Gewichtige Bergung

Falls Sie in Berlin wohnen oder hier einmal zu Besuch sind und einen Transporter mit der Aufschrift »Gerichtsmedizin« auf Motorhaube und Heck entdecken, können Sie sich die Fracht denken. Womit Sie sich immer beruhigen können: Vielleicht ist er ja (noch) leer.

Bei uns in Berlin haben wir drei solche geschlossenen Leichentransporter, ein vierter ist bestellt. Der wird dann auch nicht mehr grün sein, sondern wie die neuen Fahrzeuge der Polizei blau mit Silbergrau. Jeder der Transporter hat vier Bahren, die sich herausnehmen lassen. Dadurch können nicht nur mehrere Opfer eines Verbrechens gleichzeitig transportiert werden, sondern auch Verstorbene von verschiedenen Fundorten, was besonders in einer großen Stadt wie Berlin von Vorteil ist. Eine Kühlung ist wegen der relativ kurzen Wege nicht nötig, doch gibt es eine Entlüftung im Dach.

Pro Jahr werden in der Bundeshauptstadt von unserem Fahrdienst durchschnittlich 2500 Leichen transportiert. Die Fahrer rücken zwischen drei- und zehnmal pro Schicht aus. Eine spezielle Ausbildung braucht man für den Job nicht, was aber nicht heißt, dass jeder geeignet wäre. Für eine Bewerbung benötigen Sie auf jeden Fall einen Führerschein Klasse 3 und eine »weiße Weste«, also ein Führungszeugnis ohne Vorstrafen. Zudem ist neben der Fähigkeit, am Leichenfundort der Situation gemäß aufzutreten, auch körperliche Fitness gefragt, denn nicht überall, wo Leichen gefunden werden, gibt es einen Aufzug.

Und manchmal geraten auch die besttrainierten Fahrer an ihre Grenzen.

Vier Jahre bevor Leonardo DiCaprio als Jack Dawson mit der Titanic unterging und zehn Jahre bevor Johnny Depp als Pirat Jack Sparrow den Fluch der Karibik am eigenen Leib erfuhr, spielten die beiden Schauspieler 1993 in dem Film Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa zwei Brüder: Gilbert (Depp) kümmert sich nach dem Suizid des Vaters um den jüngeren und geistig behinderten Arnie (DiCaprio). Doch um diese beiden geht es hier nicht. Mir geht es um die Mutter, Bonnie Grape, die seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr das Haus verlassen hat. Auch vom Sofa erhebt sie sich selten, denn mit ihren über 250 Kilo ist sie ohnehin nicht in der Lage, irgendwelche Hausarbeiten zu verrichten. Am Abend von Arnies achtzehnten Geburtstag beschließt sie zur Feier des Tages, die Nacht in ihrem Bett in der oberen Etage zu verbringen. Zwar schafft sie es unter allergrößten Mühen nach oben, doch diese Strapazen überlebt sie nicht.

Statt einen Arzt zu rufen, der den Totenschein ausstellt – als Todesursache hätte er sehr wahrscheinlich »Herzversagen« oder »Lungenembolie« eingetragen –, macht Gilbert sich Sorgen über den Abtransport seiner extrem übergewichtigen Mutter: Vielleicht müsste man die Tote mit einem Kran aus der oberen Etage hinunterhieven, und die ganze Nachbarschaft würde zusehen. Gilbert will sie aber nicht der Lächerlichkeit preisgeben, deshalb fasst er einen ungewöhnlichen Entschluss: Gemeinsam mit seinen Geschwistern räumt er das Mobiliar aus dem Haus und brennt das Gebäude nieder.

Eine drastische Maßnahme, zu der im wahren Leben sicherlich kaum jemand greifen wird, zumindest nicht, wenn es sich wie hier um den natürlichen Tod eines engen Familienmitgliedes handelt. Bei Tötungsdelikten, die der Täter durch Brandstiftung verdecken möchte, kommt so etwas dagegen durchaus vor.

Nichtsdestotrotz – die Gedanken, die Gilbert Grape sich um die Bergung seiner Mutter gemacht hat, sind durchaus berechtigt, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen.

Der 31-jährige Thorsten Kaiser war von seiner Mutter, die ihn regelmäßig mit den Dingen des täglichen Bedarfs und ganz besonders mit Lebensmitteln versorgte, tot im Bett seiner Berliner Einzimmerwohnung aufgefunden worden. Ähnlich wie Bonnie Grape hatte er aufgrund seines extremen Übergewichts die Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr verlassen und sein Leben überwiegend im Bett liegend vor dem Fernseher verbracht. Bei seinem Tod wog Thorsten Kaiser 290 Kilogramm. Der von der Mutter hinzugerufene Arzt hatte nach der Leichenschau vor Ort auf der Todesbescheinigung (der Begriff »Leichenschauschein« wird übrigens synonym verwendet) das Feld »Todesursache« frei gelassen und als Todesart »ungewiss« angekreuzt. Das hieß, dass sich bei der Leichenschau keine objektiven Befunde ergeben hatten und dem Arzt nicht hinreichend Informationen zur medizinischen Vorgeschichte des Verstorbenen vorlagen, um festzustellen, woran der Mann gestorben war. Es konnte sich also sowohl um einen Tod aus natürlicher Ursache als auch um eine Vergiftung oder einen spurenarmen gewaltsamen Tod handeln. In Fällen, in denen die Todesart als »ungewiss« klassifiziert wird, ist der Arzt entsprechend dem Bestattungsgesetz verpflichtet, die Leichenschau abzubrechen, den Leichnam und Leichenfundort nicht weiter zu verändern und die Polizei zu informieren.

