14
Der Morgen dämmerte bereits, als Markesch das Haus am Ehrenfeldgürtel verließ, sich ans Steuer des Fordtransporters setzte und ohne großen Erfolg versuchte, den bitteren Geschmack der Selbstvorwürfe mit einem großzügigen Schluck Scotch zu vertreiben.
Vielleicht könnte Astrid Pankrath noch leben, wenn er sich rechtzeitig um die verräterische Denise gekümmert hätte. Sie hatte schon bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Black Lagoon versucht, seine Ermittlungen zu torpedieren. Deshalb hatte sie ihn mit K.O.-Tropfen mattgesetzt und dem rabiaten Folterduo Trucker & Blackie ausgeliefert, deshalb hatte sie den psychopathischen Wolfgang Pankrath auf ihn gehetzt.
Aber wann – und vor allem warum – hatte sie sich entschlossen, ihre Freundin an den gewalttätigen Zuhälter zu verraten? Aus Geldgier? Oder war ihr Trucker auf die Schliche gekommen und hatte sie gezwungen, ihn zu Astrid zu führen?
Aber sie machte nicht den Eindruck einer Frau, die sich zu etwas zwingen ließ. Sie würde sich nicht wie Corinne von Bohlen von einer Bohrmaschine einschüchtern lassen. Sie war ein bösartiges, manipulatives kleines Miststück, und er konnte nur hoffen, daß es im tausendseitigen Strafgesetzbuch einen Paragraphen gab, der Heimtücke im besonders schweren Fall auch besonders schwer bestrafte.
Markesch dachte an Corinne oben in der Mansardenwohnung, zwischen den tausend Augen ihres toten Mannes, aber wenn er je etwas für sie empfunden hatte, dann waren diese Gefühle zusammen mit Astrid Pankrath gestorben. Sollte sich die Polizei um Corinne von Bohlen kümmern. Er mußte für die endgültige Aufklärung des Falles sorgen.
Ungeduldig warf er einen Blick auf die Uhr. Kriminalkommissar Enke hatte bei seinem Anruf Gift und Galle gespuckt, sich dann aber zähneknirschend bereit erklärt, auf seine wohlverdiente Nachtruhe zu verzichten und den Polizeiapparat in Bewegung zu setzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Kripo eintraf und Corinne in Sicherheit war.
Schließlich konnten Trucker und Blackie sie nicht sich selbst überlassen. Sie mußten davon ausgehen, daß die Polizei sie über den Mord in ihrem Landhaus befragen würde. Sie konnten es sich nicht leisten, daß man sie gefesselt und geknebelt in der Dunkelkammer fand und sie von dem Überfall und dem Diebstahl der Fotos erzählte. Entweder mußten sie sie befreien und darauf vertrauen, daß Corinne im eigenen Interesse, aus Haß auf Walter Kress, der Polizei ein Lügenmärchen auftischte – oder dafür sorgen, daß sie für immer schwieg.
Ein kleiner inszenierter Selbstmord war den Anabolika-Zwillingen ohne weiteres zuzutrauen …
Er trank und sah hinaus auf den wie ausgestorben daliegenden Ehrenfeldgürtel. Weit und breit erblickte er nur Stein und Asphalt, Häuserzeilen im grauen Morgenlicht, aber die Luft war erfüllt vom Gezwitscher unzähliger Vögel, die ein völlig unpassendes Moment der Lebensfreude in den unerfreulichen Tag brachten. Es versprach warm zu werden, sommerlich sonnig und klar, und obwohl er nach all den Lügen und dem Schmutz Klarheit mehr als alles andere schätzte, sah er der Zukunft mit Sorge entgegen.
Köln im Frühling war schon schlimm genug, aber Köln im Sommer war die Hölle.
Dann hörte er in der Ferne ein Martinshorn. Er wartete, bis der Streifenwagen aus dem Morgendunst auftauchte, und fuhr los. Die Straßen füllten sich allmählich mit den ersten motorisierten Frühaufstehern, aber er hatte freie Fahrt bis zum Hansaring, wo er auf die Vorhut des Berufsverkehrs traf, lange Kolonnen aus Blech und Abgasen, mürrische Gesichter hinter schmutzigen Windschutzscheiben. Das Dämmerungsgrau wich mit dem höheren Sonnenstand einer entnervenden Helligkeit, stechendem, flutendem, fast griechischem Licht, und er war froh, als er kurz vor dem Hansa-Hochhaus den Ring verließ und in die schattigen Seitenstraßen einbog.
Zwei Ecken weiter hielt er an.
Das Fitneßstudio Bodyshape bot keinen sonderlich beeindruckenden Anblick. Es war in einem gesichtslosen Gebäude aus den fünfziger Jahren untergebracht, einem schmalen, flachbrüstigen Produkt des sozialen Wohnungsbaus, das so ganz und gar nicht zu den ölglänzenden Muskelmutanten paßte, die auf Hochglanzplakaten aus dem Schaufenster grinsten. Ein so schwungvoll-moderner wie unleserlicher Schriftzug, der sich um den stilisierten Bizeps eines Supermannes wand und nur mit wohlwollender Fantasie als Bodyshape gedeutet werden konnte, schnörkelte sich schräg über die ganze Scheibe. Ein identischer Schriftzug prangte auf der Seite des VW-Busses, der neben dem Eingang stand, derselbe Bus, von dem Markesch nach seinem ersten Besuch bei Corinne von Bohlen fast überfahren worden wäre.
