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»Er kam heute morgen mit der Post«, sagte Walter Kress und schob den braunen Briefumschlag mit bebenden Fingern über den Tisch. »Er war an meine Frau adressiert. Nicht an mich. Reiner Zufall, daß sie ihn nicht geöffnet hat. Normalerweise bin ich früher aus dem Haus als sie. Aber heute morgen … Als ich die Post durchsah, fiel er mir sofort auf. Dieselbe Schreibmaschinentype wie beim letzten Mal. Und kein Absender.«

Seine Stimme klang vor Panik so hohl und brüchig, als hätte er einen Nebenjob als Synchronsprecher für Mumien-Filme angenommen, und sein Gesicht war noch grauer als bei seinem letzten Besuch, gehetzt und mit schlaff herunterhängenden Hamsterbacken, ein Gewinn für jede Geisterbahn. Die schütteren Haare klebten wie Spinnweben an seinem verschwitzten Schädel. In seinen Augen glitzerte nackte Angst.

»Man will mich fertigmachen«, sagte er gepreßt. »Mich zerstören. Alles ruinieren, was ich mir aufgebaut habe.« Er befingerte seine Krawatte, zupfte und zerrte an ihr wie an einer Schlinge, die sich trotz seines verzweifelten Widerstands immer enger um seinen Hals zog. »Helfen Sie mir«, sagte er. »Unternehmen Sie etwas. Sofort. Verdammt, wofür bezahle ich Sie eigentlich? Damit Sie in diesem gottverdammten Café herumsitzen und mein Geld versaufen und …«

Er verstummte.

Sank hilflos auf seinem Stuhl in sich zusammen.

Draußen schien die Sonne auf die Straßen von Sülz, strahlend und optimistisch, als gäbe es keine Katastrophen und keinen Schmerz auf der Welt. Im Regenbogen war es ungewohnt leer. Der einzige Gast außer Markesch und Walter Kress war ein gedrungener, gibbonähnlicher Mann in einem zerknautschten Boss-Anzug, der mit einem Zollstock durch das Café turnte und kabbalistisch anmutende Vermessungsarbeiten vornahm. Haarig bis zur Unkenntlichkeit, die Arme so lang, daß sie beim Gehen über den Boden schleiften, gehörte er eher in einen Zoo als in einen gastronomischen Betrieb mit angeschlossener Privatdetektei, aber Archimedes hofierte ihn, als wäre er der Messias der Mittelständler und ins Café gekommen, um ihn von allen Umsatzsorgen zu erlösen.

Merkwürdig, dachte Markesch, daß sich der bärtige Grieche, diese Kreatur der Nacht, überhaupt schon am Vormittag im Regenbogen sehen ließ …

»Warum sagen Sie nichts?« riß ihn Kress’ Stimme aus seinen Gedanken. »Sagen Sie etwas! Tun Sie etwas!«

Markesch seufzte, nippte an seinem dreifachen Scotch, der ihm helfen sollte, die geschwollene Nase und die Schmerzen in seinem bandagierten Fuß zu vergessen, und zog die großformatigen Fotos aus dem braunen Briefumschlag. Flüchtig sah er sie durch. Die Motive hatten sich nicht geändert, Abzüge derselben pikanten Serie aus dem Hospital D’Amour der verschwundenen Astrid Pankrath: Kress in Latexhöschen, mit Handschellen ans französische Bett gefesselt, so wonnig lächelnd, daß er kaum wiederzuerkennen war.

Aber es gab einen Unterschied.

Ein Satz in Schreibmaschinenschrift quer über Astrid Pankraths Rotkreuzbrüste, in Großbuchstaben und unnötigerweise mit drei Ausrufezeichen bekräftigt: IHR MANN IST EIN SCHWEIN, UND BALD WIRD ES DIE GANZE STADT ERFAHREN!!!

