NEUN

Die Elfenkönigin

In der Hitze der Nacht bewegte sich Magie auf leisen Sohlen.

Die untergehende Sonne färbte einen Horizont rot. Diese Welt umkreiste einen zentralen Stern. Die Elfen wussten das nicht, und wenn sie es gewusst hätten, wäre es ihnen gleich gewesen. Solche Details spielten für sie nie eine Rolle. Das Universum hatte Leben an vielen seltsamen Orten entstehen lassen, aber auch das kümmerte die Elfen nicht.

Auf dieser Welt war vielfältiges Leben entstanden. Bisher hatte ihm indes immer etwas gefehlt, das die Elfen für Potenzial hielten. Doch diesmal gab es Hoffnung.

Natürlich gab es auch Eisen. Elfen hassten Eisen. Aber diesmal lohnte sich ein Risiko. Diesmal …

Einer von ihnen gab ein Zeichen. Die Beute befand sich in der Nähe. Und dann sahen sie sie, in den Bäumen am Rand einer Lichtung zusammengedrängt, dunkle Punkte vor dem Rot des Sonnenuntergangs.

Die Elfen bereiteten sich vor. Und dann begannen sie zu singen, in einer so hohen Tonlage, dass das Gehirn den Gesang ohne die Ohren hörte.

»Greift an!«, rief Erzkanzler Ridcully.

Die Zauberer, alle bis auf Rincewind, griffen an. Der spähte hinter einem Baum hervor.

Der Elfengesang, eine kreative Dissonanz aus Tönen, die direkt den hinteren Teil des Gehirns erreichten, verklang abrupt.

Die Gestalten drehten sich um. Mandelförmige Augen glühten in dreieckigen Gesichtern.

Wer die Zauberer lediglich als die leidenschaftlichsten Esser der Scheibenwelt kannte, wäre überrascht gewesen, wie schnell sie sein konnten. Außerdem: Die Beschleunigung eines Zauberers auf seine maximale Geschwindigkeit dauert zwar eine Weile, aber dann lässt er sich kaum mehr aufhalten. Außerdem ist er mit einem großen Aggressionsmoment unterwegs. Die vielen Intrigen im Ungemeinschaftsraum der Unsichtbaren Universität geben jedem Zauberer ein Maximum an Boshaftigkeit, die nach einem Ziel sucht.

Der Dekan erreichte den Gegner als Erster und schlug mit seinem Stab zu. Ein Hufeisen war am Ende befestigt. Der getroffene Elf schrie, wich fort und tastete nach seiner Schulter.

Zwar befanden sich viele Elfen an diesem Ort, aber sie hatten nicht mit einem Angriff gerechnet. Und Eisen war so mächtig. Eine Hand voll Nägel entfaltete die gleiche Wirkung wie grober Schrot. Einige versuchten, Widerstand zu leisten, aber die Furcht vor dem Eisen erwies sich als zu stark.

Die Klugen und die Überlebenden machten sich auf und davon. Die Toten lösten sich auf.

Der Kampf dauerte weniger als dreißig Sekunden. Rincewind beobachtete ihn von seinem Platz hinterm Baum aus. Von Feigheit konnte keine Rede sein, sagte er sich. Dies war ein Job für Spezialisten, den man getrost den anderen Zauberern überlassen durfte. Wenn es später zu einem Problem kommen sollte, das Graupeldynamik oder Laubsägearbeiten betraf – oder wenn jemand Magie missverstehen wollte –, so wäre er gern bereit zu helfen.

Hinter ihm raschelte etwas.

Etwas stand dort. Was auch immer es sein mochte: Es erfuhr eine Veränderung, als Rincewind sich umdrehte und die Augen aufriss.

