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Es schien alles gut zu gehen.
Die nachträgliche Analyse der Vorgänge und Entscheidungen bei der Sendung des Leitstrahls zeigte, daß die Botschaft nach menschlichem Ermessen unverstümmelt abgegangen sein mußte, eben bis auf die letzten Informationen, die den genauen Standort des KUNDSCHAFTERS auf dem Planeten betrafen. Das sonnige Wetter hatte die Möglichkeit geschaffen, den Ballon wieder aufzulassen, die Schneisen im Süden waren noch unverändert, die Kuppeln und Säulen im Klippendreieck erschienen wieder, etwas dichter als früher, wie es aussah, was wohl der Einwirkung der Anomalie zuzuschreiben war. Die Wirkung ihres Randfelds, nachweisbar im Resonanzgerät, wuchs leicht an, blieb aber bis jetzt ohne Folgen auf das körperliche Befinden. Sie hätten zufrieden sein können. Sie waren es nicht. Sie waren unruhig.
Zuerst glaubte Toliman, diese Unruhe, die sie sich bald auch gegenseitig gestanden, rühre daher, daß nun der Druck der täglichen Pflichten nachließ, daß das Wesentliche geschafft sei und man nur noch zu warten brauche. Das führte ihn zu dem Gedanken, daß wenigstens er selbst, Optimismus hin, Optimismus her, sich mit der anderen Möglichkeit zu beschäftigen habe, nämlich mit der, daß die Botschaft auf der ALDEBARAN nicht ankäme oder verstümmelt ankäme und daß - bestenfalls - das Mutterschiff lange nach ihnen suchen müßte. Daraus ergab sich die einfache Schlußfolgerung, daß sie für einen solchen Fall, wie wenig sie auch daran glauben mochten, gerüstet sein müßten. Die Vorräte mußten auf hohem Stand gehalten werden, das hieß also, weiterhin mit äußerster Kraft Energie zu akkumulieren und Nahrungsmittel zu speichern; und eine Strategie der Verteidigung gegen den, wenn auch nur denkbaren, Zug der Springmäuse mußte entwickelt werden. Oder weiter vervollkommnet, denn grundsätzliche Überlegungen dazu gab es ja schon.
Da hatten denn nun alle wieder reichlich zu tun, von morgens bis abends, und Mira immer noch und wieder nachts, mit der weiteren Beobachtung der Anomalie. Zwei Tage hatten sie die Zügel schleifen lassen, verständliche Reaktion nach der großen Anspannung, nun ging es weiter wie zuvor.
Aber die Unruhe blieb.
Sie waren jetzt so einmütig, so offen zueinander, daß sie sich diesen Umstand nicht verhehlten. Wenn sie darüber sprachen, kamen die unterschiedlichsten Ursachen zum Vorschein: Gemma zum Beispiel bedauerte, daß man sich von diesem Planeten würde verabschieden müssen, ohne einen gewissen Grundstock von Kenntnissen über das hiesige Leben mitzunehmen; gewiß würden andere nach ihnen Näheres erforschen, aber wer sei schon ganz ohne Ehrgeiz? Und dann, meinte sie, würde ihr auch die Trennung von ihrem Biest schwerfallen. Rigel fürchtete, im Gegensatz zu früher würde ihm wohl nun der normale Dienst an Bord mit all den perfekten Einrichtungen und Systemen und Geräten langweilig vorkommen; nun ja, leichter würde es sein, bequemer und angenehmer, aber. Mira hoffte und fürchtete zugleich, daß die Anomalie wieder verschwinden würde, ohne noch andere als die schon bekannten Auswirkungen zu zeigen, und daß von diesem bisher einmaligen kosmischen Objekt nichts als eine Legende bleiben würde. Und auch Toliman selbst, er mußte es sich eingestehen, bewegten zwiespältige Gedanken, wenn er an die Zukunft dachte. Er zweifelte nicht im geringsten daran, daß man sie abholen würde. Und ihre Leistungen würdigen. Das wäre ein bißchen angenehm, ein bißchen peinlich, es war dann darauf zu achten, daß sie in keine der beiden Eitelkeiten verfielen, weder in ruhmrednerische Erzählwut noch in das Schweigen falscher Bescheidenheit. Und dann? Dann würde man ihnen angemessen höhere Aufgaben stellen. Aber was war angemessen?
Toliman erinnerte sich gut, daß nur die anderen ihn vor dem Versagen gerettet hatten, und er fürchtete plötzlich, daß solche Situationen sich wiederholen könnten, bei größeren Aufgaben und mit größerem Risiko für ihn selbst und für andere. Denn noch war er nicht erfahren genug zu wissen, daß gerade diese Erinnerung ihn vor solchem Versagen bewahren würde.
Eine Weile lang gaben sie sich mit solchen und anderen Erklärungen für ihre Unruhe zufrieden; bis Gemma schließlich bemerkte, daß auch das Biest unruhig wurde. Die Erkenntnis traf sie plötzlich. Die kleinen, für andere fast unmerklichen Veränderungen im Verhalten des Tieres hatte sie schon seit Tagen gespürt, doch sie waren so geringfügig, daß sie nicht zu einer Klärung herausforderten. Aber als sie sie nun plötzlich im Zusammenhang überschaute, war sie sich ganz sicher; vielleicht auch deshalb, weil sie seltsamerweise menschlicher Unruhe durchaus ähnlich sahen.
