SECHS

Die Philosophie des Linsenschleifers

John Dee, der von 1527 bis 1608 lebte, war der Hofastrologe von Mary Tudor. Einmal war er in Gefangenschaft, weil man ihm vorwarf, er sei ein Zauberer, doch 1555 ließ man ihn wieder frei, vermutlich, weil man ihn nicht mehr dafür hielt. Dann wurde er Astrologe von Königin Elizabeth I. Er widmete einen großen Teil seines Lebens dem Okkulten, sowohl der Astrologie als auch der Alchimie. Andererseits war er auch der Erste, der Euklids »Elemente« ins Englische übersetzte, die berühmte Darstellung der Geometrie. Eigentlich, wenn man dem Gedruckten glaubt, wird das Buch Sir Henry Billingsley zugeschrieben, doch es war allgemein bekannt, dass Dee die ganze Arbeit getan hatte, und er schrieb sogar ein langes und kenntnisreiches Vorwort. Womöglich war das der Grund, warum alle Welt wusste, dass Dee die ganze Arbeit getan hatte.

Dem modernen Denken erscheinen Dees Interessen widersprüchlich: eine Masse abergläubische Pseudowissenschaft vermischt mit etwas guter, solider Wissenschaft und Mathematik. Doch Dee dachte nicht modern und sah in der Kombination keinen besonderen Widerspruch. Zu seiner Zeit verdienten sich viele Mathematiker den Lebensunterhalt, indem sie Horoskope erstellten. Sie konnten die Berechnungen anstellen, die vorhersagten, in welchem der zwölf »Häuser« – der Himmelsregionen, die durch die zum Tierkreiszeichen gehörenden Sternbilder bestimmt wurden – sich ein Planet befand.

Dee steht an der Schwelle der modernen Denkweisen über die Kausalität auf der Welt. Wir nennen seine Zeit die Renaissance, und das bezieht sich auf die Wiedergeburt der Philosophie und Politik des antiken Athen. Aber vielleicht ist diese Ansicht von seiner Zeit irrig, sowohl, weil die griechische Gesellschaft nicht gar so »wissenschaftlich« oder »intellektuell« war, wie man uns glauben gemacht hat, als auch, weil es andere kulturelle Strömungen gab, die zur Kultur seiner Zeit beitrugen. Unsere Vorstellungen vom Narrativium stammen vielleicht vom Eingehen dieser Ideen in spätere Philosophien wie die von Baruch Spinoza.

Geschichten förderten das Wachstum von Okkultismus und Mystizismus. Doch sie trugen auch dazu bei, die europäische Welt aus dem mittelalterlichen Aberglauben zu einer rationaleren Sicht des Universums zu führen.

Glaube an das Okkulte – Magie, Astrologie, Weissagung, Hexerei, Alchimie – ist in den meisten menschlichen Gesellschaften verbreitet. Die europäische Tradition des Okkultismus, zu der Dee gehörte, gründet sich auf eine alte Geheimphilosophie, die aus zwei Quellen entspringt, aus der antiken griechischen Alchimie und Magie und aus dem jüdischen Mystizismus. Zu den griechischen Quellen gehört die »Smaragdene Tafel«, eine Sammlung von Schriften, die dem Hermes Trismegistos (»dreifach Meister«) zugeschrieben wird und insbesondere von späteren arabischen Alchimisten verehrt wurde; die jüdische Quelle ist die Kabbala, eine geheime, mystische Interpretation eines heiligen Buches, der Thora.

Die Astrologie ist natürlich eine Art Weissagung auf der Basis der Sterne und der sichtbaren Planeten. Sie hat möglicherweise zur Entwicklung der Wissenschaft beigetragen, indem sie Leute versorgte, die den Himmel beobachten und verstehen wollten. Johannes Kepler, der entdeckte, dass die Planetenbahnen Ellipsen sind, verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Astrologe. Die Astrologie lebt in verwässerter Form in den Horoskop-Spalten von Boulevardzeitungen weiter. Ronald Reagan konsultierte während seiner Zeit als amerikanischer Präsident einen Astrologen. Das Zeug ist wirklich immer gegenwärtig.

Die Alchimie ist interessanter. Sie wird oft als frühe Vorläuferin der Chemie bezeichnet, obwohl die der Chemie zu Grunde liegenden Prinzipien größtenteils aus anderen Quellen stammen. Die Alchimisten spielten mit Apparaten herum, die zu nützlichen Geräten der Chemiker wie Retorten und Glaskolben führten, und sie entdeckten, dass interessante Dinge geschehen, wenn man bestimmte Substanzen erhitzt oder zusammenbringt. Die großen Entdeckungen der Alchimisten waren Salmiak (Ammoniumchlorid), den man mit Metallen reagieren lassen kann, und die Mineralsäuren – Salpeter-, Schwefel- und Salzsäure.

Das große Ziel der Alchimie wäre viel größer gewesen, wenn man es jemals erreicht hätte: das Lebenselixier, die Quelle der Unsterblichkeit. Die chinesischen Alchimisten beschrieben diese lange gesuchte Substanz als »flüssiges Gold«. Der Erzählfaden ist dabei klar: Gold ist das edle Metall, unverderblich, zeitlos. Also würde jemand, der irgendwie Gold in seinen Körper einfügen könnte, auch unverderblich und zeitlos werden. Das edle Wesen zeigt sich auf andere Weise: das Edelmetall ist den »edlen« Menschen vorbehalten: Kaisern, Königen, den Leuten an der Spitze des Haufens. Sie hatten davon eine Menge Gutes. Dem China-Forscher Joseph Needham zufolge sind mehrere chinesische Kaiser wahrscheinlich an Elixiervergiftung gestorben. Da Arsen und Quecksilber übliche Bestandteile vermeintlicher Elixiere waren, ist das nicht erstaunlich. Und es ist nur allzu plausibel, dass eine mystische Suche nach Unsterblichkeit das Leben verkürzt, statt es zu verlängern.