Ein Stück die Straße hinunter, eingekeilt zwischen einem angerosteten Käfer und einer verbeulten Ente, stand ein schicker roter Sportwagen wie die automobile Demonstration, daß sich Arbeit nur im Liegen wirklich lohnte, Denises PS-gewordener Liebeslohn.
Markesch brummte befriedigt.
Wenn Denise im Bodyshape war, dann auch Trucker und Blackie.
Er sah wieder auf seine Uhr.
Verdammt, wo blieben Enke und die knochenharten Kerle vom SEK! Noch konnten sie Denise und die Anabolika-Zwillinge mit den erpreßten dreihunderttausend Mark auf frischer Tat ertappen. Doch sie würden nicht ewig im Fitneßstudio bleiben und das leichtverdiente Geld zählen.
Kurz dachte er daran, den Helden zu spielen, das Studio mit gezückter Magnum zu stürmen und das teuflische Trio im Alleingang zu überwältigen, aber dann entschied er sich doch, im sicheren Wagen zu bleiben und sich die Wartezeit mit Whisky zu vertreiben.
Er war Privatschnüffler, aber nicht lebensmüde. Er wußte genau, was Trucker mit ihm machen würde, wenn er ihm in die wokpfannengroße Hände fiel. Ohne Rückendeckung durch das SEK drohten ihm Folter, Mord, vielleicht noch Schlimmeres. Unwillkürlich betastete er seine lädierte Nase. Nein, den Showdown mit Trucker würde er den Profis vom SEK überlassen.
Er sah erneut auf seine Uhr, dann die Straße hinunter. Noch immer keine Spur von Enke. Auch von den Drogenfahndern, die Enke angeblich auf Trucker angesetzt hatte, war weit und breit nichts zu sehen. Dafür rührte sich etwas hinter den Muskelmannplakaten am Studiofenster. Zwei Gestalten näherten sich der Tür, ein Schwarzenegger-Klon mit Rastafari-Frisur und eine tizianrot gelockte Schönheit – Blackie Decker und Denise!
Markesch rutschte tiefer in den Sitz und beobachtete sie verstohlen durch das Seitenfenster. Der Rastamann öffnete die Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und warf einen triefäugigen Blick in die Runde, der zu seiner Zufriedenheit auszufallen schien, denn er stieß die Tür weit auf und ließ Denise passieren. Denise stöckelte auf hohen Pfennigabsätzen an ihm vorbei, in der einen Hand eine schwere Reisetasche, in der anderen einen Lederkoffer, schon ganz krumm unter der Last und nicht in allerbester Laune, aber Blackie rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, sondern grinste nur und sah ihr nach, wie sie das Gepäck zum Sportwagen schleppte.
Markesch unterdrückte einen Fluch.
Sie wollte sich offenbar absetzen.
Und noch immer fehlte jede Spur von Kommissar Enke.
Er verfolgte besorgt, wie Denise das Gepäck im Kofferraum des Sportwagens verstaute. Verdammt, wenn sie jetzt einstieg und davonfuhr, würde er sie nie wiedersehen. Mit seinem Flaschentransporter konnte er nicht einmal ein Matchbox-Auto einholen, geschweige denn den roten Flitzer.
Aber das Glück war ihm hold.
Denise kehrte zum Fitneßstudio zurück und schlüpfte durch die Tür, wobei sie Blackie wie zufällig mit dem Pfennigabsatz auf den Fuß trat. Der Rastamann zuckte zusammen und schrie ihr etwas nach, das zum Glück im Motorenlärm des dichter werdenden Berufsverkehrs unterging, und schloß nach einem letzten prüfenden Blick in die Runde die Tür.
Markesch dachte fieberhaft nach.
Wollte Denise allein verschwinden, oder zusammen mit den Anabolika-Zwillingen? Dreihunderttausend Mark waren viel Geld, selbst wenn man sie durch drei teilte. Genug für einen langen Urlaub fernab von jeder Polizei …
Er durfte nicht zulassen, daß sie sich davonmachten. Was sollte dann aus Walter Kress werden? Oder aus ihm selbst? Wenn die wahren Mörder Astrid Pankraths entwischten, konnte er nicht nur sein Erfolgshonorar, sondern auch sein entspanntes Schnüfflerdasein vergessen. Enke hatte daran keinen Zweifel gelassen: Die Kripo Gummersbach suchte bereits nach ihm und erwartete eine überzeugende Erklärung für sein hochverdächtiges Verschwinden vom Tatort.
Er mußte etwas unternehmen – und zwar sofort!
