Für immer vereint
Alexandra Stein hielt es zu Hause nicht mehr aus. Ihre anfängliche Beunruhigung hatte sich schon gestern den ganzen Tag über immer weiter gesteigert. Warum meldeten sich ihre Eltern nicht? Dass sie nicht ans Telefon gingen, passte so gar nicht zu Ludmila und Wilhelm Bergholz, 86 beziehungsweise 88 Jahre alt, die ihr Haus eigentlich niemals länger als drei Stunden verließen und sonst immer die mehrfachen täglichen Telefonanrufe ihrer ältesten Tochter nicht nur erwartet, sondern regelrecht eingefordert hatten. Irgendwas stimmte hier nicht. Nach einer fast schlaflosen Nacht beschloss Alexandra Stein, nach dem Rechten zu sehen, und fuhr zu der von ihren Eltern bewohnten Doppelhaushälfte im Nordosten Berlins. Von einem unguten Gefühl getrieben, nahm sie sich nicht mehr die Zeit, zu klingeln, sondern öffnete mit ihrem Zweitschlüssel die Haustür.
Um halb zwei desselben Tages erhielt ich einen Anruf der Mordkommission, in dem mir der zuständige Kriminalkommissar von dem Anruf einer Frau berichtete, die ihre toten Eltern in deren Haus gefunden hatte. Anschließend schilderte er mir in knappen Worten, dass ein natürlicher Tod bei dem Paar nicht in Betracht käme. Möglicherweise hätten wir es mit einem zweifachen Tötungsdelikt zu tun.
Eine halbe Stunde später bot sich mir vor Ort ein vertrautes Bild: In der Garageneinfahrt neben dem Haus parkten zwei Streifenwagen, allerdings ohne Blaulicht oder gar Martinshorn. In der realen Polizeiarbeit geht es an den Tat- oder Fundorten sehr viel dezenter zu als im Fernsehkrimi.
Aus den Fenstern der umliegenden Häuser starrten zahlreiche Schaulustige zu uns herunter, auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten sich tuschelnde Nachbarn und Passanten versammelt. Wenige Meter vom Haus des Ehepaares Bergholz entfernt standen zwei VW-Kleintransporter der Spurensicherung. Mit diesen großräumigen Fahrzeugen transportieren die Kriminaltechniker ihre sämtlichen Utensilien, die sie an einem Leichenfundort beziehungsweise Tatort benötigen könnten.
Im Haus selbst herrschte geschäftiges Treiben. Zwei Ermittler in weißen Schutzanzügen, mit Gummihandschuhen und Mundschutz vor dem Gesicht verschwanden gerade über eine Treppe in die erste Etage. An einer Kommode im Eingangsbereich sicherte ein ebenfalls ganz in Weiß gekleideter Kriminaltechniker Fingerabdrücke. Aus einer etwas weiter entfernten Türöffnung, die vom Flur abging, sah ich mehrfach das Blitzlicht einer Kamera. Der Polizeifotograf war also schon dabei, die Szenerie zu dokumentieren. Im Eingangsbereich des Hauses standen mehrere geöffnete Aluminiumkoffer der Kollegen von der Kriminaltechnik, darin lagen verschiedene Gegenstände und Utensilien bereit, die bei der Spurensicherung an einem Tatort benötigt werden. Neben Plastik- und Papiertütchen unterschiedlicher Größe, Pinzetten aus Metall und Plastik, kleineren und größeren Plastikbehältern für Asservate, Digitalkameras mit verschiedenen Objektiven und Plastikklebeband zur Asservierung von Faserspuren lagen in den Koffern mehrere verschweißte Plastikbeutel mit Schutzanzügen.