»Das«, sagte Markesch bedächtig, »ändert natürlich alles.«

Kress schnaufte. Fahrig rührte er in seinem Kaffee und schielte über die Schulter hinweg zur Tür, als fürchtete er, daß jeden Moment neue Gäste hereinkommen und einen Blick auf die kompromittierenden Schnappschüsse erhaschen würden.

»Natürlich ändert das alles«, zischte er. »Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Es ist keine Erpressung. Man will mich ruinieren. Meinen guten Ruf zerstören. Und dieses miese kleine Drecksluder gibt sich dafür her. Es ist unglaublich!«

Markesch sah ihn mitleidlos an. Vielleicht war dies die falsche Reaktion, vor allem einem finanzkräftigen Klienten wie Walter Kress gegenüber, aber den Rest von Mitgefühl, den er über all die Jahre hinübergerettet hatte, benötigte er für sich selbst, auch wenn er bezweifelte, daß ihm so etwas wie Mitgefühl noch helfen konnte. Er hatte eine schreckliche Nacht hinter sich und vermutlich ein noch schrecklicheres Leben vor sich. Nase und Fuß waren lädiert, die Polizei hatte sein Auto entführt, und er stand immer noch am Anfang seiner Ermittlungen.

Schlimmer noch – sein Leidensweg durch das Rotlichtmilieu und die Drogenszene war umsonst gewesen. Er hatte die falschen Spuren verfolgt. Hinter der Fotofalle steckte kein kriminelles Gelichter vom Schlage eines Trucker oder Wolfgang Pankrath. Der Stadtrat hatte recht: Wer immer auch der Absender der Fotos sein mochte, ihm ging es nicht um Geld, sondern um Rache.

Er wollte Kress vernichten.

Und mit etwas Pech würde es ihm auch gelingen.

Aus den Augenwinkeln verfolgte Markesch, wie der Gibbon im Boss-Anzug mit über den Boden schleifenden Händen zur Tür trabte. Unterwegs kam er an einer einsamen Erdnuß vorbei, die ein morgendlicher Frühstücksgast aus seinem Vollwertmüsli verloren haben mußte. Ohne sich zu bücken, fischte er die Nuß vom Boden, beschnüffelte sie ausgiebig und steckte sie mit einem beifälligen Grunzer in den Mund.

Markesch schauderte.

»Ich brauche eine Liste Ihrer Feinde«, sagte er zu Kress, während er die Fotos zurück in den Umschlag schob. »Eine möglichst lückenlose Aufstellung. Politische Gegner, persönliche Widersacher, verflossene Liebschaften. Alle Personen, die ein Interesse daran haben könnten, Sie ruiniert zu sehen.«

Kress starrte ihn an. Dann lachte er. Humorlos, freudlos, verzweifelt wie ein Mann, der vor einem Erschießungskommando stand und nach einer letzten Zigarette verlangte, die ihm unter Hinweis auf die gesundheitlichen Gefahren des Tabakrauchens verwehrt wurde.

»Machen Sie Witze?« stieß er hervor. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Personen in Frage kommen? Da kann ich gleich das ganze Kölner Telefonbuch abschreiben!«

»Dann tun Sie es. Die Zeit drängt, und es ist Ihre einzige Chance. Der nächste Brief wird vielleicht nicht an Ihre Frau, sondern an die Presse gehen.«

»Großartig«, meinte Kress säuerlich. »Und was tun Sie in der Zwischenzeit? Das, was Sie bisher auch getan haben – nichts?«

»Genügt Ihnen der Zustand meiner Nase als Antwort, oder soll ich Ihnen auch noch meinen Fuß zeigen?«

»Ich … Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen.« Der Stadtrat fuhr sich mit den Fingern durch das schüttere Haar. »Sie werden Ihre Liste bekommen. Aber ich habe viele Feinde. Und ich traue jedem einzelnen von ihnen diese Schweinerei zu.«

