11
Der Besuch in der Bohlen-Gruft hatte Markeschs ohnehin überstrapaziertes Nervenkostüm bedenklich zerrüttet, und als er humpelnd den stark befahrenen Ehrenfeldgürtel überquerte, tief in Gedanken versunken, und blind für das warnende Rot der Ampel, entging er nur um Haaresbreite der Stoßstange eines heranrasenden VW-Busses. Der Bus machte eine Vollbremsung, schleuderte auf den Radweg und prallte fast gegen einen Baum, ehe er schief auf dem Bürgersteig zum Stehen kam.
Im ersten Schreck drohte Markesch dem Unglücksfahrer brutal mit der Faust und bemerkte erst im zweiten Schreck, daß der Mann am Steuer kein Mensch, sondern ein Monstrum war, als wäre er als Kind in einen Eimer mit Wachstumshormonen gefallen, eine einzige ungeheuerliche Muskelwucherung aus Dr. Frankensteins Bodybuildingstudio. Tatsächlich prangte an der Seite des Busses das Logo eines Fitneßstudios, ein Schriftzug, so schwungvoll-modern wie unleserlich, der sich wie eine Schlange um den Bizeps eines Supermannes wand.
Das Monstrum kurbelte die Scheibe hinunter und deckte ihn mit wüsten Beschimpfungen und ernstzunehmenden Morddrohungen ein, aber ehe er aussteigen und seine Drohungen in die Tat umsetzen konnte, floh Markesch in die gegenüberliegende Filiale von McDonald’s.
Einstein Junior erwartete ihn hinter einem Berg Cheeseburger und Fritten, die er mit der Gefräßigkeit eines ausgehungerten Heuschreckenschwarms in sich hineinstopfte. Er blinzelte vergnügt und fragte kauend: »He, Mann, was machen die verschwundenen Füße?«
»Der erste Zeh ist aufgetaucht, das Puzzle fügt sich zusammen«, knurrte Markesch und zog ihn von seinem Plastikstuhl hoch. »Genug geschlemmt. Ich brauche einen Scotch, und zwar sofort!«
Junior protestierte lautstark, doch Markesch war nicht in der Stimmung, auf die Proteste eines Fast-Food-Junkies zu achten. Er zerrte ihn nach draußen ins Taxi und ließ sich mit der üblichen Überschallgeschwindigkeit in die Südstadt chauffieren, wo er an der Alteburger Ecke Teutoburger Straße ausstieg und auf einen dreifachen Whisky ins Litho stiefelte. Die Kneipe mit Fisch wurde von einem Dreigestirn griechischer Löschspezialisten geführt, die ihr Leben dem Kampf gegen den verderblichen Durst verschrieben hatten, und war genau die richtige Anlaufstation für einen Privatschnüffler in der Sinnkrise.
Er bestellte bei der faszinierend blonden Bedienung ein Wasserglas voll Johnny Walker, ignorierte das Publikum aus trunksüchtigen Schriftstellern, alkoholisierten Filmkritikern und extrem beduselten Snap-On-Tools-Dealern und dachte über Corinne von Bohlen und die erstaunliche Wirkung der Hormone nach. Dann kam der Scotch, und er wandte sich praktischeren Dingen zu.
Ganz gleich, was Corinne von Bohlen mit seinen Hormonen auch angestellt haben mochte, weder sie noch Leo Schrattner schienen im Fall Kress als Täter in Frage zu kommen, trotz ihrer geradezu perfekten Motive und der Tatsache, daß er dringender denn je einen Täter brauchte. Schrattner war längst jenseits aller irdischen Dinge, und Corinne von Bohlen hatte sich zusammen mit ihrem verstorbenen Mann begraben. Sicher, da war ihr Faible fürs Fotografieren, aber so, wie sie auftrat, hatte sie nicht einmal die Kraft, einen Film ins nächste Fotolabor zu bringen.
