8. Kapitel

Rosaria war wie betäubt von all den Erlebnissen des Vormittags. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum wie Bienen in einem Bienenkorb.

Sie hatte die Contessa kennen gelernt und im Leid erstarrt gefunden. Sie war dem Conte begegnet, und ihr kam es auch im Nachhinein noch so vor, als hätte sie mit dem Blick in seine Augen einen Blick in die Hölle geworfen. Und sie hatte Daria besucht und eine Nähe zu ihr verspürt, als kenne sie die andere seit Jahr und Tag. Und dann die Amme. »Wir haben lange auf dich gewartet.« Was sollte dieser Satz bedeuten? Ob Ambra wusste, was die Amme gemeint hatte?

Unwillkürlich musste Rosaria kichern. Sie sah die beiden Alten im Geiste beieinander sitzen und orakeln. Dann verbot sie sich das Kichern. Nein, über ein Orakel durfte man nicht lachen. Niemals. Man lachte damit das eigene Schicksal aus, hatte Paola ihr eingetrichtert. Aber vielleicht sollte sie die beiden alten Frauen doch einmal miteinander bekannt machen. Vielleicht hätten sie einander viel zu erzählen. Vielleicht könnte auch eine der anderen helfen, die Düsternis aus der Burg und dem Leben ihrer Bewohner zu vertreiben.

Doch jetzt musste sie erst einmal in den Burggarten, um Kräuter für Darias Salbe zu sammeln. Und den Liebestrank durfte sie auch nicht vergessen. Morgen Abend sollte die Verlobung stattfinden. Morgen Abend musste der Liebestrank verabreicht werden.

Rosaria machte sich im Kopf eine Liste aller Zutaten, die sie brauchte, dann verließ sie die karge Unterkunft und überquerte den Burghof auf der Suche nach dem Kräutergärtchen.

Im Burghof herrschte ein reges Treiben. Alles, was Beine hatte, schien mit den Vorbereitungen zur Verlobung von Giacomo und seiner Braut Isabella beschäftigt. Mägde und Knechte eilten mit Körben voller Lebensmittel über den Burghof. Stallburschen kratzten den Pferden die Hufe aus und neckten sich dabei mit den anderen Burschen, die gerade dabei waren, das Zaumzeug einzufetten.

Zwei Wachleute standen bei den Wäscherinnen, und einer von ihnen klopfte der jüngsten Wäscherin gerade unter großem Gelächter auf den Po. Hunde liefen auf der Suche nach Abfällen über den Hof, und aus dem Weinkeller kam ein dicker Mann und strich sich genüsslich über seinen gewaltigen Wanst. Eben rumpelte wieder ein Wagen mit dem Wappen des Florentiner Kaufmanns Panzacchi durch das Burgtor. Bedienstete eilten hinzu und luden Truhen voller Geschirr und Gläser ab. Das nahe Wäldchen erzitterte unter den Rufen der Jäger, die mit Karren voll erlegtem Wildbret zurück zur Burg kamen.

Aus der Bäckerei drang heute nicht nur der würzige Duft von gebackenem Brot, auch der Geruch von leckeren Mandeltörtchen und süßem Gebäck ließ so manchem das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Eben ließ der Torwächter eine kleine Gruppe Bettelmönche hinein und wies ihnen den Weg zur Küche. Rosaria lachte laut auf, denn in dem Moment, als die Mönche sich der Küche näherten, öffnete sich die Tür, und eine Küchenmagd leerte schwungvoll einen Eimer stinkenden Spülwassers aus, sodass die Mönche einen Satz machen mussten, um nicht nass zu werden.

»Rosaria«, rief eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah Raffael auf sich zukommen.

