Prolog

Toskana, im späten 15. Jahrhundert

 

»Wenn ein Käuzchen ruft, stirbt ein Mensch.« Die Magd starrte angstvoll aus der Küchentür hinaus auf den dunklen Burghof und bekreuzigte sich.

»Halt den Mund, dummes Ding. Sieh lieber zu, dass das Wasser im Kessel heiß wird. Und bring Tücher herbei, weiße Leinentücher. Könnte sein, dass wir sie bald brauchen.«

Die alte Hebamme versetzte der Magd, die noch immer wie erstarrt dastand, einen Klaps auf die Schulter, schüttelte den Kopf und lauschte nun selbst dem Ruf des Käuzchens.

»Kju-wick, kju-wick«, drang der Schrei des Totenvogels klagend durch die dicken Wände der Burg. Die Hebamme zog die Schultern hoch und flüsterte einige Worte, die in den Ohren der Magd wie magische Beschwörungen klangen; dann lief sie, so schnell ihre alten Beine es vermochten, nach oben in das Gebärzimmer.

Leise betrat sie den Raum, der nur von einigen Talglichtern erhellt war, die gespenstische Schatten an die Wand malten. Der Mondschein, der durch die Fensteröffnung fiel, tauchte die Szenerie in ein kaltes Licht, das die Stimmung in dem Raum noch hoffnungsloser erscheinen ließ.

Ein Raum des Lebens, der den Atem des Todes und der Verzweiflung beherbergt, dachte die Hebamme und seufzte. Nicht einmal die spärlichen, doch überaus kostbaren Möbel konnten daran etwas ändern, nicht das Bett mit den kunstvollen Schnitzereien aus einer florentinischen Werkstatt, nicht die Vorhänge aus dunkelblauem Samt, nicht einmal der Kamin, in dem einige Zedernholzscheite schwach glommen.

Die alte Rosalba, die seit Jahrzehnten auf der Burg der di Algaris half, die Kinder zur Welt zu bringen, fröstelte, obwohl die Nacht warm und voller Duft war, der aus den Oleanderbüschen des Burggartens in die Kammer drang und vom nahenden toskanischen Sommer mit blühenden Feldern und heißen Sonnentagen erste Kunde brachte.

Sie trat an die Bettstatt der Burgherrin und sah mitleidig auf die gebärende Frau hinab. Contessa Donatella di Algari wand sich in Schmerzen. Das Haar hing ihr in nassen Strähnen ins Gesicht, die Stirn war schweißgebadet, die Augen gerötet, die Lippen geschwollen und blutig gebissen. Das zarte, schmale Gesicht mit den großen dunklen Augen, das noch vor wenigen Jahren für seine Schönheit berühmt gewesen war, war leichenblass und vorzeitig gealtert. Nicht einmal 26 Jahre zählte die Contessa, und doch sah sie nun wie eine alte Frau aus, der sich Kummer und Sorgen tief ins Antlitz gegraben hatten. Selbst das Haar, rot und lockig einst, war von einzelnen grauen Strähnen durchzogen.

Wieder drang ein qualvolles Stöhnen aus dem Mund der Contessa, dann folgte ein heiseres Flüstern: »Rosalba, wird es ein Junge werden?«

Die Hebamme zuckte die Schultern. »Ich bete darum, mein Kind. Gleich wirst du es überstanden haben.«

Die Contessa schloss erschöpft die Augen, während Rosalba ihr mit einem essiggetränkten Tuch die Stirn abtupfte.

Wieder kam eine Wehe, die so heftig war, dass sich die Contessa schreiend auf dem Lager herumwarf und sich schließlich in einem der Kissen verbiss. Beruhigend strich die Hebamme ihr über den aufgetriebenen Leib und hielt ihre Hand.

»Wenn es ein Mädchen wird, Rosalba ...« Ein erneutes Stöhnen unterbrach die Rede der Contessa. »Wenn es ein Mädchen wird, dann wünschte ich, ich würde mit ihm im Kindbett sterben.«

»Rede nicht so. Du versündigst dich«, erwiderte die Alte und konnte doch den Wunsch ihrer Herrin nachfühlen. Sie hatte es schwer auf dieser Burg, die junge, zarte Frau. So schwer, dass sich seit Jahren ein Ausdruck in ihre Züge gegraben hatte, der an Todessehnsucht gemahnte.