»Wir werden den Richtigen schon herausfiltern, und dann …«

Er ließ den unvollendeten Satz optimistisch im Raum hängen und blickte wieder zum Eingang hinüber. Der Gibbon hatte die Vermessung der Tür inzwischen beendet und reichte Archimedes eine haarige Hand. Archimedes grinste breit übers bärtige Gesicht, als hätte er soeben erfahren, daß er der verschollene Sohn des Milliarden Petrodollar schweren Sultans von Brunei war, und riß die Tür auf. Der Gibbon trottete zu einem metallicblauen Mercedes Coupé, das protzig und provozierend vor dem Café parkte, schwang sich mit affenartiger Behendigkeit hinters Lenkrad und verschwand mit angeberisch röhrendem Motor im Berufsverkehr.

Walter Kress warf einen Blick auf seine Uhr und stand auf. »Heute abend haben Sie Ihre Liste, Markesch. Und machen Sie Druck. Wenn Sie Unterstützung brauchen, Helfer engagieren müssen, dann tun Sie es. Die Kosten spielen keine Rolle. Hauptsache, Sie finden diese Schlampe.«

Er neigte knapp den Kopf, zögerte noch einen Moment, als wollte er etwas sagen, aber dann wandte er sich wortlos ab und verließ mit schnellen Schritten das Café. Markesch blickte ihm nach und glaubte, die Angst des Stadtrats fast sehen zu können, ein fahler, seltsam verdrehter, grausiger Schatten, der ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Für einen Moment war er doch versucht, Mitleid mit ihm zu empfinden, aber dann dachte er an Astrid Pankrath und an die eine, wichtige Frage, die Walter Kress nicht gestellt, an die er wahrscheinlich nicht einmal gedacht hatte, und er sparte sich das Mitgefühl.

Denn wenn es bei den Fotos nicht um Erpressung, nicht um Geld ging, sondern um die Vernichtung von Kress – politisch, wirtschaftlich, privat – was sprang bei dem Geschäft dann für Astrid Pankrath heraus? War sie für ihre Mitarbeit so großzügig entlohnt worden, daß sie sich die nächsten Jahre nur noch zum Schlafen ins Bett legen mußte, und untergetaucht, bis Kress ruiniert war? Oder gab es einen anderen Grund dafür, daß sie unauffindbar blieb?

Einen mörderischen Grund?

»Neue Entwicklungen?« fragte Archimedes und starrte gierig den braunen Briefumschlag auf dem Tisch an. »Neue Fotos? Neues Geld?«

»Vor allem neue Arbeit.« Markesch schob den Umschlag mit den Fotos pietätvoll unter seine Nappalederjacke und informierte den Griechen mit knappen Worten über die Wendung des Falles. »Ich brauche mehr Informationen«, schloß er. »Alles Material, das du über Kress auftreiben kannst. Irgend jemand spielt Vendetta auf Pornographisch, und dieser Jemand muß einen guten Grund dafür haben. Vielleicht findet sich in der Presse ein Hinweis darauf, wer unseren sauberen Stadtrat genug hassen könnte, um seine Doktorspiele an die interessierte Öffentlichkeit zu zerren.«

»Ich habe ein Café zu führen. Ich muß expandieren. Ich habe keine Zeit, für dich den Hilfsschnüffler zu spielen.«

»Vielleicht den Oberhilfsschnüffler?«

»Oberhilfsschnüffler sind teuer.«

»Reichen fünfhundert?« sagte Markesch und wedelte mit fünf Hunderten aus dem Spesenfond. »Nur keine Ovationen. Es ist Kress’ Geld. Ich bin froh, wenn ich es los bin.«