Das erste Talent der Elfen bestand aus ihrem Gesang, der andere Geschöpfe in potenzielle Sklaven verwandelte. Das zweite war die Fähigkeit, nicht nur die Gestalt zu verändern, sondern auch die Art ihrer Wahrnehmung. Für einen Sekundenbruchteil sah Rincewind ein dünnes, hageres Etwas. Dann verschwamm das Bild vor seinen Augen und wurde zu einer Frau. Die Elfenkönigin stand vor ihm, in einem roten Gewand und zornig.

»Zauberer?«, fragte sie. »Hier? Warum? Wie? Sag es mir!«

Eine goldene Krone glitzerte in ihrem dunklen Haar, und Wut glühte in den Augen, als sie sich Rincewind näherte. Er wich zurück.

»Dies ist nicht eure Welt!«, fauchte die Königin.

»Du würdest staunen«, erwiderte Rincewind. »Jetzt!«

Die Elfenkönigin runzelte die Stirn. »Jetzt?«, wiederholte sie.

»Ja, ich habe jetzt gesagt«, bestätigte Rincewind und lächelte verzweifelt. »Jetzt. So lautete das Wort. Jetzt!«

Eine halbe Sekunde lang wirkte die Königin verzweifelt. Dann machte sie einen Salto rückwärts, als der Deckel der Truhe dort zuschnappte, wo sie eben noch gestanden hatte. Sie landete dahinter, blickte zu Rincewind, zischte und verschwand in der Nacht.

Rincewind richtete einen vorwurfsvollen Blick auf die Truhe. »Warum hast du gewartet? Habe ich dich etwa aufgefordert zu warten? Du stehst gern hinter Leuten und wartest darauf, dass sie dich bemerken, nicht wahr?«

Er sah sich um. Von Elfen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Einige Dutzend Meter entfernt griff der Dekan, dem die Feinde ausgegangen waren, einen Baum an.

Rincewind hob den Kopf. Im Mondschein bemerkte er zwanzig oder mehr kleine, affenartige Geschöpfe, die sich auf Zweigen und Ästen aneinander schmiegten und besorgt nach unten blickten.

»Guten Abend!«, sagte er. »Achtet nicht weiter auf uns. Wir sind nur auf der Durchreise …«

»An dieser Stelle wird alles kompliziert«, ertönte eine Stimme hinter Rincewind. Es war eine vertraute Stimme – seine eigene. »Mir bleiben nur wenige Sekunden, bevor sich der Kreis schließt, und deshalb kann ich mich nicht mit Erklärungen aufhalten. Wenn du in Dees Zeit zurückkehrst … Halt die Luft an.«

»Bist du ich?«, fragte Rincewind und spähte in die Düsternis.

»Ja. Und ich rate dir, die Luft anzuhalten. Würde ich mich belügen?«

Der andere Rincewind verschwand, und Luft strömte dorthin, wo er gestanden hatte. Unten auf der Lichtung rief Ridcully Rincewinds Namen.

Er sah sich nicht länger um und lief zu den anderen Zauberern, die sehr zufrieden mit sich wirkten.

»Ah, Rincewind, dachte ich mir doch, dass du nicht zurückbleiben möchtest«, sagte der Erzkanzler und grinste hämisch. »Hast du einen erwischt?«

»Die Königin«, sagte Rincewind.

»Wirklich? Ich bin beeindruckt!«

»Aber sie … es entkam.«

»Sie sind alle fort«, sagte Ponder. »Auf dem Hügel dort drüben habe ich einen blauen Blitz gesehen. Sie sind in ihre Welt zurückgekehrt.«

»Glaubst du, sie kommen noch einmal hierher?«, fragte Ridcully.

»Und wenn schon, Herr. HEX lokalisiert sie, und wir können in jedem Fall rechtzeitig da sein.«

Ridcully ließ die Fingerknöchel knacken. »Gut. Eine ausgezeichnete Übung. Viel besser, als sich mit Farbe zu beschießen. Fördert Mut und gegenseitiges Vertrauen. Jemand soll den Dekan davon abhalten, den Felsen anzugreifen. Er übertreibt es ein wenig.«

Ein matter weißer Ring erschien im Gras, groß genug, um alle Zauberer aufzunehmen.

