihnen liefen Diener umher und boten auf Tabletts verschiedene Speisen und Getränke an.
Auf den ersten Blick machte das Fest bis auf die Größe und das Aussehen der Hochgeborenen einen recht normalen Eindruck. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Jim jedoch, daß nicht nur die Hochgeborenen selbst, sondern auch die Diener ständig überall auftauchten und wieder verschwanden. Einen Augenblick lang war die Größe und Bewegung in der Menge etwas verwirrend.
Dann tat er das, was er in Situationen bisher immer getan hatte, in denen eine geistige oder emotionelle Überlastung drohte: Er heftete das, was er momentan nicht bewältigen konnte, geistig ab und konzentrierte sich auf das, womit er fertig wurde.
„Adok“, sagte er und wandte sich dem Starkianer zu. „Ich möchte, daß du dich umsiehst. Versuche, einen bestimmten Diener für mich zu finden. Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber er wird sich insofern etwas von den anderen unterscheiden, als er erstens einen festen Standort hat, irgendwo in dem Raum hier - dieser Standort wird zweitens relativ isoliert sein, so daß jeweils nur ein einziger Diener in der Halle ihn sehen können wird. Er wird möglicherweise von einer ganzen Reihe von Dienern nacheinander beobachtet werden, aber nie von mehr als einem auf einmal, und dieser eine Diener, der ihn jeweils beobachtet, wird ihn nie aus dem Auge verlieren. Würdest du dich bitte sofort daranmachen?“
„Ja, Jim“, sagte Adok. Er verschwand.
„Warum hast du das von ihm verlangt?“ fragte Ro ihn verwirrt mit leiser Stimme und drängte sich eng an ihn.
„Das erzähle ich dir später“, sagte Jim.
An ihrem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, daß sie ihn trotz dieser Antwort gern noch mehr gefragt hätte. Sie hätte das vielleicht auch getan, aber in diesem Augenblick erschienen der Kaiser und Vhotan neben ihnen.
„Da ist er - mein Wolfling!“ sagte der Kaiser gutgelaunt. „Komm und sprich mit mir, Wolfling!“
Bei diesen Worten verschwand Ro sofort. Auch die anderen Hochgeborenen in der Nähe begannen sich zu entfernen, bis der Kaiser, Vhotan und Jim von einem offenen, leeren Kreis von ungefähr zwanzig Metern Durchmesser umgeben waren, in dem sie sich in normaler Lautstärke unterhalten konnten, ohne daß irgend jemand nahe genug war, um sie verstehen zu können. Der Kaiser richtete seinen Blick auf den älteren Hochgeborenen.
„Geh nur“, sagte er. „Einmal sollst du auch deinen Spaß haben. Ich brauche niemanden.“
Vhotan zögerte kurz und verschwand dann.
Der Kaiser wandte sich wieder Jim zu.
„Ich mag dich - wie heißt du, Wolfling?“ fragte er.
„Jim, Oran“, antwortete Jim.
„Ich mag dich, Jim.“ Der Kaiser neigte sich herab. Er mußte sich von seinen fast zwei Meter zwanzig ein wenig herabbücken, legte eine schmale Hand auf Jims Schulter und ließ einen Teil seines Gewichtes auf ihm ruhen, als sei er müde.
„Ist das eine wilde Welt, von der du kommst, Jim?“
„Bis vor ungefähr einem Jahrhundert“, sagte Jim, „sehr wild.“
Sie waren ungefähr sechs Schritte in einer Richtung gegangen. Der Kaiser drehte sich um, und sie gingen langsam wieder zurück. Während der gesamten Unterhaltung behielten sie diese Bewegung bei - sechs Schritte in einer Richtung, sechs Schritte zurück, hin und zurück.
„Willst du damit sagen, daß ihr eure Welt in fünfzig oder hundert Jahren gebändigt habt?“ fragte der Kaiser.
„Nein, Oran“, sagte Jim. „Wir hatten die Welt schon vorher gebändigt. Es ist uns nur vor fünfzig Jahren gelungen, uns selbst zu bändigen.“
Oran nickte. Sein Blick war nicht auf Jim, sondern beim Gehen ein wenig vor ihm auf den Boden gerichtet.
„Ja, das ist der menschliche Teil davon. Die Selbstzähmung ist immer am schwierigsten“, sagte er fast zu sich selbst. „Weißt du, mein Vetter Galyan würde euch ansehen und denken, was für wunderbare Diener ihr abgeben würdet. Und vielleicht hat er recht. Vielleicht hat er recht. aber.“ - sie drehten sich am Ende ihres kurzen Wegs wieder um, und einen Augenblick lang sah der Kaiser vom Boden auf und richtete mit einem freundlichen Lächeln seinen Blick auf Jim - „. ich glaube das nicht. Wir hatten schon zu viele Diener.“
Das Lächeln verschwand. Kurze Zeit gingen sie schweigend weiter.
„Habt ihr eure eigene Sprache?“ murmelte der Kaiser in Jims Ohr und sah dabei wieder auf den Boden. „Eure eigene Kunst, Musik, Geschichte und eure Legenden?“
„Ja, Oran“, sagte Jim.
„Dann verdient ihr ein besseres Schicksal, als Diener zu sein. Zumindest.“ - noch einmal lächelte der Kaiser Jim kurz freundlich zu und sah dann wieder vor sich auf den Boden -„. zumindest du verdienst Besseres, das weiß ich. Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn ich eines Tages tatsächlich meine Zustimmung für deine Adoption geben würde, so daß du zumindest technisch gesehen einer von uns wirst.“
Jim sagte nichts. Nach einer Sekunde, und nachdem sie eine weitere Wende vollzogen hatten, sah der Kaiser ihn von der Seite an.
„Hättest du das gern, Jim?“ fragte Oran.
„Ich weiß es noch nicht, Oran“, sagte Jim.
„Eine ehrliche Antwort“, murmelte der Kaiser. „Eine ehrliche Antwort. Man sagt, wie du vielleicht weißt, Jim, daß auf irgendeiner Wahrscheinlichkeitsebene alle Ereignisse früher oder später eintreten.“
„Auf einer Wahrscheinlichkeitsebene?“ fragte Jim. Der Kaiser aber sprach weiter, als habe er ihn nicht gehört.