Da auch die polizeilichen Ermittlungen vor Ort keine wesentlichen Erkenntnisse zu den möglichen Todesumständen des Mannes ergeben hatten, entschied man sich dafür, den Leichnam zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin zu bringen. Meine Kollegen fanden dann bald die tatsächliche Todesursache – in Form eines unzerkauten Fleischbrockens. Das Stück Frikadelle war größer als die schwedischen Fleischbällchen, die berühmten Köttbullar, die man bei Ikea essen kann, und so fest im Kehlkopfeingang eingeklemmt, dass es den Eingang in die Luft- und Speiseröhre vollständig verschloss. Der Fachausdruck dafür lautet Bolustod (griechisch Bolos = Klumpen, Kloß, Ball), im Volksmund sagt man auch »Bockwurstbudentod« und speziell in der Hauptstadt »Berliner Bulettentod«.

Dabei tritt der Tod nicht, wie man annehmen könnte, durch Ersticken ein, sondern durch einen plötzlichen Herzstillstand, ausgelöst durch eine abrupte Reizung der direkt unter der Kehlkopfschleimhaut liegenden Nervengeflechte. Damit handelt es sich hierbei um einen reflektorischen Herzstillstand durch Reizung von Hals-nerven. Die meisten Bolustode ereignen sich bei zu hastiger Nahrungsaufnahme, häufig bei Personen, die zudem noch erheblich alkoholisiert sind. Meist ist der Bolus ein zu großes, nicht ausreichend zerkautes Stück Fleisch, das aufgrund seiner Größe weder heruntergeschluckt noch wieder ausgewürgt werden kann, wenn es erst einmal im Kehlkopfeingang feststeckt. Es ist also durchaus ratsam, Anweisungen der Eltern wie »Iss langsam« oder »Sprich nicht mit vollem Mund« ernst zu nehmen und diese auch später als Erwachsener nicht zu vergessen, nicht nur im Hinblick auf gutes Benehmen und Tischetikette, sondern auch des eigenen Überlebens willen.

Die Obduktion war also keine besondere Herausforderung für die Rechtsmedizin, der vorherige Transport des Toten durch unseren Kraftfahrdienst dagegen sehr wohl. Dazu hatten wir im Vorfeld die Feuerwehr zwecks »Amtshilfe« angefordert, da klar war, dass die Bergung des Toten kein leichtes Unterfangen werden würde. Doch auch die Mannschaft eines gesamten Löschzugs der Berliner Feuerwehr konnte gemeinsam mit unseren Mitarbeitern den Toten nicht bergen. Die Feuerwehrmänner hatten den Türrahmen der Schlafzimmertür entfernt und die Türöffnung mittels eines Vorschlaghammers so erweitert, dass der Körper des Mannes mit der vereinten Kraft von sechs Männern in einem Bergungsnetz der Feuerwehr in den Flur der Wohnung gezogen werden konnte.

Doch dann hatte sich ein neues Problem ergeben: Die Öffnung der Wohnungstür konnte nicht in der gleichen brachialen Weise erweitert werden, denn aufgrund der Statik des Hauses hätte eine solche Maßnahme die ganze Etage samt den darüber liegenden Etagen zum Einsturz bringen können. Also wurde bei der Feuerwehr erneut Verstärkung angefordert, diesmal in Form eines Kranwagens. Zu guter Letzt musste die gesamte Straße vor dem Wohnhaus für mehrere Stunden gesperrt werden, um den schwergewichtigen Verstorbenen mit dem Kran wagen über die breite Fensterfront des Wohnzimmers zu bergen – eine Szene, die Gilbert Grape seiner Familie hatte ersparen wollen. Und der Leichnam passte erst durch die Fensteröffnung, nachdem auch sie mit dem Vorschlaghammer entsprechend vergrößert worden war.