Er wühlte im Werkzeugkasten, fand ein kurzes, scharfes Messer, überzeugte sich, daß hinter der plakatverklebten Fensterscheibe des Studios wieder alles ruhig war, und stieg auf der Beifahrerseite aus. Eilig humpelte er die Straße hinunter zu Denises Sportwagen. Eine Horde Schulpänz stürmten an ihm vorbei und kreischten plötzlich los, und er konnte nur hoffen, daß ihr Geschrei auf ein Übermaß an jugendlicher Energie zurückzuführen war und nicht auf seine blauschillernde Nase. Er wartete, bis sie verschwunden waren, sah sich prüfend um und stach mit dem Messer in den rechten Vorderreifen des Flitzers.
Die Luft zischte heraus, und der Wagen sackte schief nach unten.
Vorsichtshalber zerstach er auch den Hinterreifen, betrachtete mit Wohlgefallen sein Zerstörungswerk und humpelte zum Bodyshape-Bus. Hinter dem Studiofenster war noch immer alles leer. Eine Wand wurde von Verkaufsregalen mit Proteinpulver, Isodrinks, Vitaminpräparaten, Hanteln in allen Größen und Farben und sonstigen Produkten eingenommen, die man zur Muskelzucht benötigte. Schräg versetzt stand ein derzeit verlassener Empfangstisch mit Computer und elektronischer Kasse. Daneben gähnte ein breiter Durchgang, der wahrscheinlich zum eigentlichen Fitneßstudio führte.
Markesch zögerte nicht länger, bückte sich und hackte das Messer in den Vorderreifen des VW-Busses.
Hinter ihm quietschte eine Tür.
Im nächsten Moment legte sich eine stählerne Klaue um seinen Nacken und zerrte ihn brutal hoch. Er keuchte, schlug blindlings um sich, zappelte hilflos im eisernen Griff.
»Hab’ ich dich, du kleine Ratte!« knirschte eine Stimme wie ein rostiges Zahnrad. »Dir werd’ ich’s schon austreiben, das Eigentum anderer Leute zu beschädigen!«
Die Stahlklaue zog ihn mit einer Mühelosigkeit ins Studio, die nichts Gutes ahnen ließ, dann fiel die Tür krachend ins Schloß und sperrte die rettende Öffentlichkeit aus. Markesch schlug weiter um sich und traf mit der Faust etwas Hartes, Unnachgiebiges, Beton vielleicht, doch aus den Augenwinkeln sah er, daß sein Peiniger aus Fleisch und Blut war, auch wenn er jedes menschliche Maß sprengte: Eine ungeheuerliche Muskelwucherung wie aus Dr. Frankensteins Bodybuildingstudio, als wäre er als Kind in einen Eimer mit Wachstumshormonen gefallen, turmhoch und tonnenschwer, ein grausiges Monstrum. Er erkannte es sofort wieder – das Monstrum, das ihn am Ehrenfeldgürtel fast überfahren hätte, Blackies Partner beim Überfall auf Corinne.
Kaum hatte er an Blackie gedacht, hörte er auch schon das hochtourige Heulen einer Bohrmaschine, und im nächsten Moment schob sich ein von schwarzen Rastalocken umrahmtes, grobschlächtiges Gesicht mit Triefaugen in sein Blickfeld, grinste bösartig, schnalzte mit der Zunge.
»Die kleine Ratte hat die Reifen vom Bus zerstochen«, knirschte die Muskelwucherung, ohne den eisernen Griff um Markeschs Nacken zu lockern. »Was soll ich mit ihr machen?«
»Verdamp noch ens, dä Schwadlappen!« brummte Blackie in einem Tonfall völlig unangebrachter Heiterkeit. Er gab Markesch einen Nasenstüber mit dem rasend rotierenden Bohrkopf und lachte kollernd, als er einen gepreßten Schmerzensschrei erntete. »Und dat en aller Herjottsfröh! Hadder sich verlaufe udder hadder su vill Luff en dem Jeheens?«
»Ich wollte bloß was für meine Muskeln tun«, keuchte Markesch. »Schließlich bekommt man nicht jeden Tag die Chance, so häßlich zu werden wie Sie.«
Er trat mit aller Kraft zu und erwischte Blackie mit der Schuhspitze am Schienbein, aber entweder hatten den die Anabolika völlig gefühllos gemacht, oder er genoß den Schmerz wie normale Menschen ihre Streicheleinheiten genossen: Blackie gab nur sein kollerndes Lachen von sich und zog ihm mit der Bohrmaschine einen blutigen Striemen über die Stirn. Markesch stöhnte gepeinigt auf.