Und dann noch dieser Mein-toter-Mann-besucht-mich-manchmal-zum-Fünfuhrtee-in-Köln-Ehrenfeld-Wahn. Vielleicht nichts Ungewöhnliches für Ehrenfeld, aber trotzdem …
Markesch schauderte.
Furchtbar, dachte er. So schön, so süß und so verdreht. Einfach grauenhaft. Und das Schlimmste ist: Ich arbeite für den Mann, der ihr das angetan hat! Er kippte erschüttert den Whisky hinunter und orderte bei der Blondine ein neues Glas. Natürlich, sinnierte er zwischen den einzelnen Schlucken, war Wahnsinn kein endgültiger Unschuldsbeweis. Aber eine Tatsache sprach ganz klar für sie – wie bei Schrattner fehlte jede Verbindung zu Astrid Pankrath.
Was seine Gedanken zu Karl-Heinz Zosch brachte.
Zosch war ganz und gar nicht der nüchtern kalkulierende, von allen Rachegedanken freie Unternehmer, für den er sich ausgab. Er hatte versucht, Corinne von Bohlen für seine Rachepläne einzuspannen, und verfügte über immense kriminelle Energie – vorausgesetzt, er war tatsächlich in den Kokainschmuggel verwickelt. Was am schwersten wog, er war der einzige unter den Verdächtigen, der Astrid Pankrath gekannt hatte.
Markesch leerte das Glas, ging an der Theke vorbei zum Münzfernsprecher neben den Toilettentüren und rief im Café Regenbogen an. Vielleicht hatte Archimedes inzwischen Zoschs finanziellen Hintergrund durchleuchtet oder sonst irgendwelche Informationen beschafft, die die dubiose Rolle des Spediteurs erhellen konnten. Ein gelangweiltes Grunzen meldete sich, und für einen Moment glaubte er, versehentlich die Nummer des Zoos gewählt zu haben, bis ihm klar wurde, daß es sich nur um den Aap handeln konnte. Probeweise grunzte er zurück, der Aap grunzte wieder, interessierter diesmal, und nach einem Grunzer hier und einem Grunzer da bekam er Sophie an den Apparat. Sie zeigte wenig Begeisterung über seinen Anruf und beschwerte sich darüber, daß Archimedes unterwegs war und sie mit dem Aap und dem Renovierungschaos allein gelassen hatte. Immerhin hatte sie einige Telefonate notiert, die im Lauf des Nachmittags für ihn eingegangen waren.
Die erste Nachricht stammte von Kommissar Enke. Er hatte sich wütend über seine ›fragwürdigen Tips‹ in Sachen Trucker und Blackie beschwert, die die Drogenfahndung keinen Schritt weiter gebracht hätten, umgehenden Rückruf verlangt und im Weigerungsfall ein Ermittlungsverfahren »wegen Irreführung der Polizei« angedroht. Offenbar waren die Spürnasen vom Kölner Rauschgiftdezernat den gerissenen Anabolika-Zwillingen noch nicht auf die Spur gekommen.
Markesch nahm die Drohung mit dem Ermittlungsverfahren gelassen hin. Erstens war es Enkes größte Leidenschaft, Gott und der Welt mit polizeilichen Zwangsmitteln zu drohen, und zweitens würde ihm sein Kripo-Spezi begeistert den lädierten Fuß küssen, wenn er erfuhr, was die Spedition Zosch alles über die deutsch-polnische Grenze transportierte.
Die zweite Nachricht hatte Walter Kress hinterlassen und ließ sich auf die schlichte Form »Entweder Sie liefern bald Ergebnisse, oder Sie sind gefeuert« reduzieren.
»Ich hasse ungeduldige Klienten«, brummte Markesch in den Hörer. »Ungeduldige Klienten deprimieren mich.«
»Weil sie dich in deiner Leichenstarre stören?« vermutete Sophie mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit.