»Rosaria, wo gehst du hin?«

»Zum Krautergärtchen, um die Zutaten für eine heilende Salbe zu suchen.«

Sie ließ ihre Stimme etwas frostig klingen, denn sie hatte den Zwischenfall und Raffaels schlechtes Benehmen im Heuschober nicht vergessen. Raffael bemerkte Rosarias Kühle und senkte den Kopf. Dann sah er seine Braut von unten an und fragte leise: »Bist du mir noch gram, Rosaria?«

Rosaria seufzte. Ja, sie war ihm noch böse. Er hatte sie schlecht behandelt, und sie wollte ihm von Anfang an klarmachen, dass sie ein solches Benehmen nicht duldete. Nicht von einem Freund und schon gar nicht von ihrem zukünftigen Ehemann. Doch Raffael sah sie mit gespielter Zerknirschung ganz treuherzig an. In seinen braunen Augen glommen Schalk und Schuldbewusstsein zugleich, sodass Rosaria an sich halten musste, um nicht zu lachen.

»Also gut, Raffael. Wenn deine Frage eine Art Entschuldigung sein sollte, kannst du gewiss sein, dass ich dir diesmal noch verzeihe. Ein zweites Mal wirst du es sehr viel schwerer haben, Vergebung zu erlangen.«

Raffael atmete hörbar auf. Doch Rosaria legte alle Strenge, zu der sie fähig war, in ihren Blick und fügte hinzu: »Falls du mir aber noch ein einziges Mal solch ein Benehmen entgegensetzt, so werde ich nicht nur dem Ältesten davon erzählen, sondern dir obendrein noch höchst selbst eine Maulschelle verpassen.«

Jetzt lachte Raffael aus vollem Hals.

»Du willst mir eine Maulschelle verpassen? Rosaria, ich bin der Herr im Haus. Nicht umgekehrt. Das Weib schuldet dem Mann Gehorsam. ›So wie ihr Frauen Christus gehorcht, sollt ihr euch euern Männern unterordnen‹. So steht es in der Heiligen Schrift.«

»Du hast Recht, Raffael. In der Heiligen Schrift steht aber auch: ›Ihr Männer, liebt eure Frauen so, wie Christus seine Gemeinde liebt, für die er sein Leben gab, damit sie ihm ganz gehört. Darum müssen auch die Männer ihre Frauen lieben wie sich selbst, weil sie als Ehepaar untrennbar zusammengehören. Wer nun seine Frau liebt, der hat sich selbst angenommen. Niemand hasst doch seinen eigenen Leib, vielmehr hegt und pflegt er ihn‹.«

Raffael grinste noch immer bei Rosarias Worten, aber dieses Grinsen war nicht mehr frech, sondern eher verlegen.

»Ich liebe dich, Rosaria, liebe dich auf meine Art. Seit wir Kinder sind, liebe ich dich. Du weißt das.«

Rosaria nickte. Sie wusste, dass Raffael sie liebte. Und sie liebte ihn ja auch. Aber eben nicht so, wie sich Mann und Frau lieben sollten.

»Magst du mir beim Kräutersammeln helfen?«, fragte sie, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken und um Raffael zu zeigen, dass sie ihm nicht mehr böse war.

Außerdem hasste es Rosaria, mit jemandem in Streit zu liegen. Und gerade hier auf dieser dunklen Burg mit den dicken Mauern, der Kälte und Düsternis brauchte sie das wärmende Feuer der Freundschaft und Zuneigung mehr denn je.

Beim Anblick der zarten Pflanzen, die im Kräutergärtchen gediehen, verschwand die Melancholie, die sich wie ein Tuch aus grauer Seide über Rosaria gebreitet hatte. Der Garten grünte und blühte, dass es eine reine Freude war. Oleanderbüsche erfüllten die Luft mit ihrem lieblichen Geruch, und blaue Iris umsäumten die Wege wie ein kostbarer Besatz an einem wunderbaren Kleid. Pfirsichbäume reckten sich der Sonne entgegen, Ringelblumen setzten Farbkleckse in die Landschaft, und Thymian, Basilikum, Koriander, Melisse und Liebstöckel versprachen allein durch ihren Geruch die köstlichsten Gaumenfreuden.