»Schäff, Schäff«, rief Blackie in Richtung Durchgang, »dä Schwadlappen es widder do!«
»Los, wir bringen die Ratte nach hinten«, knirschte die Muskelwucherung. »Wir bringen die kleine Ratte nach hinten und machen sie fertig!«
»Ene jote Jedanke«, meinte der Rastamann. »Losse mer ihm de Luff us dem Jeheens erus!«
Trotz Markeschs verzweifelter Gegenwehr schleppte ihn die Muskelwucherung am Empfangstisch vorbei in den hinteren Teil des Fitneßstudios, einem großen in grelles Neonlicht getauchten Raum, in dem es nach alten Füßen und frischen Desinfektionsmitteln roch. Überall standen Trainingsgeräte herum, sinistre Konstruktionen aus schwarzem Metall und Hartgummi, Gewichten, Übersetzern und Stahldrähten, wie sie der Stolz jeder High-Tech-Folterkammer gewesen wären. In einer Ecke führte eine Wendeltreppe nach oben in den ersten Stock, wohl in eine zum Studio gehörende Wohnung, aber Markeschs Hoffnung, daß man ihn nach oben tragen und in zivilisierter Umgebung mit einem Morgenkaffee bewirten würde, erfüllte sich erwartungsgemäß nicht.
Die Muskelwucherung schleifte ihn zu einer Art Streckbank, ließ ihn wie einen nassen Sack fallen und stemmte die elefantösen Arme in die Hüften, mit einem Gesichtsausdruck, wie ihn auch die Vertreter der Heiligen Inquisition kultiviert haben mochten, wenn sie Ketzern und Hexen auf dem Scheiterhaufen das Böse austrieben. Markesch dachte an die Magnum in seiner Jacke, sein letzter Trumpf, und er betete zu Gott, daß man ihn nicht durchsuchen würde. Zu seiner eigenen Überraschung wurde sein Gebet erhört.
Zumindest vorläufig.
»Ich glaub’«, knarrte die Muskelwucherung bedächtig, »ich brech’ ihm zuerst die Finger, damit er in Zukunft die Schmutzgriffel vom Eigentum anderer Leute läßt.«
»Ija, janz jenau«, stimmte Blackie begeistert zu. »Ävver dann losse mer ihm de Luff us dem Jeheens erus!«
»Können wir nicht statt dessen Freunde werden?« fragte Markesch heiser. »Ich meine, wir sind doch alle Menschen!« Er sah die Muskelwucherung an. »Oder fast alle.« Sein Blick wanderte zu Blackie. »Okay, sind wir nicht, aber wir könnten trotzdem …«
Die Black & Decker heulte auf und zerriß brutal die zarten Freundschaftsbande, ehe sie noch richtig geknüpft werden konnten. Mit blankem Entsetzen verfolgte Markesch, wie sich der rotierende Bohrkopf seiner Stirn näherte, und wollte schon alles riskieren und zur Magnum greifen, als ein schweres Poltern von der Wendeltreppe drang. Die gesamte Treppenkonstruktion begann zu schwingen, Metallstreben bogen sich ächzend, Dübel gaben knirschend nach, und dann übertrugen sich die Schwingungen auf den Fußboden und eskalierten zu einem rumpelnden Erdbeben, als wäre das Fitneßstudio direkt über der Andreasspalte erbaut worden und nicht am Kölner Hansaring. Das Epizentrum des Bebens näherte sich mit stampfenden, dröhnenden, alles zerschmetternden Schritten, wie man sie sonst nur aus dem Kino kannte, aus Steven Spielbergs Jurassic Park, und für einen Moment gab sich Markesch der tröstlichen Illusion hin, es nur mit einem amoklaufenden Tyrannosaurus zu tun zu haben, und nicht mit einem wirklich gefährlichen Monster.
Es blieb bei der Illusion.
»Na so was, der Schnüffler!« sagte ein vertrauter, samtweicher Bariton hinter seinem Kopf, und dann tauchte auch das dazu gehörende Gesicht über ihm auf, mondgroß und satanisch grinsend, Trucker in seiner ganzen Abscheulichkeit. Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung nicht zum Vorteil verändert; ein Auge war blau geschwollen, die Braue darüber aufgeplatzt und mit groben Stichen genäht, und als das Grinsen breiter wurde, sah Markesch, daß er auch ein paar Zähne verloren hatte.
Ronnies Geldeintreiber hatten ganze Arbeit geleistet.
»Hallo, Trucker«, sagte er ohne rechten Schwung. »Planen Sie eine Karriere als Nebendarsteller in Horrorfilmen, oder haben Sie endlich den Mut zur Häßlichkeit gefunden?«
Trucker grinste nur noch satanischer, packte seine Nase mit Daumen und Zeigefinger und drehte sie hingebungsvoll. Der Schmerz schnitt wie ein heißes Messer durch Markeschs Gesicht. Blut tropfte warm über seine Lippen. Er schrie gepeinigt auf.
»Tz, tz«, machte der Zuhälter. »Du lernst es nie, Schnüffler, was?« Er blickte auf und grollte feindselig. »Wer von euch hat den Schnüffler reingelassen? Ich hab’ doch ausdrücklich gesagt …«
»Ich hab’ die Ratte dabei erwischt, wie sie die Reifen vom VW-Bus zerstochen hat«, erklärte die Muskelwucherung hastig. »Da hab’ ich mir gedacht, hol’ sie rein und brech’ ihr die Finger, ehe sie noch mehr kaputt macht.«
»Besser gleich das Genick«, brummte Trucker und quetschte tadelnd Markeschs Nase. »Sabotage, Schnüffler? Aber warum? Ich dachte, wir mögen uns. Oder spekulierst du auf die Invalidenrente und hast dir gedacht, der gute Trucker hilft dir dabei?«
Er ersparte sich eine Antwort und dachte wieder an die Magnum. Dann an Kommissar Enke und das längst überfällige Sondereinsatzkommando. Weitere Schritte näherten sich, leicht und stöckelnd, und aus den Augenwinkeln sah er Denise, wieder mit einem Koffer in der Hand, diesmal einem kleinen, kompakten Samsonite im sicherheitsträchtigen Metall-Look inklusive Zahlenschloß. Er starrte den Koffer an. War das Walter Kress’ Samsonite?