»Weil sie damit einen erschreckenden Mangel an Vertrauen zeigen, und mangelndes Vertrauen führt in den meisten Fällen zu verzögerten Honorarzahlungen. Aber lassen wir das. Wer war der dritte Anrufer?«
»Der Typ sagte, er sei der Katschmarek.«
»Der Katschmarek?« Markesch zog irritiert die Stirn in Falten. »Nie gehört. Wer soll das sein?«
»Wahrscheinlich einer deiner Kumpels vom Südfriedhof«, meinte Sophie. »Er faselte irgendwas von toten Großtanten, Schrumpfköpfen und zehn Prozent Provision …«
Natürlich, der Katschmarek – der vergilbte, geldgierige kleine Hausmeister von Astrid Pankraths Nippeser Hospital D’Amour! Daß sich der Hausmeister gemeldet und die versprochene zehnprozentige Provision auf die Schrumpfkopfsammlung der Großtante aus Papua-Neuguinea einforderte, konnte nur bedeuten, daß er herausgefunden hatte, wohin die Pankrath umgezogen war.
Endlich eine heiße Spur, dachte er fiebrig. Endlich Resultate!
»Hat er sonst noch was gesagt?« fragte er gespannt.
»Nur, daß du so schnell wie möglich vorbeikommen und die zehn Prozent mitbringen sollst. Das war alles.«
»Großartig«, jubelte Markesch. »Damit hast du dir einen dicken Kuß verdient und … Sophie? Sophie?«
Aber die Leitung war bereits tot. Sie hatte einfach aufgelegt. Zweifellos war die Freude, demnächst von ihm geküßt zu werden, zuviel für ihre sensible Seele gewesen. Er versuchte, Walter Kress zu erreichen, bekam aber nur seine Sekretärin an den Apparat. Im Interesse der Diskretion verzichtete er darauf, eine Nachricht zu hinterlassen, zahlte bei der blonden Bedienung seinen Whisky und eilte nach draußen, wo Einstein Junior geduldig im Taxi auf ihn wartete.
»Wohin jetzt, Mann?«
»Nach Nippes«, befahl Markesch, während er den Sicherheitsgurt anlegte und entschlossen festzurrte. In seinen Augen glitzerte es todesmutig. »Und vergessen Sie, was ich über die Einhaltung der Lichtgeschwindigkeit gesagt habe. Dies ist ein Notfall – und ich verlange Tempo!«
»Sie wollen Tempo?« schrie Junior begeistert. »Sie wollen wirklich Tempo? Gott steh uns bei, Sie sollen Tempo bekommen!«
Und dann hoben sie ab, aus dem Stand, kompromißlos, rücksichtslos, bodenlos, als wären die Gesetze der Physik und die Regeln des Bundesverkehrsministeriums exklusiv für sie aufgehoben worden, die Straßen geräumt, die Ampeln auf grüne Welle geschaltet, als gäbe es kein Morgen mehr, keine Strafmandate und keine Grenzen der medizinischen Heilkunst. Nur die eiserne Entschlossenheit, den Fall Walter Kress aufzuklären und das dringend benötigte Erfolgshonorar zu kassieren, ließ Markesch die infernalische Fahrt nach Nippes ohne Kollaps und Psychose überstehen.
Als er nach Sekunden, wie ihm schien, vor dem marmorverkleideten Appartementhauskomplex an der Niehler Straße ausstieg, fühlte er sich wie ein Testpilot, der soeben Einstein Seniors Theorie der Relativität von Raum und Zeit experimentell bewiesen hatte. Junior hingegen zeigte nur die übliche Befriedigung, seinen Himmelfahrtsjob gut erledigt zu haben, und rief ihm nach, bloß auf seine Füße aufzupassen.