„Irgendwo“, sagte der Kaiser, „muß es eine Wahrscheinlichkeitsebene geben, auf der du, Jim, der Kaiser bist und alle Einwohner deiner Welt Hochgeborene sind. Dann wäre ich der Wolfling, den man hierherführt, um vor dir und deinem Hof irgendeine barbarische Fertigkeit zu demonstrieren.“
Der Griff an Jims Schulter war fester geworden. Jim sah seitlich nach oben und bemerkte, daß die Augen des Kaisers nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel gerichtet waren, sondern ins Leere zu starren schienen. Er drängte Jim zwar noch immer mit seinem Griff an der Schulter vorwärts, aber inzwischen hatte es den Anschein, als sei er blind und ließe Jim für ihn den Weg finden. So folgte er nun Jim und führte ihn nicht mehr, wie er das zu Beginn ihrer Wanderungen getan hatte.
„Hast du schon einmal etwas von einer blauen Bestie gehört, Jim?“ murmelte er.
„Nein, Oran“, sagte Jim.
„Nein.“, murmelte der Kaiser. „Nein, ich auch nicht. Ich habe mir sogar alle Aufzeichnungen über alle Legenden auf allen Welten angesehen, und nirgends gab es eine blaue Bestie. Wenn es aber bisher noch nie so etwas wie eine blaue Bestie gegeben hat, warum sehe ich dann eine, Jim?“
Der Griff um Jims Schulter war inzwischen so fest wie ein Schraubstock geworden. Trotzdem war die Stimme des Kaisers noch ein sanftes Murmeln, fast träumerisch, als spräche er im Schlaf. Für die Hochgeborenen, die sie vom Rand des die beiden umgebenden Kreises aus beobachteten, mußte es aussehen, als führten sie eine völlig vernünftige, wenn auch leise Unterhaltung.
„Ich weiß es nicht, Oran“, antwortete Jim.
„Ich auch nicht, Jim“, sagte der Kaiser. „Das macht es ja so merkwürdig. Ich habe sie jetzt dreimal gesehen, und immer stand sie vor mir in einer Tür, als wollte sie mir den Weg versperren. Weißt du, Jim. manchmal bin ich ganz genau wie alle anderen Hochgeborenen, aber es gibt auch Situationen, in denen ich plötzlich einen völlig klaren Kopf bekomme. und dann sehe ich Dinge und verstehe sie, weit besser als irgend jemand von denen, die mich umgeben. Das ist der Grund, warum ich weiß, daß du anders bist. Als ich dich nach diesem Stierkampf zum ersten Mal gesehen habe, habe ich dich angesehen. und plötzlich hatte es den Anschein, als sähe ich dich durch ein umgekehrtes Fernglas - sehr klein, aber sehr scharf. Und ich habe sehr viele kleine, sehr scharfe Details erkannt, die keiner von den anderen bemerkt hat. Du kannst Hochgeborener werden oder es bleibenlassen, Jim. Ganz wie du willst. Das ändert nämlich nichts. Das habe ich bei dir erkannt. Es ändert nichts.“
Die Stimme des Kaisers verstummte, aber er drängte Jim immer weiter vorwärts und ging blind neben ihm her.
„So sieht es aus bei mir, Jim.“, fing er nach einem Moment wieder an. „Manchmal sehe ich Dinge sehr klein und sehr deutlich. Dann wird es mir klar, daß ich die anderen Hochgeborenen einen Schritt hinter mir gelassen habe. Und es ist merkwürdig - ich bin das, wofür wir seit Generationen gearbeitet haben, dieser eine Schritt weiter. Für diesen einen Schritt sind wir aber nicht gebaut, Jim. Verstehst du mich?“
„Ich denke schon, Oran“, sagte Jim.
„Bei anderen Gelegenheiten aber.“, sprach der Kaiser weiter. Jim wußte nicht zu sagen, ob Oran seine Antwort registriert hatte oder nicht. „. bei anderen Gelegenheiten aber fangen die Dinge bloß an, scharf und deutlich zu werden - und wenn ich versuche, genauer hinzusehen, werden sie ganz verschwommen, unklar und groß, und dann verliere ich die Fähigkeit, innerlich so genau und scharf sehen zu können. Dann träume ich eine Zeitlang schlecht -und diese Träume kommen, ganz gleich, ob ich schlafe oder wach bin. In solchen Träumen habe ich die blaue Bestie gesehen, jetzt schon dreimal.“
Die Stimme des Kaisers verlor sich wieder, und Jim dachte, sie seien bloß bei einer weiteren kurzen Pause in der Unterhaltung angelangt, aber die Hand des Kaisers senkte sich abrupt von seiner Schulter.
Jim blieb stehen und sah sich um. Er fand Oran vor sich, der ihm mit klaren Augen freundlich zulächelte.
„Na ja, ich will dich jetzt nicht aufhalten, Jim“, sagte Oran in völlig normalem Konversationston. „Das ist wohl deine erste Party - und du bist schließlich praktisch der Ehrengast. Warum gehst du nicht ein wenig umher und unterhältst dich? Ich muß Vhotan finden. Er macht sich um mich zu viele Gedanken, wenn ich nicht bei ihm bin.“
Der Kaiser verschwand. Jim blieb bewegungslos stehen, und langsam begann sich der Kreis um ihn zu füllen, als die Umstehenden langsam näher kamen und Neuankömmlinge erschienen. Er sah sich nach Ro um, konnte sie aber nicht finden.
„Adok“, sagte er mit leiser Stimme.
Der Starkianer erschien neben ihm.
„Verzeih mir, Jim“, sagte Adok. „Ich wußte nicht, daß dein Gespräch mit dem Kaiser beendet ist. Ich habe den Diener gefunden, den ich suchen sollte.“
„Bring mich an eine Stelle, von der aus ich ihn, aber er nicht mich sehen kann“, sagte Jim.
Abrupt standen sie auf einem engen, schattigen Platz zwischen zwei Säulen, von dem aus sie Sicht auf eine andere Stelle hatten, wo eine Säulengruppe einen kleinen offenen Bereich einschloß, in dem eine Anzahl von Tabletts sauber übereinandergestapelt mit Speisen und Getränken beladen in der Luft hingen. Zwischen diesen Tabletts stand ein Diener, einer der kleinen braunen Männer mit den langen Haaren. Jim und Adok standen hinter ihm. Wenn sie an ihm vorbeisahen, konnten sie einen anderen Diener erkennen, der mit einem Tablett voll Speisen umherging.
„Gut“, sagte Jim.
„Adok“, sagte er leise, „Ich werde versuchen, ständig in Sichtweite des Kaisers zu bleiben. Ich möchte, daß du in meiner Sichtweite, aber nicht direkt bei mir bleibst. Behalte mich im Auge, und wenn ich verschwinde, dann gehst du zu Vhotan, der dann sicherlich beim Kaiser ist, und sagst ihm, daß ich ihn gern als Zeuge für etwas hätte. Dann bringst du ihn zu der Stelle, wo der Diener steht. Hast du verstanden?“
„Ja, Jim“, sagte Adok emotionslos.