Denise blieb stehen und sah ihn an, als wäre er der Inhalt einer Senkgrube, der auf rätselhafte Weise seinen Weg ins Fitneßstudio gefunden. »Was hat dieser Kerl hier zu suchen?« fragte sie giftig. »Seid ihr verrückt geworden, ihn reinzulassen?«
»Ich wollte mich nur davon überzeugen, daß Sie die dreihunderttausend Mark Erpressergeld auch gerecht untereinander teilen«, sagte Markesch. »Schließlich hat man eine Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen.«
Seine Bemerkung schlug wie eine Bombe ein. Trucker schnappte hörbar nach Luft, Blackie ließ fast die Bohrmaschine fallen, und Denise kniff die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein blutleerer Strich waren, scharf und dünn wie eine Messerklinge. Nur die Muskelwucherung sah verständnislos drein.
»Was für dreihunderttausend Mark?« fragte sie.
»Ach? Haben Ihre Freunde Ihnen nichts von dem Geld …«
Trucker drehte wieder an seiner Nase. »Schnauze, Schnüffler. Und du, Hotte«, sagte er zu der Muskelwucherung, »kümmerst dich jetzt um den Wagen. Bring den Reifen in Ordnung, und zwar pronto.«
»Aber …!«
»Du tust, was ich dir sage, kapiert?« brauste Trucker auf. »Also verschwinde.«
Die Muskelwucherung zögerte für einen aufsässigen Moment, zuckte dann die schrankwandbreiten Schultern und trottete Richtung Durchgang davon. Markesch verdrehte den Kopf und sah ihr nach, vage hoffend, daß Kommissar Enke und das SEK den günstigen Moment nutzten und endlich das Studio stürmten, doch die Muskelwucherung verschwand, und alles blieb ruhig.
»Und jetzt wieder zu dir, Schnüffler«, grollte Trucker und zog ihn an der Nase von der Streckbank hoch. »Was sollte dieser Unsinn mit den Dreihunderttausend?«
»Hör auf, Trucker«, sagte Denise kalt. »Es hat keinen Zweck. Er weiß Bescheid.« Sie starrte ihn haßerfüllt an. »Ich hab’ von Anfang an gesagt, daß der Kerl gefährlich ist. Leg ihn um, hab’ ich gesagt, aber du mußtest ja …«
»Schnauze!« brüllte Trucker.
»Sie hat recht«, stieß Markesch gepreßt hervor, den glühenden Schmerz in seiner Nase tapfer ignorierend. »Ich weiß Bescheid. Über Ihren Überfall auf Corinne von Bohlen, den Mord an Astrid Pankrath und die Falle, die Sie Walter Kress gestellt haben.«
Der Zuhälter ließ verblüfft seine Nase los.
»Verdamp noch ens!« Blackie fuchtelte erschüttert mit der Bohrmaschine. »Dat schmeck mir üvverhaup nit!«
»Meinen Sie etwa, mir schmeckt das? Geben Sie auf, Trucker, Sie haben keine Chance. Ihr schöner Plan ist fehlgeschlagen. Die Polizei ist bereits informiert.«
»Mach ihn fertig!« sagte Denise mit einem grausamen Funkeln in den Augen. »Mach ihn fertig, Trucker, und dann laß uns von hier verschwinden.«
Der Zuhälter sagte nichts. Widersprüchliche Gefühle huschten über sein zerklüftetes Gesicht und gerannen zu einer Maske aus Wut, Besorgnis und kaum gebändigter Brutalität. Als er wieder sprach, war seine Stimme ganz heiser vor Haß.
»Ich habe dich gewarnt, Schnüffler, ich habe dir gesagt, daß ich dir eines Tages die Knochen brechen werde, und dieser Tag ist jetzt gekommen.« Er holte langsam mit der bowlingkugelgroßen Faust aus.
