Mörderischer Frust

Stellen Sie sich einen 17-Jährigen auf einem Stromverteilerkasten vor: Er hockt schon seit Stunden auf dem Ding in der Nähe seiner Haustür. Er ist gleichzeitig deprimiert und wütend. Und seine Hand ist auch immer noch geschwollen und tut weh. Alles nur deshalb, weil sich seine Freundin auf einmal von ihm trennen will. Die halbe Nacht hat er sich um die Ohren geschlagen, weil der Freund seiner Mutter wollte, dass die beiden das »in Ruhe klären«. Natürlich hat das ganze Gerede dann mal wieder überhaupt nichts gebracht, obwohl sie beide erst um sechs Uhr ins Bett gekommen sind. Und dann musste er auch noch allein auf dem Ausziehsofa schlafen, weil die Kuh sich lieber bei seiner kleinen Schwester verkriechen wollte. Und heute Mittag, als sie endlich aufgestanden waren, taten seine Mutter und seine »Ex« plötzlich so, als wär nichts, und mussten unbedingt irgendwo zum Inline-Skaten. Kein Wunder, denen war er doch sowieso egal. Die haben ihn sogar gefragt, ob er mitwill. Dabei interessierte sich doch in Wahrheit niemand für ihn. Außer seiner kleinen Schwester, die meistens zu ihm hielt. Die anderen wollen doch alle immer nur, dass er die Klappe hält und sich am besten unsichtbar macht. Und gefragt, was er will, hat ihn sowieso niemand. Irgendwann würden die das alles zurückkriegen, darauf konnten die sich verlassen! …

Vielleicht hat der Junge auf dem Stromverteilerkasten auch etwas ganz anderes gedacht. Fest steht nur, dass seine gleichaltrige Freundin am Tag zuvor mit ihm Schluss gemacht hatte. Nicht das erste Mal, aber diesmal nach ihrer Aussage endgültig. Außer Frage steht auch, dass der 17-Jährige an dem betreffenden Abend im Oktober deprimiert und wütend war. Und dass er fast den ganzen Nachmittag auf dem Stromverteilerkasten gesessen hatte, weil er sonst nichts zu tun wusste. Was letztlich in seinem Kopf vor sich ging, kann man sich vielleicht zusammenreimen, genau erfahren werden wir es nie.

Nadine Angerer sah aus dem Fenster ihrer Wohnung in einem Hamburger Stadtteil, während das Abendessen schon auf dem Herd stand. Ihre siebenjährige Tochter Michelle fuhr noch immer allein vor dem Haus Fahrrad. Nun war es schon Viertel nach sechs, also bald Zeit fürs Abendessen. Daher ging Nadine Angerer hinaus zu ihrer Tochter, um ihr zu sagen, dass sie noch eine Viertelstunde draußen bleiben durfte. Michelle wollte noch kurz zu einer Freundin fahren, versprach aber, rechtzeitig zu Hause zu sein.

Michelle war ungewöhnlich groß und kräftig für ihr Alter und hatte auch einen Selbstverteidigungskurs absolviert, deshalb durfte sie sich in der näheren Umgebung der mütterlichen Wohnung in einem großen Mietkomplex recht frei bewegen. Sie radelte los, aber sie fuhr doch lieber zu einer anderen Freundin, die viel näher wohnte und schon zwölf war. An dem Mietshaus angekommen, in dem Laura und Nikolas wohnten, stellte sie ihr Fahrrad unten vor der Haustür ab, ohne abzuschließen, fuhr in den fünften Stock und klingelte bei Familie Wiedemann. Laura war zwar zu Hause, hatte aber keine Zeit, weil es gleich Abendbrot gab. Also verabschiedete sich Michelle von ihr und ging wieder zum Fahrstuhl.

Keine halbe Stunde später hörte Laura Wiedemann, wie Nikolas, ihr großer Bruder, den aber alle nur Nick nannten, zur Tür hereinkam. Der wollte aber gleich »kurz noch mal raus«. Während er in die Küche ging, um einen Koffer mit irgendwelchem Werkzeug auf einen Stuhl zu stellen, erzählte er, dass er Michelle eben getroffen hatte. Und dass er ihr Haushaltstücher aus dem Keller holen musste, weil sie sich in die Hose gemacht hatte und sich die Bescherung abwischen wollte. Laura dachte nur, wie peinlich es ihr selbst wäre, wenn ihr mal so was passieren würde.

Um fünf nach halb sieben ging Nadine Angerer wieder hinaus, um Michelle hereinzuholen, aber ihre Tochter war nirgends zu finden. Das sah ihr gar nicht ähnlich, zumal sie sich heute gemeinsam die Entscheidungssendung von Big Brother anschauen wollten.

Nadine Angerer rief nach ihrer Tochter, aber niemand antwortete. Vielleicht war sie ja in dem Park, in dem die Mädchen öfter spielten. Also ging Nadine eine kleine Runde durch den Park und rief dort immer wieder nach ihrer Tochter. Es kam keine Antwort. Nun wurde Michelles Mutter unruhig. Sie eilte nach Hause, aber das Mädchen war nicht zurückgekommen. Deshalb nahm sie ihr Handy mit nach draußen, um bei ihren Freundinnen anzurufen, bevor sie erneut in den Park ging, diesmal zusammen mit ihrem Lebensgefährten.

Als sie um kurz nach sieben das nächste Mal zurückkamen, spürte Nadine Angerer auf einmal einen nie gekannten Schmerz und rief augenblicklich bei der Polizei an.