Behutsam sammelte Rosaria Kamillenblüten und Ringelblumen für Darias Salbe. Um den Liebenstrank zu brauen, pflückte sie einige Stängel Thymian und ließ Raffael daran riechen.

»Was ist das für ein Kraut?«, fragte er.

»Thymian wirkt kräftigend und stärkend. Es heißt, er könne unseren Willen und unser Selbstvertrauen stärken. Ich verwende ihn für einen Liebestrank.«

Raffael lachte: »Dann pass nur auf, dass du nicht allzu viel davon kostest. Sonst kommst du in der Nacht vielleicht doch schon zu mir.«

»Mach dir aber keine Hoffnung, mein Lieber. Ich selbst nehme Thymian nur, um meinen Willen zu stärken.«

Raffael griff nach Rosaria, Rosaria aber war schneller als er und lief geschwind davon. Wie Kinder tobten sie ausgelassen und lachend durch den Kräutergarten, versteckten sich hinter Bäumen, ließen sich fangen und liefen erneut davon.

»Such mich«, rief Rosaria, verließ heimlich durch das kleine Pförtchen den Garten und versteckte sich hinter einem dicken Eschenstamm auf dem weichen Boden. Von fern hörte sie Raffael nach ihr rufen, doch sie lachte nur und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Dann schaute sie nach oben in das Blätterdach der Baumkrone und fühlte sich so jung und sorgenfrei wie schon lange nicht mehr. Fast schien es, als hätte sie die ärgste Trauer um Paola überwunden und könnte wieder das sein, was sie war: eine junge, wunderschöne und lebhafte Frau.

Natürlich würde sie Paola niemals vergessen. Viel zu tief trug sie die Liebe zu der Frau, die ihr zeitlebens eine Mutter gewesen war, im Herzen. Und es gab weiß Gott genug Augenblicke, in denen Rosaria nichts mehr wünschte, als ihre Mutter bei sich zu haben und sie um Rat fragen zu können.

Sie hörte nicht die Schritte, die sich leise näherten. Ja, sie erschrak sogar, als sich plötzlich zwei Hände über ihre Augen legten.

»Raffael«, rief sie und lachte. »Deine Augen sind ja schärfer als die eines Luchses. Ich dachte nicht, dass du mich so schnell finden würdest.«

»Einen Kuss als Belohnung erbitte ich mir dafür«, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr, und noch ehe sie antworten konnte, spürte sie schon die warmen weichen Lippen auf ihrem Mund, so sanft und zart wie das Streicheln eines sommerwarmen Windes. Eine Berührung, ein Kuss von unendlicher Zärtlichkeit war es, der ihr Blut schnell in Wallung brachte. Beinahe ohne es zu wollen, öffnete Rosaria ihre Lippen und bog sich dem Kuss entgegen.

Sie schmeckte das wunderbare Aroma eines fremden Atems, spürte, wie eine Zunge langsam in ihren Mund eindrang und behutsam auf Erkundungsreise ging. Ein leises Stöhnen stieg in ihr auf und machte sie zittern. Zart, ganz zart spürte sie, wie Zähne an ihren Lippen nagten, so weich und köstlich, dass ihr Schauer der Lust über den Rücken liefen. Doch plötzlich löste sich der fremde Mund von ihren Lippen, die Hände gaben ihre Augen frei, doch noch ehe Rosaria die Augen öffnen konnte, hörte sie schon leichte, feste Schritte, die sich rasch entfernten.

Benommen von diesem Kuss, welcher der köstlichste war, den sie je bekommen hatte, ja, der sie atemlos gemacht hatte, sah sie in die Richtung, in welche sich die Schritte entfernten. Doch das Einzige, was sie noch erkennen konnte, war der Zipfel eines weißen Leinenhemdes, der hinter einer Gruppe von Büschen verschwand.