»Doch, Rosalba, ich meine es ernst. Versprich mir, dass du mir sterben hilfst, wenn ich wieder nur ein Mädchen zur Welt bringe. Und bitte, Rosalba, gib das Mädchen zu guten Leuten. Zu guten Leuten und weit weg von der Burg.«

»Nein, Contessa Donatella, nein!« Die Hebamme wurde ärgerlich. So ärgerlich, dass sie die Contessa, die sie seit ihrer Geburt kannte, offiziell anredete. »Ihr werdet leben und Euer Kind auch. Vergeudet Eure Kraft nicht mit unnützen Worten.«

Die Contessa winkte müde ab, ihre Augen verloren sich ins Weite. Rosalba wusste genau, woran die Contessa dachte.

Conte Giovanni di Algari, Burgherr und Ehemann der Contessa Donatella, hatte verkündet, dass er seine Frau verstoßen würde, wenn diese wieder ein Mädchen, das dritte nun, zur Welt brächte.

»Ich brauche einen Erben, einen kräftigen Burschen will ich«, hatte er mit dröhnender Stimme dem gesamten Hof verkündet. »An nichtsnutzigen Weibern habe ich reichlich. Wenn die Contessa mir keinen Erben schenken kann, nun, dann muss sie gehen und einer anderen Platz machen. Sie taugt ohnehin nichts mehr, ist alt vor der Zeit und mir nur noch eine Plage. Die Mädchen soll sie mitnehmen. Kosten nur Geld, die Weiber, Geld für den Putz, und obendrein muss eine Aussteuer bezahlt werden. Soll sie ins Kloster gehen, die Contessa, und die Schreihälse mitnehmen. Zum Beten werden sie schon taugen, wenn sie auch sonst zu nichts zu gebrauchen sind.«

Die Bediensteten hatten bei diesen harten Worten betreten vor sich hin gestarrt oder aber der Contessa, die ihre ganze Kraft aufgeboten hatte, um nicht in Tränen auszubrechen, mitleidige Blicke zugeworfen. Doch helfen konnten sie ihr nicht, so gern sie es auch gewollt hätten. Die Grausamkeit und Härte des Conte di Algari waren ein Thema, über das in der ganzen Toskana gesprochen wurde, und jeder, der die Contessa kannte, war angetan von ihrer Güte und Großzügigkeit – und bemitleidete die junge Frau auf das Tiefste. Jeder hier wusste, dass der Conte ein Spieler war, ein Saufbruder, der stets Händel suchte und Frau, Kinder und Bedienstete bis aufs Blut quälte.

»Ich wünschte, ich würde sterben«, flüsterte die Contessa erneut und sah die Hebamme mit einem flehenden Blick an.

»Was wird dann aus deinen beiden Töchtern?«, fragte Rosalba leise, doch die Contessa antwortete nicht. Eine neue Welle des Schmerzes durchfuhr sie. Ein Schrei entriss sich ihrer Kehle, dann krümmte sie sich, während die Hebamme zwischen ihren Schenkeln das Köpfchen eines Säuglings erblickte.

»Pressen, pressen, Donatella, gleich hast du es geschafft.«

Noch einmal schrie die Frau, noch einmal überrollte der Schmerz sie wie eine große dunkle Welle, da umfasste die Hebamme mit beiden Händen das Köpfchen und holte mit geschickten Griffen das Kind auf die Welt.

Sie nahm es hoch, warf einen kurzen Blick auf das Geschlecht des Säuglings, seufzte, wickelte es sogleich in ein Tuch und gab ihm einen Klaps auf den Po. Der Säugling schrie und verkündete mit aller Kraft der Welt seine Ankunft.

»Was ist es?«, fragte die Contessa Donatella mit angstvoller Stimme.