Diese Ganzkörper-Overalls zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst keine Textilfasern abgeben (sie sind aus sogenanntem Endlos-Faser-Vlies hergestellt) und zudem verhindern, dass die Kleidung darunter einen Tatort mit zusätzlichen Faserspuren kontaminiert und die Suche nach tatrelevanten Spuren erschwert. Erst recht sollen die Ermittler an einem Tatort nicht ihre eigene DNA hinterlassen und auf diese Weise »Fremdspuren« legen, denn die müssten später mit aufwendigen DNA-Analysen von den DNA-Spuren am Tatort getrennt werden, die tatsächlich von Täter und Opfer herrühren. Zu diesem Zweck tragen die Beamten neben der Kapuze des Schutzanzuges auch einen Mundschutz, der beim Sprechen mit den Kollegen auch kleinste Speicheltröpfchen auffängt. Auch die Gummihandschuhe sollen natürlich unter anderem verhindern, dass die Kriminalisten bei ihrer Arbeit Fingerabdrücke oder Hautschüppchen (und damit wiederum DNA-Spuren) hinterlassen. Plastiküberziehschuhe, die in manchen Schutzanzugmodellen als Füßlinge bereits integriert sind, komplettieren das Bild.
Übrigens ist die Erkenntnis, dass jeder Täter an einem Tatort Spuren hinterlässt wie zum Beispiel Textilfasern der von ihm getragenen Kleidung, Fingerabdrücke, Haare, Hautschüppchen, Blut oder Sperma, schon über einhundert Jahre alt. Sie stammt von dem französischen Mediziner und Juristen Edmond Locard, einem der wesentlichen Mitbegründer der modernen Kriminaltechnik, der damit die polizeiliche Ermittlungsarbeit revolutioniert hat.
In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, lieber Leser, bedauerlicherweise auch die Illusion rauben, dass wir Rechtsmediziner am Tatort nebenbei auch noch die Arbeit der Kriminaltechniker erledigen wie unsere Fernsehkollegen von CSI und Co. Das ist keineswegs der Fall. Ich selbst tröste mich darüber immer damit hinweg, dass Polizeibeamte ja auch keine Obduktionen durchführen.
Der Ermittler der Spurensicherung (in der Polizeisprache offiziell als »SpuSi« abgekürzt, nicht zu verwechseln mit dem bayrischen Gschpusi) reichte mir einen noch verpackten Overall. Den streifte ich mir ebenso über wie Gummihandschuhe, Mundschutz und Plastiküberschuhe, bevor ich mir die beiden Toten genauer ansah. Meine Arbeit wie der Münsteraner Tatort-Rechtsmediziner Professor Boerne in maßgeschneidertem Smoking und mit wehendem Seidenschal zu machen ist leider nicht erlaubt – abgesehen davon, dass mir dessen Kleidungsstil ohnehin nicht so liegt.
Ich folgte dem Ermittler in den Flur, in der einen Hand den Tatortkoffer mit Pinzetten, Reizstromgerät, elektronischem Thermometer und Augentropfen, in der anderen Hand mein Laptop. In der Türöffnung zum Wohnzimmer blieb der Kommissar stehen und deutete mit einer Seitwärtsbewegung seines Kopfes auf den Fußboden vor sich.
Der Leichnam von Ludmila Bergholz lag lang ausgestreckt und rücklings auf dem Fußboden des etwa 25 Quadratmeter großen Raums, der Kopf unmittelbar hinter der Türschwelle, während ihre Füße ins Rauminnere zeigten. Bekleidet war sie mit einem weißen Nachthemd, einem hellgelben Morgenmantel und Pantoffeln. Ihre Arme waren in den Ellenbogengelenken angewinkelt, die Handflächen ruhten auf ihrer Brust. Rechts neben den Füßen der Toten, direkt vor einer offensichtlich noch aus den Siebzigerjahren stammenden Einbauschrankwand mit zahlreichen Familienfotos und silberfarbenen Schälchen und Vasen, war ein Sessel umgestürzt. Abgesehen davon sah das Wohnzimmer aufgeräumt aus. Einen halben Meter vor ihren Füßen stand ein Rollator, rechts neben ihrem Kopf lagen eine Oberkieferzahnprothese und eine Erwachsenenwindel mit bräunlich angetrockneten »blutsuspekten Anhaftungen«. Weniger fachsprachlich gedrechselt ausgedrückt: An der Windel klebte etwas, das nach getrocknetem Blut aussah. Blutsuspekte Anhaftungen oder »Antragungen« (man darf auch Kruste sagen) fanden sich auch um Mund- und Nasenöffnungen der Toten. An beiden Wangen, in Augen ober- und -unterlidern sowie hinter beiden Ohren zeigten sich in der Haut zahlreiche kleine punktförmige Einblutungen.