Verwundert sah Rosaria zu den Büschen. Warum lief Raffael weg? Oder war es am Ende gar nicht Raffael gewesen, der sie geküsst hatte? So zärtlich wie noch nie zuvor?

Mit einem Finger strich sie über ihre Lippen und leckte dann behutsam mit der Zunge den Geschmack des Kusses auf, der ihr noch immer süßer als der süßeste Honig schmeckte. Nein, das war nicht Raffael gewesen, der ihr diesen köstlichen Kuss geschenkt hatte.

Aber wer sonst? Wer lief hier in diesem Wald umher und küsste sie einfach? Merkwürdig ... Aber alles hier war merkwürdig. Doch dieser Kuss! Wer so küsste, mit so viel Wärme, Weichheit und Zärtlichkeit, nein, das konnte kein böser Mensch sein.

Rosaria schloss die Augen und dachte noch einmal an diesen prickelnden Moment zurück. Sie spürte plötzlich ein Flattern in der Magengegend. Ein Flattern wie von tausend Schmetterlingen. Lächelnd legte sie beide Hände auf den Bauch und schaute träumerisch in das Blau des Himmels, das zwischen den Baumkronen sichtbar wurde.

Aus weiter Ferne hörte sie Raffael rufen. Es machte ihr Mühe, aufzustehen und zurück in das Kräutergärtchen und zu ihrem Bräutigam zu gehen.

 

Als Rosaria wenig später mit den Gerätschaften zur Zubereitung der Salben und Tränke hantierte, hatte sie den Kuss noch immer nicht vergessen. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie leise vor sich hin sang, während sie aus den Blättern der Irisblüte eine Essenz für Daria herstellte, die sowohl von bösen Geistern reinigen als auch für Duft und Wohlbehagen sorgen sollte. Während die Essenz abkühlte und durchzog, widmete sich Rosaria der Herstellung des Liebestrankes.

Vom Kellermeister hatte sie sich einen kleinen Krug Grappa geben lassen. Nun übergoss sie eine Hand voll Zitronenschalen, einen Löffel Thymian, ein Quäntchen Zimt und Vanille, etwas Koriander und Muskat mit dem Grappa und schüttelte das Gemisch gründlich durch. Eigentlich benötigte die Mischung einige Tage Ruhe, um ordentlich durchzuziehen, doch die Zeit drängte, und deshalb hatte Rosaria die Zutaten überaus großzügig beigegeben. Morgen, kurz vor dem Beginn der Verlobungsfeierlichkeiten, würde sie dem Trank Zucker und Wasser zusetzen, das Ganze noch einmal gut durchschütteln und es anschließend durch ein feines Sieb gießen.

Doch jetzt wollte sie sich erst einmal um Daria kümmern. Rosaria packte alles, was sie benötigte, in einen kleinen Korb und begab sich zu Darias Gemächern.

Die junge Comtess empfing die Olivenhändlerin mit ausgesprochener Herzlichkeit. Dann setzte sie sich auf einem Schemel vor den Spiegel, und Rosaria erklärte ihr die Anwendung der Mittelchen.

Zuerst bedeckte sie Darias Gesicht mit einer Paste aus Olivenöl, weißem Zucker und erwärmtem Zitronensaft, ließ auch den Hals und den Brustansatz nicht aus und massierte die Mischung mit zarten, kreisenden Bewegungen in die Haut.

»Ihr Frauen aus dem fahrenden Volk seid bekannt dafür, dass ihr die Geheimnisse der Schönheit besser kennt als selbst die Florentinerinnen, zu denen ja auch meine zukünftige Schwägerin gehört«, sagte Daria, und in ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Verachtung und leiser Bitterkeit mit.