Markesch fand den Katschmarek nach längerem Suchen und Herumirren in einer Kammer auf dem Dachboden, die bis zur Decke mit Käfigen vollgestopft war, in denen Tauben aller Größen und Farben geschäftig vor sich hin gurrten. Im trüben Licht einer 60-Watt-Sparglühbirne sah der Schmächtige noch vergilbter aus als bei seinem letzten Besuch. Er grinste erfreut, als Markesch in den Taubenverschlag platzte, und wuchtete einen Sack Vogelfutter von einem altersschwachen Holzstuhl.
»Das ging ja flott«, sagte er anerkennend. »Setzen Sie sich doch, junger Mann. Und halten Sie Ihren Kopf aus dem Licht – mit Ihrer Nase verschrecken Sie mir sonst noch die Tauben.«
Markesch ignorierte die Bemerkung. »Sie haben Informationen für mich? Über die Schmidt?«
Der Katschmarek blieb ihm in Sachen Ignoranz nichts schuldig. »Alles meine Kinder«, erklärte er und deutete stolz auf die eingekerkerte Taubenschar. »Selbst gezüchtet, preisgekrönt und verdammt teuer im Unterhalt. Aber dafür fliegen sie nonstop bis Neapel und zurück.«
»Hoffentlich werden sie unterwegs nicht von der Mafia gekidnappt.«
»Das wäre eine Katastrophe. Bei meinem Hausmeistergehalt ist Lösegeld nicht drin.« Der Katschmarek rieb nachdenklich sein spitzes Kinn. »Aber auch so kosten mich meine Lieblinge mehr, als für meine Ehre gut ist. Sie kennen ja die Weiber.« Er zwinkerte Markesch in einem Anflug von Männerkumpanei zu. »Weiber kapieren einfach nicht, daß ein Mann ein Hobby haben muß, auch wenn es ihn finanziell ruiniert …«
Markesch seufzte und griff in die Innentasche seiner Nappalederjacke. Die Hunderter aus Kress’ Spesenfond knisterten vertrauenerweckend zwischen seinen Fingern. »Vergessen Sie den Ruin«, meinte er aufmunternd. »Denken Sie lieber an die hohe Belohnung aus dem Schrumpfkopferbe der seligen Großtante.«
Der Katschmarek starrte gierig. »Was meinen Sie, was für mich drin ist? Ein Tausender? Oder zwei?«
»Hängt ganz davon ab, ob die Schrumpfköpfe ihren Weg zur rechtmäßigen Erbin finden oder nicht. Wissen Sie, wo die Schmidt steckt?«
»Nicht direkt«, erklärte der Schmächtige und rückte mit dem Stuhl näher zu den knisternden Geldscheinen. »Aber ich hab’ mich bei den Nachbarn umgehört. Die meisten wußten von nichts, nur Frau Schmoritzky aus dem dritten Stock – ’ne liebenswerte alte Dame, schenkt mir immer ’nen Sack Brotkrusten zu Weihnachten für die Tauben – also, Frau Schmoritzky hat gesehen …« Er brach ab und grinste schlau. »Sagten Sie nicht eben was von dreitausend Mark Belohnung?«
»Was halten Sie davon, wenn ich Frau Schmoritzky selbst befrage?« konterte Markesch. Er zählte zehn Hunderter ab und hielt sie dem Katschmarek lockend vor die Nase. »Riskieren Sie nichts! Denken Sie an die Altersversorgung Ihrer Tauben!«
»Ich denke an nichts anderes … Jedenfalls hat Frau Schmoritzky in aller Herrgottsfrühe die Fenster geputzt. Ich meine, an dem Tag, als die Schmidt auszog.«
»Und?«
»Die Schmidt war nicht allein, sagt Frau Schmoritzky. ’ne andere Frau hat sie mit dem Auto abgeholt, mit ’nem schicken Sportwagen, ’nem roten Flitzer, der …«
In Markesch läutete eine Alarmglocke. »Wie sah die Frau aus?«
»Muß ’n richtiger Feger gewesen sein«, grinste der Katschmarek zotig. »Meinte jedenfalls Frau Schmoritzky, auch wenn sie’s anders ausgedrückt hat. Superfigur und so. Wahrscheinlich ’ne Kollegin der Schmidt, ’ne Horizontale, ha, ha! Ach, und rote Haare soll sie gehabt haben.«
Roter Sportwagen, dachte Markesch, rote Haare.