Im ersten Augenblick dachte Gemma an die Springmäuse; der Gedanke lag für sie nahe, denn sie betrachtete das Biest immer wieder auch ein bißchen als Zeichengeber für die belebte Umwelt. Aber schon die nächste Überlegung führte sie weiter: Sie, die Menschen, hätten ja das Herannahen der Mäuse nicht auf die gleiche Weise spüren können wie das Biest. Und es war doch auch ihre eigene Unruhe, die sie seit Tagen beschäftigte. Also gab es nur eins: die Anomalie.
Und was sagten die Geräte? In den Schneisen im südlichen Wald war eine leichte farbliche Veränderung zu beobachten, aber nur in dem Teil, der noch im Innern des Waldes lag. Und andererseits bestätigten Miras Messungen, daß das Randfeld stärker geworden war. Es schienen also wieder beide Ursachen möglich zu sein. Manchmal jedoch sind einfache Beobachtungen aussagekräftiger als die Meßwerte der raffiniertesten Instrumente - Gemma fiel ein, daß das Biest, sobald es sich um die Mäuse handelte, stets eine richtungsabhängige Unruhe gezeigt hatte, oder einfacher: in die entgegengesetzte Richtung ausgerückt war. Das war hier nicht der Fall - also: die Anomalie.
So weit waren die Dinge klar, als sie sich zur Beratung zusammensetzten.
»Zwei Gefahren scheinen es hauptsächlich zu sein, mit denen wir fertig werden müssen«, sagte Toliman, »die Anomalie und die Springmäuse. Die Anomalie ist gewiß, der Zug der Mäuse vorerst noch eine Hypothese, wenn auch sehr wahrscheinlich. Mit unseren Vorstellungen, was wir dagegen tun können, ist es leider umgekehrt. Wie wir uns gegen die Anomalie wehren sollen, wissen wir gar nicht, wahrscheinlich werden wir sie einfach ertragen müssen. Gegen den Zug der Mäuse aber können wir doch eine Menge Vorkehrungen treffen. Ich denke, wir gehen so vor: Zuerst sagt Mira kurz, was es Neues gibt über die Anomalie, das ist, soviel ich weiß, schnell getan, und dann berichtet Rigel darüber, was Gemma und er sich ausgedacht und zum Teil schon vorbereitet haben. Dazu brauchen wir mehr Zeit. Einverstanden? Dann fang an, Mira.«
»Ihr wißt von meinen Rechenkunststücken«, begann Mira, »inzwischen sieht es so aus, daß die weiteren Messungen meine Vermutungen erhärtet haben. Ich bin fast sicher, daß die Anomalie in zehn Tagen, also eine Woche nach unserem Eintauchen in sie, ihr Maximum erreichen und dann wieder abflauen wird. Fragt mich aber bitte nicht, was sie nun eigentlich ist, ich weiß es so wenig wie zu Anfang. Wir haben nur eine Analogie, nicht einmal zu einem realen Vorgang, wenigstens zu keinem bekannten - nur die Analogie zu Teilen des mathematischen Modells dieser Eichfeldtheorie. Aber diese Analogie ist inzwischen so frappierend geworden, daß ich sogar noch ein paar weitere, winzige Dinge mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen kann. Das wichtigste ist: Das Randfeld wird sehr wahrscheinlich die Sonnenaktivität beeinflussen, mindestens die der kleinen, hellen Sonne. Vor letzterem können wir uns einigermaßen schützen, aber wie wir uns vor dem Randfeld schützen können - na, das hat ja Toli schon gesagt. Wir können nur hoffen, daß wir uns gar nicht zu schützen brauchen.«
Toliman nickte. Fragen hatte niemand - wenn schon Mira das alles nicht begriff, wie sollten sie das können? Und ein Mindestmaß an Begreifen ist ja wohl die Voraussetzung für sinnvolle Fragen.
»Erst mal das Grundsätzliche«, begann Rigel, denn eben das wollte er schnell hinter sich bringen, um zum Praktischen zu kommen. »Wir nehmen also an, diese Mäuse sind Zugtiere, und ihr Zug geht durch unsere Täler. Was wird dann passieren? Sie werden die Schneisen entlangkommen, dabei immer fressen, also langsam vorwärtskommen. Der Eingang zum Gebirge wirkt wie eine Düse: Er beschleunigt ihren Strom und verstärkt seinen Druck. Am Eingang zur Schlucht, wo der Bach sich nach Norden wendet, teilt sich der Strom, die größere Masse wird durch das benachbarte Kleine Tal weiterziehen, ein kleinerer Teil der Mäuse wird durch dieses Tal kommen. Dabei verlangsamt sich der Zug in dem Maße, wie das Tal breiter wird, und es wird auch wieder gefressen. Hindernisse werden mindestens angegriffen, glaubt Gemma, weil sich hier und im Nebental keine Steine finden, kein Geröll.