In einem anderen Fall dachten die für den Transport zuständigen Bestatter, man könnte die »gewichtige Bergung« des 235 Kilogramm wiegenden Leichnams ohne den schweißtreibenden Einsatz von Körperkraft umgehen. Der 58 Jahre alt gewordene Mann war kein Fall für die Rechtsmedizin, denn der leichenschauende Arzt hatte ihm einen natürlichen Tod – Herzinfarkt – attestiert. Der Tote lag in dem nur vier Quadratmeter großen Badezimmer seiner Einzimmerwohnung, eingeklemmt zwischen Toilettenbecken und Waschtisch. Den Mitarbeitern des beauftragten Bestattungsunternehmens war die Bergung des Mannes aus dem kleinen Badezimmer auch nach Demontage von Toilette und Waschtisch nicht gelungen, da die kräftig ausgeprägte Totenstarre des Mannes ihn in einer gekrümmten Haltung derart fixiert hatte, dass der Körper nicht durch die Badezimmertür passte. So kamen die vor Ort anwesenden Bestatter auf die Idee, die Rechtsmedizin zu verständigen und um Unterstützung durch die diensthabende Ärztin zu bitten: Sie sollte den Leichnam im Badezimmer für den Abtransport fachgerecht zerteilen!

Dieses Ansinnen war natürlich gleich aus mehreren Gründen völlig irrwitzig. Erst einmal widerspricht es jeder Ethik, einen Menschen nach seinem Tod in transportgerechte Stücke zu zerteilen. Zudem gibt es verschiedene Länder- und Bundesgesetze, die ein solches Vorgehen verbieten bzw. unter Strafe stellen. So heißt es zum Beispiel nicht nur im Berliner Bestattungsgesetz: »Wer mit Leichen umgeht, hat dabei die gebotene Ehrfurcht vor dem toten Menschen zu wahren.«

Übrigens spricht der Gesetzgeber hier bewusst und explizit von einem »Menschen«, was der Ehrfurcht vor den Toten geschuldet ist.

Und in § 168 des deutschen Strafgesetzbuches ist zur Störung der Totenruhe unter anderem festgelegt:

»Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«

Dabei gilt schon der Versuch als strafbar und wird entsprechend geahndet.

Natürlich kam die diensthabende Ärztin der Rechtsmedizin den Bestattern in diesem Fall nicht zu Hilfe. Wie die Bergung bewerkstelligt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie gesagt: Es war kein Fall für die Rechtsmedizin.

Diesen zwei Beispielen dafür, wie die Körperfülle Verstorbener ihren Transport erheblich erschwert, könnten meine Kollegen und ich noch andere ähnliche Anekdoten hinzufügen. Leider sind diese Geschichten aber durchaus auch Ausdruck einer ungesunden Entwicklung: Während die Sektionstische in den letzten Jahren zunehmend schmaler wurden (um die Sektionssäle klein und damit die Betriebskosten möglichst gering zu halten), haben Übergewicht und Fettsucht – oder vornehmer ausgedrückt Adipositas (von lateinisch adeps = Fett) in den letzten Jahrzehnten auch in der deutschen Bevölkerung stark zugenommen. Mittlerweile erreicht diese Problematik den Sektionssaal, weil immer mehr Fettsüchtige das durchschnittliche Sterbealter erreichen. Dadurch werden wir zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert, die es früher nur in Ausnahmefällen gab: Wie obduzieren wir einen Verstorbenen, der annähernd 300 Kilogramm wiegt? Stellen wir uns bei der Obduktion auf einen Fußtritt, um überhaupt die Brust- und Bauchhöhle aufschneiden und die Organe entnehmen zu können? Hält der Obduktionstisch das Gewicht des schwergewichtigen Toten überhaupt aus, oder laufen wir Gefahr, eine sehr ungewöhnliche Art von Arbeitsunfall zu provozieren, wenn sich beim Zusammenbrechen eines Obduktionstisches einer der Obduzenten oder Sektionsassistenten verletzt?

Laut WHO ist die Adipositas das weltweit am schnellsten wachsende zentrale Gesundheitsproblem. Der Gesundheitsbericht 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. ist erschreckend. Über die Hälfte der deutschen Frauen sind übergewichtig, bei den Männern sind es sogar fast 70 Prozent. Männer sind nicht nur in allen Altersgruppen häufiger übergewichtig als Frauen, normalgewichtige Männern sind bereits ab 35 Jahren in der Minderheit. Bei Frauen liegt die Grenze bei 55 Jahren.

Neben dem Verlust von subjektiver Lebensqualität erhöht sich bei Übergewichtigen das Risiko für Erkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit (Verengung der Herzkranzgefäße durch Arteriosklerose) und Diabetes dramatisch. Statistisch gesehen führt Adipositas zu einer verkürzten Lebenserwartung. US-amerikanische Forscher haben die Auswirkung von Übergewicht und Fettsucht auf die zukünftige Altersentwicklung der Bevölkerung untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Lebenserwartung in den USA entgegen aller Prognosen zurückgehen wird, statt weiterhin anzusteigen, wie es aufgrund der immer besseren medizinischen Versorgung seit Jahrzehnten der Fall war. Vor allem durch den hohen Anteil übergewichtiger Kinder erhöht sich bereits in jungen Jahren das Risiko von Diabetes, Herzkrankheiten und anderen Begleit- und Folgeerkrankungen so stark, dass die Lebenserwartung dieser Betroffenen als Erwachsene drastisch sinken könnte. Die zukünftigen Generationen würden dann erstmals in der modernen Geschichte im Durchschnitt nicht so lange leben wie ihre Eltern.