Der Beamte am Telefon spürte, dass er es nicht wie so oft mit falschem Alarm zu tun hatte. Deshalb versuchte er gar nicht erst, die besorgte Mutter zu beschwichtigen, sondern schickte sofort einen Streifenwagen los. Keine zehn Minuten später forderten die beiden Streifenbeamten Verstärkung an und organisierten die polizeiliche Suchaktion. Bald waren sechzig Polizisten im Einsatz auf der Suche nach Michelle, die meisten vom Kriminaldauerdienst (KDD), der Kripodienststelle, die außerhalb der normalen Dienstzeit für die Einleitung erster Maßnahmen zuständig ist. Parallel zur Suchaktion waren KDD-Beamte bereits mit der üblichen Routine beschäftigt: Anrufe bei sämtlichen Taxizentralen, der U-Bahn-Leitstelle und der Feuerwehr, über deren »Bettennachweis« alle Einlieferungen in Krankenhäuser nachvollziehbar sind. Doch nirgends ein Hinweis auf den Verbleib von Michelle.

Um halb acht klingelte bei Familie Wiedemann das Telefon. Nicks Mutter Simone stand vom Tisch auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Als sie zurückkam, berichtete sie den anderen, was los war: »Die kleine Michelle Angerer ist verschwunden, viele Nachbarn und sogar die Polizei suchen schon nach ihr.« Nikolas stand auf und ging zum Fenster. Bei einem Blick durch die Gardinen sah er tatsächlich einige Polizisten und mehrere Hausbewohner in kleineren Grüppchen, die emsig und aufgeregt wirkten. Simone Wiedemann hatte sich inzwischen eine Jacke angezogen, um sich auch an der Suchaktion zu beteiligen. Ihre Tochter Laura sprang ebenfalls auf, und zur Überraschung aller sagte plötzlich auch der sonst so träge Nikolas, dass er mitkommen wollte.

Nikolas Wiedemann sah die kleine Menschenmenge, die sich vor dem Funkstreifenwagen versammelt hatte – darunter viele bekannte Gesichter – und ging direkt dar auf zu. Er erzählte den Polizisten, dass er Michelle erst vor gut einer Stunde vor dem Haus gesehen hatte. Anschließend holte er sein Fahrrad vom Balkon der mütterlichen Wohnung und fuhr mehrmals die Straßen in der Nachbarschaft ab. Zwischendurch suchte er zusammen mit anderen Jugendlichen in den verschiedenen Kellereingängen des großen Mietkomplexes, in dem auch er selbst wohnte.

Von dem Moment an, als zwei Nachbarsjungen das Fahrrad ihrer Tochter am anderen Ende der Straße gefunden hatten, in der sie selbst wohnten, spürte Nadine Angerer keine Hoffnung mehr. Irgendwas Schlimmes musste passiert sein. Michelles Fahrrad stand unabgeschlossen vor dem Eingang der riesigen Mietskaserne, in der Laura wohnte, aber bei der war Michelle nicht. Nadine Angerer stand mitten auf der von Scheinwerfern hell erleuchteten Straße und starrte verzweifelt auf die Szenerie. Es wimmelte von bekannten und unbekannten Nachbarn, unzähligen Polizisten und Leuten mit Kameras und Mikrophonen, allesamt angestrahlt von den Scheinwerfern, die der Technische Hilfsdienst hier in Windeseile aufgebaut hatte. Und alle redeten durcheinander.

Plötzlich kam Laura Wiedemanns 17-jähriger Bruder Nikolas auf sie zu und redete sofort auf sie ein. Er erzählte ihr, er habe gesehen, wie Michelle zum Laden an der Ecke gegangen sei. »Gegangen? Wo war denn ihr Fahrrad?«, fragte sie in ihrer Panik. Als er sich daraufhin verbesserte – »Na ja, sie ist gefahren.« –, wurde sie sofort wütend auf ihn und beschimpfte ihn, er solle sich mal entscheiden. Statt beleidigt abzuziehen, erzählte er weiter: Dass er mit ihr gesprochen und sie ihm verraten habe, dass sie keine Lust auf Aufräumen habe und deshalb lieber zu einem Freund einen Stadtteil weiter fahren wolle.

»Das ist eine Lüge!«, schrie Nadine Angerer. Wenig später zog sie sich kraftlos zurück in ihre Wohnung, wo sie von zwei Polizeipsychologen betreut wurde.

Inzwischen wurde der Großeinsatz von ganz oben geleitet. Alle Informationen gingen sofort direkt an den LKA-Chef und seine Mitarbeiter. Als die Suche um halb zwei in der Nacht noch immer zu keiner Spur von Michelle geführt hatte, brach der LKA-Chef den Einsatz ab, allerdings mit der Maßgabe, die Suchaktion bei Tageslicht fortzusetzen. Dennoch wollte der Führungsstab die Zeit bis dahin nicht ungenutzt verstreichen lassen, sondern alle bisherigen Ergebnisse auswerten, um vielleicht doch noch einen Hinweis auf den möglichen Verbleib des kleinen Mädchens zu entdecken.

Als die eilig gebildete Sonderkommission um drei Uhr morgens damit begann, die eingegangenen Meldungen zu sichten, fiel der Blick bald auf den Bericht einer Polizistin, die mitbekommen hatte, wie Michelles Mutter einen Jungen angeschrien hatte, weil sie nicht glauben konnte, was er ihr erzählt hatte. Die Polizistin hatte weiter vermerkt, dass die Argumente der Mutter ihr glaubhaft erschienen waren. Diese Information passte auf verstörende Weise zu den Aussagen mehrerer anderer Beamter, denen der junge Mann unbedingt von seiner Begegnung mit Michelle hatte erzählen wollen.

Angesichts der Tatsache, dass auch noch Michelles Fahrrad vor dem Haus gefunden worden war, in dem auch der betreffende Nikolas Wiedemann und seine Familie wohnten, startete die Sonderkommission eine Abfrage im Polizeilichen Auskunftssystem POLAS. Das Resultat: Der 17-Jährige war bereits in zwei Fällen vorbestraft, einmal wegen »Fahren ohne Fahrerlaubnis«, einmal wegen »gemeinschaftlichen Diebstahls und Hehlerei«.