Da steht nun hier, mitten im Tal, unser KUNDSCHAFTER. Wir haben kein Schutzfeld, wir können ihn nicht starten, wir können ihn nicht mal aufrichten, so daß wir die Schleusen schließen könnten. In diesem Zustand ist er vor Angriffen nicht viel sicherer als die schweren Schutzanzüge. Außerdem sind hier die Nahrungsmittelvorräte, und Gemma sagte, man muß damit rechnen, daß die Tiere das wittern oder sonst irgendwie mitkriegen.
Nun gäbe es dagegen ein einfaches Mittel. Die Tiere marschieren durch die Täler, nicht oben auf den Hängen, denn da haben wir ja älteren Pflanzenwuchs gefunden. Wir könnten uns also alle nach oben verziehen, wenn sie kommen. Geht aber nicht, wegen des Kapitäns. Wenn die hier hereinmarschieren und alles mit ihrem Saft bespritzen - na ja, was die schweren Schutzanzüge kaputtfrißt, das schafft auch die Anabiosewanne. Und wenn da nur das kleinste Loch - ach, ist ja klar, nicht? Geht also nicht. Andere Möglichkeit: die Wanne mit hinaufnehmen, sie hat ja ein autonomes System. Geht aber auch nicht, wir kriegen sie nicht heraus, sie ginge nur durch die untere Ladeluke, und da stehen wir im Moment drauf. Schlußfolgerung: Eine absolute Lösung für das Problem gibt es nicht. Es gibt aber eine Lösung in Etappen. Schrittweise.«
Und nun erläuterte er den Plan, den Gemma und er ausgeheckt hatten. Er war einfach und bestand darin, den Wachhund, diesen überhängenden Felsen in der Schlucht, zu sprengen, den südlichen Stau zu öffnen, vielleicht später auch den nördlichen, die trockenen Pflanzen zu stapeln, kurz vor dem Schiff, und den Haufen anzuzünden - kurz, jede irgendwie brauchbare Möglichkeit des Tals zu nutzen, um den Zug zu bremsen, aufzuhalten, zu dezimieren. Es gab viele Wenn und Aber dabei, weil man ja nicht wußte, wie der Zug reagieren würde, aber Gemma hatte sich mit der Dynamik solcher instinktgetriebenen Züge befaßt und hoffte, daß es irgendwelche inneren Signalkanäle gäbe, die bei Hindernissen wenigstens einen größeren Teil durch das Nachbartal leiten würden, und daß zweitens der Zug um so ungefährlicher würde, je geringer der Druck der Nachfolgenden würde; daß also etwa eine kleinere Gruppe ohne Platzmangel solche Hindernisse wie das Schiff einfach umgehen würde und so weiter. Meinungsverschiedenheiten gab es nur noch über die allerletzte Hürde, die man aufrichten konnte. Der Zugang zum Schiff, der nach Süden, also gegen die Zugrichtung zeigte, sollte mit Steinen zugesetzt werden, gewiß kein absolutes Hindernis, aber der Zug würde wohl kaum so lange dauern, bis die Bespritzung und die doch nur geringe mechanische Beeinflussung einen massiven Steinhaufen zerstört hatte. Offen blieb aber, ob man das gleiche mit dem andern Zugang tun würde - die Belüftung wurde unterbrochen, und man nahm sich jede Möglichkeit, nach draußen zu wirken. Doch das konnte später entschieden werden.
Die Diskussion bestätigte den Plan und erweiterte und verfeinerte ihn durch eine Reihe von Vorschlägen - Beobachtungssysteme, Schlechtwettervarianten und dergleichen.
»Das wichtigste scheint mir«, schloß Toliman ab, »daß wir die schwersten und wichtigsten Arbeiten dafür innerhalb der nächsten drei, vier Tage abschließen. Für den Fall, daß die Einwirkung der Anomalie unsere Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt.«
Alle nickten. »Du drückst dich aber sehr umständlich aus«, bemerkte Rigel.
»Nein«, antwortete Toliman, »bloß vorsichtig.«
Der Zeitpunkt, an dem der KUNDSCHAFTER in die Anomalie - ja, wie soll man sagen; eingedrungen war oder eindringen würde? - dieser Zeitpunkt rückte näher, Mira hoffte, daß ihre Zeitrechnung stimmte, dann nämlich würde die Explosion der Außentanks um Mitternacht hiesiger Zeit stattfinden, und wenn dann noch das Wetter günstig war, könnte man vielleicht diese Explosion beobachten und damit zugleich die Zeitrechnung präzisieren.
Da es unmöglich war, daß ein einzelner Mensch, nämlich Mira, gute acht Stunden ununterbrochen in den Nachthimmel starrte, um die eine Sekunde nicht zu versäumen, wo die Explosion vielleicht sichtbar sein würde, hatten sie beschlossen, daß alle vier diese Nacht oben im Observatorium verbringen und sich bei der Beobachtung ablösen sollten - falls eine Beobachtung möglich sein sollte.
Das Wetter war günstig, die Beobachtung möglich. Die Spannfolie reichte aus, um Insekten und kleine Tiere aus dem Schiff fernzuhalten, und so kletterten sie gegen Abend hinauf zu Miras Teleskop.