Denise!
Das kann nur Denise gewesen sein. Die heimtückische Liebesdame aus der Black Lagoon, die ihre Freundin Astrid angeblich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat.
Gott, dachte er, all diese Lügen! Sie machen mich krank …
»Heißen Dank, Meister«, sagte er laut, mit Grimm in der Stimme, und drückte dem Katschmarek das Bündel Hunderter in die offene Hand. »Kaufen Sie Ihren Tauben dafür ein Hörgerät!«
Er wandte sich ab, aber der Schmächtige hielt ihn am Ärmel fest.
»Nicht so eilig, junger Mann! Das war noch nicht alles. Die Schmidt hat nämlich nicht persönlich ihre Möbel und Kisten geschleppt, die hat schleppen lassen, von ’nem Umzugsunternehmen. Frau Schmoritzky konnte sich an den Namen der Firma nicht mehr genau erinnern, aber sie sagte, der Laster wäre grün gewesen, mit ’ner roten Schrift auf gelbem Grund, irgendwas wie Hosch oder Bosch oder so …«
Markesch starrte den Katschmarek an.
Zosch! dachte er. Du Bastard!
Das Taxi schleuderte vom Parkgürtel, scheuchte eine Radfahrerkolonne von der Kreuzung und geradewegs ins nächste Gebüsch und schoß mit unvermindertem Tempo dem Gelände der Spedition Zosch entgegen. Die Toreinfahrt mit dem eingerußten Pförtnerhäuschen kam rasend schnell näher, aber Einstein Junior verringerte die Geschwindigkeit nur gerade soweit, daß sie von der Fliehkraft nicht in die Erdumlaufbahn katapultiert wurden, als er das Steuer herumriß und der Wagen in einem Winkel von fast neunzig Grad in die Einfahrt schlingerte.
Markesch schloß die Augen.
Wenn ihnen jetzt einer von Zoschs neuen Kühllastern entgegenkam …
Schrilles Bremsenquietschen schien seine Befürchtung für einen grausigen Moment zu bestätigen. Er wurde nach vorn geschmettert, daß der Sicherheitsgurt tief in sein Fleisch schnitt, und schickte vorbeugend ein Stoßgebet zu St. Marlowe, dem Schutzheiligen der Privatschnüffler, doch das Krachen und Bersten des befürchteten Zusammenstoßes blieb aus, und das Dröhnen des Motors sank zu einem zufriedenen Brummen herab.
Er schlug die Augen auf.
Sie standen direkt vor dem Eingang des postmodernen Verwaltungsgebäudes. Schräg gegenüber auf dem Fahrzeughof parkten zwei Kleintransporter und ein Speditionslaster, grün lackiert, mit rotem Schriftzug ZOSCH UMZÜGE auf gelbem Grund. Vielleicht derselbe Truck, der Astrid Pankraths weltliche Besitztümer vom Nippeser Hospital D’Amour in ihre neue, bislang unauffindbare Wohnung befördert hatte. Von dem modernen Kühlwagen mit dem EUROFRACHT-Logo, der legale Güter in den Osten karrte und mit Kokain nach Köln zurückkehrte, fehlte jede Spur.
Möglicherweise war er bereits wieder nach Polen unterwegs.