Solche roten Punkte, meist nicht größer als ein bis zwei Millimeter im Durchmesser, sind charakteristisch für einen Tod infolge gewaltsamen Erstickens, also durch Erwürgen, Erdrosseln, Knebelung oder Zuhalten der Atemöffnungen. Die Einblutungen finden sich aber nicht nur in der Gesichtshaut, sondern am häufigsten und stärksten ausgeprägt in den Augenbindehäuten. Zu deren Untersuchung werden die Ober- und Unterlider beider Augen nacheinander mit einer Pinzette gefasst und dann quasi nach außen umgerollt und unter Zug gesetzt. Das hört sich martialisch an und sieht für den Unbedarften auch so aus, aber nur so liegt der Blick auf die Augenbindehäute frei, die sich ja sonst an der Innenseite der Augenlider einer genaueren Inspektion entziehen.
Auch in den Augenbindehäuten von Ludmila Bergholz waren massenhaft dunkelrote, punktförmige Einblutungen vorhanden. Dem ersten Anschein nach war sie erstickt. Aber war sie auch erstickt worden? Diese Frage würde die spätere Obduktion beantworten.
Drei Meter von seiner toten Frau entfernt lag Wilhelm Bergholz auf einem Dreisitzersofa, ebenfalls in Rückenlage. Er trug einen grauen Pullover, eine schwarze Stoffhose und Socken. Vom Hals abwärts war er bis zu den Zehenspitzen mit einer Wolldecke zugedeckt. Sein rechter Arm hing von dem Sofa herab Richtung Fußboden, sein linker Arm ruhte angewinkelt auf seiner Brust. Über den Kopf von Wilhelm Bergholz waren zwei Plastiktüten gestülpt, vorne jedoch bis auf Stirnhöhe hochgeschoben, so dass sie den Blick auf das zahnlose Greisengesicht freigaben.
Als die Tochter ihre Eltern gefunden hatte, reichten die übereinander gezogenen Plastiktüten noch bis zum Hals herunter, berichtete mir ein Kriminalbeamter, der mich während meiner Untersuchung der Toten in den aktuellen Stand der Ermittlungen einwies. Alexandra Stein hatte angegeben, außer den Plastiktüten über dem Kopf ihres toten Vaters in der Wohnung ihrer Eltern nichts verändert zu haben, bevor Polizei und Notarztwagenbesatzung eintrafen. Das Sanitäterteam war nach wenigen Minuten wieder abgezogen, da für das Ehepaar Bergholz jede medizinische Hilfe zu spät kam. Und Alexandra Stein hatte ihre Eltern zweifelsfrei identi fiziert, so dass diesbezüglich kein Handlungsbedarf für uns bestand.
Als ich erst Ludmila und später Wilhelm Bergholz umdrehte, um an den Rücken zu kommen, und ihre Kleidung hochschob, sah ich sofort, dass die Leichenflecken stark ausgeprägt waren. Auch mit kräftigem Fingerdruck konnte ich sie nicht mehr »wegdrücken«, was darauf hindeutete, dass beide zum Zeitpunkt meiner Untersuchung sehr wahrscheinlich schon mehr als zwanzig Stunden tot waren.