Alle an der Sonderkommission beteiligten Polizeibeamten wussten, dass jetzt schnelles Handeln gefordert war – sei es, um vielleicht noch das Leben der Siebenjährigen zu retten, sei es, um ihren Mörder daran zu hindern, die Leiche verschwinden zu lassen.

Nikolas’ Mutter konnte es nicht fassen, als um kurz nach halb fünf in der Nacht plötzlich die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür stand und ihren Sohn zum Verbleib von Michelle befragen wollte. Wieso sollte Nick das verschwundene Mädchen in ihrer Wohnung versteckt halten? Der interessierte sich doch nicht für eine Siebenjährige. Außerdem hätten sie ja wohl alle etwas bemerken müssen, wenn Michelle hier wäre. Aber die Polizisten ließen sich durch alles Zureden nicht daran hindern, die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen. Inzwischen suchten sie schon über zwanzig Minuten. Als sie sah, wie einer der Beamten auf den stockdunklen Balkon ging, schüttelte sie nur den Kopf. Durch die Tür beobachtete sie, wie der Polizist in dem ganzen Chaos einen großen Umzugskarton unter die Lupe nahm. Nachdem er den Deckel ein kleines Stück geöffnet hatte, schreckte er augenblicklich zurück. Als Nächstes hörte Nikolas’ Mutter, wie der Beamte von seinem Telefon aus einen Notarzt rief. Wenige Minuten später wurde sie zusammen mit den anderen aufs Polizeipräsidium gebracht.

Nadine Angerer saß in einem anderen Raum desselben Präsidiums, zu dem sie vor nicht allzu langer Zeit ein Streifenwagen gebracht hatte, um dort zusammen mit der Polizei auf das Ergebnis der Hausdurchsuchung zu warten. Es war ziemlich genau sechs Uhr morgens, als der LKA-Chef persönlich auf sie zutrat und sagte: »Das Schlimmste, was eintreffen konnte, ist eingetroffen: Wir haben Ihre Tochter gefunden, und sie ist tot.«

Als der zuständige Kriminalhauptkommissar Sven Lohwinkel vor dem Hochhaus ankam, wimmelte es dort schon von Reportern und Kameraleuten. Sein vierköpfiges Team und die Spurensicherung waren bereits in der Wohnung, in der man vor einer Dreiviertelstunde die Leiche der siebenjährigen Michelle Angerer gefunden hatte. Zwar gab es einen Leichenfundort, aber niemand wusste, wo das Mädchen umgebracht worden war. Deshalb ließ Lohwinkel das ganze Haus erst einmal als potentiellen Tatort absperren. Es musste verhindert werden, dass umherlaufende Personen mögliche Tatortspuren zerstörten oder eigene Spuren hinterließen. Bevor sie aber das ganze Haus absuchten, musste er entscheiden, ob ein Rechtsmediziner angefordert werden sollte. Der Anblick all der Medienvertreter und Schau lustigen machte dem Kommissar die Entscheidung leicht. Man hätte zwar Sichtblenden aufbauen können, trotzdem kam es für ihn nicht in Frage, die tote Michelle dort oben auf dem Balkon zu entkleiden und ihren Körper nach Gewaltspuren abzusuchen, während von unten und von Nachbarbalkonen Kameras und Teleobjektive auf sie gerichtet waren. Das tote Kind musste in das Institut für Rechtsmedizin transportiert werden, und das möglichst sofort.

So kam es, dass dieses Mal kein Sarg, sondern ein hellbrauner, 86 x 40 x 30 Zentimeter großer Karton, von außen verschlossen mit weißem Klebeband und mehrfach umwickelt mit einem Elektrokabel, in unser Rechtsmedizinisches Institut gebracht wurde.

Es war eine schreckliche Vorstellung, dass sich in diesem Karton ein Kind befand, deshalb atmete ich zuerst tief durch, bevor ich den Karton vor den Augen einer Beamtin der Mordkommission und der zuständigen Oberstaatsanwältin vorsichtig mit einem Skalpell aufschnitt. Im nächsten Moment blickten wir alle mit stummem Entsetzen auf das tote Mädchen. Ein mit blutiger Flüssigkeit durchtränkter weißer Wollschal war zweimal um Kinn und Hals gewickelt, und zwar so, dass er auch Mund und Nase des auf dem Bauch liegenden Kindes verschloss. Im Nacken waren zudem die Haare des Mädchens mit dem Schal verknotet, auch das ein eindeutiger Hinweis, dass nicht ihre Mutter oder sie selbst ihn gebunden hatte. Unter dem Wollschal war das längere Ende eines einmal um den Hals geschlungenen Elektrokabels im Nacken verknotet und so um ihre Füße gebunden, dass die übereinandergeschlagenen Beine zu einer Schaukelstellung eng an den Körper gedrückt wurden, die Arme waren mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Wir hoben den Leichnam des Kindes aus dem Karton, legten ihn auf den Sektionstisch und öffneten die Handschellen.

Schon bei unseren ersten Untersuchungen machten wir eine schockierende Entdeckung: Das Mädchen war offensichtlich sexuell missbraucht worden. Die eindeutigen Verletzungen im Genitalbereich waren ein sicheres Zeichen dafür. Da Michelle mit Jacke, Pullover, T-Shirt, Hose, Unterwäsche sowie Schuhen und Strümpfen vollständig bekleidet war, konnten wir davon ausgehen, dass der Täter das Kind nach der Sexualtat wieder angezogen hatte und sich deshalb auch DNA- und Faserspuren von ihm auf ihrer Kleidung finden lassen würden.