In Europa hatte die Alchimie etwa ab 1300 drei Hauptziele. Das Lebenselixier war immer noch eins, ein zweites waren Heilmittel für verschiedene Krankheiten. Die alchimistische Suche nach Arzneien führte schließlich zu Brauchbarem. Die Schlüsselfigur ist dabei Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus* [* Ist »Bombastus« nicht ein hübscher Name? Und so passend.] von Hohenheim, gnädiger Weise als »Paracelsus« bekannt, der von 1493 bis 1541 lebte.

Paracelsus war ein Schweizer Arzt, dessen Interesse für Alchimie ihn zur Erfindung der Chemotherapie führte. Er setzte große Erwartungen in das Okkulte. Als Student von vierzehn Jahren wanderte er auf der Suche nach großen Lehrern von einer europäischen Universität zur anderen, doch aus dem, was er etwas später über die Erfahrung schrieb, können wir schließen, dass er enttäuscht wurde. Er fragte sich, wie es »die hohen Kollegien fertig bringen, so viele hohe Esel zu erzeugen«, und war offensichtlich nicht die Art Student, die sich bei den Lehrern beliebt machte. »Die Universitäten«, schrieb er, »lehren nicht alles. Also muss ein Arzt alte Weiber suchen, Zigeuner, Zauberer, fahrendes Volk, alte Räuber und derlei Gesetzlose und von ihnen lernen.« Auf der Scheibenwelt hätte er eine tolle Zeit haben können, doch er hätte eine Menge gelernt.

Nach zehn Jahren Wanderschaft kehrte er 1524 nach Hause zurück und wurde Dozent für Medizin an der Universität von Basel. 1527 verbrannte er öffentlich die klassischen Bücher früherer Ärzte, des Arabers Avicenna und des Griechen Galen. Paracelsus kümmerte sich einen Dreck um Autorität. In der Tat bedeutet sein angenommener Name »Para-Celsus« »Über-Celsus«, und Celsus war ein führender römischer Arzt des ersten Jahrhunderts.

Er war hochmütig und mystisch. Zugute kommt ihm, dass er auch sehr klug war. Er legte großen Wert darauf, die eigenen Kräfte der Natur für die Heilung zu nutzen. Zum Beispiel, Wunden nässen zu lassen, statt sie mit Moos oder getrocknetem Mist zu bedecken. Er entdeckte, dass Quecksilber eine wirksame Behandlung für Syphilis bot, und seine klinische Beschreibung jener Geschlechtskrankheit war die beste seiner Zeit.

Das Hauptziel der meisten Alchimisten war viel selbstsüchtiger. Sie hatten nur für eine Sache Augen: einfache Metalle wie Blei in Gold zu verwandeln. Wiederum beruhte ihr Glaube, dies sei möglich, auf einer Geschichte. Von ihren Experimenten her wussten sie, dass Salmiak und andere Substanzen die Farbe von Metallen verändern können, und so gewann die Geschichte »Metalle können umgewandelt werden« an Boden. Warum sollte es dann nicht möglich sein, mit Blei zu beginnen, die richtige Substanz hinzuzufügen und Gold zu erhalten? Die Geschichte wirkte verführerisch, es fehlte allein die richtige Substanz. Die nannten sie den Stein der Weisen.

Die Suche nach dem Stein der Weisen oder Gerüchte, er sei gefunden worden, brachten etliche Alchimisten in Schwierigkeiten. Edles Gold war das Vorrecht des Adels. Während die diversen Könige und Fürsten nichts dagegen gehabt hätten, eine unerschöpfliche Goldquelle in die Finger zu bekommen, wollten sie nicht, dass ihre Rivalen ihnen dabei zuvorkämen. Schon die Suche nach dem Stein der Weisen konnte als subversiv betrachtet werden, wie heutzutage die Suche nach einer billigen Quelle erneuerbarer Energie von den Öl- und Kernkraftunternehmen als subversiv betrachtet wird. 1595 wurde Dees Gefährte Edward Kelley von Rudolf II. eingekerkert und starb bei einem Fluchtversuch, und 1603 setzte Christian II. von Sachsen den schottischen Alchimisten Alexander Seton fest und ließ ihn foltern. Eine gefährliche Sache, so ein kluger Mann.

Die Geschichte vom Stein der Weisen erreichte nie ihren Höhepunkt. Die Alchimisten haben nie Blei in Gold verwandelt. Aber die Geschichte brauchte lange, um zu sterben. Sogar um 1700 noch glaubte Isaac Newton, es käme auf einen Versuch an, und die Idee, mit chemischen Mitteln Blei in Gold zu verwandeln, wurde erst im 19. Jahrhundert endgültig beigelegt. Kernreaktionen, wohlgemerkt, sind etwas anderes: Die Umwandlung ist möglich, nur katastrophal unwirtschaftlich. Und wenn man nicht sehr aufpasst, ist das Gold radioaktiv (obwohl das natürlich für eine rasche Geldzirkulation sorgen würde, und wir würden eine plötzliche Zunahme der Wohltätigkeit erleben).