»Machen Sie es nicht noch schlimmer, Trucker. Das Studio ist von der Polizei umstellt. Geben Sie auf!«
»Er lügt!« zischte Denise. »Mach ihn endlich fertig!«
»Apropos lügen«, sagte Markesch. »Wann haben Sie sich eigentlich entschlossen, Ihre Freundin Astrid an Trucker zu verraten? Schon als Sie ihr beim Umzug geholfen haben, oder erst später, als Ihnen klar wurde, daß die Fotos viel Geld wert sind?«
Truckers Faust verharrte mitten in der Luft. Seine Blicke wanderten zwischen Markesch und Denise hin und her. Mißtrauen glomm in seinen Augen auf. »Was soll das heißen – beim Umzug geholfen? Du hast doch erst vor ein paar Tagen erfahren, wo sich Astrid versteckt, oder?«
»Hör nicht auf ihn!« zischte sie. »Merkst du denn nicht, was er vorhat? Daß er einen Keil zwischen uns treiben will? Schlag ihm endlich den Schädel ein!«
»Sie wußte schon seit langem von den Fotos«, sprach Markesch unbeirrt weiter, während er wie zufällig den Arm anwinkelte. »Sie hat Astrid geholfen, sich vor Ihnen zu verstecken, Trucker. Verdammt komisch, nicht wahr?«
»So, so«, grollte der Zuhälter. »Du wußtest also die ganze Zeit Bescheid, während ich mir die Hacken abgelaufen habe, um diese verfluchte Hurenschlampe zu finden …«
»Okay, okay, ich wußte schon länger, wo Astrid ist. Na und? Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Habe ich dir nicht geholfen, an das Geld zu kommen?«
»Aber erst als sie erkannte, daß Astrid ihr nichts von dem Geld abgeben würde, das Corinne von Bohlen für die Fotosession gezahlt hat«, stichelte Markesch unverdrossen weiter. Verstohlen schob er die Hand unter die Lederjacke. »War es nicht so, Denise?«
Sie verzog verächtlich das Gesicht. »Astrid war eine Idiotin. Sie wollte sich mit achtzigtausend Mark abspeisen lassen. Ich habe ihr gesagt, daß mehr zu holen ist, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Und als gute Freundin haben Sie sie daraufhin sofort ans Messer geliefert – und das im buchstäblichen Sinn.«
»Es war ein Unfall. Verdammt, wir wollten sie nicht töten! Sie sollte weiter für Trucker arbeiten, doch sie weigerte sich. Sie wollte nicht einmal Kress anrufen. Trucker hat ihr ein paar geknallt, und sie schien vernünftig zu werden. Aber nach dem Anruf …«
»Dieses hirnvermatschte Tränentier ging plötzlich mit dem Messer auf mich los«, sagte Trucker fast entschuldigend. »Ich mußte ihr eine scheuern, es ging nicht anders. Aber statt vernünftig zu werden, kippte sie um und fiel in das Messer. Weiber!« Er wackelte verächtlich mit dem Kopf. »Aber da ist wieder mal typisch – einfach abnibbeln, und ich kann sehen, wie ich aus der Scheiße wieder rauskomme!«
»Verstehe. Dann kam Kress, Sie schoben ihm den Mord in die Schuhe und machten sich mit dem Geldkoffer davon.« Markeschs Fingerspitzen berührten den kühlen Griff der Magnum. »Und jetzt? Urlaub in der Sonne? Ferien zu Dritt, oder fährt Denise allein?«
»Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht, Schnüffler«, grollte Trucker, »aber sie bringt schon mal die Kohle in Sicherheit. Wir kommen nach und …«
Er brach ab.
Ihm schien zu dämmern, daß Denise keinesfalls so vertrauenswürdig war, wie er bisher geglaubt hatte.
Markesch lachte demonstrativ. »Ein genialer Plan. Ich würde Denise auch mein ganzes Geld anvertrauen. Jederzeit. Schließlich …«
»Halt dein verfluchtes Maul!« schrie sie. »Halt endlich …«
»Den Koffer«, sagte Trucker. »Gib ihn mir, Denise.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Was soll das? Läßt du dich etwa von diesem Scheißkerl …«
»Gib mir den Koffer!« Er trat einen drohenden Schritt auf sie zu. »Sofort!«
Denise wich Richtung Durchgang zurück und schüttelte entschlossen den Kopf. In ihrer Hand blitzte plötzlich eine Waffe, ein Damenrevolver, fast ein Spielzeug, aber ein Spielzeug, das töten konnte. Trucker blieb stehen und schnaufte verblüfft.
»Schluß jetzt«, sagte Denise mit schneidender Stimme. »Ja, der Schnüffler hat recht. Ich denke nicht daran, das Geld mit jemand zu teilen, vor allem nicht mit einem Schwachkopf wie dir, Trucker!«
Der Zuhälter setzte sich wieder in Bewegung, unbeeindruckt von den Beleidigungen und der auf ihn gerichteten Waffe, als wären seine Muskelbündel eine kugelsichere Weste und er von seiner Unsterblichkeit überzeugt. »Ich warne dich, Denise! Gibt mir sofort den Koffer, oder …«
Markesch sah aus den Augenwinkeln, wie Blackie plötzlich nach vorn stürmte, mit heulender Bohrmaschine und nackter Mordlust im Gesicht, viel schneller, als er es bei seiner enormen Körpermasse für möglich gehalten hatte, aber nicht schnell genug.
Der Damenrevolver ruckte herum, ein Schuß peitschte los.
Blackie röchelte und blickte erstaunt nach unten, auf seine Brust, wo sich ein kleiner dunkelroter Fleck abzeichnete und schnell größer und heller wurde. Die Bohrmaschine fiel aus seiner schlaffen Hand, dann stürzte er ebenfalls zu Boden.