»Da bist du bei mir genau richtig.« Archimedes ließ die Scheine in seiner Hand verschwinden. »Apatschen-Joe Arlt kann die Schmutzarbeit für uns erledigen, ein rasender Reporter, der früher bei der Rundschau gearbeitet hat, bis ihm der Terror der Mittelmäßigkeit zuviel wurde. Er ist jetzt freier Journalist und dankbar für jeden Auftrag, weil ihm seine sieben unmündigen Kinder und die Hühner, die er nebenbei züchtet, die Haare vom Kopf fressen. Ich laß ihn die Zeitungsarchive durchforschen und …«

»Keine Details. Hauptsache, er schafft die Informationen heran. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um meinen Wagen.« Markesch stand vorsichtig auf und humpelte zur Tür. Auf halbem Weg blieb er stehen. »Nebenbei – wer war der haarige Kerl mit dem Zollstock? Jemand vom Tierheim? Ein Insasse vielleicht? Und was hat er hier getan?«

Der Grieche griff nach einem triefendnassen Lappen, drehte ihm den Rücken zu und putzte den Tresen, als hätte er sich unversehens in einen Werbespot für Scheuermittel verirrt. »Du meinst den Aap? Er ist mein Innenarchitekt. Er hat nur was vermessen. Für die Renovierung, meine ich. Das ganze Café wird totalrenoviert. Das alles hier« – er machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Lappen und spritzte Wasser über die Tische – »der ganze Plunder hier kommt weg. Übermorgen geht’s los. Natürlich bringt es einige Unannehmlichkeiten mit sich, aber wenn es fertig ist, wirst du begeistert sein!«

Markesch wischte einige Wasserspritzer aus dem Gesicht. »Was für ein wahnsinniges Glück«, knurrte er. »Und ich hatte schon befürchtet, es könnte nicht mehr schlimmer werden.«

 

Das Depot für behördlich entführte Kraftfahrzeuge befand sich im Mauritiuswall, unweit vom Barbarossaplatz, nur ein paar Gehminuten vom Café Regenbogen entfernt – vorausgesetzt, man hatte zwei gesunde Füße und den nötigen jugendlichen Elan. Da Markesch weder das eine noch das andere hatte und es außerdem für einen schweren taktischen Fehler hielt, unmittelbar nach dem Genuß eines dreifachen Whiskys mit den beamteten Automardern zu reden, kehrte er in die nahe Pizzeria Pompeii ein, verzehrte eine Knoblauch-Pizza im Kingsize-Format und spülte sie mit mehreren Espressos hinunter. Er widerstand der Versuchung, die Mahlzeit mit einem Grappa abzurunden, und orderte ein Taxi, das nur Sekunden später mit quietschenden Reifen vor der Pizzeria vorfuhr.

Am Steuer saß Einstein Junior.

Er lächelte erfreut, als er Markesch wiedererkannte. »Mann, Sie sehen ja noch grauenhafter aus als beim letzten Mal! Was ist mit Ihrem Fuß passiert?«

»Kannibalismus.« Er legte den Sicherheitsgurt an und kippte die Rückenlehne nach hinten. »Sonst noch irgendwelche Fragen?«

»Nur die eine – wohin?«

»Zum Mauritiuswall. Aber fahren Sie vorsichtig. Ich bin zu alt, um der Concorde Konkurrenz zu machen.«

»Klar, Mann, sicher, Mann«, sagte Einstein Junior und gab Vollgas, als gälte es, noch vor dem Mittagessen die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten. Markesch schloß resignierend die Augen und meditierte über Archimedes’ dubiose Renovierungspläne, bis die Fahrt in der üblichen Orgie aus quietschenden Bremsen, rauchenden Reifen und knirschendem Getriebe vor dem festungsähnlich gesicherten Autoklau-Depot endete. Eine Videokamera beobachtete ihn mißtrauisch, als er zur Panzerglaskabine des Pförtners stiefelte und ohne Umschweife sein entführtes Auto zurückforderte. Aber als der Beamte hörte, um welches Fahrzeug es sich handelte, lachte er nur häßlich durch die Gegensprechanlage und schüttelte über soviel Naivität erschüttert den Kopf.