Wie sind wir von der Alchimie zur Radioaktivität gekommen? Die zentrale Periode der westlichen Geschichte war die Renaissance, die ungefähr das 15. und 16. Jahrhundert umfasste, als aus der arabischen Welt importierte Ideen auf die griechische Philosophie und Mathematik sowie auf römische Handwerks- und Ingenieurskunst trafen, was zu einer plötzlichen Blüte der Kunst führte und zur Entstehung dessen, was wir jetzt Wissenschaft nennen. Während der Renaissance lernten wir, neue Geschichten über uns und die Welt zu erzählen. Und diese Geschichten änderten beides.

Um zu verstehen, wie dies geschah, müssen wir der wirklichen Mentalität der Renaissance auf die Spur kommen, nicht dem populären Bild von einem »Renaissancemenschen«. Damit meinen wir einen Menschen, der sich auf vielen Gebieten auskennt – wie auf der Rundwelt Leonardo da Vinci, der dem Leonard von Quirm der Scheibenwelt verdächtig ähnlich ist. Wir gebrauchen diesen Ausdruck, weil wir solche Leute dem gegenüberstellen, was wir heute einen gebildeten Menschen nennen.

Im mittelalterlichen Europa und eigentlich noch lange danach hielt die Aristokratie das klassische Wissen – die Kultur der Griechen – plus eine Menge Religion für »Bildung« – und nicht viel mehr. Vom König wurde erwartet, dass er sich in Poesie, Drama und Philosophie auskannte, aber er brauchte nichts von Klempnerei oder Maurerarbeit zu verstehen. Manche Könige interessierten sich tatsächlich ziemlich stark für Astronomie und Wissenschaft, sei es aus intellektuellem Interesse, sei es aus der Erkenntnis heraus, dass Technik Macht bedeutet, aber das gehörte nicht zum gewöhnlichen königlichen Lehrplan.

Diese Sichtweise auf die Bildung schloss ein, dass die Klassiker das gesamte bewährte Wissen repräsentierten, welches ein »gebildeter« Mensch benötigte, eine Ansicht, die sich nicht sehr von derjenigen vieler englischer Privatschulen bis vor ziemlich kurzer Zeit unterschied – und der Politiker, die daraus hervorgegangen sind. Diese Ansicht entsprach den Bedürfnissen der Herrscher im Gegensatz zu dem, was die Bauernkinder brauchten (handwerkliche Fähigkeiten und später Lesen, Schreiben, Rechnen).

Weder die Klassik noch Lesen, Schreiben, Rechnen bildeten indes die Grundlage für den echten Renaissancemenschen, der eine Verschmelzung dieser beiden Welten anstrebte. Den Handwerker als Quelle weltlicher Erfahrung hervorzuheben, als Quelle von Wissen über die materielle Welt und ihre Werkzeuge, wie sie ein Alchimist benutzen könnte, führte zu einer neuen Annäherung von Klassik und Empirie, von Intellekt und Erfahrung. Die Taten solcher Männer wie Dee – sogar des Okkultisten Paracelsus mit seinen medizinischen Rezepten – betonten diesen Unterschied und begannen mit der Verschmelzung von Vernunft und Empirie, die uns heute so beeindruckt.

Wie gesagt, bezeichnet das Wort »Renaissance« nicht einfach eine Wiedergeburt, sondern speziell die Wiedergeburt der antiken griechischen Kultur. Das ist jedoch eine moderne Sichtweise, die auf einer irrigen Ansicht von den Griechen und der Renaissance selbst beruht. In der »klassischen« Bildung wird Ingenieurskunst nicht beachtet. Natürlich nicht. Die griechische Kultur funktionierte ausschließlich mit Intellekt, Poesie und Philosophie. Ingenieure hatten sie nicht.

O doch, hatten sie. Archimedes konstruierte gewaltige Kräne, die feindliche Schiffe aus dem Wasser heben konnten, und wir wissen noch nicht genau, wie er das machte. Heron von Alexandria (ungefähr ein Zeitgenosse von Jesus) schrieb viele Texte über allerlei Apparate und Maschinen der vorangegangenen drei Jahrhunderte, und viele davon lassen erkennen, dass die Prototypen hergestellt worden sein müssen. Seine Münzautomaten unterschieden sich nicht allzu sehr von denen, die man in den Dreißigerjahren auf jeder Straße von London oder New York fand, und wären vermutlich verlässlicher gewesen, wenn es ums Ausspucken der Schokolade ging, wenn die Griechen Schokolade gekannt hätten. Die Griechen hatten auch Fahrstühle.

Das Problem ist hier, dass uns die Information über die technischen Aspekte der griechischen Gesellschaft von einem Haufen Theologen übermittelt worden ist. Denen gefiel Herons Dampfmaschine, und tatsächlich hatten viele von ihnen ein kleines Glas auf ihrem Schreibtisch, eine Art Theologenspielzeug, das sie mit einer Kerzenflamme zum Drehen bringen konnten. Aber für die mechanischen Ideen, die hinter solchen Spielzeugen steckten, hatten sie keinen Gedanken übrig. Und wie uns die griechische Ingenieurskunst von den Theologen nicht übermittelt worden ist, so ist die Geisteshaltung der Renaissance über unsere »rationalen« Schullehrer nicht zu uns gedrungen. Vieles von der angestrebten Spiritualität innerhalb der alchimistischen Position war im Grunde eine religiöse Haltung, die die Werke des HERRN bewunderte, wie sie sich in den Wundern der Veränderung von Zustand und Form zeigten, wenn Materialien der Wärme ausgesetzt wurden, der »Perkussion«, der Lösung und Kristallisation.