»Es ist alles in Ordnung, das Kind ist gesund und kräftig, wie du hörst. Du musst nun schlafen und dich ausruhen«, erwiderte die Hebamme und reichte der völlig erschöpften Frau einen starken, würzigen Trunk. Dann nahm sie den Säugling auf den Arm und sah zu, wie die Contessa allmählich langsam und gleichmäßig atmete und schließlich die Augen schloss. Rosalba wickelte den Säugling in ein zweites, warmes Tuch, nahm aus der Schatulle, die auf dem gemauerten Kamin stand, ein goldenes, fein gearbeitetes Medaillon mit dem Wappen der Familie di Toscani, aus der die Contessa Donatella stammte, legte es dem Neugeborenen behutsam um den Hals und verließ mit ihm heimlich, still und leise die Kammer. Im Schutz der Dunkelheit eilte sie über den Burghof und verschwand schließlich hinter dem Burggarten in dem kleinen Wäldchen, das zwischen der Burg und dem Dorf lag.

Obwohl der Trunk der Hebamme stark war, schlief die Contessa nicht sofort ein. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte, die heißen Tränen, die sich hinter ihren Lidern drängten, zurückzuhalten. Doch es gelang ihr nicht.

Sie dachte an ihr Leben auf der Burg. All die Jahre, die sie nun schon hier lebte, zogen wie eine Reihe Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei. Donatella erinnerte sich an den jungen, starken Mann, der um sie gefreit hatte. Charmant war er gewesen, doch der Charme hatte seine mangelnden Manieren, die Rohheit und auch das Machtgebaren nicht gänzlich überdecken können. Donatella hatte sich vom ersten Tag an gefürchtet vor diesem Mann. Doch Widerspruch hatte sie nicht gewagt. Die Eltern suchten die Ehemänner der Töchter aus. Geld wurde mit Geld, Land mit Land, Besitz mit Besitz verheiratet. Persönliche Sympathien spielten hierbei keine Rolle, und Liebe war etwas für Träumer. Und das Land des Conte di Algari grenzte nun mal an den Besitz der di Toscanis. Eine Verbindung mit den Nachbarn war erstrebenswert, und so wurde dem Conte die jüngste und hübscheste Tochter zur Ehe versprochen. Versehen mit einer reichlichen Mitgift, wurde vor dem Traualtar aus Donatella di Toscani die Contessa Donatella di Algari.

Das war jetzt acht Jahre her. Und seit diesem Tag, so schien es der Contessa, hatte über der Toskana die Sonne dunkler geschienen. Am Anfang hatte ihr Mann noch Gefallen an ihr gefunden, doch bald schon kamen die ersten Gewalttätigkeiten, denen die junge Contessa vollkommen hilflos ausgeliefert war. Als dann bei der Geburt der erste Sohn starb und sie selbst nur um ein Haar dem Tod entronnen war, hatte sich ihr Schicksal noch verschlimmert. Schimpf und Schande den ganzen Tag, nie ein gutes Wort oder eine Zärtlichkeit. Der Conte begann zu trinken und sich mit den Mägden zu vergnügen. Seine Frau suchte er nur noch auf, wenn ihm das Erbe in den Sinn kam. Zwei Töchter waren auf diese Weise entstanden. Zwei Töchter, die sie innig liebte, weil sie alles waren, was Donatella di Algari auf der Welt besaß.

Ein Jahr ums andere war so vergangen, und aus der jungen, strahlend schönen Frau war eine müde und vom Leben erschöpfte und enttäuschte Frau geworden, die sich die Tage mit Sticken und Beten vertrieb. Nur selten verließ sie ihre Gemächer, nahm kaum je an den Lustbarkeiten und Jagden auf der Burg teil und wäre wohl selbst bei den Bediensteten in Vergessenheit geraten, hätte ihre Freundlichkeit und Großzügigkeit nicht dazu beigetragen, dass ein jeder hier Mitleid mit ihr empfand.

Donatella seufzte, dachte an das Kind, das sie gerade geboren hatte, und betete leise für das arme Wesen, wie sie es im Stillen nannte. »Gnädige Madonna, vergib mir und behüte das Kind.«

Ein altes toskanisches Sprichwort fiel ihr ein, welches da lautete: ›Wird ein Kind mit einem Lachen gemacht, so lacht ihm das Leben. Wird ein Kind im Weinen gemacht, so sind seine Wege von Tränen getränkt.‹

Und sie dachte an den Tag, an dem dieses Kind in ihrem Leib gezeugt wurde. Gezeugt unter Tränen ...

Wieder hatte der Conte Giovanni di Algari dem Chianti kräftig zugesprochen. Und wieder einmal musste er seine Manneskraft unter Beweis stellen. Roh trommelte er des Nachts an die Kammertür der Contessa, während sie selbst angstvoll im Bett kauerte und ihre Töchter an sich presste.