Für eine genauere Einschätzung maß ich die Körpertemperatur der beiden Toten sowie die Raumtemperatur an verschiedenen Stellen im Wohnzimmer und gab die Resultate in das Computerprogramm zur Todeszeitbestimmung in meinem Laptop ein. Das Ergebnis: Ludmila und Wilhelm Bergholz waren ungefähr zeitgleich gestorben, nämlich am Vortag zwischen neun und dreizehn Uhr. Da Alexandra Stein ihre Eltern das erste Mal an diesem Tag gegen kurz nach zehn Uhr vergeblich zu erreichen versucht hatte, lag aus Sicht der Ermittler die Vermutung nahe, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren.
Meine Untersuchungen am Leichenfundort des Ehepaares Bergholz waren damit abgeschlossen.
Eine Stunde später trafen die für den Fall zuständigen Ermittler der Berliner Mordkommission und zwei Kriminaltechniker im Rechtsmedizinischen Institut ein. Fast zeitgleich fuhr auch der Kraftfahrdienst unseres Instituts mit den Toten vor. Nachdem die Kriminaltechniker die Fingerabdrücke von Ludmila und Wilhelm Bergholz abgenommen hatten, um sie später im Labor mit den am Leichenfundort gesicherten Fingerspuren zu vergleichen, begannen wir mit den Obduktionen.
Ich entfernte das verkrustete Blut um Mund- und Nasenöffnungen von Ludmila Bergholz. Dazu befeuchtete ich einen Wattetupfer mit steriler Kochsalzlösung und deponierte ihn anschließend in einem ebenfalls sterilen Plastikgefäß.
In dem grellen Neonlicht des Sektionssaales zeigten sich die punktförmigen Einblutungen in der Gesichtshaut und den Augenbindehäuten der Toten noch viel deutlicher. Ich sah mir die Lippen und Nase der Toten genauer an. Die Schleimhaut von Ober- und Unterlippe war vertrocknet und entsprechend bräunlich, ebenso die Haut über der Oberlippe, an Nasenspitze und Nasenflügeln sowie am Kinn. Solche »Hautvertrocknungen« entstehen, wenn zu Lebzeiten Hautabschürfungen auftreten. Indem sich die oberste Hautschicht ablöst, kommt es in der darunter liegenden Hautschicht zu einem Wasserverlust durch Verdunstung. Nach einiger Zeit bildet sich an den abgeschürften Stellen ein hellbrauner oder rötlicher Schorf – ein diskreter, aber dennoch in Fällen wie diesem entscheidender Hinweis auf das, was geschehen war.
Als Nächstes sah ich mir den Mund der Toten an. Dabei setzte ich auch zur Probe die Oberkieferzahnprothese ein, die neben dem Kopf der Leiche gelegen hatte, und stellte fest, dass sie passte. Im Unterkiefer hatte Ludmila Bergholz noch eigene Zähne. Als ich ihre Unterlippe mit leichtem Zug nach außen vorwölbte, sah ich, dass die Schleimhaut verletzt war. Bei leichtem Druck gegen die Zahnreihe des Unterkiefers zeigte sich, dass die verletzten Stellen auf die Kauflächen der Schneide- und Eckzähne passten. So fest beißt sich niemand selbst. Dieser Befund, zusammen mit den punktförmigen Einblutungen und den verschorften Partien um Mund und Nase, ließ nur einen Schluss zu: Ludmila Bergholz war erstickt, weil ihr jemand gewaltsam Mund- und Nasenöffnung zugehalten hatte. Sehr wahrscheinlich war hierfür die Windel, die neben dem Kopf von Ludmila Bergholz gelegen hatte, verwendet worden. Aber das würde schon bald die Untersuchung der Windel im Labor ergeben.