»Die Schönheit der Florentinerinnen ist flüchtig wie die Jugend. Wahre Schönheit erhält man nicht durch Cremes und Salben, sondern durch Lieben und Geliebtwerden«, zitierte Rosaria einen Satz, den sie oft, sehr oft, von Paola gehört hatte. Und dass er stimmte, hatte Paola, die bis zu ihrem Tod eine anziehende Frau gewesen war, zur Genüge bewiesen. Selten nur hatte sie sich der Schönheitsmittelchen bedient, aber wenn Estardo in ihrer Nähe gewesen war, hatte sie stets von innen heraus gestrahlt.

»Wenn das stimmt, was du sagst«, erwiderte Daria und drehte sich vor der spiegelnden Fläche der polierten Stahlplatte, »dann fürchte ich um die Schönheit meines Bruders.«

Giacomo war der einzige Bewohner der Burg, mit dem Rosaria noch nicht zusammengetroffen war, aber es schien ihr, als wäre er das heimliche Zentrum, von welchem alles Fröhliche und Gute auf der Burg ausging.

Schon mehrfach hatte Rosaria die Kammerfrauen und Küchenmägde von ihm reden hören. Jetzt fragte sie Daria nach ihm.

»Giacomo, Euer Bruder, wie ist er?«

»Oh, schön ist er. Schön wie ein Göttersohn. Seine dunklen Locken unterstreichen seinen Teint von der Farbe der Sienaeser Erde. Er ist ein Toskaner, wie er im Buche steht. Selbst seine Augen erinnern in ihrer Farbe an die aschgrünen Blätter des Olivenbaumes.«

Rosaria nickte, denn sie musste unwillkürlich an den jungen Mann mit den Olivenaugen denken, von dem sie geträumt, den sie einmal getroffen und seither nie wieder gesehen hatte. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass sie eine leise und ganz heimliche Hoffnung in ihrem Herzen trug, ihn vielleicht morgen auf der Verlobung von Conte di Algaris Sohn wieder zu sehen. Denn dass der geheimnisvolle und überaus anziehende Unbekannte etwas mit der Burg und seinen Bewohnern zu tun haben musste, das wusste Rosaria seit ihrem Besuch in dem Bordell von San Gimignano.

Doch bis morgen war noch lange Zeit. Jetzt musste sie erst einmal die reinigende und schälende Maske von Darias Haut abnehmen und mit ihrer Behandlung fortfahren.

Sie rührte jetzt noch einmal in der Paste, die als Nächstes aufgetragen werden sollte, um die Haut zu beruhigen und mit heilenden und pflegenden Stoffen anzureichern. Die Paste bestand aus einem großen Teil Quark. In den Quark hatte Rosaria zerstoßene Bittermandeln und einen kleinen Apfel gemischt. Nun trug sie diese Mischung sorgsam auf Darias Haut auf, die von der schälenden Maske schon leicht gerötet war.

Als sie damit fertig war, fragte sie: »Und wie ist er wirklich, Euer Bruder Giacomo, von dem jeder hier auf der Burg ein Loblied singt?«

Daria stimmte sofort in die Lobeshymnen ein und erzählte: »Er zeichnet sich in allem aus, was einen Mann zum Manne macht. Er liebt Ritterspiele und Turniere, er liebt Sport und Tanz, er liebt die schönen Künste und die schönen Frauen. Er ist begabt in den Dingen, die körperliche Kraft und Geschick verlangen, und ebenso versiert ist er in den Angelegenheiten des Geistes, der Barmherzigkeit und Güte. Vor allem aber liebt er das Leben selbst, erfreut sich am Zauber der Natur und an jedem neuen Augenblick, den der Tag ihm schenkt.«

Daria machte eine Pause und drehte sich zu Rosaria um, die hinter dem Schemel stand, auf dem die junge Comtess vor dem Spiegel saß.

»Er erinnert mich in dieser Hinsicht an dich, Rosaria. Auch du scheinst das Leben zu lieben und jeden neuen Tag als ein Gottesgeschenk zu betrachten. Ich wünschte, ich wäre wie ihr.«

Rosaria lachte, dann aber wurde sie ernst und vertraute Daria als erstem Menschen ihr großes Geheimnis an.