»Mach auf, verdammtes Weib. Mach auf, wenn dein Mann zu dir will.«

»Giovanni, denk an die Kinder. Bitte, lass mich.«

»Mach auf, sonst schlage ich dich windelweich.«

»Giovanni, bitte!«

Doch alles Bitten und Flehen wollte nichts nutzen. Der Conte sprengte mit kräftigen Fußtritten die Kammertür, schleifte die beiden weinenden Mädchen brutal an den Haaren aus der Kammer und schlug der Contessa wegen ihres Ungehorsams die Faust ins Gesicht, dass die Lippe aufsprang und ihr das Blut aus der Nase sprudelte. Dann stieß er sie rüde zurück auf die Bettstatt, riss ihr Nachtgewand auf und knetete ihre Brüste, dass die Contessa vor Schmerz aufschrie.

»Das gefällt dir, gib es zu, dass es dir gefällt. Allen Weibern gefällt das«, brüstete er sich und griff seiner Frau so fest in das lange Haar, dass sie vor Schmerz das Gesicht verzog.

»Sag, dass es dir gefällt«, verlangte er.

»Ja, es gefällt mir«, flüsterte Donatella di Algari mit erstickter Stimme.

»Ja, ich weiß, was ihr Weiber braucht. Einen Mann braucht ihr, einen richtigen Mann, der euch rannimmt und euch die Geilheit aus den Gliedern treibt.«

Mit brutalem Griff spreizte er ihr die schlanken Schenkel, zwängte seinen massigen Körper dazwischen und drang rücksichtslos in sie ein.

Die Contessa hatte allen Widerstand aufgegeben. Wie gelähmt lag sie unter ihrem Mann, roch dessen Weinatem, sah den harten Blick, spürte die groben Hände und erduldete die Schändung, die er an ihr verübte, in einer Art Erstarrung.

Als er endlich von ihr abließ, schmerzten ihre Brüste; wie sie aus Erfahrung wusste, würden sie am nächsten Tag blaue Flecken aufweisen.

»Ich will, dass du dich bei mir bedankst«, dröhnte der Conte und richtete seine Beinkleider.

»Ich danke dir«, flüsterte die Contessa und hoffte, dass er für dieses Mal genug von ihr hatte und sie endlich allein ließ.

Mit einem Grunzen schaute der Mann auf die geschändete Frau, spuckte noch einmal aus und verließ die Kammer.

Ekel schüttelte die Contessa, und sie erhob sich von ihrem Lager, schlich mit schmerzendem Schoß in die angrenzende Kammer und ließ sich von einer Magd den Waschzuber mit heißem, fast noch kochendem Wasser füllen.

Das Wasser drohte sie zu verbrühen und färbte ihre zarte Haut in Sekundenschnelle krebsrot, doch die Contessa Donatella di Algari biss die Zähne fest zusammen und betete, dass sein Samen sich nicht in ihr festgesetzt habe. Mit einer Bürste schrubbte sie ihren ganzen Körper, bis die Haut fast zu bluten begann; sie wollte die Demütigung und Gewalt wegschrubben, doch es gelang ihr nicht.

Auch nach dem Bad fühlte sie sich beschmutzt und wusste, dass dieses Gefühl sie lange nicht verlassen würde.

Schon wenige Wochen später ahnte sie, dass sie in dieser Nacht schwanger geworden war. Ihre Brüste spannten, die morgendliche Übelkeit verargte ihr jedes Frühstück, ihre Regel war ausgeblieben.

»Ich möchte kein Kind, das im Weinen gemacht wurde«, klagte sie, doch das Kind gedieh und fühlte sich wohl in ihrem Leib.

Fast war sie froh gewesen, als der Conte nach Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft verkündet hatte, er werde sie verstoßen, falls sie noch einmal, zum dritten Mal, eine Tochter zur Welt brächte – hätte sie nicht an das arme Wesen, das in ihr heranwuchs, denken müssen. Das arme, unschuldige Wesen, das noch nicht einmal geboren, doch schon jetzt einen Weg voller Tränen vor sich hatte.