Es heißt, daß die Dunkelheit gesprächig macht. Hier kam noch die ungewohnte Umgebung hinzu, die nicht mehr sichtbaren Folien, die ringsum als Windschutz gespannt waren, die man aber fühlte, wenn man den Arm ausstreckte, und der klare Himmel über ihnen - plötzlich war ein Gespräch da über ein Thema, das sie in all den Tagen, Wochen und Monaten seit der Katastrophe nicht mehr berührt hatten: was sie zu tun gedachten, wenn sie wieder auf der Erde waren, nach der Rückkehr vom ALDEBARAN also, den sie ja noch nicht einmal erreicht hatten; was sie überhaupt für Pläne für die Zukunft hatten. Toliman, der am Fernrohr saß, beteiligte sich nicht daran, er mußte ja beobachten. Außerdem gefiel ihm das Thema nicht. Dieses Was-machen-wir-wenn hatte im Hintergrund immer die Frage Aber-was-wenn-nicht, und die konnte ohnehin keiner beantworten. Er hörte jedoch auf eine träge, abwesende Weise zu, die seine Konzentration auf das Blickfeld nicht störte.
Rigel erklärte eifrig, daß er und Gemma auf jeden Fall zusammenbleiben und sicherlich noch ein paar Raumreisen machen würden, bis sie auf etwas gekommen wären, was sie beide auf der Erde gemeinsam tun könnten, bestimmt würde es irgendwie mit Tieren zusammenhängen, weil Gemma eben jetzt und hier ihre Vorliebe dafür entdeckt habe. Sieh mal an, dachte Toliman, die haben ja schon Pläne gemacht, die sind schon gar nicht mehr richtig hier. Ihm fiel auf, daß das, laut ausgesprochen, wohl ein wenig mißgünstig klingen würde, und da wurde ihm klar, daß er neidisch war. Nun ja, die beiden hatten es einfacher, Rigels Talente waren überall und bei jeglicher Arbeit einsetzbar und gefragt, und er konnte sich nach Gemma richten, ohne das geringste aufzugeben, in beruflicher Hinsicht. Bei Mira und ihm war das ja anders. Für sie als Kosmogonin war die Raumfahrt nur eine Art Praktikum, eine Erlebnisgrundlage für ihre eigentliche Arbeit, die sie auf der Erde oder allenfalls gelegentlich auf Stationen im erdnahen Raum ausüben würde; sie hatte schon mehrere Reisen hinter sich, diese würde ihre letzte sein, ihr zukünftiger Platz war schon geplant. Er dagegen würde als Navigator auf Sternfahrten bleiben, solange er dafür tauglich sein würde. Eines Tages würde er sicherlich Kommandant werden. Oder? Wäre er in der Lage, um Miras willen den Beruf zu wechseln? Was sollte er denn dann machen? Vielleicht Wissenschaftsorganisator? In irgendeiner Planungsabteilung der Raumverwaltung arbeiten? Die Ausrüstung von Sternschiffen entsprechend ihren Aufträgen optimieren? Expeditionen konzipieren zu Problemen, die Mira stellte? Er gab vor sich selbst zu, daß das eine Möglichkeit wäre, aber sie war so sehr das Gegenteil von dem, was er sich immer erträumt hatte, daß er sich das in der Praxis nur als fürchterlich langweilig und uninteressant vorstellen konnte. Ja, nach dreißig Jahren Raumfahrt vielleicht, vollgestopft mit Erfahrungen, mit Sachgefühl, über das kein Theoretiker verfügen konnte - dann würde er bei solch einer Tätigkeit nützlich, vielleicht sogar unentbehrlich sein, aber jetzt?
Und Mira? Würde sie seinetwegen. Doch nicht Mira! Der Gedanke allein war absurd. Ihre Sprunghaftigkeit im einzelnen, die sie jetzt, das mußte er zugeben, erfolgreich unterdrückte, war ja doch nur die andere Seite ihrer unnachgiebigen Zielstrebigkeit auf der großen Linie ihres Lebens. Nein, jede andere, aber Mira nicht.
»Ich löse dich jetzt mal ab«, sagte Mira.
Toliman rückte vom Teleskop weg und rieb sich die Augen. Erst jetzt bemerkte er, daß die andern beiden schon schliefen. Da mußte er aber tief in Gedanken versunken gewesen sein; hoffentlich hatten wenigstens seine Augen nichts übersehen, wenn schon seine Ohren alles überhört hatten.
Jetzt spürte er wieder stärker die Unruhe, die sie schon seit Tagen beherrschte und die, wie sie nun fast sicher wußten, von der Anomalie verursacht wurde. Und diese Unruhe bauschte seine vorangegangenen Gedanken auf. Plötzlich war ihm, als müsse diese Frage jetzt entschieden werden, später würde man vielleicht keine Zeit mehr haben, sie zu besprechen, und wenn sie erst hier heraus waren, konnte alles ganz anders aussehen, auf jeden Fall würde die weitere Reise der ALDEBARAN, die sich dann ihrem Ziel, dem gleichnamigen Stern, nähern würde, Mira beruflich so in Anspruch nehmen, daß in ihrem Kopf wenig Raum wäre dafür - und obwohl Toliman vorhin nicht im geringsten die Absicht gehabt hatte, das zu tun, fragte er jetzt doch: »Und wie ist das mit uns beiden? Bleiben wir auch zusammen?«
Er wußte gar nicht, ob Mira die Frage überhaupt verstanden hatte, weil sie nicht gleich antwortete; beinahe hoffte er, sie hätte sie überhört, denn nun fiel ihm ein, wie sie schon einmal auf eine Bemerkung von ihm, die in die gleiche Richtung ging, mit einem hingeworfenen »Du spinnst« geantwortet hatte.