Diese Haltung ist von den New-Age-Leuten übernommen worden, die sich heute keines rigorosen Denkens schuldig machen und geistige Inspiration in Kristallen und anodisierten Metallen, sphärischen Funkenmaschinen und Newtonschen Pendeln finden, aber nicht die tiefer gehenden Fragen stellen, die hinter diesen Spielzeugen stecken. Wir finden die sehr reale Ehrfurcht vor der Suche der Wissenschaft nach Verständnis erheblich spiritueller als die New-Age-Attitüden.

Heute gibt es mystische Massageheiler, Aromatherapeuten, Iridologen, Leute, die glauben, man könne »holistisch« feststellen, was jemandem fehlt, indem man sich seine Iris oder seine Fußballen anschaut – und nur die –, und die sich mit ihrem Glauben auf die Schriften von Renaissance-Exzentrikern wie Paracelsus und Dee berufen. Die aber wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass sie als Autoritäten zitiert werden, zumal von derart engstirnigen Nachfolgern.

Unter denen, die sich auf Paracelsus als Autorität berufen, ragen die Homöopathen hervor. Eine grundlegende Glaubensvorstellung der Homöopathie besagt, dass Medizin stärker wirkt, wenn sie verdünnt wird. Dieser Standpunkt lässt sie ihre Medizin als völlig harmlos anpreisen (es ist nur Wasser), aber auch als außerordentlich wirksam (was Wasser nicht ist). Sie bemerken dabei keinen Widerspruch. Und auf homöopathischen Kopfschmerztabletten steht »eine bei leichten, drei bei starken Schmerzen«. Müsste es nicht anders herum sein?

Solche Leute halten es nicht für notwendig, über das, was sie tun, nachzudenken, weil sie ihren Glauben auf Autorität gründen. Wenn von dieser Autorität eine Frage nicht aufgeworfen wurde, dann möchten sie diese Frage nicht stellen. Um ihre Theorien zu stützen, zitieren Homöopathen also Paracelsus: »Was krank macht, macht auch gesund.« Doch Paracelsus hat seine ganze Laufbahn darauf aufgebaut, keine Autorität zu respektieren. Außerdem hat er nie gesagt, eine Krankheit sei immer ihre eigene Kur.

Vergleichen Sie dieses moderne Spektrum der Dummheit mit der robusten, kritischen Haltung der meisten Renaissance-Gelehrten gegenüber der Idee, arkane Praktiken könnten das Wesen der Welt offen legen. Leute wie Dee, ja auch Isaac Newton, nahmen diese kritische Position sehr ernst. Weitgehend gilt das auch für Paracelsus: Beispielsweise verwarf er die Idee, Sterne und Planeten würden bestimmte Teile des menschlichen Körpers kontrollieren. Die Ansicht der Renaissance war es, dass Gottes Schöpfung mysteriöse Elemente hat, doch diese Elemente sind verborgen* [* Verborgenes Wissen war zu jener Zeit im Wesentlichen praktisches Wissen, verkörpert in Zunftgeheimnissen und vor allem bei den Freimaurern. Es war in Rituale gekleidet, weil es größtenteils mündlich überliefert und nicht niedergeschrieben wurde.] statt arkan, wohnen der Natur des Universums inne.

Diese Sichtweise kommt dem Staunen von Antony van Leeuwenhoek nahe, das er angesichts der Animalculi in schmutzigem Wasser oder Samenflüssigkeit empfand: der erstaunlichen Entdeckung, dass sich die Wunder der Schöpfung hinab in den mikroskopischen Bereich erstrecken. Die Natur, Gottes Schöpfung, war viel raffinierter. Die lieferte dem Staunen verborgene Wunder ebenso wie die unverhüllt künstlerische Sicht. Newton wurde von der impliziten Mathematik der Planeten auf genau diese Art gefesselt: An Gottes Erfindung war mehr, als das bloße Auge sah, und das passte zu seinen hermetischen Glaubensvorstellungen (einer Philosophie, die sich von den Ideen des Hermes Trismegistos ableitete). Die Krise des Atomismus zu jener Zeit war die Krise der Präformation: Wenn Eva alle Töchter in sich hatte und die wiederum all ihre Töchter in sich hatten wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe, dann musste die Materie unendlich teilbar sein. Oder wenn sie es nicht war, könnte man den Tag des Jüngsten Gerichts ermitteln, indem man feststellte, wie viele Generationen es noch dauern würde, bis man zur letzten, leeren Tochter kam.

Wenn wir diesen Aspekt des Renaissance-Denkens, sein »einerseits – anderseits« betrachten, dann wollen wir seine Bescheidenheit solchen modernen Religionen wie der Homöopathie oder der Scientology gegenüberstellen, Glaubenssystemen, die arrogant behaupten, eine »vollständige« Erklärung des Universums in menschlichen Begriffen zu liefern.