»Warten Sie auf mich«, wies Markesch Einstein Junior an und öffnete die Tür. »Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, verschwinden Sie und rufen Kommissar Enke von der Kölner Kripo an.«
Junior hielt ihn am Ärmel fest. »He, Mann, Sie sollten nicht allein da hineingehen! Wenn diese Fußdealer wirklich so gefährlich sind …«
»… habe ich die richtige Antwort für sie.« Er lüftete kurz die Nappalederjacke und enthüllte den Knauf der .357er Magnum. »Die Kleine schreckt jeden kriminellen Orthopäden ab, glauben Sie mir.«
»O Mann!« Juniors Augen funkelten begeistert. »O Mann! Das ist ja wie im Krimi!«
»Wem sagen Sie das«, brummte Markesch und stieg aus.
»Sie da!« krähte eine aggressive Stimme quer über den Hof. »Sie können da nicht parken! Verschwinden Sie! Oder ich rufe die Polizei!«
Es war der Pförtner. Der häßliche kleine Kerl hatte sein Häuschen verlassen und watschelte mit der Grazie eines nervösen Pinguins auf ihn zu. Dabei wedelte er mit den Armen, als wollte er die Eindringlinge mit der Kraft magischer Gesten vertreiben. Als Markesch sich umdrehte und ihm das Gesicht zuwandte, blieb er abrupt stehen.
»Sie schon wieder …!« keuchte er.
»Keine Ovationen«, bat Markesch freundlich. »Das schadet meinem schlechten Ruf beim Gewerbeaufsichtsamt.«
»Das ist eine unverschämte Lüge!« kreischte der Pförtner. »Ich weiß Bescheid! Der Chef hat mich informiert! Sie kommen nicht von der Stadt! Sie sind ein …«
»Keine Beleidigungen!« unterbrach ihn Markesch und steuerte den Eingang des Verwaltungsgebäudes an. »Zumindest nicht in dieser Tonlage. Oder ich brumme Ihnen ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die Lärmschutzvorschriften auf.«
Doch seine Drohung verpuffte. Der Pförtner stürzte sich todesmutig auf ihn, klammerte sich an seine Jacke, zog und zerrte wie ein Besessener. »Sie dürfen da nicht rein! Sie haben Hausverbot! Der Chef will sie nicht mehr sehen! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Ruft die Poli …«
Markesch packte ihn am Kragen, und sein Geschrei erstarb in einem panischen Gurgeln. »Ich bin die Polizei«, zischte er. »Ihr Chef steht in dem dringenden Verdacht, der Mastermind einer Bande krimineller Orthopäden zu sein, der hilflosen alten Damen die Füße amputiert, also stören Sie meine Ermittlungen nicht.«
Der Pförtner wurde aschfahl.
Er schluckte.
Rang sich ein verzerrtes Lächeln ab.
»Na-na-na-natürlich«, stotterte er im besten Rapper-Deutsch. »Ich wollte doch nur … Ich meine, ich mach’ doch nur meine Arbeit!«
»Dann machen Sie weiter. Am besten irgendwo, wo Ihre Füße sicher sind.«
Markesch ließ ihn los, riß die Glastür auf und stiefelte in den dritten Stock. Das furchtbare Geschrei des Pförtners hatte die Angestellten aus ihren Büros gelockt, aber niemand wagte es, sich ihm entgegenzustellen, bis er Zoschs Vorzimmer erreichte und auf die strenggesichtige Ledersekretärin stieß.
Sie hatte sich vor der Tür zum Chefbüro aufgebaut, eine Papierschere in der Hand, mörderische Entschlossenheit in den Augen, und schien alles in allem bereit, ihren Chef mit ihrem Leben zu verteidigen. Entweder war sie ein leuchtendes Vorbild an Betriebsloyalität, oder Karl-Heinz Zosch war wesentlich mehr für sie als nur der Mann, der ihren Gehaltsscheck unterschrieb. Er marschierte unbeeindruckt auf sie zu.