»Ah, es geht zurück«, sagte der Erzkanzler, als man den aufgeregten Dekan zur Gruppe führte. »Zeit für …«

Plötzlich befanden sich die Zauberer in leerer Luft. Sie fielen. Nur einer von ihnen hielt den Atem an, als sie in den Fluss stürzten.

Zauberer haben gute Schwimmeigenschaften und außerdem die Tendenz, schnell an die Oberfläche zurückzukehren. Hinzu kam: Der Fluss war eigentlich gar kein Fluss, sondern eher ein langsam dahinfließender Sumpf. Baumstümpfe und Ansammlungen von Schlamm stauten ihn hier und dort. An einigen Stellen hatte sich genug Schlamm angesammelt, um den Wurzeln von Bäumen Halt zu bieten. Langsam stapften Ridcully und seine Begleiter zum Ufer, wobei sie ein Streitgespräch darüber führten, wo das trockene Land begann – es war nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und Mückenschwärme schimmerten zwischen den Bäumen.

»HEX hat uns in die falsche Zeit gebracht«, sagte Ridcully und wrang seinen Mantel aus.

»Das glaube ich nicht, Erzkanzler«, widersprach Ponder zaghaft.

»Dann sind wir am falschen Ort. Dies ist wohl kaum eine Stadt, falls du das noch nicht bemerkt hast.«

Ponder sah sich verwundert um. Die Landschaft um ihn herum war nicht direkt Land und auch nicht direkt ein Fluss. Irgendwo quakten Enten. Blaue Hügel ragten in der Ferne auf.

»Wenigstens riecht es hier besser«, meinte Rincewind und holte einige Frösche aus der Manteltasche.

»Dies ist ein Sumpf, Rincewind.«

»Und?«

»Und ich sehe Rauch«, sagte Ridcully.

Nicht allzu weit entfernt ragte eine dünne graue Rauchsäule auf.

Es dauerte länger als erwartet, sie zu erreichen. Land und Wasser kämpften gegen jeden Schritt an. Schließlich, mit nur einem verstauchten Knöchel und zahlreichen Mückenstichen, gelangten sie zu einem dichten Gebüsch und blickten zur Lichtung dahinter.

Häuser standen dort – wenn man diesen Begriff verwenden konnte. Eigentlich waren es nur Haufen aus Zweigen und Ästen, mit Ried gedeckt.

»Es könnten Wilde sein«, sagte der Dozent für neue Runen.

»Oder jemand hat Leute aufs Land geschickt, damit sie einen dynamischen Teamgeist entwickeln«, meinte der Dekan, der besonders viele Mückenstiche davongetragen hatte.

»Wilde wären zu schön, um wahr zu sein«, sagte Rincewind und beobachtete die Hütten aufmerksam.

»Du möchtest Wilde finden?«, fragte Ridcully.

Rincewind seufzte. »Ich bin der Professor für grausame und ungewöhnliche Geographie. In einer unbekannten Situation sollte man sich immer Wilde erhoffen. Meistens sind sie recht zuvorkommend und gastfreundlich, wenn man keine plötzlichen Bewegungen macht und nicht das falsche Tier isst.«

»Das falsche Tier?«, wiederholte Ridcully.

»Ein Tabu, Sir. Es könnte Verwandtschaftsbeziehungen geben. Oder so.«

»Das klingt recht … hoch entwickelt«, sagte Ponder argwöhnisch.

»Wilde sind oft hoch entwickelt«, erwiderte Rincewind. »Probleme bekommt man vor allem mit zivilisierten Leuten. Sie wollen einen immer fortbringen, um irgendwo unzivilisierte Fragen zu stellen. Oft werden dabei Waffen mit scharfer Klinge gebraucht. Glaub mir, ich weiß Bescheid. Aber dies sind keine Wilden.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wilde bauen bessere Hütten«, antwortete Rincewind mit fester Stimme. »Dies sind Randleute.«

»Ich habe noch nie von Randleuten gehört!«, sagte Ridcully.