Markesch kam im gleichen Moment hoch und riß die Magnum unter seiner Lederjacke hervor. Ein zweiter Schuß peitschte. Die Kugel pfiff an Truckers Kopf vorbei, und Markesch spürte einen dumpfen Schlag an der Schulter, aber keinen Schmerz.
Der Zuhälter holte aus und schmetterte Denise die Waffe aus der Hand. Sie stolperte zurück, klammerte sich an den Metallkoffer wie an einen Rettungsring und starrte Trucker mit schreckgeweiteten Augen an.
Er holte wieder mit der Faust aus, aber ehe er zuschlagen konnte, erwischte ihn Markesch mit dem Knauf der Magnum am Hinterkopf.
Ein Beben durchlief seinen monströsen Leib. Er schwankte wie ein mächtiger Baum im Sturm, drehte sich halb, die bowlingkugelgroße Faust noch immer zum Schlag erhoben, mit einem seltsam verletzten Ausdruck in den Augen, und Markesch schickte ihn mit einem Kinnhaken endgültig zu Boden.
Der Schlag schien seine Hand zerschmettert zu haben. Schmerz flackerte auf und wich sofort besorgniserregender Taubheit. Aber Markesch hatte keine Zeit, seine Wunden zu lecken. Mit einem Knurren wirbelte er zu Denise herum. Sie war nur zwei Meter von ihm entfernt, halb gebückt, den Geldkoffer noch immer in der einen Hand, die andere nach dem Damenrevolver ausgestreckt.
Ihre Finger schlossen sich um die Waffe und rissen sie hoch.
Für einen zeitlosen Moment blickte er in die schwarze, tödliche Mündung, in das liebreizende und doch so kalte Gesicht der Frau, und dann tat er, was er schon lange hatte tun wollen, schwang die Magnum wie eine Keule und drosch sie ihr auf die Nase.
Sie flog wie eine Puppe durch die Luft, prallte gegen die Wand und rutschte langsam nach unten. Blut quoll aus ihrer Nase und färbte ihr Gesicht rot wie ihr lockiges Haar. Bewegungslos blieb sie liegen, den Geldkoffer noch immer umklammernd, bis er ihn ihren starren Fingern entwand.
Erst dann bemerkte er das Blut an seiner Schulter, wo ihn die Kugel getroffen hatte, erst dann spürte er den Schmerz, wie er sich vom Schulterblatt über seinen ganzen Körper ausbreitete, den Schmerz und die Schwäche in seinem Gefolge, und er wußte, das dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um das Bewußtsein zu verlieren, er wußte es.
Von der Straße drang das Heulen eines Martinshorns.
Das SEK, dachte er benommen. Typisch Polizei. Immer unterwegs, aber überall zu spät.
Dann umfing ihn Finsternis.
Als Markesch einige Tage später die Uni-Klinik verließ, wurde er draußen von Archimedes und Sophie erwartet. Die Schulterwunde schmerzte noch immer, seine Nase hatte Kingsize-Format, und seine rechte Hand war bandagiert, aber es ging ihm immer noch besser als Astrid Pankrath und Blackie Decker, die im Leichenschauhaus auf ihre Beerdigung warteten, als Corinne von Bohlen, die schon vor einem Jahr gestorben war, ohne es selbst bemerkt zu haben, oder als Trucker und Denise, die im Klingelpütz ihrem Mordprozeß entgegensahen. Walter Kress war inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen worden und von allen Ämtern zurückgetreten, um sich in öffentlicher Reue zu üben, doch die Kölner Lokalpresse hatte längst ihren neuen Skandal, seit die Drogenfahndung die Spedition Zosch durchsucht, kiloweise Koks gefunden und Karl-Heinz Zosch und Wolfgang Pankrath verhaftet hatte.
»Hier«, sagte Archimedes zur Begrüßung und drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand. »Wurde heute für dich abgegeben.«
Markesch öffnete den Umschlag und fand einen Scheck über zehntausend Mark, ausgestellt von Walter Kress, sein schwer verdientes Erfolgshonorar, aber nicht mehr, kein Dankesbrief, kein Wort der Anerkennung, nichts, nur den Scheck. Er zuckte unwillkürlich die Schultern, fluchte, als seine Schußverletzung mit brennendem Schmerz protestierte, und steckte den Scheck ein.
Schließlich war er nicht Privatschnüffler geworden, um Lob und Jubel zu ernten, sondern um seine Whiskyrechnungen zu bezahlen. Er blinzelte in die Frühlingssonne, die erschreckend warm und strahlend am wolkenlosen Himmel stand, atmete tief die frische Luft ein, schwer vom Blütenduft und dem Versprechen des nahen Sommers, und leckte durstig seine Lippen.
»Wie wäre es mit einem Schluck Scotch?« sagte Archimedes teilnahmsvoll und zauberte eine Flasche Johnny Walker aus der Tasche.