Die übrigen Obduktionsbefunde von Ludmila Bergholz’ Leiche waren eher unspektakulär. In den inneren Organen stellte ich eine akute Blutstauung fest (die sich daran zeigte, dass beim Einschneiden sehr viel Blut von den Schnittflächen der Organe abfloss), und in den Blutgefäßen war auffallend viel flüssiges Blut. Beides sind für sich genommen unspezifische Befunde – sie allein lassen also keine eindeutigen Rückschlüsse auf das Tatgeschehen zu –, aber im Kontext der anderen, eindeutigen Belege waren sie weitere Hinweise für einen Tod durch Ersticken.
Die chemisch-toxikologischen Untersuchungen von Blut und Urin verliefen negativ.
Die Obduktion von Wilhelm Bergholz ergab, dass auch er erstickt war, allerdings nicht auf so brutale Art und Weise wie seine Frau.
Im Magen und im Zwölffingerdarm des Toten fand ich wenige Milliliter einer flüssigen, hellbraunen Substanz, durchsetzt mit grauweißen, griesartigen Körnern – allem Anschein nach Reste von Tabletten. Die musste Wilhelm Bergholz bereits einige Zeit vor seinem Tod geschluckt haben, da sie zum Teil bereits bis in den Zwölffingerdarm gelangt waren.
Die chemisch-toxikologische Untersuchung belegte meine Vermutung: Es waren tatsächlich Tablettenreste, und die enthielten Lorazepam, ein starkes Beruhigungsmittel ähnlich dem als Valium erhältlichen Diazepam. Allerdings waren die in Blut und Urin gemessenen Konzentrationen des Wirkstoffes zu gering für eine tödliche Dosis. Auch hatte Wilhelm Bergholz an keiner schweren Erkrankung gelitten, die seinen Tod hätte erklären können. Wilhelm Bergholz war unter den zwei über seinen Kopf gezogenen Plastiktüten erstickt.
Zwei Tage später wurde das Todesermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen hatten keine Anhaltspunkte für eine Fremdschuld am Tod der beiden alten Menschen ergeben. Weder an der Wohnungstür noch am Schloss der von ihnen bewohnten Doppelhaushälfte gab es Spuren eines gewaltsamen Öffnens oder sonstige Beschädigungen. Alle Fenster des Hauses waren geschlossen gewesen. In einer Kommode im Flur und in einem Küchenschrank lagen gut sichtbar größere Bargeldbeträge, was einen Raubmord mehr als unwahrscheinlich machte. Außerdem fanden sich im ganzen Haus keine anderen Fingerabdrücke als die des Ehepaars Bergholz und ihrer Tochter. Im Polizeibericht hieß es unter anderem: »Anzeichen für den Empfang von Besuch oder ein Betreten des Hauses durch Dritte waren nicht vorhanden.« Im Schlafzimmer im ersten Stock hatten die Ermittler neben den sehr sorgfältig geordneten persönlichen Unterlagen und einem erst am Morgen ihres Todes verfassten Testament Informationsbroschüren mehrerer Sterbehilfe-Organisationen gefunden.
Die Laboruntersuchungen der Erwachsenenwindel lieferten später den Beweis, dass Ludmila Bergholz damit erstickt worden war. Die hellroten Anhaftungen stellten sich wie erwartet als Blut der Toten heraus. Da sie keine weiteren Verletzungen aufwies, musste es von der Verletzung an der Innenseite ihrer Unterlippe stammen. Die war entstanden, als ihr Mann ihr die Windel auf den Mund gepresst hatte.
Ein anderer Täter kam nicht in Frage. An der Windel ließ sich sowohl die DNA von Ludmila als auch von Wilhelm Bergholz nachweisen, andere DNA-Spuren fanden sich nicht. Und dass Ludmila Bergholz sich selbst mit der Windel erstickt haben könnte, ist ausgeschlossen. Sobald sie durch die fehlende Sauerstoffzufuhr das Bewusstsein verloren hätte, wäre sofort ihre Armmuskulatur (wie die gesamte übrige Muskulatur ihres Körpers auch) erschlafft, weshalb sie nicht hätte weiter auf die Windel drücken können. Nach einiger Zeit hätte sie dann ihr Bewusstsein wiedererlangt. Sich auf diese Art selbst zu ersticken ist nicht möglich.