Die nun folgende schichtweise Entkleidung des Kindes dauerte viele Stunden, da jeder Zentimeter Kleidung und später auch die gesamte Körperoberfläche einzeln mit Spezialfolie zur Spurensicherung abgeklebt werden musste. Aber das war erst der Anfang einer der längsten rechtsmedizinischen Untersuchungen eines toten Kindes, die ich bis dahin durchgeführt hatte.

Während ich dann gemeinsam mit einer Kollegin und einem Sektionsassistenten die Obduktion begann, wurden der Verdächtigte Nikolas Wiedemann sowie seine Familie im Polizeipräsidium vernommen. Im Laufe der Obduktion, die insgesamt fast elf Stunden dauerte, gab die Beamtin der Mordbereitschaft die jeweils vorliegenden Resultate an ihre Kollegen im Präsidium weiter, die wiederum den Tatverdächtigen damit konfrontierten.

Zu Beginn des Verhörs behauptete Nikolas Wiedemann, der geistig behinderte Sören Weiland hätte Michelle Angerer getötet, wenig später ergänzte er unter Druck, selbst ebenfalls »beteiligt gewesen« zu sein. Um drei Uhr nachmittags, gut vier Stunden nach Beginn unserer Obduktion, wurde dem LKA-Chef während der laufenden Pressekonferenz ein Zettel zugesteckt, auf dem stand, der Täter sei geständig. Nikolas Wiedemann hatte soeben den Satz gesagt: »Ich bin es gewesen.«

Doch diese Meldung war etwas voreilig, denn die Geschichte, die der 17-Jährige nach einer kurzen Pause Hauptkommissar Lohwinkel und einem weiteren Ermittler erzählte, war völlig absurd: Der Geschlechtsverkehr sei Michelles Idee gewesen, sie habe plötzlich die Hosen runtergelassen, und da habe er eben mitgemacht. Danach habe er sie nur ohnmächtig machen wollen – in der Hoffnung, dass sie sich hinterher an nichts mehr erinnert. Auch habe er immer wieder nach ihr gesehen und nachts den Karton extra nach oben auf den Balkon geholt, damit sie in seiner Nähe war, falls sie aufwachen sollte. Irgendwann währenddessen müsse sie gestorben sein.

Abgesehen davon, dass es undenkbar ist, dass eine Siebenjährige jemanden zum Sex auffordert, wurde diese Version des Geschehenen durch die Obduktionsbefunde eindeutig widerlegt: Eine zweifache Drosselmarke am Hals und punktförmige Einblutungen in der Gesichtshaut und in den Augenbindehäuten ließen nur einen Schluss zu: Michelle Angerer war erdrosselt worden.

Damit konfrontiert, wechselte der Jugendliche in eine Version der Tat, die kaum glaubwürdiger war als die vorherige. Immerhin gab er jetzt indirekt eine Vergewaltigung zu, behauptete aber, das Mädchen hätte sich, während er sie am Schal festhielt, so stark gewehrt, dass sie sich aus Versehen selbst erdrosselt habe. Auch in den folgenden Stunden seiner Vernehmung bestritt Nikolas Wiedemann jeden Tötungsvorsatz. Da schließlich nur wenig Aussicht bestand, dass er doch noch irgendwann mit einem echten Geständnis herausrückte, mussten andere Mittel und Wege herangezogen werden, um ein genaues Bild des Tatgeschehens zu erhalten. Dabei baute die Mordkommission in erster Linie auf die rechtsmedizinische Rekonstruktion des Drosselvorgangs, der nach dem Ergebnis meiner Obduktion todesursächlich war. Damit, so die Hoffnung der Ermittler, würde sich die Behauptung des Beschuldigten zweifelsfrei überprüfen lassen. Außerdem wurde ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben.

Auf Grundlage einer Rekonstruktion des Tathergangs und des psychiatrischem Gutachtens sowie dessen, was die Ermittler inzwischen über die Vorgeschichte von Nikolas Wiedemann in Erfahrung gebracht hatten, ließ sich nun zu der tragischen Geschichte des ermordeten Mädchens und der Suche nach ihr auch die erschreckende Geschichte des Mörders und seiner Tat erzählen:

Acht Jahre vor dem Nachmittag, an dem Nikolas Wiedemann stundenlang vor seiner Haustür herumlungert und auf dem Stromverteilerkasten sitzt, haben seine Eltern sich nach vielen Jahren voller Alkoholprobleme und lautstarker Auseinandersetzungen endgültig getrennt. Während seine Mutter ihre voreheliche Tochter Kirsten und Nikolas´ zu jener Zeit vierjährige Schwester Laura zu sich nahm, kam der damals Neunjährige zusammen mit seinem drei Jahre älteren Halbbruder zu seinem Vater, der bald nach der Scheidung erneut heiratete. Eine Besuchsregelung kam nicht zustande, so dass die Brüder ihre Mutter kaum sahen. Es dauerte nicht lange, bis sie das erste Mal von zu Hause wegliefen, was in der Folgezeit öfter vorkam. Zeitweilig lebten Nikolas und sein Bruder sogar auf der Straße. Schon vorher, im Grunde seit dem ersten Schuljahr, hatte Nikolas Probleme in der Schule gehabt, was dazu führte, dass er mehrmals die Schule wechseln musste. Zwei vom Jugendamt angeregte Kuraufenthalte führten zu keiner Entspannung der Situation.

Knapp zwei Jahre nach der Trennung der Eltern sorgte sein Vater dafür, dass Nick regelmäßig von einer Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und deren Mann, einem Diplompsychologen, betreut wurde. Mit dreizehn zog Nikolas nach einem Streit mit seinem Vater zu seiner Mutter, die statt Konsequenz, Konstanz und Strenge lieber Nachgiebigkeit walten ließ. Als er nach einem Schulwechsel auf der neuen Schule kaum noch zum Unterricht erschien und ansonsten dauernd Streit mit seinen Mitschülern vom Zaun brach, riet das Therapeutenpaar den Eltern zu einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung, um zu verhindern, dass der Junge seine letzten emotionalen und sozialen Bindungen verlor und völlig verwahrloste.