Für sie selbst gab es keine Hoffnung, keine frohe Stunde mehr auf dieser Burg, das wusste sie. Darum machte ihr der Gedanke, von ihrem Mann verstoßen zu werden, auch nichts aus. Das Gerede der Leute kümmerte sie nicht, und auch das karge Leben in einem Kloster erschien ihr geradezu erstrebenswert. Doch um keinen Preis der Welt wollte sie ihre beiden kleinen Töchter in der Burg zurücklassen, die gerade mal vier und zwei Jahre alt waren. Zwar hatte der Conte verkündet, die Töchter ebenfalls ins Kloster stecken zu wollen, doch das toskanische Gesetz verbot ein solches Vorgehen. Wenn ein Mann seine Gattin verstieß, dann nur sie allein. Und obwohl der Conte die Algari den Gesetzen im Allgemeinen keine allzu große Bedeutung beimaß, würde er es doch nicht wagen, sich deswegen mit den mächtigen Medici in Florenz anzulegen, die dieses Gesetz entworfen hatten und von der Signoria, der Gesetz gebenden Instanz, hatten bestätigen lassen.

Für sich selbst erwartete Donatella di Algari nichts mehr, ja, sogar der Gedanke an den Tod hatte etwas Tröstliches für sie ...

Und als nun endlich der Trank wirkte, ihre Gedanken aufhellte und ihren Geist beruhigte, nahm sie den Schlaf dankbar an und wünschte, nie mehr daraus aufzuwachen.

Als sie einige Stunden später nur wenig erfrischt die Augen wieder öffnete, war draußen bereits heller Vormittag.

Rosalba hatte die hölzernen Fensterläden weit aufgeklappt, und Vogelgezwitscher erfüllte den ganzen Raum.

Contessa Donatella di Algari sah durch die Fensteröffnung den lavendelblauen Himmel, der sich, wie so oft in der Toskana, hinter einem weichen Schleier versteckte. Sie genoss die würzige Luft der Zypressen und das leise Rascheln der Olivenzweige im Wind.

Sie hatte das Bedürfnis, sich zu recken und zu strecken, um den Schlaf gänzlich abzuschütteln, doch da sah sie Rosalba und wurde sogleich hellwach. Auch der Kummer, die Sorgen und die Angst erwachten auf der Stelle. Doch was war in der Nacht eigentlich geschehen? Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht, ein Kind, dem es bestimmt war, im Unglück sein Zuhause zu finden. Die Hebamme hatte den Säugling im Arm gehabt und ihr einen Trunk gereicht. Einen Trunk, der sie alles vergessen ließ. Doch wo war jetzt das Kind? Welches Geschlecht hatte es? Die junge Frau konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.

»Rosalba, Rosalba!«, rief die Contessa nach der Hebamme, und eine fröhliche Stimme antwortete ihr:

»Guten Morgen, Contessa Donatella. Findet Ihr nicht, dass es langsam an der Zeit ist, Euren neugeborenen Sohn zu begrüßen?«

Nun, da die Nacht verstrichen war, in der die beiden Frauen so eng miteinander verbunden gewesen waren, wie es nur während einer Geburt der Fall ist, hielt sich die Hebamme wieder an die Regeln des Hofes und titulierte die Hausherrin so, wie es sich für eine Bedienstete gehörte.

Die Contessa stutzte. Ein Sohn? Hatte sie wirklich einen Sohn geboren?

Doch viel Zeit zum Staunen blieb ihr nicht, denn schon reichte Rosalba ihr das in weiche, weiße Leinentücher gewickelte Kind. Behutsam nahm Donatella das kleine Bündel, betrachtete aufmerksam die dunkle Haarpracht, den winzigen, kirschförmigen Mund und die kleine Nase mit den geblähten Flügelchen. Als der Säugling sein kleines Gesichtchen verzog, einen hochroten Kopf bekam und schließlich in ein empörtes Weinen ausbrach, lächelte die junge Mutter glücklich und legte ihn an ihre Brust. Sofort verstummte das Gebrüll, das Kind begann zu saugen und Donatella konnte in der Betrachtung des kleinen Jungen ungestört fortfahren. Ein stattlicher Bursche war es, der da in ihrem Arm lag, ein strammer Junge mit einem kräftigen Zug.