»Da sind Sie hier völlig falsch«, meinte er. »Am besten versuchen Sie’s mal auf dem Autofriedhof.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß Ihre Rostlaube umgehend aus dem Verkehr gezogen wurde.« Der Beamte grinste grausam. »Erstens war die TÜV-Plakette abgelaufen und zweitens …«

»Sie meinen, ich muß zum TÜV?«

Das Grinsen des Beamten wurde noch um eine Spur grausamer. »Nicht zum TÜV – zum Autofriedhof. Ihr Wagen hat sich beim Abschleppen in seine Einzelteile aufgelöst: Stoßstange, Auspuff, Kotflügel, alles war völlig durchgerostet und fiel auf die Straße. Tscha, und das hat dann zu diesem kleinen Unfall mit dem Dreißig-Tonner-Diesel geführt …« Er sah, wie sich Markeschs Gesicht veränderte, und fügte beruhigend hinzu: »Keine Sorge, dem Fahrer des Abschleppwagens ist nichts passiert.«

»Zum Henker mit dem Fahrer! Was ist mit meinem Ford?«

»Lassen Sie es mich mal so ausdrücken: Wenn Sie ’ne Flunder wären oder ’ne Sardine, dann wäre Ihr Ford das ideale Auto für Sie. Aber so taugt er gerade noch für die Schrottpresse.« Der Beamte grinste und grinste, als wollte er sich als Kandidat für einen Hannibal-Lecter-Double-Wettbewerb qualifizieren. »Die Abschleppkosten werden Ihnen natürlich trotzdem in Rechnung gestellt. Von den Bußgeldern wegen unerlaubten Betriebs eines Kraftfahrzeugs und fahrlässiger Herbeiführung eines schweren Unfalls ganz zu schweigen …«

Markesch schnappte nach Luft. »Das ist ein Scherz, nicht wahr? Klar ist es ein Scherz. Es muß einer sein. Denn wenn es keiner ist, wird irgend jemand dafür bezahlen müssen, und Gott steh mir bei, ich werde es nicht sein!«

»Lassen Sie Gott aus dem Spiel«, quäkte es unbeeindruckt aus der Gegensprechanlage. »Wenn Ihnen überhaupt noch jemand helfen kann, dann ein guter Anwalt, doch selbst das ist fraglich.«

Markesch murmelte einen Fluch, wirbelte herum und humpelte wütend davon. Jesus Christus, dachte er, was ist nur aus dieser Stadt geworden? Ein Irrenhaus, in dem keiner weiß, wer die Wärter sind und wer die Kranken. Und das Schlimmste ist: jeder hält sich für normal.

Er erreichte den Barbarossaplatz und wollte soeben bei McDonald’s einkehren, um sich mit einigen Cheeseburgern den Tag endgültig zu verderben, als ein Taxi heranbrauste und mit quietschenden Reifen an seiner Seite hielt. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen, und Einstein Junior grinste ihm entgegen.

»He, Mann, was ist los? Ich dachte, Sie wollten Ihr Auto abholen.«

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er und stieg resignierend ein. »Warum autofahren, wenn man fliegen kann?«

Einstein Junior lachte und ließ übermütig den Motor aufheulen. Markesch schloß ergeben die Augen und spürte, wie das Taxi abhob, um nur wenige Sekunden später vor dem Café Regenbogen zu landen.

»Hier ist meine Nummer«, sagte Einstein Junior beim Abschied und drückte ihm eine Karte in die Hand. »Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Okay, Mann?«

»Sie ahnen gar nicht, wie sehr mich das beruhigt.«

Das Café hatte sich inzwischen gefüllt. An den Tischen verteilt, wie Schiffbrüchige, die es auf die Inseln eines gastronomischen Archipels verschlagen hatte, saßen einzelne junge Leute mit rosigen Gesichtern und traurigen Augen, vielleicht Soziologiestudenten von der nahegelegenen Universität, die Feldstudien über die soziale Vereinsamung in der Masse betrieben. Bedient wurden sie von der Tageskellnerin Sophie, die ganz in Weiß gekleidet war und magisch lächelnd durch das Lokal tänzelte, als wäre dies der Tag ihrer alchimistischen Hochzeit. Von Archimedes war nichts zu sehen; wahrscheinlich suchte er bereits in den Pressearchiven nach Informationen über die Feinde von Walter Kress.