»Der Begriff stammt von mir«, erwiderte Rincewind. »Ich bin solchen Leuten gelegentlich begegnet. Sie leben am Rand. Auf Felsen. In den schlimmsten aller Wüsten. Ohne Stamm oder Clan. So etwas kostet zu viel Mühe. Ebenso wie das Verprügeln von Fremden. Deshalb kann man kaum bessere Leute treffen.«

Ridcully ließ seinen Blick über den Sumpf schweifen. »Aber hier gibt es massenhaft Enten und so«, sagte er. »Und andere Vögel. Und Eier. Und bestimmt auch Fische. Und Biber. Tiere, die zum Trinken hierher kommen. Hier könnte man sich jeden Tag den Bauch voll schlagen. Es ist ein gutes Land.«

»He, einer von ihnen kommt raus«, sagte der Dozent für neue Runen.

Eine gebückte Gestalt hatte eine der Hütten verlassen. Sie richtete sich auf und starrte. Große Nüstern blähten sich.

»Meine Güte, seht nur, was aus dem hässlichen Baum gefallen ist«, rief der Dekan. »Könnte das ein Troll sein?«

»Primitiv genug wirkt er«, erwiderte Ridcully. »Was hat er an? Bretter?«

»Ich glaube, er versteht sich nur nicht gut darauf, Felle zu gerben«, meinte Rincewind.

Der große, zottelige Kopf wandte sich den Zauberern zu. Erneut blähten sich die Nüstern.

»Er hat uns gewittert«, sagte Rincewind und wollte loslaufen. Eine Hand hielt ihn am Kragen des Mantels fest.

»Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um wegzulaufen, Professor.« Ridcully hob ihn mit einer Hand hoch. »Wir kennen dein Sprachtalent. Du kommst mit Leuten zurecht. Hiermit bist du zu unserem Botschafter bestimmt. Schrei nicht.«

»Außerdem sieht das Ding wie grausame und ungewöhnliche Geographie aus«, meinte der Dekan, als Rincewind aus dem Gebüsch geschoben wurde.

Der große Mann beobachtete ihn, griff aber nicht an.

»Geh schon!«, zischte das Gebüsch. »Wir müssen herausfinden, wann wir sind!«

»Oh, klar.« Rincewind sah skeptisch zu dem Riesen. »Und er kann es mir sagen, nicht wahr? Er hat einen Kalender, stimmt’s?«

Er näherte sich vorsichtig und hob die Hände, um zu zeigen, das er keine Waffen bei sich trug. Rincewind glaubte fest daran, dass es gut war, unbewaffnet zu sein. Durch Waffen wurde man zu einem Ziel.

Der Mann hatte ihn ganz offensichtlich gesehen, wirkte aber nicht besonders aufgeregt. Er brachte Rincewind das gleiche Interesse entgegen, mit dem jemand eine über den Himmel ziehende Wolke beobachtete.

»Äh … hallo«, sagte Rincewind und blieb außerhalb der Reichweite stehen. »Ich großer Bursche Professor für grausame und ungewöhnliche Geographie an Unsichtbarer Universität, du … meine Güte, du hast noch nicht begriffen, dass man sich gelegentlich waschen sollte, wie? Entweder das, oder es liegt an deiner Kleidung. Nun, du scheinst nicht bewaffnet zu sein. Äh …«

Der Mann trat einige Schritt vor und riss Rincewind den Hut vom Kopf.

»He!«

Der sichtbare Teil des großen Gesichts lächelte. Der Mann drehte den Hut hin und her. Sonnenschein glitzerte auf den billigen Pailletten, die das Wort »Zaubberer« bildeten.

»Oh, ich verstehe«, sagte Rincewind. »Hübsches Funkeln. Nun, das ist ein Anfang …«