»Trink ruhig«, nickte Sophie ganz gegen ihre sonstige Abstinenzler-Philosophie, mit einem rätselhaften, eindeutig boshaften Funkeln in den Augen. »Trink soviel du kannst. Du wirst jeden Schluck brauchen.«
Der Grieche gab ihr einen warnenden Stoß in die Rippen, doch Markesch ignorierte die Bemerkung, denn sie war jung und schön und wußte ohnehin nicht, was sie sagte. Er schraubte die Flasche auf, gönnte sich einen großen Schluck und seufzte zufrieden.
»Und jetzt«, knurrte er, »zum Regenbogen. Das Renovierungschaos ist doch inzwischen beseitigt, oder?«
»Öh, sozusagen«, meinte Archimedes, während er seinen BMW ansteuerte. »Du wirst begeistert sein.«
Sophie kicherte und erntete einen neuen Rippenstoß. Markesch sah sie irritiert an und hatte plötzlich das Gefühl, daß ihm etwas vorenthalten wurde, etwas Wichtiges, vielleicht sogar Entscheidendes. Sophies fortgesetztes Kichern und Archimedes’ hartnäckiges Schweigen während der kurzen Fahrt zur Berrenrather Straße verstärkten das bedrohliche Gefühl. Er wappnete sich mit einem weiteren Schluck Johnny Walker und glaubte schon, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein – Chaos, Trümmer, architektonische Exzesse –, aber er irrte sich.
Er irrte sich gründlich.
Am Café angelangt, stieg er aus dem Wagen aus, drehte sich zum Café um – und erstarrte.
»Großer Gott!« flüsterte er. »Was habt ihr getan?«
Das Haus stand noch an seinem alten Platz, immerhin, auch wenn das schon alles Positive war, was sich über das Ergebnis der Renovierungsarbeiten des Aaps sagen ließ. Der stilisierte Regenbogen über der Tür war von einer grinsenden Neonsonnenblume und dem giftgrünen Schriftzug Vita Verde ersetzt worden. An den Fensterscheiben hingen Plakate, die so zweifelhafte Dinge wie gesundes Leben, Vollwertkost und Rote-Beete-Cocktails anpriesen, und als er wie betäubt die Tür aufstieß, sah er sich mit einer neuen Dimension des Grauens konfrontiert.
Die Regale mit den Spirituosen waren verschwunden. Ebenso die Regale mit den Weinflaschen und die Kühlvitrine mit dem Flaschenbier. Dafür gab es biodynamische Fruchtnektare in allen Farben und Zusammensetzungen, frisches Obst und Gemüse aus ökologischem Anbau, das auf die Versaftung durch eine chromblitzende Presse wartete, und eine reichhaltige Salatbar sowie Unmengen an Körner- und Müslimischungen. Rustikale Tische und Stühle, garantiert holzschutzmittelfrei und gemütlich wie ein Hochsitz im Winter, hatten die plüschige Regenbogen-Möblierung abgelöst, und nur sein Stammtisch unmittelbar vor dem Tresen – vor der Salatbar, verbesserte er sich schaudernd – war von der gespenstischen Veränderung verschont geblieben.
Erschüttert ließ sich Markesch an seinem Tisch nieder. Er konnte es nicht fassen. Was war passiert? Womit hatte er das verdient?
»Gefällt es dir?« fragte Archimedes mit einer stolzen, weit ausholenden Handbewegung zu den Körnern und dem übrigen Horror Food. »Das ist der Trend, der Geld in die Kassen spült – Biodrinks und Vollwertkost. Das Café Regenbogen ist tot, es lebe die Biobar Vita Verde! Großartig, nicht wahr? Es wird dein ganzes Leben umkrempeln, Filos, verlaß dich drauf!«
»Es wird mich ins Grab bringen, wenn es das ist, was du meinst«, sagte Markesch düster. »Wie konntet ihr mir das nur antun? Ist euch denn gar nichts mehr heilig?«
Sophie eilte hinter die Salatbar, warf die Saftpresse an, versaftete, quirlte und mixte, als hätte sie ihr Lebtag lang nichts anderes getan, und stellte ihm schwungvoll ein Glas mit einer trüben, leicht gallig wirkenden Flüssigkeit auf den Tisch.
»Hier«, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln, »einer von unseren besten Biodrinks – ein Kefirmilchcocktail mit Banane, Sanddorn und Vollsoja.« Ihr Lächeln wurde noch um eine Spur süßlicher. »Wir werden ihn Schnüffler-Cocktail nennen, dir zu Ehren.«
Markesch blickte auf und dachte daran, ihr auf der Stelle den hübschen Hals umzudrehen, aber da fielen ihm seine verletzte Schulter und die bandagierte Hand ein, und er entschied sich, Nachsicht mit ihr zu üben und sie erst zu erwürgen, wenn er wieder gesund war. Statt dessen nahm er das Glas, kippte den Kefirmilchcocktail kurzentschlossen in eine der Topfpflanzen auf der Fensterbank und füllte es mit bis zum Rand mit Johnny Walker.
Dann lehnte er sich zufrieden zurück, schlürfte genüßlich den Whisky und wartete auf den Sommer.
ENDE