»Keinen Schritt weiter«, keuchte sie. »Oder, bei Gott, ich werde … ich werde …«
Er machte: »Buh!«
Sie schrie los, als würde sie bereits massakriert, ließ die Schere fallen und floh hinter ihren Schreibtisch. Im gleichen Moment flog die Tür auf, und Zosch platzte ins Vorzimmer. Bei Markeschs Anblick blieb er verdutzt stehen. Dann verdüsterte Ärger sein gebräuntes Gesicht.
»Was wollen Sie schon wieder?« raunzte er unwirsch. »Und was hat dieses furchtbare Geschrei zu bedeuten? Maria!«
Die Sekretärin zuckte zusammen und verstummte. Anklagend deutete sie auf Markesch. »Er hat den Pförtner bedroht und ist einfach hier eingedrungen. Ich dachte, er …«
»Überlassen Sie mir die Details«, sagte Markesch ruhig und schob sich an Zosch vorbei ins Chefbüro. »Kommen Sie, Zosch. Ich habe mit Ihnen zu reden. Unter vier Augen.«
»Es gibt nichts zu bereden«, schnappte Zosch. »Und nach diesem Theater schon gar nicht. Verlassen Sie sofort das Firmengelände, oder ich sehe mich gezwungen, Sie von der Polizei vor die Tür setzen zu lassen.«
»Sicher. Dann können Sie ihr auch gleich erklären, was Sie mit Astrid Pankrath gemacht haben.«
»Ich kenne keine Astrid Pankrath! Was soll der Unsinn?«
»Ach ja, Sie kennen sie ja angeblich nur unter dem Namen Yvonne Schmidt …«
An Zoschs Stirn zuckte ein Muskel. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schien am Rand eines Wutausbruchs zu stehen, aber dann beherrschte er sich. »Okay«, sagte er gepreßt. »Ich gebe Ihnen fünf Minuten, Markesch, und ich kann nur hoffen, daß Sie für Ihr unerhörtes Benehmen eine überzeugende Erklärung parat haben.« Er nickte der Sekretärin zu. »Es ist in Ordnung, Maria. Sie können sich wieder an Ihre Arbeit machen.«
Er schloß die Tür und sperrte die neugierigen Ohren der Sekretärin aus. Markesch wanderte zum Terrarium und suchte nach Walter, doch die Vogelspinne hatte sich irgendwo im dichten Grün versteckt.
»Also?« sagte Zosch ungeduldig. »Ich warte, Markesch!«
Er drehte sich um, sah ihn kalt an. »Ich will nur eins von Ihnen wissen – wo haben Sie Ihre kleine Freundin versteckt?«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
»Spielen Sie hier nicht den Deppen, Zosch. Ich weiß über Ihre Peitschen- und Nadelspiele in diesem verschwiegenen Nippeser Appartement Bescheid. Aber es interessiert mich nicht, wie Sie Ihr Sexualleben gestalten. Mich interessiert nur, wohin Sie Yvonne Schmidt alias Astrid Pankrath gebracht haben.«
Zosch atmete tief durch. »Daher also weht der Wind. Sie haben in meinem Privatleben herumgeschnüffelt! Was wollen Sie von mir?«
»Antworten. Ihre Peitschenlady ist seit mehreren Wochen spurlos verschwunden, seit sie aus ihrer Wohnung in Nippes ausgezogen ist. Ihre Firma hat den Umzug durchgeführt – es gibt Zeugen dafür. Also versuchen Sie mir nicht weiszumachen, Sie wüßten nicht, wo sie steckt!«
Der Spediteur lachte hart. »Sie sind auf dem falschen Dampfer. Ich habe Yvonne seit über einem Jahr nicht mehr besucht.«
»Tatsächlich? Warum? Sind Sie plötzlich heilig geworden?«
»Es gibt billigere Alternativen«, erklärte Zosch mit einem Blick zur Tür. Meinte er Maria, die Lederfrau aus dem Sekretariat? »Die außerdem amüsanter sind. Aber mein Privatleben geht Sie nichts an.«
»Wenn es um ein Kapitalverbrechen geht, schon.«
»Ein Kapitalverbrechen? Machen Sie sich nicht lächerlich. Seit wann ist es kriminell, eine Nutte zu besuchen?«
»Erpressung ist kriminell. Oder Mord«, fügte er unheilschwanger hinzu.