„Und jetzt“, sagte Jim. „Wie finde ich den Kaiser?“
„Ich kann dich zu ihm hinbringen“, sagte Adok. „Alle Starkianer können immer und überall den Kaiser finden. Das ist für den Fall vorgesehen, daß einer von uns gebraucht werden sollte.“
Plötzlich standen sie an einer anderen Stelle in dem großen Versammlungsraum. Jim sah sich um und bemerkte den Kaiser, der in ungefähr vier Meter Entfernung von ihm stand -dieses Mal ohne den Kreis der Vertraulichkeit um ihn herum. Er unterhielt sich lachend mit einigen anderen Hochgeborenen. Vhotan stand mit finster zusammengezogenen gelblichen Brauen am Ellbogen des jüngeren Mannes.
Jim sah sich wieder um und entdeckte Adok, der aus einer Entfernung von vielleicht sieben Metern zu ihm herübersah. Jim nickte und begann in eine Richtung davonzugehen, die ihn zwar immer durch die Menge führte, aber zur gleichen Zeit in unveränderter Entfernung vom Kaiser halten würde.
Zweimal veränderte der Kaiser plötzlich seine Position, und zweimal fand sich Jim von Adok in die neue Position in Sichtweite des Kaisers transportiert. Während dieser ganzen Zeit kümmerte sich überraschenderweise keiner der Hochgeborenen um Jim herum sonderlich um ihn. Sie schienen nicht besonders erpicht darauf zu sein, den Wolfling zu sehen, zu dessen Ehre die Party veranstaltet wurde, und wenn ihre Augen zufällig auf ihm zu ruhen kamen, hielten sie ihn offensichtlich für einen von den Dienern.
Die Zeit zog sich in die Länge. Fast eine Stunde war vergangen, und Jim begann bereits, seine vorherige Sicherheit zu bezweifeln, als er plötzlich das bemerkte, worauf er gewartet hatte.
Auf den ersten Blick sah es nicht nach viel aus. Der Kaiser hatte sich halb von Jim abgewendet, und nur eine plötzliche Spannung in seinem langen Körper verriet seinen veränderten Zustand. Er war etwas unbeweglich und steif geworden.
Hastig ging Jim zwei Schritte nach links, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Oran starrte durch den anderen Hochgeborenen, mit dem er sich unterhalten hatte, hindurch und an ihm vorbei. Sein Blick war starr, sein Lächeln eingefroren, und wie bei dem Stierkampf stand in einem der Mundwinkel etwas Feuchtigkeit, die in der Sonne blitzte.
Keiner der Umstehenden schien von seinem Zustand das geringste zu bemerken, aber Jim verschwendete keine Zeit darauf, sie zu beobachten. Er drehte sich statt dessen um und schaute sich nach Dienern um. Er hatte kaum eine halbe Umdrehung vollzogen, als er den ersten Mann bemerkte. Es war ein dünner, schwarzhaariger Angehöriger der niederen Rasse, der ein Silbertablett mit kleinen Plätzchen trug.
Der Mann bewegte sich nicht. Er stand unbeweglich, in seiner Stellung so eingefroren wie der Kaiser.
Jim drehte sich hastig ganz um. Er sah drei weitere Diener, die still und unbeweglich wie Statuen dastanden. Unter Jims Blick begannen die anderen umstehenden Hochgeborenen ebenfalls diesen seltsamen Mangel von Aktivität in ihrer Mitte zu bemerken. Jim jedoch wartete die Entwicklung ihrer Reaktion darauf nicht ab. Er transportierte sich sofort in den schattigen Bereich hinter dem Diener mit den Tabletts - an die Stelle, wo er vorher mit Adok gestanden hatte.
Der Mann mit den Tabletts befand sich noch an der gleichen Stelle und sah sich um. Er aber war nicht eingefroren - so wenig wie der Diener ungefähr sechs Meter hinter ihm, der von Hochgeborenen umringt war.
Jim bückte sich tief herab und rannte schnell und lautlos hinter die Tabletts, bis er zu dem sich umsehenden Diener kam. Er packte den Mann sofort mit beiden Händen. Eine Hand setzte er in sein Genick direkt unter den Schädelansatz, und die andere so von hinten unter seine Achselhöhle, daß sein Daumen auf einem Druckpunkt etwas links vom Schulterblatt ruhte.
„Eine Bewegung“, flüsterte Jim schnell, „und ich breche dir das Genick.“
Der Mann verkrampfte sich, gab aber keinen Laut von sich und rührte sich nicht.
„Jetzt“, flüsterte Jim weiter, „machst du genau das, was ich dir sage.“
Er unterbrach sich und sah sich um. Dort, im Schatten, erkannte er Adoks gedrungene Gestalt und neben ihm einen ihn weit überragenden Mann, einen Hochgeborenen, der Vhotan sein mußte. Jim drehte sich wieder zu dem Diener um.
„Lege zwei Finger deiner rechten Hand auf deinen linken Oberarm“, flüsterte Jim dem Mann zu.
Der andere bewegte sich nicht. Jim, der noch immer gebückt hinter dem Körper des Dieners versteckt kauerte, drückte seinen Daumen gegen den Druckpunkt.
Einen langen Augenblick lang leistete der Mann Widerstand. Dann hob er langsam und ruckartig wie ein Roboter seinen rechten Arm hoch und legte zwei zu einem V gespreizte Finger über seinen linken Oberarm.
Die bewegungslosen Diener draußen begannen plötzlich, sich zu bewegen, als sei nichts geschehen. Eine kleine Gruppe von interessierten und verwirrten Hochgeborenen folgte ihnen. Jim legte schnell eine Hand über den Mund des Mannes, den er festhielt, und zerrte und hob ihn halb zurück in den Schatten.
Vhotan und Adok traten nach vorne und sahen auf den Mann herab.
„Also.“, begann Vhotan grimmig, aber in diesem Augenblick gab der Diener ein seltsames, leises Geräusch von sich und sank in Jims Griff schwer in sich zusammen.
„Ja“, sagte Vhotan, als sei es eine ausgesprochene Antwort von Jim gewesen, als er den Mann hinlegte, „wer immer das auch geplant hat, wollte sicherlich das Risiko nicht eingehen, ihn am Leben zu lassen, damit er von uns befragt werden kann. Sicher ist auch die Gehirnstruktur zerstört worden.“
Er hob die Augen und sah über die Leiche hinweg zu Jim hinüber. Sein Hochgeborenen-Gehirn hatte deutlich schon viel von dem erkannt, was Jim ihm hier vorführen wollte, aber Vhotans Augen behielten trotzdem einen Teil ihrer Kühle.