Manche Wissenschaftler sind ebenso arrogant, doch gute Wissenschaftler wissen immer, dass die Wissenschaft ihre Grenzen hat, und sind bereit zu erklären, wo diese Grenzen liegen. »Ich weiß nicht« ist eins der großen wissenschaftlichen Prinzipien, zugegebenermaßen zu selten verwendet. Unwissen einzugestehen räumt mit so viel zwecklosem Unsinn auf. So können wir Bühnenmagiern folgen, wenn sie ihre schönen und sehr überzeugenden Illusionen vorführen – das heißt: überzeugend, solange wir unsere Hirne im Leerlauf lassen. Wir wissen, dass es Tricks sein müssen, und Unwissen einzugestehen bewahrt uns vor dem Fallstrick, zu glauben, die Illusion müsste Wirklichkeit sein, nur weil wir nicht wissen, wie der Trick funktioniert. Wie sollten wir auch? Wir sind keine Mitglieder das Magischen Zirkels. Unwissen einzugestehen bewahrt uns auch vor mystischem Aberglauben, wenn wir auf Naturereignisse stoßen, die noch nicht den Blick eines kompetenten Wissenschaftlers (und seiner Mittel zur Verfügung stellenden Institution) auf sich gezogen haben und die immer noch wie … Zauberei wirken. Wir sagen »der Zauber der Natur« – eher das Wunder der Natur, das Mirakel des Lebens.

Diesen Standpunkt teilen wir fast alle, doch es ist wichtig, die historische Tradition zu verstehen, auf der er gründet. Es geht nicht schlechthin darum, die Komplexität von Gottes Werken zu bewundern. Es gehören dazu auch die Einstellungen von Newton, van Leeuwenhoek und ihren Vorgängern, ja, bis zurück zu Dee. Und zweifellos bis zu einem oder mehreren Griechen. Es gehört dazu der Renaissance-Glaube, dass wir bei der Untersuchung des Wunders, des Mirakels noch mehr Wunder und Mirakel finden werden: sagen wir, die Gravitation oder die Spermatozoen.

Was also meinen wir und was meinten sie mit »Magie«? Dee sprach von den arkanen Künsten, und Newton hing vielen Erklärungen an, die »magisch« waren, insbesondere sein Glaube an Fernwirkung, »Gravitation«, der sich aus den mystischen Grundlagen seiner hermetischen Philosophie herleitete, wo Anziehung und Abstoßung Grundprinzipien waren.

»Magie« bedeutet also drei sichtlich verschiedene Dinge. Die erste Bedeutung ist: »etwas zum Staunen«, und das reicht von Kartenkunststücken über Amöben bis hin zu den Saturnringen. Die zweite Bedeutung ist, eine verbale Anweisung, einen Zauberspruch, mit okkulten oder arkanen Mitteln in eine materielle Handlung umzusetzen … Wenn ein Mensch in einen Frosch verwandelt wird oder umgekehrt oder wenn ein Dschinn seinem Gebieter einen Palast baut. Die dritte Bedeutung ist diejenige, die wir verwenden: die technische Magie, wenn man einen Schalter betätigt und Licht bekommt, ohne auch nur »fiat lux« sagen zu müssen.

Oma Wetterwachs’ aufsässiger Besen ist Magie der zweiten Art, doch ihre »Kopfologie« ist größtenteils ein sehr, sehr gutes Erfassen von Psychologie (Magie vom Typ 3, sorgsam als Typ 2 getarnt). Da fällt einem Arthur C. Clarkes Satz ein, den wir in Die Gelehrten der Scheibenwelt zitiert und erörtert haben: »Jede hinreichend entwickelte Technik unterscheidet sich nicht mehr von Magie.« Die Scheibenwelt verkörpert Magie in Zaubersprüchen und wird ja als unwahrscheinliche Schöpfung dadurch aufrechterhalten, dass sie von einem starken magischen Feld (Typ 2) umgeben ist. Erwachsene in irdischen Kulturen wie auf der Rundwelt geben vor, den intellektuellen Glauben an Magie von der Scheibenwelt-Art verloren zu haben, während ihre Kultur immer mehr von ihrer Technik in Magie (Typ 3) verwandelt. Und die Entwicklung von HEX im Laufe der Bücher stellt Sir Arthur auf den Kopf: Die hinreichend entwickelte Magie der Scheibenwelt unterscheidet sich jetzt praktisch nicht mehr von Technik.

Als (einigermaßen) vernünftige Erwachsene verstehen wir, wo die erste Art Magie herkommt. Wir sehen etwas Wunderbares und fühlen uns schrecklich glücklich, dass das Weltall ein Ort ist, wo Ammoniten oder, sagen wir, Eisvögel vorkommen können. Doch woher haben wir unseren Glauben an die zweite, irrationale Art von Magie? Wie kommt es, dass in allen Kulturen die Kinder ihr Geistesleben mit dem Glauben an Magie beginnen statt an die wirkliche Kausalität, die sie umgibt?

Eine plausible Erklärung lautet, dass Menschen zuerst von Märchen programmiert werden. Alle menschlichen Kulturen erzählen ihren Kindern Geschichten; ein Teil der Entwicklung unseres spezifischen Menschseins ist die Wechselwirkung, die wir mit dem Beginn der Sprache erhalten.