Aber Mira mußte wohl die gleichen Überlegungen angestellt haben wie er, vielleicht gar nicht erst jetzt eben, sondern schon früher, und wie es schien, sogar schon mit Ergebnissen, denn die Pause, die sie jetzt machte, war, wie sich herausstellte, nicht der Notwendigkeit geschuldet, lange zu überlegen, sondern eher dem Wunsch, eine möglichst wenig pathetische, möglichst abschließende Formulierung zu finden, die wohl noch nicht ganz und gar endgültig war, die wenigstens der Form nach seinen Widerspruch zuließ, wenn sie auch inhaltlich an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrigließ.
Mira antwortete mit einer Gegenfrage. »Braucht man auf großen Reisen nicht auch immer einen Kosmogonen an Bord?«
Danach hatten beide nicht mehr das Bedürfnis, laut zu sprechen. Gemessen an dem Gefühl, das sie beherrschte, wäre selbst das Schmieden von Zukunftsplänen banal gewesen.
Bis Mitternacht ereignete sich nichts. Sie weckten Gemma, wobei selbstverständlich auch Rigel wach wurde, und legten sich eng umschlungen schlafen. Die Unruhe, die von der Anomalie ausging, schien diese Nacht keinen Einfluß auf sie zu haben.
Als der Morgen graute, wurden sie wach. Nichts, keine Lichterscheinung im Bereich der Anomalie, war beobachtet worden. Gemma und Rigel waren etwas deprimiert.
»Was ist denn nun«, fragte Rigel, »bisher habe ich wenigstens geglaubt, daß wir zeitlich einigermaßen richtig liegen. Aber jetzt? Jetzt zweifle ich schon, ob unser Leitstrahl angekommen ist!«
Gemma erklärte ihm eifrig, daß die ersten und letzten Stunden der zeitlichen Toleranz ja im Morgen- und Abendgrauen gelegen hätten und daß dieser Mißerfolg deshalb gar nichts besage.
Toliman aber, der nur noch für Mira Augen hatte, bemerkte, daß sich auf ihrem Gesicht eine Betroffenheit spiegelte, die aber sehr schnell einem Lächeln wich.
»Was ist?« fragte er.
»Ihr müßt mir verzeihen«, sagte Mira, aber ihr Ton war keineswegs betrübt, »ihr müßt mir verzeihen, daß ihr euch wegen meiner Dummheit die Nacht um die Ohren geschlagen habt. Ich hätte wissen müssen, daß die Explosion heute nicht zu sehen ist. Sie fand ja gegen Ende des Flugs durch die Anomalie statt, und da war der KUNDSCHAFTER wahrscheinlich schon zeitlich weit zurückversetzt, wir hätten sie also allenfalls in der ersten Woche von hier aus sehen können, und da haben wir noch nicht beobachtet.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist so wider all unsere Denkgewohnheit, daß ich einfach nicht darauf gekommen bin. Na, gewisse Entscheidungen sind ja wohl trotzdem gefallen.«
Rigel schaute verdutzt drein, aber über Gemmas Gesicht ging so etwas wie eine Ahnung. Sie zwinkerte Mira zu, und Mira zwinkerte zurück.
»Wieso?« fragte Rigel.
»Komm nur«, sagte Gemma zu ihm, »ich erklär es dir später.«
In den folgenden Tagen nahm die Wirkung des Randfeldes ganz allmählich, aber körperlich spürbar zu. Die Unruhe steigerte sich bis zur Reizbarkeit, die ersten Kopfschmerzen traten auf. Und es gab kein Mittel dagegen. Oder wenn es eins gab, dann kannten sie es nicht.
Sie versuchten, im schweren Schutzanzug zu arbeiten. Das schien etwas zu lindern, aber die Arbeit wurde dadurch um so viel schwerer. Sie waren schnell erschöpft, und nun setzte die Erschöpfung des Körpers die Widerstandsfähigkeit des Nervensystems herab. Immerhin konnten sie nach drei Tagen wenigstens einen Teil der schweren Arbeiten von der täglichen Liste ihrer Pflichten absetzen, die Vorbereitungen auf den Zug der Springmäuse waren abgeschlossen. Sie hatten sie sogar noch erweitert: Das gute, sonnige Wetter hatte sie auf den Gedanken gebracht, oben über dem Tal Fernsehkameras zu installieren, so daß sie nun vom Schiff aus den ganzen südlichen Teil bis in die Schlucht hinein fast lückenlos überblicken konnten. An dem überhängenden Felsen in der Schlucht und am unteren Stau waren Sprengladungen mit Funkfernzündung angebracht, die Rigel aus Vorräten des planetarischen Gerätesatzes gebastelt hatte; die trockenen Stengel waren in zwei Haufen zehn und fünfzehn Meter vor dem Schiff gestapelt und mit Folie abgedeckt worden; den südlichen Zugang zum Schiff hatten sie jetzt schon mit Steinen versetzt, und auch für die nördliche Schleuse lagen Steine bereit.