„Weißt du, wer dahintersteckt?“ fragte er Jim.
Jim schüttelte den Kopf.
„Aber du hast das ja deutlich erwartet“, sagte Vhotan. „Du warst dir sicher genug, um deinen Starkianer anzuweisen, mich hierherzubringen. Warum mich?“
Jim sah ihn ruhig an.
„Weil ich zu dem Entschluß gekommen bin, daß Sie der einzige von den Hochgeborenen sind, der es vor sich selbst bewußt zugeben mußte, daß der Geist des Kaisers nicht ganz so ist, wie er sein sollte - oder vielleicht“, sagte Jim, dem eine Sekunde lang das Gespräch einfiel, das er mit dem Kaiser geführt hatte, während sie auf dem polierten Boden auf und ab gegangen waren, „ist sein Geist etwas zu viel von dem, was er sein müßte.“
Ein leises Klicken schien aus Vhotans Kehle zu kommen. Es dauerte einige Sekunden lang, bis er etwas sagte - und als er zu sprechen begann, ging es um ein anderes Thema.
„Wie hast du das herausbekommen - was die Diener hier geplant haben?“ fragte Vhotan.
„In dem Sinne herausgefunden, daß ich absolut sicher war, daß es passieren würde, habe ich es nicht“, sagte Jim. „Ich habe mir aber die stumme Untergrund-Sprache der Diener selbst beigebracht, und ich habe erfahren, daß etwas im Busch ist. Zusammen mit der Party und der bekannten Krankheit des Kaisers hat mir das eine Vorstellung davon gegeben, wonach ich zu suchen hatte. Als ich also herkam, habe ich Adok danach suchen lassen. Und als er es gefunden hatte, habe ich gehandelt, wie Sie es gerade gesehen haben.“
Vhotan hatte sich bei der Erwähnung der Worte Kaiser und Krankheit wieder verkrampft. Als Jim aber zu Ende redete, entspannte er sich und nickte.
„Das hast du gut gemacht, Wolfling“, sagte er - und die Worte waren deutlich genug, auch wenn sie in barschem Ton gesagt worden waren. „Von jetzt an nehme ich die Sache in die Hand, aber wir sollten dich vielleicht eine Zeitlang von der Thronwelt entfernen, Sponsorenschaft für die Adoption hin oder her.“
Er stand da und dachte eine Sekunde lang nach.
„Ich denke, der Kaiser wird dich befördern“, sagte er schließlich. „Zu einem Dienstgrad, der deinem Hochgeborenenstatus als potentiellem Adoptivling mit Sponsor angemessener ist. Er wird dich zu einem Kommandeur von zehn Starkianer-Einheiten befördern und zu einem Polizeieinsatz auf einer der Kolonie-Welten abkommandieren.“
Er wandte sich von Jim, Adok und dem toten Diener ab, als wolle er verschwinden. Doch dann änderte er offensichtlich seine Meinung, drehte sich schnell um und sah Jim wieder an.
„Wie heißt du?“ fragte er scharf.
„Jim“, antwortete Jim.
„Jim. Also, du hast deine Sache gut gemacht, Jim“, sagte Vhotan grimmig. „Der Kaiser weiß das zu schätzen. Und. ich auch.“
Mit diesen Worten verschwand er.
Kapitel 8
Der Planet Athiya, auf den Jim mit seinen zehn Starkianer-Einheiten, Adok und Ham II - der der eigentliche Kommandeur der zehn Einheiten war, jetzt aber als Jims Adjutant eingesetzt wurde - geschickt worden war, war einer der vielen Planeten, die von den kleinen, braunen Männern mit den langen, gerade nach hinten herabhängenden Haaren bevölkert war. Der Gouverneur, ein kleiner, rundlicher Mann, vermied jegliche Erwähnung des Aufstands, zu dessen Unterdrückung er bei den Hochgeborenen die Hilfe der Starkianer angefordert hatte. Er bestand auf einer langen und formellen Begrüßungszeremonie, während der er jeglichen Bezug zum Aufstand vermied und Fragen, die Jim ihm darüber stellte, aus dem Weg ging.
Die Erklärungen konnten jedoch nicht ewig hinausgeschoben werden. Schließlich trafen sich Jim, Adok, Ham II und der Gouverneur in den privaten Diensträumen des Gouverneurs, die in der Hauptstadt von Athiya lagen. Die Bemühungen des Gouverneurs, sich damit zu beschäftigen, für sie Kissen und Erfrischungen zu besorgen, wurden von Jim unterbrochen.
„Das ist jetzt gleich“, sagte Jim. „Wir wollen jetzt nichts essen oder trinken. Wir wollen uns über diesen Aufstand informieren - wo sein Zentrum ist, wie viele Leute daran beteiligt sind und über welche Waffen sie verfügen.“
Der Gouverneur sank auf einem der Polster zusammen und brach abrupt in Tränen aus.
Einen Augenblick war Jim völlig verblüfft. Dann aber beruhigte ihn das Wissen, das er sich nicht so sehr auf der Thronwelt, sondern im Verlauf seiner anthropologischen Studien auf der Erde angeeignet hatte und das ihm den Schluß erlaubte, daß der Gouverneur einer Kultur angehörte, in der es nicht ungewöhnlich war, wenn Männer weinten - sogar so öffentlich und lautstark, wie das der Gouverneur gerade tat.
Jim wartete daher, bis der Gouverneur mit seinem ersten Gefühlsausbruch fertig geworden war. Dann stellte er seine Frage noch einmal.
Der Gouverneur wischte sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht und versuchte dann zu antworten. „Ich hätte nie gedacht, sie würden mir nicht einen Hochgeborenen als Kommandeur der Starkianer schicken!“ sagte er mit erstickter Stimme zu Jim. „Ich wollte mich seiner Gnade anvertrauen, aber du bist kein Hochgeborener.“
Seine Erklärungen drohten wieder in Tränen zu ersticken. Jim sprach ihn mit scharfer Stimme an, um ihn daraus herauszureißen.
„Aufstehen!“ fuhr Jim ihn an. Reflexartig gehorchte der Gouverneur. „Ich darf Ihnen vielleicht mitteilen, daß ich einen Sponsor für die Adoption in die Hochgeborenenschaft habe, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Der Kaiser hat Ihnen genau das geschickt, was in dieser Situation notwendig ist.“
„Aber das stimmt doch nicht!“ brach es mit erstickter Stimme aus dem Gouverneur heraus. „Ich. ich habe gelogen. Das ist nicht einfach ein Aufstand. Das ist eine Revolution! Alle anderen Familien auf dem Planeten haben sich miteinander verbündet - selbst mein Vetter Cluth ist daran beteiligt. Er steht sogar an der Spitze. Sie alle haben sich zusammengetan, um mich umzubringen und hier Cluth an meine Stelle zu setzen!“
„Wie war das?“ fragte Jim. Es war ihm klar, daß alle Kolonie-Welten Miniaturhöfe hatten, die dem auf der Thronwelt nachgebildet waren. Diese Höfe bestanden aus den vornehmen Familien der Kolonie und wurden von der Familie und der Person des Gouverneurs angeführt, der im Grund ein kleiner lokaler Kaiser war.