Gut vier Jahre vor dem schrecklichen Verbrechen an der siebenjährigen Michelle Angerer wurde der damals 13-jährige Nikolas Wiedemann in einer Kinder- und Jugendgruppe auf einer Nordseeinsel untergebracht, wo er auch zur Inselschule ging. Dort gab er schon bald an, schikaniert und sogar sexuell missbraucht worden zu sein. Zeugen oder sonstige Hinweise, die seine Angaben bestätigten, gab es jedoch nicht. Nach weniger als einem Jahr kehrte er wieder in die väterliche Wohnung zurück.

Sein Vater wollte alte Fehler nicht wiederholen und traf mit einer fürsorglichen Lehrerin Absprachen, um Nikolas unter strenger Überwachung zu halten. Die Kontrolle funktionierte, doch als der Vater schwer erkrankte, nutzte der mittlerweile 14-Jährige die Gelegenheit, um mitten in der Nacht abzuhauen. Unterschlupf suchte er wieder bei seiner Mutter, die ihn bereitwillig aufnahm und offenbar keinerlei Ambitionen hatte, ihn zu erziehen. So schrieb sie ihm fortan auch alle möglichen Entschuldigungen für die Schule, als die Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes wieder zunahmen. Noch vor seinem Hauptschulabschluss, den er nur knapp schaffte, was nicht an mangelnder Intelligenz lag, trank er häufig Alkohol und wurde beim Marihuana-Rauchen erwischt. Eine anschließend angefangene Ausbildung als Elektriker – sein Vater übte denselben Beruf aus – brach er schon nach drei Wochen wieder ab.

Knapp zweieinhalb Monate vor seiner Tat lernte der inzwischen 17-Jährige ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft namens Melanie kennen. Mit ihr machte er kurz darauf seine ersten sexuellen Erfahrungen. Doch es dauerte nicht lange, bis Melanie das erste Mal damit drohte, mit ihm Schluss zu machen. Es nervte sie, dass er vorwiegend mit Jüngeren rumhing und sich für nichts richtig interessierte. Umgekehrt sah sich Nikolas immer häufiger nach anderen Mädchen um.

Am Vorabend des Mordes an Michelle Angerer schließlich eröffnet die junge Frau Nikolas nach einem heftigen Streit, dass sie endgültig mit ihm Schluss mache. Darauf hin stürmt Nikolas tief verletzt und wütend aus der Wohnung. Im Treppenhaus schlägt er mehrmals so heftig gegen die Wand, dass seine Hand anschwillt.

Als seine Mutter und deren Freund ihn vor dem Haus antreffen und ihm, was sonst nie vorkommt, Tränen in den Augen stehen, fragen sie ihn, was los ist. An schließend bemühen sie sich um eine Aussprache zwischen den Jugendlichen.

Die beiden reden daraufhin bis in die frühen Morgenstunden und trinken dabei Whiskey. Anschließend zieht sich Melanie in das Zimmer von Nicks Schwester Laura zurück. Sowohl sie als auch Nikolas stehen erst gegen Mittag auf. Kurz darauf schlägt seine Mutter ihm, Melanie und Laura vor, Inline-Skaten zu gehen. Nikolas, der sich ohnehin seit dem Aufstehen allen Anwesenden gegenüber feindselig verhält, hat keine Lust und bleibt zu Hause. Er geht vors Haus und redet draußen mit verschiedenen Bekannten, unter anderem mit dem geistig behinderten Sören Weiland. Eine gute halbe Stunde bevor Nadine Angerer ihrer Tochter erlaubt, noch eine Viertelstunde draußen zu bleiben und kurz zu einer Freundin zu fahren, setzt sich Nikolas zum wiederholten Mal auf den Stromverteilerkasten und gibt sich seinem Frust hin.

Irgendwann sieht er Michelle auf ihrem Fahrrad an ihm vorbeifahren. Er kennt sie, da sie schon öfter mit seiner Schwester gespielt hat und dabei auch immer wieder zu ihm gelaufen kam, um ihn zum Mitspielen zu überreden. Kurz darauf rutscht er von dem Stromverteilerkasten und geht langsam auf den Hauseingang zu.

Niemand weiß, wann genau der 17-Jährige beschlossen hat, seinen ganzen Frust an Michelle auszulassen. Auch lässt sich nicht sagen, ob er von Anfang an eine Vergewaltigung im Sinn hatte. Fest steht jedoch, dass er Michelle Angerer unter einem Vorwand in den Keller gelockt hat.

Dort dreht er ihr die Hände auf den Rücken, fesselt sie mit Handschellen und benutzt ihren Schal als Knebel. Trotz des absolvierten Selbstverteidigungskurses hat Michelle gegen den fast 1,80 Meter großen und 84 Kilo schweren Jungen keine Chance. Nikolas zerrt der Sieben jährigen Hose und Schlüpfer herunter und vergewaltigt sie. Um die Angst- und Schmerzensschreie des Mädchens verstummen zu lassen, hält er ihr mit einer Hand Mund und Nase zu, worauf sie eine knappe halbe Minute später ohnmächtig zusammensackt. Sehr bald dämmert dem Jugendlichen, dass er wahrscheinlich im Gefängnis landet, wenn er Michelle am Leben lässt. Also nimmt er ein Stromkabel vom Regal, schnürt es zweimal um ihren Hals und erdrosselt sie, bevor sie wieder zu Bewusstsein kommt. Anschließend schleppt er sie in den Kellerverschlag, für den er einen Schlüssel hat, und nimmt dann einen Werkzeugkoffer mit einem Akkuschrauber nach oben in die Wohnung, um damit einen Grund für seinen Gang in den Keller vorzutäuschen.