Nun konnten sie ihre Kräfte ein bißchen schonen, aber auch das hatte nicht nur positive Folgen - während die Frauen im wesentlichen alles geduldig ertrugen, Gemma, weil sie sich ihrem Naturell, und Mira, weil sie sich ihrem Vorsatz verpflichtet fühlte, wurden die beiden Männer immer knurriger, Toliman, weil er voller Sorgen war, und Rigel, weil seine ungenutzte technische Phantasie sich aufs Kochen verlegt hatte, freilich nicht auf das hiesige, armselige Kochen auf der Grundlage von Bohnen und Kräutern, sondern auf die noch ferne, aber hoffentlich bald reale gastronomische Technik der ALDEBARAN. Da er aber weder von der Ernährungswissenschaft noch von der Kochkunst eine Ahnung hatte, belästigte er fortwährend die andern mit Fragen. Er wollte wissen, wie man aus Zuchtfleischscheiben Koteletts mache und aus Algengärmasse die verschiedenen Weine, wodurch sich Schwarzbrot von Weißbrot unterscheide und so weiter. Und da die Eintönigkeit der Kost für niemanden ein Vergnügen war, steigerte das die Reizbarkeit der andern, bis schließlich selbst Gemma es nicht mehr aushielt und ihm, zu seinem großen Erstaunen, unwirsch über den Mund fuhr.
Eine Sorge freilich, wenigstens eine, nahm ab: Die Kuppeln und Säulen im Klippendreieck, weiterhin aufmerksam beobachtet, zeigten nicht die geringste Tendenz, Form und Größe zu verändern, sie leuchteten lediglich stärker. Das gab zwar keinen Aufschluß über ihre Natur, aber die vier waren schon zufrieden damit, daß von dort aus wohl keine Gefahr drohte. Wessen Spekulationen den Tatsachen am nächsten gekommen waren, das interessierte sie schon kaum noch, es gab ja viel wichtigere Fragen, die ebenso ungeklärt bleiben würden.
Drei Tage vor dem erwarteten Maximum der Anomalie war es nicht mehr auszuhalten. Gemma überwand ihre Abneigung gegen Pillen und teilte Beruhigungsmittel aus. Das half spürbar, aber es linderte auch nur, und Gemma sorgte sich wiederum, wie lange man das durchhalten könne - schließlich konnte man sich daran gewöhnen, dann würde die Wirkung nachlassen, und wenn man dann die Pillen absetzte, war alles nur viel schlimmer.
Es sollte aber nicht bei der schädigenden Wirkung der Anomalie bleiben: Die kleine Sonne erhöhte ihre periodischen Strahlungsausbrüche auf eine Stärke, die bisher noch nicht verzeichnet worden war, und unglücklicherweise lag das Maximum diesmal in der Mittagszeit. Sie mußten also im Schiff bleiben, wo sie durch den undurchsichtigen oberen Teil wenigstens etwas gedeckt waren - die harte elektromagnetische Wellenstrahlung drang hier kaum noch durch, und die Korpuskularstrahlung würde ihr Maximum erst gegen Mitternacht erreichen, da sie wesentlich langsamer war als das Licht; dann aber hatten sie den ganzen Planeten zwischen sich und der Strahlungsquelle, der kleinen Sonne.
Nein, was auch immer sie hätten tun können oder sollen, damals, nach der Katastrophe - die Landung auf dem Planeten war die einzige Möglichkeit gewesen zu überleben. Nicht einmal das stärkste Schutzfeld - über das sie ja wegen Energiemangel nicht verfügt hatten - hätte sie so schützen können wie die Atmosphäre. Diesem Planeten verdankte die ALDEBARAN die Botschaft, und sie verdankten ihm ihr Leben. Ihm und seiner Natur. Trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren.
Übrigens Natur - wo war das Biest? Die Fernsehkameras zeigten es: Es hatte sich in den unteren Stausee gerettet. Offenbar vor dem Strahlungsausbruch der kleinen Sonne. Wasser vermochte wohl den großen Körper zu schützen. Und den Kopf konnte es den größten Teil des Tages im Schatten der Felswände halten, die hier wieder sehr steil waren und enger zusammenstanden.
Am nächsten Tag war der Strahlungsausbruch fast vorüber, nur die Anomalie verstärkte sich weiter. Vom Klippendreieck gab es nichts Neues, von den Schneisen auch nicht und ebenfalls nicht vom unteren Stau - das Biest war nur gegen Morgen aus dem Wasser geklettert, hatte kurze Zeit geweidet und war dann wieder ins Wasser gegangen.