„Warum haben Sie es soweit kommen lassen?“ warf Ham II ein. „Warum haben Sie nicht schon vorher Ihre Kolonialtruppen eingesetzt, um die Sache niederzuschlagen?“
„Ich. ich.“ Der Gouverneur rang die Hände. Er war offensichtlich nicht in der Lage zu sprechen.
Jim beobachtet ihn und hatte keinerlei Zweifel an dem bisherigen Ablauf. Seine Studien im Verlauf der letzten Wochen, sowohl in dem unterirdischen Bereich als auch vor dem Lernzentrumschirm in Ros Apartment, hatten ihm, nachdem er es sich erst einmal selbst beigebracht hatte, mit der Geschwindigkeit der Hochgeborenen zu lesen, einen recht guten Einblick nicht nur in die Gesellschaft der Thronwelt, sondern auch in die der Kolonie-Welten gewährt. Der Gouverneur hatte sich das Heft deshalb so weit aus der Hand nehmen lassen, weil er sich noch bis vor kurzer Zeit dessen sicher gewesen war, daß es ihm gelingen würde, mit den aufrührerischen Elementen auf seiner Welt zu einer Einigung zu kommen. Er hatte die Opposition offensichtlich unterschätzt.
Als er dann die Sache erst einmal nicht mehr im Griff gehabt hatte, war er zu feige gewesen, das der Thronwelt gegenüber zuzugeben, und hatte daher weit weniger Starkianer-Truppen angefordert, als zur Bereinigung der Situation notwendig gewesen wären. Er hatte es sich wahrscheinlich so vorgestellt, daß er die Ankunft der Starkianer als Drohung benutzen und so doch noch zu einer Einigung mit den Rebellen kommen konnte.
Diese Einsicht half ihnen jedoch jetzt nicht weiter. Die Thronwelt war verpflichtet, die Gouverneure zu unterstützen, weil sie sie mit der Wahrung ihrer Interessen beauftragt und mit den dazu notwendigen Machtbefugnissen ausgestattet hatte.
„Sir“, sagte Ham II und berührte Jim am Ellbogen. Er winkte Jim zu, und die beiden gingen zum anderen Ende des Raums, wo sie sich unterhalten konnten, ohne belauscht zu werden. Adok ließ den Gouverneur stehen und ging hinter ihnen her. Er stand einsam in der Mitte des Raums, eine kleine braune Gestalt, von Polstern und schwebenden Bedienungspulten umringt.
„Sir“, sagte Adok mit leiser Stimme, als sie am anderen Ende des Raums angekommen waren, „ich empfehle dringend, daß wir hier bleiben und von der Thronwelt zusätzliche Starkianer anfordern. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was der Mann sagt, haben seine Gegner bereits den größten Teil der bewaffneten Kolonialstreitmächte unter ihrer Kontrolle. Zehn Starkianer-Einheiten erreichen viel, aber man kann nicht erwarten, daß sie ganze Armeen besiegen. Ich sehe keinen Grund dafür, daß wir Männer verlieren, weil er einen Fehler gemacht hat.“
„Nein“, sagte Jim. „Natürlich nicht. Auf der anderen Seite möchte ich mir die Sache gern selbst noch etwas näher ansehen. Wir müssen selbst herausbekommen, womit wir zu rechnen haben, bevor wir nach Hilfe schreien. Bisher haben wir nur den Bericht des Gouverneurs. Es ist durchaus möglich, daß alles ganz anders aussieht, als er glaubt, selbst wenn alles stimmt, was er befürchtet.“
„Sir“, sagte Ham II, „ich muß Ihnen widersprechen. Jeder Starkianer ist durch seine Ausrüstung und Ausbildung sehr kostspielig. Sie sollten nicht für sinnlose Experimente aufs Spiel gesetzt werden - ich muß Ihnen als ihr ehemaliger Kommandeur sagen, daß es ihnen gegenüber nicht fair ist, sie so in Gefahr zu bringen.“
„Sir“, sagte Adok - seit sie die Thronwelt verlassen hatten, hatte auch Adok Jim mit militärischer Ehrerbietung angeredet -, „der stellvertretende Kommandeur hat recht.“
Jim sah die beiden Starkianer nacheinander an. Sie erinnerten ihn unauffällig an die Tatsache, daß Jim zwar nominell bei dieser Expedition das Kommando über sie hatte, Ham aber der einzige in dem Raum war, der echte Erfahrungen als Kommandeur über zehn Starkianer-Einheiten hatte.
„Ich verstehe Ihre Einwände, Adjutant“, sagte Jim nun langsam zu Ham II. „Ich möchte mir die Situation aber trotzdem ansehen.“
„Jawohl, Sir“, sagte Ham II. Er zeigte nicht die geringste Spur von Emotion darüber, daß seine Argumente keine Berücksichtigung fanden. Jim konnte nicht sagen, wieviel davon die normale Selbstkontrolle der Starkianer und wieviel es Hams eigene Entscheidung war, sich mit der Situation abzufinden. Er drehte sich aber nun um und ging vor den beiden Starkianern her durch das Zimmer zu dem Gouverneur zurück, der hoffnungslos aufsah, als sie zu ihm kamen.
„Da gibt es eine Menge Dinge, die ich gern wissen möchte“, sagte Jim. „Aber zunächst einmal können Sie mir sagen, welche Mittel Ihr Vetter - oder wer auch sonst der Anführer dieses Aufstands sein mag - eingesetzt hat, um die anderen dazu zu bringen, sich ihm anzuschließen.“
Der Gouverneur fing wieder an, seine Hände zu ringen und ein weinerliches Gesicht zu machen, überlegte es sich aber dann anders, als er Jims Blick bemerkte.
„Ich weiß es nicht. ich weiß es nicht!“ sagte er. „Da hat es Gerüchte über Unterstützung gegeben, die sie von außen bekommen. Unterstützung.“ Seine Stimme erstarb ängstlich.
„Weiter“, sagte Jim. „Sprechen Sie das nur zu Ende, was Sie sagen wollten.“ „Unterstützung. von jemandem von der Thronwelt“, sagte der Gouverneur voller Angst in der Stimme.