Das wusste wohl auch Wilhelm Bergholz, wählte er doch für sich eine andere Methode. Nachdem er seine rücklings auf dem Wohnzimmerboden liegende Frau mit Hilfe der Windel erstickt hatte, legte er sich auf die Couch und zog zwei Plastiktüten über seinen Kopf, um auch seinem Leben ein Ende zu setzen.
»In den letzten Monaten haben meine Mutter und mein Vater hin und wieder angedeutet, sie würden sich das Leben nehmen, wenn sie nicht mehr zurechtkämen«, hatte Alexandra Bergholz den ermittelnden Beamten erzählt. »Aber ich hatte immer angenommen, das sei nur eine drastische Äußerung ihrer Ängste, und war nie wirklich alarmiert.«
Der Tod von Ludmila und Wilhelm Bergholz ist ein typischer Alterssuizid. Im Alter wird Frauen wie Männern der näher rückende Tod immer bewusster, erst recht, wenn der körperliche Verfall schon deutlich spürbar ist. Darüber hinaus nimmt auch die Angst vor dem Sterben des Partners zu. Vor diesem Hintergrund sprechen Suizidforscher im Zusammenhang mit Suiziden alter Menschen häufig von einem ganzen »Motivbündel« aus psychischen, physischen und sozialen Faktoren, das sie zu dieser Entscheidung veranlasst – im Gegensatz zu Suiziden jüngerer Menschen, bei denen nicht selten ein einziges Motiv (Trennung, schwere Erkrankung, Verlust des Arbeitsplatzes) den alleinigen und spontanen Anlass zum Freitod gibt.
Gleichzeitig ist der Fall des Ehepaares Bergholz ein typisches Beispiel für einen »gemeinschaftlichen Suizid«. Ludmila und Wilhelm Bergholz beschlossen gemeinsam, ihr Leben zu beenden, bevor das eintreten konnte, wovor sie sich so fürchteten: durch Tod oder Altersheim auseinandergerissen zu werden.
Der Begriff des »gemeinschaftlichen Suizids« muss dabei sehr genau von dem des »erweiterten Suizids« unterschieden werden, den Sie im zweiten Kapitel kennengelernt haben. Beim gemeinschaftlichen Suizid treffen meist zwei Menschen (selten mehr) einvernehmlich die Entscheidung, zu sterben. Meist haben sie zuvor in einer festen, oft langjährigen Partnerbeziehung gelebt, häufigste Suizidmotive sind hier schwere körperliche Krankheiten oder Altersgebrechlichkeit. Typischerweise wählen die Betroffenen dieselbe Suizidmethode, zum Beispiel Vergiftung mit Schlafmitteln oder Psychopharmaka, Erschießen, Sprung aus der Höhe oder – wie im Fall des Ehepaares Bergholz – Tod durch Ersticken. In vielen Fällen nehmen sich die Partner zeitgleich das Leben. Wie beim erweiterten Suizid gibt es aber auch beim gemeinschaftlichen Suizid die Konstellation, dass einer der beiden Suizidenten zunächst den anderen tötet und danach sich selbst. Trotzdem handelt es sich in diesen Fällen definitionsgemäß nicht um einen erweiterten Suizid, da die Tötung des anderen auf einem gemeinsamen Entschluss beruht und wie bei Ludmila und Wilhelm Bergholz gemeinsam geplant wurde.
Diese strenge Unterscheidung ist deshalb so wichtig, weil derjenige, der zunächst Partner oder Partnerin tötet, den eigenen Suizid überleben könnte. Gibt es in einem solchen Fall ausreichende Indizien für einen erweiterten Suizid, wird der Überlebende wegen eines Tötungsdeliktes angeklagt und gegebenenfalls verurteilt. Ein gemeinschaftlicher Suizid dagegen hat für den Überlebenden so gut wie nie ein juristisches Nachspiel.