»Ich weiß, Daria, dass die Leute mich so sehen. Aber das ist nur die Oberfläche. Im Grunde meiner Seele fühle ich mich oft einsam. Ich sehne mich mehr als alles andere in der Welt nach einem Menschen, der mich so liebt, wie ich bin, der mich versteht, auch ohne dass ich viele Worte machen muss. Ein Mensch, der mir ähnlich ist, der denkt und fühlt wie ich. Aber bisher habe ich noch niemanden von dieser Art getroffen.«

Daria sah sie mit großen Augen an. »Du hast dieselben Worte gesprochen wie mein Bruder Giacomo«, sagte sie mit Verwunderung. »Ihr seid euch tatsächlich ähnlich, du und er. Ähnlich wie Geschwister oder verschwisterte Seelen.«

 

Am Abend, als all das Treiben allmählich nachließ und Ruhe auf dem Burghof eingekehrt war, fanden sich die Gaukler und Vaganten gemeinsam mit den Burgleuten auf dem Hof ein. Sie hatten Bänke herbeigeschafft und diese unter das schattige Dach einer mächtigen, ausladenden Kastanie gestellt.

Der Sommerwind fächelte den Leuten eine angenehme Brise vom Meer ins Gesicht und unter das Haar, die Blätter der Eschen wisperten geheimnisvoll, und die Hügel der Toskana reckten sich ein letztes Mal für heute den rot glühenden Strahlen der untergehenden Sonne entgegen, ehe die Dämmerung die angebrochene Herrschaft der Nacht verkündete.

Liebespaare saßen nebeneinander und hielten sich an den Händen, die jungen Frauen hatten ihr Haar gelöst, sodass der Wind darin spielen konnte, und selbst die Alten gaben zu, dass es eine so wundervolle Sommernacht seit Jahren nicht mehr gegeben hatte.

Im letzten Licht der untergehenden Sonne wirkte selbst die Burg, als wäre sie mit Blattgold verziert, um gleich darauf in das silbrige Kleid des Mondlichts zu schlüpfen.

Raffael hatte die Laute dabei und schlug die ersten Töne an. Rosaria, die neben ihm saß, lächelte ihm zu und trank einen Schluck des feurigen Chiantis.

Auch sie spürte den Zauber dieser ganz besonderen Nacht, die der Johannisnacht, der Jahresmitte, vorausging und alles ringsherum weich und verträumt erscheinen ließ, als wären die Geheimnisse der uralten Zeiten, Geheimnisse um Lieben und Leben, aus ihren tief unter der Erde versteckten Höhlen gekrochen, um die Menschen daran zu erinnern, dass das Leben ein Fest war und die Melancholie die bittersüße Melodie dazu.

»Rosaria, sing uns ein Lied«, bat die Feuerschluckerfrau.

»Ja, Rosaria, sing ein Lied von der Liebe«, stimmten nun auch die anderen ein.

Rosaria lächelte und dachte an den wundervollen Kuss des Vormittags zurück und auch daran, dass sie ihn von einem geheimnisvollen Fremden bekommen hatte.

Eine bittersüße Freude stieg in ihr auf, die zu dieser zauberhaften, milden und zugleich wilden Sommernacht passte, wie eben das Lied und die Liebe zusammengehörten. Und Rosaria sang ein Lied, das aus dem Herzen kam, ein Lied von Petrarca, der zu ihrem Leben gehörte wie die Liebe, die sie nicht haben durfte. Sie sang dieses Lied nicht nur mit ihrer Stimme, nein, die Worte strömten direkt aus ihrer Seele in ihre Kehle, verbanden sich dort mit ihrer Sehnsucht und erfüllten die Menschen unter dem Kastaniendach mit Wehmut und einem Verlangen, für das es keine Worte gab.