Das fiel Gemma auf. Warum kam es nicht und holte sich seine Ration? Was hinderte es daran? Es konnte nur einen Grund geben: die Anomalie. Ob das Wasser die Wirkung des
Randfelds milderte? Aber wie? Auf keinen Fall konnte es das Randfeld selbst abschwächen - das konnte nicht einmal die ganze Masse des Planeten, es war genau so fühlbar, wenn er sich zwischen ihnen und der Anomalie befand. Andererseits, was wußten sie über dieses Randfeld? Der Begriff war ja auch nur ein Wort, das sie für eine unbekannte Erscheinung setzten. Aber das Wasser - nein, das konnte höchstens auf den Körper wirken, auf das Nervensystem des Tiers. Hoppla, sollte die hiesige Natur wieder einmal den Weg zeigen? Nein, ins Wasser konnten sie natürlich nicht gehen, das würde wohl auch nichts nützen, da ihr Nervensystem gewiß ganz anders strukturiert war - oder wenn nicht ganz anders, dann doch jedenfalls etwas anders. Aber einwirken konnten sie auf ihr eigenes Nervensystem auch. Mit anderen Mitteln freilich. Mit besseren. Im Grunde hatten sie das schon getan, mit den Beruhigungsmitteln. Aber das war eine plumpe Einwirkung, es setzte die Empfindlichkeit ständig herab, während die störenden Einflüsse ja periodisch auftraten.
Einen Augenblick lang zögerte Gemma. War sie zu einem Selbstversuch berechtigt? Das Risiko war klein, die Debatte aber über ihre Idee würde ohne vorweisbare Resultate endlos und quälend sein. Niemand würde in dieser Situation zustimmen, wo ohnehin alle bis an die Grenze des Erträglichen gereizt waren.
Entschlossen stülpte sie sich den Elektrodenhelm des Medi- com über. Doch noch einmal zögerte sie, dann rief sie Rigel. »Frag mich nichts«, sagte sie, »nur - wenn ich abkippen sollte, schalte sofort das Dingsda aus.«
Rigel sah sie beunruhigt an, sagte aber nichts.
Gemma schaltete den Schirm ein, auf einen Kontrollstreifen am Rande gab sie die Signale von Rigels Resonanzdetektor.
Im Kurvenmuster der Gehirnaktivität zeigten sich Piks, die mit den Resonanzen periodisch übereinstimmten, aber zeitlich etwas versetzt waren. Das Nervensystem reagierte mit einer kleinen Verzögerung. Das hatte sie erwartet. Jetzt mußte sie ermitteln, welche Teile des Gehirns diese Synchronisation der Gehirnwellen steuerten. Das war bekannt für den Fall, daß es sich um innere Prozesse handelte - aber hier waren die Piks von außen erregt. Auch in solchem Falle wäre eine sichere Diagnose möglich gewesen, wenn sie die entsprechenden Geräte dazu gehabt hätte. Der Medicom war für solche Aufgaben allerdings nicht differenziert genug. Die Untersuchungen der Kurven allein würden ihr keinen Aufschluß geben. Sie mußte gröbere Mittel anwenden. Sie mußte mal über diese, mal über jene Elektrode von außen Gegenpotentiale geben, sozusagen Mini-Elektroschocks, dann würden sich - vielleicht
- Unterschiede zeigen. Dabei konnte es freilich auch geschehen, daß die Wirkung des Randfeldes unkontrolliert verstärkt würde, das war das eine Risiko. Das andere bestand darin, daß diese Gegenpotentiale, harmlos unter normalen Bedingungen, in der Verflechtung mit dem Randfeld nicht nur Verstärkung, sondern auch ganz andere, nicht vorhersehbare Effekte hervorrufen konnten.
Rigel stand etwas ratlos neben ihr und sah zu, was sie trieb. Er hatte keine Vorstellung von dem, was Gemma da mit sich selbst versuchte, und die Kurven- und Farbspiele auf dem Schirmbild sagten ihm nichts. Aber ihr munterer Ton hatte ihn nicht täuschen können. Er ahnte, daß das kreuzgefährliche Dinge waren. Sein erster Impuls war gewesen, sie davor zurückzuhalten, aber er hatte sich nicht getraut. Sie hatte bestimmt gerade ihn in ihr Vorhaben eingeweiht, weil sie den Protest der anderen nicht herausfordern wollte, und er sollte nun ihre Initiative einschränken? So stand er da und sah ihr ins Gesicht, um den kritischen Moment nicht zu verpassen, in der stillen Hoffnung, daß er gar nicht eintreten möchte.
Ein paarmal war er nahe daran, die Apparatur auszuschalten, das erste Mal, als Gemma die Augen schloß und schwer atmete, dann, als sich plötzlich ihr Gesicht krampfhaft verzerr- te, aber jedesmal löste einen Augenblick später Gemmas zuversichtliches Lächeln die Spannung wieder auf. Und endlich kam ihm der rettende Gedanke, er hätte sich ohrfeigen mögen, daß er nicht gleich darauf gekommen war.
»Du, Gemma!« sagte er, aber sie unterbrach ihn. »Ja, gleich«, sagte sie, »warte noch einen Moment.«
Wieder schwankte er, diesmal zwischen Sprechen und Schweigen, aber da sie jetzt ganz normal und gelöst aussah, siegte ihr Wunsch über seine Sorge.
»Ja?« sagte sie plötzlich und lehnte sich lächelnd zurück.
»Willst du nicht lieber mich als Versuchskarnickel nehmen?« schlug er vor.