Markesch humpelte zum Tresen, nahm seine Privatflasche Scotch und ein Wasserglas vom Regal und ließ sich ächzend an seinem Tisch nieder. Sophie trat näher und betrachtete kritisch seine geschwollene Nase, seinen bandagierten Fuß.

»Stirbst du jetzt stückweise, oder ist das nur deine neue Masche, um die Gäste zu vergraulen?«

»Geh mir aus den Augen, Kleines«, knurrte er unwirsch. »In meiner Stimmung bin ich glatt zu einem Mord fähig, und ich möchte nicht wegen dir den Rest meines Lebens in einer Zelle verbringen.«

»Schon verstanden, Quasimodo.« Sie drehte sich um, beugte sich weit über den Tresen, daß er ganz gegen seinen Willen einen tiefen, pulsbeschleunigenden Einblick in ihre schwarze Seidenunterwäsche bekam, und zog einen eng beschriebenen Zettel unter dem Telefon hervor. »Dieser Enke hat für dich angerufen; großherzig, wie ich bin, habe ich alles notiert. Hoffentlich kannst du lesen.«

Sie rauschte davon. Markesch griff nach dem Zettel und studierte Sophies feine Kleinmädchenhandschrift, aber seine Hoffnung auf einen entscheidenden Durchbruch bei den Nachforschungen in Sachen Strapslady wurde enttäuscht. Im Polizeicomputer waren nur wenige Daten über sie gespeichert, und die waren uralt und stammten aus der Zeit, als Astrid Pankrath noch auf dem Straßenstrich am Eigelstein ihrem Gewerbe nachgegangen war. Seit ihrem Wechsel ins Eroscenter an der Hornstraße und später ins Nippeser Hospital D’Amour gab es keine Erkenntnisse über sie, nicht einmal ein Bußgeld wegen falschen Parkens.

Allerdings wies Enke auf einen noch älteren Vorgang hin, der trotz Datenschutzgesetz und Verjährungsfristen in den unergründlichen Polizeiarchiven überwintert hatte – vor zwölf Jahren, mit sechzehn, hatte Astrid Pankrath ihren Vater und ihren ältesten Bruder Wolfgang wegen sexuellen Mißbrauchs angezeigt, die Anzeige kurz darauf aber wieder zurückgezogen. Warum, blieb unklar. Vielleicht war sie von ihrer Familie unter Druck gesetzt worden. Vielleicht war sie vor den Konsequenzen zurückgeschreckt. Oder man hatte ihr bei der Polizei nicht geglaubt. Daß die Sache auch von Amts wegen nicht weiterverfolgt worden war, deutete zumindest darauf hin.

Markesch füllte das Wasserglas bis zum Rand mit Whisky und kippte es in einem Zug hinunter. Das, dachte er düster, erklärt natürlich, warum Astrid Pankrath keinen Kontakt zu ihrem Bruder Wolfgang hat. Diese Ratte! Gott, es ist schrecklich – die eigene Schwester … Für einen Moment war er versucht, zum Telefon zu greifen und Enke über Wolfgang Pankraths Verwicklung in Truckers Kokaingeschäfte zu informieren, aber er zähmte seinen Zorn. Er mußte ökonomisch denken. Vielleicht brauchte er Enkes Hilfe noch einmal, und dann mußte er dem Kommissar eine Gegenleistung bieten können.

Er füllte das Glas auf und brütete nach über sein weiteres Vorgehen.