Alle Kulturen verwenden Tierbilder für diese Erziehung durch Märchen; so haben wir im Westen schlaue Füchse, weise Eulen und ängstliche Küken. Sie scheinen einer Traumzeit der Menschen zu entstammen, als alle Tiere als Arten von Menschenwesen in anderer Haut betrachtet wurden und selbstverständlich sprechen konnten. Was die feineren Eigenschaftswörter bedeuten, lernen wir aus den Taten – und Worten – der Wesen in den Geschichten. Inuit-Kinder haben kein Bild vom »schlauen« Fuchs, ihr Fuchs ist »kühn« und »schnell«, während der Fuchs im norwegischen Bild geheimnistuerisch und weise ist und respektvollen Kindern viele gute Ratschläge zu geben vermag. Die Kausalität in diesen Geschichten ist immer verbal: »So sagte der Fuchs … und sie taten es!« oder »Ich werden husten und prusten und dein Haus zusammenpusten!« Die früheste mitgeteilte Kausalität, der ein Kind begegnet, sind verbale Anweisungen, die materielle Ereignisse zur Folge haben. Also Zaubersprüche.

In ähnlicher Weise wandeln Eltern und Betreuer die ausgesprochenen Wünsche des Kindes in Taten und Dinge um, vom Essen, das auf dem Tisch erscheint, wenn das Kind hungrig ist, bis zum Spielzeug und anderen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken. Wir umgeben diese einfachen verbalen Wünsche mit »magischem« Ritual. Wir verlangen, dass der Zauberspruch mit »bitte« anfängt und dass seine Ausführung mit »danke« quittiert wird.* [* Erzieher ermutigen oder ermahnen das Kind sogar: »Wie heißt das Zauberwort? Du hast das Zauberwort vergessen!«] Es ist wirklich kein Wunder, dass unsere Kinder zu glauben beginnen, um ein Stück wirkliche Welt zu erreichen oder zu erhalten, brauche man nur zu bitten – einfach zu bitten oder zu befehlen ist ja der klassische Zauberspruch. Erinnern Sie sich an »Sesam, öffne dich«?

Für ein Kind funktioniert die Welt wie mit Zauberei. Später im Leben wünschen wir, wir könnten so weitermachen, und alle unsere Wünsche würden wahr.* [* Vor Jahren hat Jack in seinem Buch The Privileged Ape (»Der privilegierte Affe«) über genau diese Tendenz geschrieben. Eigentlich wollte er es anders nennen und hätte es auch so genannt, wenn nicht der Verleger kalte Füße bekommen hätte: »Der Affe, der kriegte, was er wollte«. (Wenn er es kriegt, will er es natürlich nicht mehr.)] Also gestalten wir unsere Läden, unsere Webseiten, unsere Autos so, dass sie dieser wirklich »kindlichen« Weltsicht entsprechen.

Im Wagen nach Hause zu kommen und die Garage aufzuklicken, auf die Infrarot-Fernsteuerung zu drücken, um den Wagen zu öffnen oder abzuschließen, Fernsehkanäle zu wechseln – sogar das Licht mit dem Wandschalter anzuschalten – ist genau diese Art Magie. Anders als unsere viktorianischen Altvorderen verstecken wir gern die Maschinerie und tun so, als wäre sie nicht da. Clarkes Diktum ist also durchaus nicht überraschend. Es bedeutet, dass dieser Affe mit unglaublichem Erfindungsreichtum immer wieder versucht, ins Kinderzimmer zurückzukehren, wo alles für ihn getan wurde. Vielleicht haben andere intelligente/ extelligente Spezies auch eine ähnlich hilflose frühe Lebensphase, die sie mithilfe ihrer Technik zu kompensieren oder wieder zu durchleben trachten? Wenn dem so ist, werden auch sie »an Magie glauben«, und wir werden das anhand dessen feststellen können, dass sie über Rituale für »bitte« und »danke« verfügen.

In manchen menschlichen Kulturen sehen wir, wie diese Philosophie sich bis ins Erwachsenenalter hält. In »Erwachsenengeschichten« wie Tausendundeiner Nacht gewährt eine Auswahl von Dschinns und anderen Wundern dem Helden seine Wünsche mit magischen Mitteln, ganz wie die wahr werdenden Kindheitswünsche. Viele »romantische« Erwachsenengeschichten haben dieselbe Grundkonstellation, ebenso viele phantastische Geschichten. Der Gerechtigkeit halber müssen wir hinzufügen, dass dies bei modernen Fantasy-Geschichten kaum mehr der Fall ist; man bekommt nicht viel Spannung in eine Handlung, wo auf einen Wink des Zauberstabs alles möglich ist, und daher sind die dort gültigen »magischen« Praktiken meistens schwierig, gefährlich und wenn irgend möglich zu vermeiden. Die Scheibenwelt ist eine magische Welt – wir können beispielsweise die Gedanken eines Unwetters hören oder das Gespräch von Hunden –, aber Magie der Spitzhut-Art wird sehr selten verwendet. Zauberer und Hexen behandeln sie eher wie Kernwaffen: Es schadet nicht, wenn die Leute wissen, dass man welche hat, aber die Anwendung bringt alle in Schwierigkeiten. Das ist Magie für Erwachsene; sie muss schwierig sein, denn wir wissen, dass man nichts geschenkt bekommt.

Leider sind die Erwachsenen-Vorstellungen von Kausalität für gewöhnlich von der weniger raffinierten Wunscherfüllungs-Philosophie angesteckt, die wir von der Blechmagie unserer Kindheit her in uns tragen. Beispielsweise wenden Wissenschaftler gegen alternative Theorien ein, »wenn es wahr wäre, könnten wir es nicht berechnen«. Warum glauben sie, dass es die Natur kümmert, ob Menschen etwas berechnen können? Weil ihr eigener Wunsch, etwas zu berechnen, der sie Beiträge für gelehrte Zeitschriften schreiben lässt, ihre ansonsten rationale Sichtweise verfälscht. Man hat das Gefühl, dass da jemand mit den Füßen aufstampft; die Allmächtige sollte ihre eigenen Gesetze ändern, damit wir es berechnen können.