Dort erzählt er seiner Schwester und den anderen, er habe Michelle eben vor dem Haus getroffen und ihr Haushaltstücher aus dem Keller geholt, weil sie sich in die Hose gemacht habe. Kurz darauf geht er wieder hin unter in den Keller. Dort wischt er seinem Opfer mit Haushaltstüchern das Blut an Scheide und Anus und den im Todeskampf ausgeschiedenen Urin ab. Um seine Spermaspuren zu beseitigen, reißt er neue Tücher von der Rolle. Anschließend zieht er der Toten die Hosen hoch, legt sie auf den Bauch und verknotet das von ihm um ihren Hals gebundene Kabel eng mit den auf den Rücken gedrückten Füßen. Da blutiger Schaum aus Michelles Mund und Nasenlöchern austritt, wickelt er den weißen Wollschal des Kindes um ihr Gesicht. So zusammengeschnürt, verstaut er das tote Mädchen in einem Umzugskarton. In den wirft er auch die Tücher mit Michelles Blut und Urin. Die Tücher, mit denen er die sichtbaren Spermaspuren von Körper und Boden gewischt hat, stopft er dagegen in die leere Rolle und wirft die Rolle anschließend in ein Gebüsch vor der Haustür. Dann verklebt er den Karton mit weißem Klebeband und umwickelt ihn zusätzlich mit einem weiteren Elektrokabel. Bei all dem beeilt er sich, damit er einigermaßen rechtzeitig zum Essen nach oben kommt, denn er will nicht auffallen.

Als er in die Wohnung seiner Mutter im fünften Stock zurückkehrt, haben alle anderen schon fertig gegessen. Wenig später ruft Sörens Mutter an und erzählt, dass Michelle Angerer vermisst wird. Sofort beschließt Nikolas, einen möglichen Tatverdacht von sich abzulenken, indem er engagiert an der Suchaktion teilnimmt.

Weil er fürchtet, dass die vielen Polizeibeamten, die inzwischen erschienen sind, im Keller nach dem Mädchen suchen könnten, will er den Karton mit der Leiche lieber an einen sicheren Ort bringen. Deshalb nutzt er einen Moment, in dem niemand auf ihn achtet, und bringt den Karton mit dem Leichnam per Fahrstuhl in den fünften Stock. Dort deponiert er ihn auf dem Balkon und mischt sich anschließend wieder unter das Volk, das sich seit dem Fund von Michelles Fahrrad vor dem Haus versammelt hat.

Stunden später klingelt die Polizei an der Wohnungstür und findet kurz darauf auf dem Balkon, wonach sie gesucht hat – nur dass die Hoffnung, Michelle würde noch leben, sich nicht erfüllt.

Als ein knappes halbes Jahr nach der Tat das Landgericht Hamburg in der Strafsache gegen Nikolas Wiedemann Recht zu sprechen hatte, war auch Michelles Mutter anwesend. Sie wollte an der Gerichtsverhandlung teilnehmen, um sich ein Bild davon zu machen, was genau ihrer Tochter widerfahren war, was sie in den letzten Stunden ihres Lebens hatte erleiden müssen. Denn darin sah sie den einzigen möglichen Weg, nicht an ihrem Schmerz zu zerbrechen.

So sah und hörte sie, wie der Angeklagte sich erhob und verkündete, er wolle jetzt endlich »die ganze Wahrheit« sagen, nachdem er bei der Polizei »rumgelogen« habe. Und sie erlebte mit, wie die Indizien auch das neueste »Geständnis« in mehreren Punkten widerlegten. Diese Indizien, die sich sowohl aus den Widersprüchen in den Angaben des Angeklagten ergaben als auch aus den Zeugenaussagen, dem Faservergleichsgutachten, dem Ergebnis der Obduktion und dem DNA-Gutachten, wurden im Verlauf der Verhandlung von den geladenen Zeugen und Sachverständigen vorgetragen, also auch von mir.

Aufgrund der Obduktionsresultate ließ sich zweifelsfrei belegen, dass der Jugendliche das Mädchen nicht erst gefesselt hatte, als sie schon bewusstlos am Boden lag, denn die tiefen Fesselungsspuren an beiden Handgelenken zeugten eindeutig von heftiger Gegenwehr und den Befreiungsversuchen des Kindes. Zudem hätte er die sexuellen Handlungen ohne vorheriges Fesseln an dem für sein Alter großen und kräftigen Mädchen nicht ver üben können, zumal Michelle ja einen Selbstverteidigungskurs absolviert hatte.

Die Hauptabweichung zwischen der neuesten Version des Angeklagten und dem von den Ermittlern rekons truierten Tatgeschehen betraf den Zeitpunkt der Tötung. Nikolas Wiedemann bestand darauf, er habe die Siebenjährige zunächst ohnmächtig im Keller liegen lassen. Erst später, nachdem er in der Wohnung gewesen sei und danach die Flecken im Keller beseitigt habe, habe er der immer noch bewusstlosen, aber noch atmenden Michelle Angerer den Schal vors Gesicht gebunden und das Kabel um Hals und Füße geknotet, um sie so in den Umzugskarton zu heben.

Auch dieser Behauptung widersprach das Gericht, auch wenn Obduktion oder DNA-Gutachten hier keine Beweise liefern konnten. Hier stützte sich der Vorsitzende Richter mit seinen zwei beisitzenden Richterinnen sowie den beiden Schöffen in der Hauptsache auf gesunden Menschenverstand. Da der Angeklagte bereits zugegeben hatte, das Mädchen aus Angst vor Entdeckung seiner Sexualtat getötet zu haben, war es mehr als unwahrscheinlich, dass er zunächst hoch in die Wohnung geht und danach erst einmal Spuren beseitigt, bevor er sein Opfer zum Schweigen bringt. Das Risiko, dass Michelle aufwacht und um Hilfe schreit oder sich gar aus dem Keller befreit, wäre viel zu groß gewesen.