Sobald er Kress’ Haßliste hatte, konnte er sich noch einmal Trucker vornehmen. Mit Sicherheit kannte der Zuhälter einige von Astrids Kunden, und vielleicht stand einer davon auf der Liste der Kress-Feinde, was ihn sofort zum Haupttatverdächtigen machen würde … Und Denise? Immerhin war sie Astrids Freundin. Möglicherweise wußte sie mehr, als sie bisher zugegeben hatte; ihr Verhalten war jedenfalls nicht unverdächtig. Und er hatte ohnehin noch eine Rechnung mit ihr zu begleichen. Es konnte sich auch lohnen, noch einmal nach Nippes zu fahren und Astrid Pankraths ehemalige Nachbarn zu befragen …

Ein Auto, dachte Markesch. Ich brauche einen neuen Wagen. Noch eine Fahrt mit Einstein Juniors Überschall-Taxi überstehe ich nicht.

Er trank, und draußen verdämmerte der Tag. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit tauchte ein Bote auf und lieferte einen Umschlag mit dem Aufdruck Walter Kress, Stadtverordneter, ab.

Markesch öffnete den Umschlag und fand die erwartete Liste, eine zweiseitige Aufstellung von Namen, die ihm nichts sagten, garniert mit Kress’ handschriftlichem Vermerk, daß die Liste unvollständig war, alle Welt ihn haßte und er für sein gutes Geld endlich Resultate sehen wollte. Eine Stunde später traf Archimedes im Café ein, ein dickes Bündel fotokopierter Zeitungsartikel in der Hand, die Ergebnisse von Apatschen-Joe Arlts Forschungsarbeit in den Archiven des Stadtanzeigers, der Rundschau, des Express und der Stadtrevue, wie er verkündete.

»Die ganze Aktion hat mich deine Fünfhundert und eine Flasche Tequila gekostet«, nörgelte er. »Von der verlorenen Zeit ganz zu schweigen. Ich verlange eine Prämie!«

Markesch ignorierte die Bemerkung. »Fantastisch«, brummte er und wog das Bündel in der Hand. »Das Zeug ist mindestens fünf Pfund schwer. Ich werde Rentner sein, ehe ich alles durchgearbeitet habe.«

»Malaka, was ist los? Kein Vertrauen zu deinem erbärmlich bezahlten Oberhilfsschnüffler?« konterte der Grieche. »Ich habe das Material schon analysiert und drei Leute herausgesiebt, die Kress in purem Haß verbunden sein dürften.« Er zog einen Zettel aus der Tasche. »Natürlich gibt es noch jede Menge weitere Kandidaten, aber diese drei dürften die überzeugendsten Motive haben: Leo Schrattner, Exstadtverordneter, Karl-Heinz Zosch, Exvertrauter von Kress und Corinne von Bohlen, Witwe von Ludwig von Bohlen, den dein guter Stadtrat auf äußerst bösartige Weise ruiniert …«

»Moment«, unterbrach Markesch und warf einen Blick auf Kress’ Liste. Er pfiff leise durch die Zähne. Der Name Schrattner stand am Anfang der Aufstellung und war zusätzlich rot unterstrichen. Der Bericht im Kölner Stadtanzeiger fiel ihm ein: Leo Schrattner, der Politrebell, der Kress’ Klüngelpraktiken angeprangert hatte und daraufhin all seiner Ämter enthoben worden war … Ein paar Zeilen weiter unten stieß er auf Zosch. Nur Corinne von Bohlen fehlte. Er blickte auf. »Was war mit dieser von Bohlen und ihrem Mann?«

»Ihr Mann ist tot.« Archimedes sah ihn bedeutungsschwer an. »Er hat sich im Gefängnis erhängt. Und manches deutet darauf hin, daß Kress ihn nicht nur in den Knast gebracht, sondern auch in den Selbstmord getrieben hat.«

»Reizend«, knurrte Markesch.