Es gibt andere Arten, die Vorstellungen über die Kausalität zu prägen, doch sie fallen Wesen schwer, die in ihre eigenen kulturellen Voraussetzungen eingebettet sind: Nahezu alles, was ein erwachsener Mensch zu tun hat, wird entweder von der Technik in Magie verwandelt, oder es hat mit einem anderen Menschen zu tun, mit Dienen oder Bedientwerden.

Diese Fragen von Verwaltung, Führerschaft und Aristokratie sind in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich gehandhabt worden. Feudalgesellschaften haben eine Adelsklasse, deren Mitglieder in vielerlei Hinsicht ihre kindliche Persönlichkeit behalten dürfen, indem sie von Dienern und Sklaven und anderen Ersatzeltern umgeben sind. Reiche Leute in komplexeren Gesellschaften und allgemein Menschen von hohem Status (Ritter, Könige, Königinnen, Prinzessinnen, Mafiabosse, Operndiven, Pop-Idole, Sportstars) scheinen sich mit Gesellschaften zu umgeben, die sie wie ein verhätscheltes Kind behandeln. In dem Maße, wie unsere Gesellschaft stärker von der Technik geprägt wurde, sind immer mehr von uns bis hinab zu den untersten Statusebenen der Gesellschaft in den Genuss der akkumulierten Magie der Technik gekommen. Supermärkte haben die Versorgung all unserer kindlichen Naturen mit allem, was wir nur wünschen können, demokratisiert und gefestigt. Immer mehr Erwachsene haben sich vermittels der Technik die Kindermagie angeeignet, und die legitime Art von Magie, die um das Wunder der Natur, hat den Kürzeren gezogen.

Mitte des 17. Jahrhunderts gab es einen Philosophen, Baruch Spinoza, der aus der synthetischen Position der Renaissance und aus seiner Kritik an den Veröffentlichungen von Descartes eine völlig neue Sicht auf die Kausalität ableitete. Er war eine der wenigen Gestalten, die an die Renaissance anknüpften und dazu beitrugen, die Aufklärung hervorzubringen. So entwickelte er seine kritische Sicht auf seine jüdischen kulturellen Autoritäten zu einem neuen, rationalen Bild von der universellen Kausalität. Er verwarf, dass Moses Gottes Stimme gehört habe, Engel und noch viel mehr »okkultes« Denken, insbesondere den frühen Kabbalismus* [* Ein System mystischer Glaubensvorstellungen, das auf der jüdischen Kabbala beruht.]; er entfernte die naive Magie aus seiner Religion. Spinoza war Linsenschleifer, ein Beruf, der den andauernden Vergleich des Ziels mit der Wirklichkeit erfordert. Also führte er die Handwerkersicht der Kausalität ein und entkleidete Gottes Wort der Magie. Die jüdische Gemeinde in Amsterdam schloss ihn aus. Sie hatten es von den Katholiken erfahren, doch es ließ sich nicht gut mit der jüdischen Praxis vereinbaren, nicht einmal damals.

Spinoza war Pantheist. Das heißt, er glaubte, ein wenig von Gott sei in allen Dingen. Dies glaubte er vor allem, weil, wenn Gott getrennt vom materiellen Universum wäre, es eine Wesenheit gäbe, die größer als Gott wäre, nämlich das ganze Universum plus Gott. Daraus folgt, dass Spinozas Gott kein Wesen war, keine Person, nach deren Bild die Menschheit erschaffen werden konnte. Aus diesem Grund wurde Spinoza oft für einen Atheisten gehalten, und viele orthodoxe Juden sehen ihn noch heute so. Dennoch verficht seine Ethik auf schöne, logisch argumentierende Weise eine bestimmte Art von Pantheismus. Im Grunde ist Spinozas Sichtweise kaum von jener der am stärksten zur Philosophie neigenden Wissenschaftler zu unterscheiden, von Newton bis Kauffman.

Vor Spinoza ließen sogar Descartes und Leibniz, die man für seine Vorgänger hält, Gott die Dinge in der Welt mit der Kraft seiner Stimme bewegen: Magie, Kinderdenken. Spinoza führte den Gedanken ein, ein alles überspannender Gott könnte das Universum in Gang halten, ohne anthropomorh zu sein. Viele moderne Spinozaner betrachten die Gesamtheit der Regeln, die von der Wissenschaft entworfen, beschrieben und der physischen Welt zugeordnet werden, als Verkörperung jener Art Gott. Das heißt, was in der materiellen Welt geschieht, geschieht auf diese Weise, weil Gott oder die Natur der physischen Welt es dazu zwingen. Und daraus ergeben sich Ideen, die an das Narrativium statt an Magie und Wunscherfüllung erinnern.

Eine spinozanische Sichtweise der Entwicklung eines Kindes sieht das Gegenteil von Wunscherfüllung. Es gibt Regeln, Beschränkungen, die eingrenzen, was wir tun können. Beim Heranwachsen lernt das Kind, seine Regeln zu modifizieren, indem es mehr von den Regeln wahrnimmt. Anfangs könnte es versuchen, das Zimmer in der Annahme zu durchqueren, der Stuhl sei kein Hindernis; wenn er sich nicht beiseite bewegt, wird das Kind Frustration fühlen, eine »Leidenschaft«. Und es kriegt einen Wutanfall. Später, wenn es seinen Weg so auswählt, dass es den Stuhl meidet, wird mehr von seinen Plänen friedlich und erfolgreich aufgehen. Wenn das Kind wächst und mehr von den Regeln lernt – von Gottes Willen oder vom Gewebe der universellen Kausalität –, wird dieser fortschreitende Erfolg eine ruhige Akzeptanz der Beschränkungen hervorbringen: eher Friede als Leidenschaft.