„Unterstützung von einem Hochgeborenen?“ fragte Jim unverblümt.
„So direkt haben sie das nicht gesagt, soweit ich weiß!“ antwortete der Gouverneur hastig und wurde blaß. „Ich persönlich habe das nie direkt gehört!“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken“, sagte Jim. „Also, hören Sie jetzt genau zu. Ihr Vetter und seine Verbündeten haben zweifellos bewaffnete Verbände auf ihrer Seite. Wo halten sie sich auf, und wie stark sind sie?“
Nachdem es nun nicht mehr um Hochgeborene, sondern um seine eigenen Leute ging, erholte sich der Gouverneur rasch wieder. Seine runden, kleinen Schultern zuckten, und seine Stimme wurde tiefer, während er sich umdrehte und durch die Wände seines Amtsraums zeigte.
„Nördlich von hier.“ Er nannte eine Entfernung in ReichsEinheiten, die einer Entfernung von knapp unter sechzig Meilen entsprach. „Sie lagern in einer Ebene, die von einem Ring von Hügeln umgeben ist. Auf diesen Hügeln haben sie Posten aufgestellt, die von den besten Leuten in unserer Kolonialarmee besetzt sind.“
„Wieviel von dieser Armee haben die anderen auf ihrer Seite?“
„Drei. drei.“, stotterte der Gouverneur mit neuer Angst. „Vielleicht drei Viertel davon.“
„Wahrscheinlich eher achtundneunzig Prozent davon“, unterbrach Ham II und sah den Gouverneur an. „Wenn er schon drei Viertel schätzt.“
„Warum haben sie bisher noch nicht die Hauptstadt besetzt?“ fragte Jim.
„Ich. ich habe ihnen gesagt, daß Sie. du kommst“, sagte der Gouverneur verzweifelt. „Ehrlich gesagt. ich habe ihnen angeboten, dich wegzuschicken, wenn sie sich zu Verhandlungen bereiterklären.“
„Hier verhandelt nur einer“, sagte Ham II zu dem kleinen Mann, „und das ist er.“ Er deutete auf Jim. „Wieviel Mann sind achtundneunzig Prozent der kolonialen Streitmacht?“
„Drei Divisionen“, stammelte der Gouverneur. „Ungefähr vierzigtausend bewaffnete und ausgebildete Männer.“
„Sechzig- bis siebzigtausend“, verbesserte Ham II und sah Jim an.
Jim nickte.
„Also gut“, sagte er. Er sah durch ein langgestrecktes, niedriges Fenster auf der einen Seite des Raums hinaus. „Hier geht bald die Sonne unter. Gibt es hier einen Mond?“ fragte er und wandte sich dem Gouverneur zu.
„Zwei sogar.“, fing der Gouverneur an, aber Jim unterbrach ihn.
„Einer wäre auch schon genug, wenn sein Licht für uns hell genug ist“, sagte er. Er drehte sich Ham und Adok zu. „Sobald es dunkel ist, gehen wir hinauf und sehen uns dieses Lager an, das sie aufgeschlagen haben.“
Er sah wieder zu dem Gouverneur, der heftig mit dem Kopf nickte und lächelte.
„Und Sie nehmen wir mit“, sagte Jim.
Der freudige Gesichtsausdruck verschwand so plötzlich wie bei einer Karikatur, der der Zeichner das Lächeln herausradierte. Vier Stunden später, als der erste der beiden Monde sich gerade als rötliche Scheibe über den niedrigen Hügeln in der Nähe der Hauptstadt erhob, starteten sie in einem kleinen, rundum gepanzerten Späh-Gleiter in die Dunkelheit des Nachthimmels direkt unter dem schwarzen Bauch einer tiefhängenden Wolke. Jim, Ham und Adok saßen vorne und der Gouverneur auf dem Rücksitz. Sie glitten nach Norden und flogen lautlos in die Richtung, die der Gouverneur ihnen angab. Ungefähr fünfzehn Minuten später senkten sie sich in Bodennähe herab und näherten sich dem Hügelring um die Ebene, die ihr Ziel war. Sie flogen so niedrig, daß die Unterseite des Gleiters die Spitzen der einen Meter hohen Grashalme berührte und sie wie im Slalom Gruppen von ulmenartigen Bäumen ausweichen mußten.
Als der Boden begann, sich zu der Hügelkette selbst zu heben, versteckten sie den Spähgleiter in einer Gruppe von Büschen und jungen Bäumen und gingen zu Fuß weiter. Die beiden Starkianer gingen mit einem Zwischenraum von ungefähr fünf Metern vor. Sie bewegten sich mit einer verblüffenden Lautlosigkeit, die Jim nur wegen seiner Erfahrungen bei der Jagd auf der Erde erreichen konnte. Die größte Überraschung aber war der kleine Gouverneur. Es stellte sich heraus, daß es ihm völlig vertraut schien, sich lautlos durch den ständigen Wechsel von Mondlicht und tiefem Schatten zu schleichen. Als Jim sich sicher war, daß der kleine Mann mit ihnen mithalten konnte und keinen Lärm machte, sonderte er sich von ihm ab, bis er in der gleichen Entfernung wie zwischen Adok und Ham neben ihm herging.
Sie hatten den Gipfel des Hügels fast erreicht, der ihnen endlich einen Blick auf die dahinter liegende Ebene gestatten würde, als die beiden Starkianer sich plötzlich flach in das Gras fallen ließen und verschwanden. Jim und der Gouverneur folgten sofort ihrem Beispiel.
Einige Minuten verstrichen. Dann tauchte Adok unvermittelt direkt vor Jim aus dem Gras auf.
„Alles klar, Sir. Es geht weiter. Den Rest des Weges können Sie aufrecht gehen“, sagte er. „Der Posten hat geschlafen.“
Jim und der Gouverneur standen auf und gingen hinter den Starkianern her den Hang hinauf bis zu einer kleinen Lichtung von ungefähr vier Meter Durchmesser, die mit einem silbern aussehenden Maschendraht von ungefähr dreißig Zentimeter Höhe eingezäunt war. In der Mitte der Lichtung stand ein Gerät, das wie ein Sonnenschirm ohne Stoff aussah. Der Wachtposten, von dem Adok gesprochen hatte, war nirgends zu sehen.
„Da liegt das Lager“, sagte Adok und deutete über den hinteren Teil des Zauns auf eine weitere Steigung. „Es ist alles in Ordnung. Innerhalb des Zauns können Sie laut sprechen, Sir. Man kann uns jetzt nicht mehr sehen oder hören.“
Jim ging zu Ham hinüber, stellte sich neben ihn und schaute herab. Was er sah, ähnelte nicht so sehr einem militärischen Lager, sondern sah eher wie eine kleine Stadt oder ein Dorf aus kuppelartigen Gebäuden aus, das durch Straßen in regelmäßige Segmente aufgeteilt war.