Behutsam strich sie dem Kind mit dem Zeigefinger über die Wangen, fuhr die Linie der um ihre Brustwarze gewölbten Oberlippe nach – und stutzte erneut. Wo war das Mal, das all ihre Kinder über der Oberlippe hatten? Wo war der kleine schwarze Fleck, der auch ihre Oberlippe zierte und als Wahrzeichen der Familie galt?

Donatella blickte auf ihr Kind hinab und dachte noch einmal an die gestrige Nacht zurück. Der Trunk hatte ihre Sinne benebelt, hatte über den Raum und gleichzeitig über alle Geschehnisse des Tages den sanften Schleier des Vergessens gelegt. Doch war da nicht das Klappen einer Tür gewesen? Hatte sie nicht die huschenden Schritte der alten Rosalba gehört, zuerst auf der Treppe und später im Burghof? Schritte, die sich leise entfernt hatten?

Oder hatte sie da schon geträumt?

Der Sohn lag ihr auf einmal schwer und fremd im Arm. Die schwarzen Haare, die ihr eben noch wie Flaum erschienen waren, fühlten sich jetzt borstig und fest wie Pferdehaar an. Der kleine, saugende Mund kam ihr vor wie ein Blutegel, der ihr den Lebenssaft aussaugte, und die Nase hatte plötzlich keine zierlichen Flügel mehr, sondern die kräftige Form einer Bauernnase.

»Na, wie gefällt Euch Euer Sohn?«, fragte die Hebamme.

»Mein Sohn? Fremd ist er mir. Und schwer liegt er in meinen Armen. Warum hat er kein Muttermal wie die Töchter? Nein, ich kann nicht glauben, dass ich dieses Kind in der letzten Nacht zur Welt gebracht haben soll«, erwiderte Donatella di Algari.

Die Hebamme lachte, doch es war kein fröhliches Lachen.

»Man könnte meinen, Ihr hieltet Euer erstes Kind im Arm, solche Fragen stellt Ihr. Habt Ihr schon vergessen, wie es bei den Töchtern war? Ihr müsst Euch erst an ihn gewöhnen, deshalb liegt er fremd und schwer bei Euch. Und das Muttermal, Madonna! Jedes Kind ist verschieden, auch wenn es dieselben Eltern hat. Dieses hat eben kein Muttermal, dafür die Haare und die Statur des Conte.«

»Meinst du wirklich, Rosalba?«, fragte die Contessa zweifelnd.

»Natürlich«, bestätigte die Hebamme. »Die Mädchen kommen nach Euch und Eurer Familie, der Junge aber ist ganz und gar ein di Algari. Der Conte wird sich freuen.«

Die Contessa schaute die Hebamme an. Ganz fest hielt sie den Blick auf das Gesicht der alten Frau geheftet. Und ganz leise, so, dass keine der Mägde, die im Zimmer aufräumten, sie hören konnte, sagte sie: »Wenn es so sein soll, Rosalba, dann soll es so sein. Wenn dieser Junge mein Sohn sein soll, dann will ich ihn als solchen annehmen und lieben, wie ich meine Töchter liebe.«

Die Hebamme hielt dem Blick stand und erwiderte mit fester Stimme: »Es soll so sein, Contessa Donatella. Dieser Säugling ist Euer Sohn. Und als Lohn für meine Dienste erbitte ich mir daher Euer Medaillon.«

Wieder versuchte die Contessa mit ihren Blicken hinter die Stirn der alten Frau zu schauen. Und wieder ahnte sie mehr, als dass sie es wusste, warum sich die alte Frau ausgerechnet das Medaillon erbeten hatte. Es war nicht üblich, einen solch reichlichen Lohn zu zahlen. Und ganz und gar unüblich war es, ohne Not mit Familienschmuck zu bezahlen. Doch die Contessa stellte keine Fragen, sondern nickte nur. Dann nahm sie den Säugling, der inzwischen fertig getrunken hatte, hoch und küsste das Kind behutsam auf die Stirn.

 

Bereits zwei Tage später fand in der kleinen Burgkapelle die Taufe statt. Alle Edelleute aus der Umgebung waren erschienen, sogar der Hof der Medici in Florenz hatte einen Abgesandten geschickt.