»Wenn es nicht Liebe ist, was ist's dann, das ich fühle?
Doch wenn es Liebe ist, bei Gott, was ist und wie ist das?
Ist es ein Gut, wie kann es einen dann so tödlich treffen?
Ist es ein Übel, warum sind die Qualen so süß?
 
Wenn ich freiwillig glühe, warum beklage ich mich dann?
Geschieht es wider Willen, was nützt dann das Klagen?
O lebendiger Tod, o Unheil voller Segen,
was verfügst du über mich, meinem Willen entgegen?
 
Wenn ich es aber will, beschwere ich zu Unrecht mich.
Bei widrigen Winden treibe ich auf hoher See
In einer morschen Barke, steuerlos,
so leicht an Wissen und so irrtumbeladen,
 
dass ich nicht weiß, was ich mir wünschen soll:
ich fröstele im Sommer und glühe im Winter!«

Als Rosaria das Lied beendet hatte, herrschte noch lange Schweigen. Auch Rosaria hing ihren Gedanken nach, die wieder bei dem Fremden und seinem wunderbaren Kuss verweilten. Wie sehr wünsche ich mir einen zweiten Kuss dieser Art, dachte Rosaria voller Sehnsucht und Verlangen. Und wie sehr fürchte ich mich doch gleichzeitig davor. Dieser Fremde, das ahnte sie mehr, als dass sie es wusste, war in der Lage, das wahre Feuer der Liebe in ihr zu entfachen. Doch sie durfte nicht lieben. Das Orakel hatte es deutlich zum Ausdruck gebracht. Ihr Leben gegen das Leben des Liebsten oder der eigenen Mutter.

Nein, so verlangend Rosaria auch sein mochte, sie durfte diesem herbwilden und gleichzeitig so zarten Gefühl in ihrer Brust nicht nachgeben. Sie musste den Kuss vergessen und all ihre Gedanken nur darauf richten, was der Tag ihr brachte.

Ihr Blick huschte an den hohen Mauern der Burg hinauf und verweilte bei einer schmalen, eleganten Gestalt, die an einem offenen Fenster stand, vor sich einen leeren Vogelkäfig. Es war die Contessa Donatella di Algari, die da stand und Rosarias Gesang gelauscht hatte. Doch als sie die Blicke der Olivenhändlerin bemerkte, wandte sie sich ab und verschwand im Innern ihrer Gemächer. Rosaria seufzte. Wie gern hätte sie die Contessa mit ihrem Lied getröstet. Doch so weit, bis hinauf in die Räume der Hausherrin, trug ihre Stimme wohl nicht.

Doch es gab jemanden in der Burg, den ihr Lied erreicht hatte. Erreicht und berührt. Gerade eben trat ein Bediensteter an Rosarias Bank heran und überreichte der jungen Frau ein Korb voller Blüten. Der Duft von Oleander, Lavendel, Jasmin und Iris erfüllte die Luft, stieg in die Nasen und Köpfe der Anwesenden und erweckte in ihnen einen Rausch wie der köstlichste Wein.

»Von wem kommen die Blüten?«, fragte Rosaria und konnte nicht verhindern, dass ihr Herz dabei gegen ihre Rippen pochte, als wollte es ausbrechen.

»Es tut mir Leid, Olivenhändlerin. Ich habe Anweisung, über den Absender Schweigen zu bewahren«, erwiderte der Bedienstete.

Als er Rosarias enttäuschtes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Seid nicht traurig deshalb. Uns alle hier hat Euer Gesang so verzaubert, dass wir Euch liebend gern sämtliche Blüten dieser Welt zu Füßen legen wollten.«

Als die anderen dieses wunderbare Kompliment hörten, klatschten sie und trampelten mit den Füßen ihren Beifall auf den Boden.

Rosaria aber nahm sich nur eine einzelne Jasminblüte aus dem Korb und befestigte sie an ihrem Ausschnitt. Dann gab sie dem Bediensteten den Korb zurück und bat ihn, die Blüten der Contessa Donatella di Algari zu bringen.