„Kommen Sie hierher“, sagte er und sah zu dem Gouverneur zurück. Der Gouverneur trat gehorsam zu dem Maschendraht vor. „Sehen Sie sich das an. Sagen Sie mir, ob Ihnen an dem Lager da unten etwas als ungewöhnlich auffällt.“
Der Gouverneur sah hinab und schüttelte schließlich den Kopf.
„Sir“, sagte Ham, „das Lager ist nach einem der gängigen militärischen Muster angelegt. Jedes Segment hat verschiedene Gruppen oder Einheiten, und jede Einheit stellt Wachen, so daß das gesamte Lager von ihnen umringt ist.“
„Nur mit dem Unterschied, daß sie ein Versammlungsgebäude aufgestellt haben!“ sagte der Gouverneur voller Selbstmitleid. „Das haben sie einfach getan! Als sei ich schon abgesetzt - oder sogar tot!“ Er schluchzte.
„Was macht Sie mißtrauisch, Sir?“ fragte Ham. Adok war direkt hinter sie getreten. Jim konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte Jim. „Adjutant, welche Waffen haben unsere Starkianer, die diese Kolonialsoldaten vielleicht nicht haben?“
„Unsere individuellen Schutzschirme sind weit besser“, antwortete Ham. „Darüber hinaus ist jeder einzelne von unseren Männern einer ihrer schweren Kompanien ebenbürtig.“
„Das heißt also, daß unsere Waffen im Grund die gleichen sind, nur besser?“ sagte Jim. „Ist das richtig?“
„Sir“, sagte Ham, „die stärkste Waffe der Starkianer ist der ausgebildete einzelne Starkianer selbst. Er.“
„Ja, das weiß ich“, unterbrach Jim ihn ein wenig scharf. „Wie steht es mit.“ - er suchte sein Gehirn nach Übersetzungen der Ausdrücke von der Erde in die Sprache des Reichs ab - „. wie steht es mit schweren stationären Waffen? Ungewöhnlich starke Sprengkörper - Waffen aus dem Bereich der Kernspaltung oder -fusion?“
„Den Kolonien wird der Zugang zu Technologien nicht gestattet, die zur Herstellung von schweren stationären Waffen notwendig sind“, sagte Ham. „Es ist möglich, daß sie heimlich einen Atomsprengkörper gebaut haben - aber unwahrscheinlich. Und was Antimaterie-Waffen anbetrifft -das ist völlig unmöglich.“
„Augenblick mal“, unterbrach Jim. „Haben die Starkianer auf der Thronwelt Zugang zu solchen Waffen? Zu. wie war das doch gleich? Antimaterie-Waffen?“
„Natürlich. Es ist aber seit Tausenden von Jahren nicht mehr nötig gewesen, sie einzusetzen“, sagte Ham. „Wissen Sie, was eine Antimaterie-Waffe ist, Sir?“
„Ich weiß nur so viel“, sagte Jim grimmig. „Wenn ein klein wenig Antimaterie mit einem kleinen Stück Materie in Berührung kommt, wird sehr viel Zerstörung ausgelöst.“
Er stand einen Augenblick lang wortlos da und sagte dann abrupt: „Na, Adjutant, Sie haben ja jetzt gesehen, wie die Dinge hier aussehen. Wollen Sie immer noch Hilfe von der Thronwelt anfordern?“
„Nein, Sir“, antwortete Ham prompt. „Wenn der Posten, den wir überrascht haben, auch nur im geringsten repräsentativ ist, steht es um die Armee hier unglaublich schlecht. Das Lager haben sie außerdem mehr unter Berücksichtigung ihrer eigenen Bequemlichkeit als ihrer Kampffähigkeit angelegt. Das allgemeine Muster stimmt wohl, aber es gibt, soweit ich das sehen kann, weder Patrouillen auf den Straßen noch an der Lagergrenze und - was mich am meisten verblüfft - keinerlei Vorwarnsysteme gegen Luftangriffe. Die Leute da unten tun nur so, als seien sie eine Armee.“
Ham hörte auf zu sprechen, als wolle er Jim die Möglichkeit für einen Kommentar geben.
„Sprechen Sie weiter, Adjutant“, sagte Jim.
„Sir“, führte Ham weiter aus, „unter Berücksichtigung von dem, was ich Ihnen gerade gesagt habe, und der Tatsache, daß alle ihre Anführer in einem Gebäude konzentriert sind, wie wir eben entdeckt haben, ist die militärische Lösung dieser Situation extrem leicht. Ich schlage vor, wir schicken Adok sofort zurück, damit er die übrigen Männer herholt. Sobald sie hier sind, führen wir einen Sturmangriff auf dieses eine Gebäude durch, und zwar direkt von oben, um ihre Verteidigungsanlagen am Lagerrand nicht auszulösen. Dabei nehmen wir die Anführer entweder gefangen, oder sie kommen um. Wenn wir sie gefangennehmen, bringen wir sie in die Hauptstadt zurück und machen ihnen den Prozeß.“
„Und was ist“, fragte Jim, „wenn das Gerücht, das der Gouverneur gehört hat, zutrifft - daß diese Rebellen Freunde unter den Hochgeborenen auf der Thronwelt haben?“
„Sir?“ sagte Ham. Soweit das einem Starkianer möglich war, hörte er sich verwirrt an. „Es ist für einen Hochgeborenen selbstverständlich völlig ausgeschlossen, mit Kolonialrevoluzzern wie denen da unten gemeinsame Sache zu machen. Aber selbst wenn wir annehmen, daß sie einen solchen Freund haben, könnte er nichts tun, um uns aufzuhalten. Darüber hinaus sind wir Starkianer nur dem Kaiser verantwortlich.“
„Ja“, sagte Jim. „Ich werde Ihrem Rat aber trotzdem genausowenig folgen, wie ich ihm vorher gefolgt bin, als Sie vorgeschlagen haben, wir sollen von der Thronwelt Verstärkung kommen lassen.“
Er drehte Ham den Rücken zu und wandte sich dem kleinen Gouverneur zu.
„Eure vornehmen Familien liegen in ständigem Kampf miteinander, nicht wahr?“ fragte er.