Die Kapelle war mit Blumen geschmückt, die Fresken an den Wänden leuchteten, als wüssten sie um den frohen Anlass, und im Mittelgang der Kirche lag ein roter Läufer, der sich von der Tür bis zum Altar erstreckte. An den Wänden brannten teure Wachslichter in kostbaren Leuchtern, und vorn auf dem Altar lag die in dunkles Saffianleder gebundene Familie nbibel der di Algaris.

Auch die Bediensteten hatten sich eingefunden. Sie standen an der hinteren Wand.

Stolz wie ein Pfau zeigte der Conte di Algari seinen Sohn herum, während er den beiden Mädchen, seinen Töchtern, die verängstigt in ihren Sonntagskleidern in der zweiten Reihe der hölzernen Kirchenbank hockten, keinerlei Beachtung schenkte.

Die Contessa Donatella saß, noch immer sehr blass von den Anstrengungen der Geburt, auf einem gepolsterten Sessel in der ersten Reihe der Kapelle. An ihrem Hals leuchtete ein nagelneues Schmuckstück, welches sie von ihrem Mann als Geschenk zur Geburt des Sohnes erhalten hatte. Die schwere Goldkette mit dem kostbaren Rubin aber schmückte sie nicht, sondern brannte auf ihrer Haut wie Feuer. Mit einem angestrengten Lächeln nahm sie die Glückwünsche der Gäste entgegen und wirkte bereits erschöpft, bevor der Taufgottesdienst begonnen hatte.

Ganz hinten an der Wand, beinahe unsichtbar unter den Bediensteten, stand die alte Hebamme Rosalba und betrachtete mit aufmerksamen Blicken das Geschehen.

Und als der Conte di Algari seinen Sohn über das Taufbecken hielt und ihm den Namen Giacomo, der Nachgeborene, gab, flüsterte sie leise vor sich hin. »Verflucht seist du, Conte di Algari, verflucht. Verdorren soll dein Leib, das Herz dir erstarren, und alles, was du je an Schlechtem getan hast, soll zu dir zurückkehren.«

Vergeblich bemühte sich die Magd, die neben ihr stand, die leidenschaftlich hervorgebrachten Worte der Hebamme zu hören. Doch sie verstand nichts, verstand nur das Wort ›verflucht‹, bekreuzigte sich und glaubte, das Käuzchen erneut rufen zu hören. Zur gleichen Zeit wie auf der Burg fand auch im Dorf eine Taufe statt.

Eine Kolonne fahrender Händler, Kaufleute, Gaukler, Schauspieler und Vaganten hatte sich vor wenigen Tagen im Dorf eingefunden und mit allerlei Spektakel für Zerstreuung gesorgt. Sämtliche Dorfbewohner waren herbeigeeilt, ja, selbst aus den umliegenden Weilern waren die Bauern mit ihren Frauen gekommen, um seltene Dinge wie Putz, Spangen und Schnallen, ein paar alltägliche Gewürze und Stoff einzukaufen und sich an den vielen Lustbarkeiten zu ergötzen.

Doch heute kannte das lustige Treiben in der Wagenkolonne kein Halten mehr. Überall waren Tische und Bänke aufgebaut, aus allen Wagen kamen die Frauen und stellten Schüsseln und Platten mit Fleisch, Käse, Pasteten, Oliven und Tomaten auf den Tisch, und auch der Chianti floss in Strömen. Heute war ein besonderer Tag für die Händler, Gaukler und Vaganten, denn die große Zweckfamilie war um ein weiteres Mitglied gewachsen.

Paola, die Olivenhändlerin, hatte einem Mädchen das Leben geschenkt. Einem Mädchen mit braunroten Locken und einem winzigen Mal über der Oberlippe.

Estardo, ihr Mann, war überglücklich vor Freude, denn das kleine Mädchen war nach langen Jahren des Hoffens und Wartens das erste Kind des jetzt schon älteren Ehepaares, das die Geburt heil überstanden hatte.

Und nachdem der herbeigerufene Priester das kleine Mädchen auf den Namen Rosaria getauft hatte, feierten die Händler und Vaganten ein rauschendes Fest, stießen ein ums andere Mal auf das Glück der kleinen Rosaria an und ließen Estardo und seine Frau Paola hochleben.

Als jedoch die Wahrsagerin, wie es im Wagendorf üblich war, dem neuen Erdenbürger die Zukunft weissagte, herrschte Schweigen unter den Feiernden, und in den Augen Paolas glitzerten Tränen.