Froh wird ihn oder sie das dann aber wohl kaum stimmen.
Nachdem Alexandra Stein ihre toten Eltern gefunden hatte und spätabends nach Hause zurückkehrte, fand sie in ihrem Briefkasten ein Schreiben. Der Brief war von ihrem Vater Wilhelm Bergholz verfasst und unterschrieben worden, trug aber auch die zittrige Unterschrift ihrer Mutter. In diesem Abschiedsbrief an seine einzige Tochter, abgeschickt am Morgen ihres Todes tages, schilderte Wilhelm Bergholz in prägnanten Worten die Angst der beiden alten Menschen davor, den Partner zu überleben und ohne ihn weiterleben zu müssen. Und sie fürchteten sich beide zutiefst davor, ihre zunehmend eingeschränkte Selbständigkeit bald ganz zu verlieren und in ein Pflegeheim umziehen zu müssen: Auch wenn Du das nicht verstehen wirst, wir fürchten das Pflegeheim mehr als den Tod.
Vielleicht nicht weniger erschütternd, aber zum Glück deutlich seltener ist eine Sonderform des gemeinschaftlichen Suizides: der »rituelle Massensuizid«. Die Opfer sind fast immer Mitglied einer Sekte. Großes Aufsehen erregte zum Beispiel im Oktober 1994 der Tod von 53 Mitgliedern des »Ordens der Sonnentempler« in der Schweiz oder der Massensuizid von 39 Mitgliedern der Sekte »Heaven´s Gate« in einer Villa nahe dem kalifornischen San Diego im März 1997.
Bei den Todesfällen der Sonnentempler gelangten die Ermittlungsbehörden zu dem Schluss, dass der Großteil der Opfer aus juristischer Sicht durch Mord oder Tötung auf Verlangen gestorben war.
Bei den toten Sektierern von Heaven´s Gate scheint es sich tatsächlich um die Opfer eines echten Massensuizids zu handeln. Die Mitglieder der Sekte lebten in dem Glauben, dass der Tod die Erlösung sei und eine »Transzendenz in den Weltraum« mit Hilfe von Außer irdischen ermöglichen würde. Die Mitglieder dieser Sekte vermuteten ein verstecktes UFO hinter dem Kometen Hale-Bopp, dem am meisten beobachteten Himmelskörper des 20. Jahrhunderts und einem der hellsten Kometen überhaupt, der von 1995 bis 1997 mit dem bloßen Auge am Nachthimmel zu erkennen war. In dem festen Glauben, dieses UFO würde sie nach ihrem Tod in ihr neues Leben bringen, wählten sie im März 1997 die Zeit, in der der Komet der Erde am nächsten kam, für ihren Massensuizid. Bevor die ganz in Schwarz gekleideten Sektenmitglieder im Alter von 26 bis 72 Jahren starke Schlafmittel einnahmen, sich Plastiktüten über den Kopf stülpten und zum Sterben hinlegten, deponierten sie ihre Ausweispapiere oder andere persönliche Dokumente neben sich, die ihre Identifizierung durch die Polizei ermöglichen sollten.
Natürlich drängt sich hier zu Recht die Frage auf, inwiefern bei solchen Massensuiziden von Sektenmitgliedern die Entscheidung zur Selbsttötung wirklich dem eigenen, freien Willen entspricht. In jedem Falle trübt religiöser Fanatismus in Kombination mit Gruppendynamik, Drogen und Psychopharmaka ganz sicher die Zurechnungsfähigkeit und die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Aber die Antwort auf diese Frage liegt so weit außerhalb meiner Zuständigkeit, dass ich mich hier mit einem Kopfschütteln begnügen möchte.