Kauffmans At Home in the Universe (»Zu Hause im Universum«) ist ein Buch sehr in der Art Spinozas, denn er erkannte, dass wirklich jeder von uns – mit der Belohnung des Friedens und der Disziplin der Leidenschaft und ihrer Zügelung – in seinem eigenen Universum sein Zuhause findet. Wir passen in das Universum als Ganzes, wir haben uns darin und daran entwickelt, und ein erfolgreiches Leben beruht auf der Erkenntnis, wie das Universum unsere Pläne einschränkt und unser Verständnis belohnt. »Bitte« und »danke« haben im Gebet Spinozas keinen Platz. Diese Sichtweise verschmilzt den Handwerker mit dem Philosophen, die ursprüngliche Achtung vor der Tradition mit den barbarischen Tugenden von Liebe und Ehre.

Und sie gibt uns eine völlig neue Art von Geschichte mit einer zivilisierenden Botschaft. Statt des barbarischen »Und dann rieben wir die Lampe aufs Neue … und wieder erschien der Dschinn« zieht jetzt der erste Königssohn aus, um eine Aufgabe zu erfüllen und die Hand der schönen Prinzessin zu gewinnen – und versagt. Erstaunlich! Kein barbarischer Held versagt jemals. Eigentlich versagt in magischen Geschichten von barbarischen oder Stammesgesellschaften letzen Ende nie jemand, ausgenommen böse Riesen, Zauberer und Großwesire. Die neue Geschichte aber erzählt, wie der zweite Königssohn von diesem Versagen lernt, und zeigt dem Zuhörer – und dem Lernenden –, wie schwer die Aufgabe ist. Dennoch versagt auch dieser, denn Lernen ist nicht leicht. Aber der dritte Sohn – oder das dritte Ziegenböckchen oder das dritte Schwein – zeigt, wie man in einer spinozanischen, aufgeklärten Welt der Beobachtung und Erfahrung Erfolg hat. Geschichten, in denen Leute von den Fehlern anderer lernen, sind ein Kennzeichen einer zivilisierten Gesellschaft.

In unserem »Mach-einen-Menschen-Baukasten« ist Narrativium hinzugekommen. Es erzeugt eine andere Art Geist als den in der Stammesgesellschaft, wo es immer nur heißt: »Tu das, weil wir das immer so gemacht haben und weil es funktioniert« und »Tu das nicht, weil es tabu ist, böse, und weil wir dich umbringen, wenn du es tust«. Und er unterscheidet sich auch vom barbarischen Geist: »Das bringt Ehre, Beute, großen Reichtum und viele Kinder (wenn ich nur einen Dschinn kriegen kann oder eine Dgun* [* Eine Dgun ist eine »dispersion gun«, aber wenn Sie kein Freund der einschlägigen Computerspiele sind, brauchen Sie das eigentlich nicht zu wissen. – Anm. d. Übers.]), ich werd mich doch nicht erniedrigen, diese Hände mit gemeiner Arbeit zu entehren.« Dagegen lernt das zivilisierte Kind, die Aufgabe zu wiederholen, mit dem Korn des Universums zu arbeiten.

Der Leser von Geschichten, die von Narrativium geformt worden sind, ist bereit, alles zu tun, was zum Verständnis der Aufgabe nötig ist. Vielleicht ist es im Universum der Geschichte nicht die vornehmliche Beschäftigung, sich für die Heirat mit einer Prinzessin zu qualifizieren, aber die Haltung des Prinzen wird ihm im Bergwerk gute Dienste leisten, an der Börse, im Wilden Westen (laut Hollywood ein Großlieferant von Narrativium) oder als Vater und Feudalherr. Wir sagen »er«, denn »sie« hat es schwerer: Narrativium ist bisher nicht für Mädchen gefördert und geformt worden, und die Art, wie feministische Mythen es formen, scheint sich um andere Fragen zu drehen als die auf Jungen ausgerichteten Modelle. Aber wir können das korrigieren, wenn wir uns erinnern, dass Narrativium durch Beschränkung übt.

Die Scheibenwelt, technisch gesehen zwar eine Welt, die mit Märchen funktioniert, bezieht einen Großteil ihrer Kraft und ihres Erfolges aus der Tatsache, dass die Märchen fortwährend in Zweifel gezogen und untergraben werden, am direktesten von der Hexe Oma Wetterwachs, die sie zynisch benutzt oder zurückweist, wie es ihr gerade passt. Sie ist rundum dagegen, dass Mädchen von der alles an sich reißenden »Geschichte« gezwungen werden, nur wegen ihrer Schuhgröße den hübschen Prinzen zu heiraten; sie glaubt, Geschichten seien dazu da, dass man sie in Zweifel zieht. Doch sie selbst ist Teil größerer Geschichten, und die folgen auch Regeln. In gewissem Sinne versucht sie immer, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzt. Und ihre Geschichten beziehen ihre Kraft aus der Tatsache, dass wir von Kindheit an darauf programmiert sind, an die Ungeheuer zu glauben, gegen die sie kämpft.