„Also - sie intrigieren fast ständig gegen mich, und zwar alle!“ sagte der kleine Gouverneur. Dann kicherte er unerwartet. „Ah, ich verstehe, was du meinst, Kommandant. Ja, sie haben tatsächlich viel Streit miteinander. Wenn das nicht so wäre, hätte ich ziemlich Schwierigkeiten, mit ihnen fertig zu werden. O ja, ihr Lieblingssport ist es, gegeneinander zu intrigieren und sich alles mögliche gegenseitig vorzuwerfen.“
„Natürlich“, sagte Jim halb zu sich selbst. „Sie sind Noyaux. “ „Sir?“ sagte Ham neben ihm. Auch der kleine Gouverneur schien ihn nicht zu verstehen. Der wissenschaftliche Ausdruck aus der Erdensprache hatte für ihn keine Bedeutung.
„Das ist jetzt gleich“, sagte Jim. Er sagte weiter zu dem Gouverneur: „Gibt es dort unten unter den Anführern einige Männer, mit denen Ihr Vetter gewöhnlich nicht gut auskommt?“
„Jemand, mit dem Cluth.“ Der kleine Gouverneur versank in nachdenkliches Schweigen. Er stand eine Sekunde lang da und starrte auf das mondbeschienene Gras zu seinen Füßen. „Notral! Ja, wenn es jemanden gibt, mit dem er wahrscheinlich nicht auskommt, dann ist das Notral.“
Er drehte sich um und deutete zu dem Lager herab.
„Siehst du das?“ sagte er. „Cluths Leute wohnen wahrscheinlich in diesem Teil des Lagers, und Notral wird dort drüben lagern, fast direkt auf der anderen Seite. Je weiter sie voneinander entfernt sind, desto lieber ist es ihnen!“
„Adjutant, Adok“, sagte Jim und wendete sich den beiden Starkianern zu. „Ich habe einen Sonderauftrag für euch. Glaubt ihr, ihr schafft es, leise dort hinunterzugehen und mir einen Außenposten lebend und in guter Verfassung direkt vom äußeren Rand von Notrals Lagerteil hochzubringen?“ „Selbstverständlich, Sir“, antwortete Ham.
„Sehr gut“, sagte Jim. „Seht auf jeden Fall zu, daß ihr ihm die Augen verbindet, wenn ihr ihn euch vom Lagerrand holt, und ebenso, wenn ihr ihn wieder zurückbringt. Jetzt.“ - er drehte sich wieder zu dem Gouverneur um - „. zeigen Sie ihnen noch einmal Notrals Teil des Lagers.“
Der Gouverneur gehorchte. Die beiden Starkianer glitten aus dem umzäunten Bereich heraus und verschwanden praktisch -so als hätten sie sich nach der auf der Thronwelt üblichen Art wegtransportiert. Es dauerte nach der Zeitrechnung der Erde knapp über eine halbe Stunde, bis sie zurückkehrten und Jim die Tür zu der Lichtung aufschwingen sah. Er hatte mit untergeschlagenen Beinen mit dem kleinen Gouverneur an seiner Seite auf dem Boden gesessen. Nun stand Jim auf, und auch der Gouverneur erhob sich hastig, als ihm das befohlen wurde. Er stellte sich neben Jim, und seine extreme Kleinheit betonte Jims Größe.
Adok kroch in die Lichtung. Eine Sekunde später folgte ihm ein kleiner junger Mann, der Gurte trug, wie sie in ähnlicher Form auch die Starkianer verwendeten. Der junge Kolonialsoldat hatte so sehr Angst, daß er deutlich sichtbar zitterte. Ham folgte direkt hinter ihm und schloß das Tor, als er sich im eingezäunten Bereich befand.
„Bringt ihn her“, sagte Jim und ahmte dabei den zischenden Akzent der Hochgeborenen von der Thronwelt nach. Er stand so, daß sein Rücken dem aufgehenden Mond zugewendet war, dem sich endlich auch sein Partner am Himmel angeschlossen hatte. Ihr vereintes Licht strömte über seine Schultern und zeigte ihm deutlich das Gesicht des jungen Soldaten mit den langen Haaren, ließ sein eigenes Gesicht aber tief im dunklen Schatten.
„Weißt du, wen ich mir als euren endgültigen Führer ausgesucht habe?“ fragte Jim mit harter, tiefer Stimme, nachdem der junge Soldat fast buchstäblich von den beiden Starkianern zu ihm hingetragen und vor ihm aufgestellt worden war.
Der Kolonialsoldat klapperte so sehr mit den Zähnen, daß er keine zusammenhängende Antwort herausbekam, aber er schüttelte heftig seinen Kopf. Jim gab ein kurzes Geräusch von Ärger und Verachtung von sich, das tief aus seiner Kehle kam.
„Ganz gleich jetzt“, sagte er rauh. „Weißt du, wer den Bereich neben deiner Sektion im Außenbereich kontrolliert?“
„Ja.“ Der junge Soldat nickte eifrig.
„Geh zu ihm“, sagte Jim. „Du sagst ihm, daß ich meinen Plan geändert habe. Er soll jetzt sofort ohne Verzögerung das Kommando über deine Leute übernehmen.“
Jim wartete. Der junge Soldat zitterte.
„Verstehst du mich?“ fuhr Jim ihn an.
Der Gefangene verfiel in einen wahren Krampf von Nicken.
„Gut“, sagte Jim. „Adok, bring ihn hinaus. Ich möchte noch ein Wort mit meinem Adjutanten sprechen, bevor ihr geht.“
Adok jagte den Gefangenen auf die andere Seite des Maschenzauns. Jim drehte sich um und winkte sowohl Ham als auch den Gouverneur zu sich. Er deutete auf das Lager unter ihnen.
„Jetzt“, sagte er zu dem Gouverneur, „zeigen Sie Ham den Teil der Lagergrenze, der vor dem Lagerbereich liegt, in dem Cluth wohnt.“
Der Gouverneur wich vor Jim zurück, offensichtlich von der Angst des Gefangenen angesteckt, und streckte einen zitternden Zeigefinger aus, um Ham den von Jim erwähnten Bereich zu zeigen. Ham stellte noch einige Fragen, um sich der genauen Lage zu versichern, und drehte sich dann zu Jim um.
„Soll ich den Gefangenen dorthin zurückbringen?“ fragte er Jim.
„So ist es, Adjutant“, sagte Jim.
„Jawohl, Sir“, sagte Ham und ging durch den Maschenzaun hinaus.
Dieses Mal brauchten sie für ihr Unternehmen fast eine Stunde nach Erdenzeit. In dem Augenblick, als sie mit der Meldung zurückkamen, daß sie den Gefangenen vorwärts geschickt und gehört hatten, wie Soldaten vor Cluths Bereich ihn angerufen und mitgenommen hatten, befahl Jim ihnen, die Lichtung zu verlassen und wieder den Abhang hinunter zum Gleiter zu gehen.