Zosch ließ sich kopfschüttelnd in seinen verchromten Chefsessel sinken und sah ihn fast mitleidig an. »Mir ist es völlig rätselhaft, was Sie eigentlich von mir wollen. Aber um Ihnen meinen guten Willen zu demonstrieren, werde ich versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Wann, sagten Sie, soll der Umzug stattgefunden haben?«
»Vor etwa drei Wochen.«
Zosch schaltete die Gegensprechanlage ein und wies die Sekretärin an, ihm die entsprechenden Unterlagen zu bringen. Dann lehnte er sich entspannt zurück und wartete. Er sagte nichts, lächelte nur spöttisch. Markesch verschränkte die Arme und schwieg ebenfalls. Aber er konnte sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren. Zosch wirkte zu sicher. Womöglich hatte er die Auftragsbücher frisiert oder den Umzug gar nicht erst über die Bücher laufen lassen. Wenn er hinter der Erpressung steckte und die Pankrath an einen sicheren Ort gebracht hatte, war es sogar mehr als nur wahrscheinlich, daß sich in der Firma keine Hinweise auf ihren Aufenthaltsort fanden.
Nun, der Trick würde ihm nicht helfen.
Mit Sicherheit hatte er nicht persönlich die Möbel und Umzugkartons geschleppt. Zwei oder drei seiner Angestellten mußten den Auftrag ausgeführt haben und Astrid Pankraths neue Adresse kennen. Es genügte, die Belegschaft zu befragen. Und als letzter Ausweg blieb ihm immer noch das Druckmittel mit den Kokstransporten im Kühllaster.
Trotzdem …
Die Tür öffnete sich, und Maria kam mit einem Computerausdruck herein. Sie bedachte Markesch mit einem Blick, der labilere Naturen auf der Stelle umgebracht hätte, legte den Ausdruck vor Zosch auf den Schreibtisch und rauschte aus dem Zimmer. Zosch griff nach dem Ausdruck und studierte ihn.
Markesch trat näher. »Nun?«
»Nichts.« Die Befriedigung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Wie ich Ihnen schon sagte. Zur fraglichen Zeit hatten wir keine Kundin namens Schmidt oder Pankrath. Sie müssen sich …« Er verstummte. »Oh«, machte er dann. »Seltsam. Das ist wirklich …«
Markesch entriß ihm ungeduldig das Papier, doch die schiere Vielfalt an Namen, Zahlen, Buchstabenkürzeln und betriebsinternen Vermerken, die ihm aus dem Computerausdruck entgegensprangen, überforderte sein suchendes Auge.
»Sie hatten recht«, sagte Zosch sichtlich verwirrt. »Sehen Sie unter dem vierten Mai nach. Ein Kleinumzug, zwei Zimmer, von Nippes ins Oberbergische, nach Lindlar. Es war Yvonne. Aber der Auftrag wurde nicht von ihr erteilt, die Rechnung nicht von ihr bezahlt. Deshalb dachte ich auch zuerst …«
Er verstummte, schüttelte wieder den Kopf.
Markesch fuhr mit dem Finger über die Tabellen und fand den vierten Mai, unter dem ein halbes Dutzend Namen und Adressen eingetragen waren. Er dachte an das, was ihm der Katschmarek erzählt hatte, an die rothaarige Frau im roten Sportwagen, von der Astrid Pankrath am Umzugstag abgeholt worden war, Denise, und erwartete, ihren Namen zu finden …
Aber er irrte sich.
Er irrte sich gründlich.
Die Rechnung war zwar von einer Frau bezahlt worden, aber nicht von Denise.
Sondern von Corinne von Bohlen.