Das Telefon klingelte. Archimedes hob ab, lauschte kurz und reichte den Hörer weiter. »Für dich.«

»Ja?«

»Hallo, Schnüffler«, drang ein vertrauter samtweicher Bariton aus der Hörmuschel. »Was hältst du davon, wenn ich demnächst bei dir vorbeischaue und dir alle Knochen breche?«

»Klingt nach einer großartigen Methode, einen langweiligen Sonntagnachmittag zu verbringen«, gab er zurück. »Rufen Sie mich nur an, um die Vorfreude zu steigern, Trucker, oder gibt es einen Grund, den ein halbwegs normaler Mensch nachvollziehen kann?«

»Wenn du deine Nase behalten willst, solltest du sie nicht in meine Geschäfte stecken, Schnüffler. Ich habe sowieso schon genug Ärger. Also laß die Finger von Wolfgang Pankrath, oder ich mach’ dich fertig, verstanden?«

»Er ist Astrids Bruder. Es gehört zu meinem Job, alle Spuren zu verfolgen.«

»Aber er weiß nicht, wo seine Hurenschwester steckt, kapiert? Und in deinem Interesse ist es besser, wenn du sofort alles vergißt, was du gestern gehört oder gesehen hast.«

»Wen interessiert das Gestern, solange es ein Morgen gibt?«

Aus dem Hörer drang ein gepreßtes Stöhnen. »Immer einen flotten Spruch auf den Lippen, was? Aber das werde ich dir eines Tages schon noch austreiben.« Das Stöhnen wiederholte sich. Es klang fast obszön.

»Was ist los, Trucker? Was soll das Gestöhne? Wollen Sie ins Telefonsexgewerbe einsteigen?«

»Mach ruhig weiter deine Witze, Schnüffler. Du kannst von Glück sagen, daß ich einen kleinen Unfall hatte. Sonst wäre ich persönlich vorbeigekommen, um dir die Hausen auszutreiben.«

Ein kleiner Unfall? Markesch grinste in den Hörer. Offenbar hatten Ronnies Geldeintreiber Trucker einen Besuch abgestattet.

»Nebenbei«, sagte er laut, »kennen Sie einen Schrattner? Leo Schrattner?«

»Nie gehört. Wer soll das sein? Ein Waldschrat?«

»Wie ist’s mit Karl-Heinz Zosch?«

»Zosch …? Zosch …? Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor …«

»Möglicherweise ein alter Kunde von Astrid.«

»He, klar, jetzt fällt’s mir ein – der perverse Kalle!« Trucker lachte verächtlich. »Astrid hat ein paar Mal von ihm erzählt. Ein stinkreicher Spediteur und völlig abgedrehter Freak. Stand auf Peitschen und Nadeln, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ich versuche gerade, es zu verdrängen.«

»Wieso? Was ist los? Was hat dieser Zosch mit der Sache zu tun? Steckt Astrid etwa bei …«

»Keine voreiligen Schlüsse«, warnte Markesch. »Ich überprüfe nur ein paar Namen.«

»Okay, du bist der Schnüffler. Aber ich warne dich. Wenn du irgend was herausfindest, will ich es wissen, kapiert? Du kannst mich im Fitneßstudio Bodyshape erreichen, Tag und Nacht.« Er nannte ihm die Telefonnummer und eine Adresse in der Innenstadt. »Ich verlaß mich auf dich. Du willst doch nicht, daß Blackie vorbeikommt und alles aus dir herausbohrt, oder?« Er gab ein hämisches Lachen von sich, das aber sofort in einem gepeinigten Stöhnen erstarb. »Also halte dich an unsere Abmachung. Ich melde mich wieder.«

Klick. Trucker hatte aufgelegt.

»Zosch?« fragte Archimedes.

»Ist er Spediteur?«

Der Grieche nickte.

»Bingo«, sagte Markesch.