Von zentraler Bedeutung für Urteil und Strafbemessung war natürlich die Frage, ob Nikolas Wiedemann das zuvor vergewaltigte Kind tatsächlich ermordet hatte oder ob sie auf andere Weise zu Tode gekommen war. In seiner angeblich nun der Wahrheit entsprechenden Darstellung des Geschehens gab der Angeklagte an, das Mädchen müsse sich – von ihm unbeabsichtigt – im bewusstlosen Zustand mit dem Kabel, das wie eine »chinesische Schaukel« um Hals und Füße gebunden war, selbst stranguliert haben. Dagegen sprach bereits einerseits, dass der 17-Jährige längst zugegeben hatte, Michelle getötet zu haben, damit sie ihn nicht verriet. Doch in diesem Fall ließ sich der ohnehin wahrscheinliche Sachverhalt auch rechtsmedizinisch belegen:

Als Sachverständiger schilderte ich den Anwesenden die entscheidenden Obduktionsbefunde, mit denen die Polizei den Angeklagten schon bei seiner Vernehmung konfrontiert hatte. Anschließend erklärte ich, warum unter den beschriebenen Umständen die vom Angeklagten behauptete Selbststrangulierung nicht die Todesursache gewesen sein konnte:

Zwar war das Elektrokabel zwischen Hals und Füßen so eng gespannt, dass es den ganzen Körper in eine Art Schaukelstellung bog, was durchaus eine Strangulation ohne weiteres Zutun durch Nikolas ermöglicht hätte. Doch bei der Obduktion hatten wir festgestellt, dass dieses Kabel nur »eintourig« um den Hals gewickelt war. Der Knoten dieses Elektrokabels saß im Nacken, da der Angeklagte das Kabel von dort aus mit ihren Füßen verbunden hatte – nach seinen eigenen Schilderungen zu dem Zweck, die angeblich nur bewusstlose Michelle in den Karton zu heben. Sowohl die Drosselmarken am Hals als auch die entsprechenden Verletzungen der Halsweichteile waren jedoch zweifach vorhanden gewesen. Daher kam als Todesursache nur ein Erdrosseln mit »doppeltouriger« Schlingenführung in Frage. Ein weiteres entscheidendes Detail war, dass nach dem Erscheinungsbild der zweifachen Drosselmarke der Knoten des Kabels, mit dem Michelle erdrosselt wurde, an der Vorderseite des Halses gelegen haben musste. Nikolas Wiedemann hatte ihr direkt ins Gesicht gesehen, während er die Schlinge zuzog. Die einfache Kabelschlinge, die wir vor der Obduktion vom Hals des Kindes entfernen mussten, hatte weder Verletzungen der Halsweichteile noch Strangulationsmale hinterlassen. Das hieß, Michelle war bereits tot, als der Täter ihr dieses Kabel um den Hals band.

Damit war die Tat aus Sicht des Gerichts hinreichend geklärt: Es handelte sich um Vergewaltigung in Tateinheit mit anschließendem Mord aus sogenannter Verdeckungsabsicht.

Bevor jedoch ein Urteil gefällt werden konnte, musste zunächst über die Schuldfähigkeit des Angeklagten entschieden werden. Grundlage für diese Entscheidung war ein psychiatrisches Gutachten, das annähernd 100 Seiten umfasste. In dem Gutachten, das sich auf Aktenmaterial, Exploration der Vorgeschichte sowie psychologische und körperliche Untersuchung stützt, ging der psychiatrische Gutachter auch ausführlich auf die Kindheit des Angeklagten sowie auf dessen Situation und Gefühlszustand unmittelbar vor der Tat ein.

Im Kern bescheinigte er dem Angeklagten eine »emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus im Anfangsstadium«. Begonnen habe seine Entwicklungsstörung bereits im Vorschulalter, wo der Junge durch mangelnde Aufmerksamkeit und Hyperaktivität aufgefallen sei. Er sei schon früh emotional instabil und nicht in der Lage gewesen, seine gefühlsmäßigen Impulse zu kontrollieren. Damit seien die gewalttätigen Ausbrüche zu erklären, die sowohl seine Eltern und Geschwister als auch Mitschüler und Lehrer in der Folgezeit immer wieder miterleben mussten, vor allem dann, wenn Nikolas kritisiert wurde. Zudem leide der angeklagte Jugendliche an einem gespaltenen Selbstbild, wegen dem sich bei ihm Selbstüberschätzung mit massiven Selbstzweifeln abwechselten.

Als Nikolas Wiedemann am Nachmittag vor der Tat auf dem Stromverteilerkasten saß, war er nach Auffassung des psychiatrischen Gutachters voller angestauter Aggressionen. Ausgelöst worden seien diese durch den Streit am Vortag mit seiner Freundin Melanie. Da die nächtliche Aussprache nichts gebracht habe, sei der Frust des Angeklagten enorm gewesen, zumal Melanie nach dem Gespräch nicht bei ihm auf dem Ausziehsofa geschlafen habe, wie sonst immer, sondern sich in das Zimmer seiner kleinen Schwester Laura zurückgezogen hatte. Die angestauten Aggressionen nach dem Ende seiner ersten sexuellen Beziehung entluden sich dann »in einem spontanen Impulsdurchbruch durch einen aggressiven Akt gegenüber der kleinen Michelle«.

Die Tat sei demnach nicht aufgrund eines Motivs, sondern in Folge eines Affekts begangen worden. Dieser Affekt habe den Jungen zunächst überrollt, weshalb er kaum verstandesmäßig reagieren konnte. Allerdings, so das Gutachten, hätte der Angeklagte im Verlauf der Tat noch mehrere Gelegenheiten gehabt, sich anders zu verhalten. Vor allem sein Nachtatverhalten zeige, dass er nicht ausschließlich unter dem Einfluss des aggressiven Impulses gehandelt habe. Deshalb, so fasste der psychiatrische Gutachter zusammen, könne man nicht von einer aufgehobenen, sondern nur von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgehen.

Die Kammer schloss sich den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen an und nahm die verminderte Schuldfähigkeit in ihre Überlegungen zur Strafbemessung auf. Gleichzeitig jedoch wertete sie die Tat als »so schwerwiegend und so grauenvoll, dass sowohl aus erzieherischen Gründen als auch unter Sühnegesichtspunkten nur die Ahndung mit einer erheblichen Jugendstrafe« in Frage kam. Er habe die Arglosigkeit des Mädchens, das dem großen Bruder ihrer Freundin immer ohne jede Scheu begegnet war, »skrupellos miss braucht«, und die Ausführung seiner Tat zeuge von einer »unbarmherzigen und mitleidlosen Gesinnung« gegenüber dem erst sieben Jahre alten Mädchen. Als ebenfalls schulderschwerend wertete das Gericht die Teilnahme des Täters an der Suchaktion, während der er gezielt Polizisten und sogar die Mutter des Opfers mit Fehlinformationen versorgt hatte.

Das Gericht verurteilte den Angeklagten Nikolas Wiedemann wegen Vergewaltigung mit anschließendem Mord zu einer Jugendstrafe von acht Jahren.

Hätten die Richter nicht auf verminderte Schuldfähigkeit entschieden, wären zehn Jahre die zugelassene Höchststrafe in dem hier angewendeten Jugendstrafrecht gewesen.

Stellen Sie sich eine Mutter vor, die nach dem grausamen Verbrechen an ihrer siebenjährigen Tochter zumindest wissen will, wie die letzten Stunden des Mädchens verlaufen sind, und deshalb all ihren Mut und ihre Kraft zusammennimmt und die Hauptverhandlung vor Gericht besucht. Stellen Sie sich vor, wie diese Mutter miterleben muss, dass der Mörder ihrer kleinen Tochter auch vor Gericht erneut lügt und seine Behauptungen nach und nach in allen Einzelheiten von Zeugen und Experten widerlegt werden müssen. Und stellen Sie sich vor, wie sie auf diese Weise herausfindet, dass ihr Kind aus einem mörderischen Impuls heraus vergewaltigt und ermordet wurde, nur weil es zufällig zum falschen Zeitpunkt an dem Stromverteilerkasten vorbeikam, auf dem der Täter in seinem angestauten Frust saß.

Diese Mutter, die sich selbst immer als Kämpfernatur gesehen hatte, verlor nach dem Mord an ihrer Tochter alle Freude und jeden Lebensmut. Sie sah sich nicht mehr in der Lage zu arbeiten und musste sich auf unbestimmte Zeit krankschreiben lassen. Um sich wieder zu stabilisieren, begab sie sich in psychotherapeutische Behandlung, ebenso ihr Lebensgefährte, der sie mit all dem nicht allein lassen wollte. Zudem stellte die Frau, der ich in diesem Kapitel das Pseudonym Nadine Angerer gegeben habe, zeitweilig eine eigene Website ins Netz. Dort schrieb sie auch einen Brief an ihr totes Kind, in dem sie dem Mädchen erzählte, wie sie den Abend der Tat und der anschließenden Suche erlebt hatte. Über den Moment, als die Nachbarskinder Sören und Felix ihr von dem gefundenen Fahrrad Michelles berichteten, schrieb sie: Ich brach zusammen und wusste meinen Schmerz zu deuten. Ich bin in Sekunden gestorben, und keiner konnte mehr helfen.

Im Hamburger Institut für Rechtsmedizin, in dem ich damals noch tätig war, gibt es einen Trauerraum, in dem die Angehörigen von Verstorbenen Abschied nehmen können. Dies ist eine Besonderheit, da das Hamburger Institut zugleich öffentliche Leichenhalle für den Stadtstaat ist. Als ich hörte, dass die Mutter der kleinen Michelle einen Tag nach dem Fund und der Obduktion auf dem Weg ins Institut war, um ein letztes Mal ihre Tochter zu sehen, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Als diensthabender Arzt war ich derjenige, der sie in den Raum führen und auf das, was sie darin erwartete, vorbereiten musste. Obwohl ich nach so kurzer Zeit noch nicht wirklich Abstand zu der Obduktion gefunden hatte, oder gar zu dem, was dabei zutage gefördert worden war, lehnte ich das Angebot eines Kollegen ab, an meiner Stelle die Abschied nehmende Mutter zu begleiten. Inzwischen bin ich froh darüber, mich dieser Erfahrung gestellt und mit der Frau gesprochen zu haben. Auch wenn unser kurzes Gespräch nichts daran ändern konnte, dass sich das, was sie durchmachte und in nächster Zeit noch würde durchmachen müssen, nicht in Worte fassen lässt.

Bei aller gebotenen Sachlichkeit und Objektivität und trotz der notwendigen Distanz zu Angehörigen von Mord opfern, zu der mich meine Arbeit verpflichtet, werde ich das Leid dieser Mutter niemals vergessen. Daher ist dieses Kapitel speziell ihr gewidmet – indem ich beim Schreiben sowohl ihren Wunsch berücksichtigt habe, wahrheitsgemäß über die letzten Stunden ihrer Tochter zu berichten, als auch ihre Angst vor schrecklichen Details, auf die ich in diesem Fall bewusst verzichtet habe. Ohne ihr ausdrückliches Einverständnis wäre dieser besonders tragische Fall weder in diesem noch in einem anderen Buch festgehalten worden.