»Du kommst auch gleich dran«, erwiderte sie fröhlich, und Rigel begriff, daß er mit seinem Vorschlag zu spät gekommen war. Aber das machte ihm nichts aus, nun, da offenbar das Schwerste überstanden war.
Er tauschte mit Gemma den Platz, ließ sich den Kontakthelm aufsetzen und blickte verständnislos auf das, was Gemma tat und was sich auf dem Schirm abzeichnete.
»Wie ich’s mir gedacht habe!« sagte Gemma mit leichtem Triumph in der Stimme, aber doch mehr zu sich selber, so daß Rigel sie nicht mit der Bitte um Erklärung in ihren Überlegungen stören wollte - er wußte, daß es Zeit und Ausdauer forderte, wenn ihm jemand etwas Theoretisches auseinandersetzen sollte. Aber ganz und gar schweigen konnte er auch nicht mehr.
»Und was passiert jetzt?« fragte er.
»Das sollst du mir sagen!« antwortete Gemma.
Rigel wunderte sich. Was konnte er denn dazu sagen? Was wollte Gemma von ihm? Sollte er sie auffordern, abzuschalten, wenn es ihm schlecht gehen sollte? Aber es ging ihm ja nicht schlecht, im Gegenteil, er fühlte sich sogar besser als vorhin, nein, er fühlte sich überhaupt besser. Der Druck im Kopf war verschwunden, und plötzlich wurde ihm klar, daß es wohl genau das war, was Gemma von ihm hören wollte. Aber dann durfte er jetzt nicht leichtfertig etwas behaupten, was vielleicht nicht stimmte; er mußte etwas tun, was für ihn ganz ungewohnt und gar nicht einfach war, nämlich auf sich selbst und sein wertes Befinden achten, er konnte das nur in dieser ironischen Formulierung denken, so fremd war ihm diese Aufmerksamkeit gegen sich selbst, und entsprechend unsicher war auch sein Urteil.
»Ich glaube«, sagte er zögernd nach einer Weile.
»Ja, was glaubst du?«
»Ich glaube, ich fühle mich besser als die ganzen letzten Tage.«
»Die Kopfschmerzen sind weg?«
»Ja«, sagte Rigel erleichtert - nicht wegen der Kopfschmerzen, sondern weil er das Richtige getroffen hatte.
»Irgendwelche sonderbaren Stimmungen und Gelüste in dir?«
»Stimmungen keine« sagte er, und mit vorsichtigem Lächeln setzte er hinzu: »Und Gelüste wie immer.«
Sie gab ihm einen Klaps. Dann schaltete sie ab und nahm ihm den Helm vom Kopf. »Schick mir mal Mira«, bat sie.
Nachdem sie auch Mira und Toliman untersucht hatte, rief sie alle zusammen.
»Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit entdeckt, wie wir uns vor dem Randfeld schützen können«, berichtete sie. »Die Resonanzen, die wir mit Rigels Detektor verfolgen können, lösen in unseren Gehirnen eine schädliche Synchronisation aus, die einen starken Streß bedeutet. Das Biest mit seiner Flucht ins Wasser hat mich darauf gebracht, nach so etwas zu suchen. Ich weiß zwar nicht, warum und wie sehr das Wasser ihm hilft, auch nicht, ob es uns helfen würde, aber wir sind ja Menschen und haben andere Methoden. Ich glaube, der Medicom kann uns helfen. Bevor ich aber sage wie, muß ich noch etwas von Mira wissen. Was meinst du - wird die Frequenz der Resonan- zen bei Tag und Nacht gleich sein?«
»Wie kommst du.«, wollte Mira fragen, unterbrach sich aber selbst. »Ach so, ich verstehe. Der Planet bewegt sich im Randfeld um seine Sonne, und die Oberfläche rotiert, bewegt sich also zu verschiedenen Tageszeiten mit verschiedener Geschwindigkeit relativ zum Randfeld. Nämlich dann, wenn das unabhängig vom Planeten sein sollte. Ich weiß es nicht. Es kann ebensogut sein, daß die Resonanz gar keine direkte Eigenschaft des Randfeldes ist, sondern bereits eine Reaktion der Planetenmasse. Interessant. Das müßte sich messen lassen.«
»Tu das bitte«, sagte Gemma mit ungewohnter Bestimmtheit, die wohl aber hauptsächlich daher rührte, daß sie selbst inzwischen mit ihren Gedanken schon weiter voraus war. »Mit Hilfe von elektrischen Potentialen, zur geeigneten Zeit an die geeignete Stelle gegeben, können wir unsere Gehirnströme wieder desynchronisieren und damit die Wirkung des Randfeldes aufheben. Wenigstens die unmittelbar spürbare.« Sie schwieg.
»Aber du hast noch Bedenken?« fragte Toliman.
»Bedenken und Schwierigkeiten«, antwortete Gemma. »Bedenken, weil ich kein Hirnspezialist bin und weil unser Medicom auf solche Aufgaben nicht spezialisiert ist. Ich kann keine Garantie geben gegen Spät- und Nebenwirkungen. Deshalb werde ich wenigstens noch einen länger dauernden Eigenversuch unternehmen.«
Alle schwiegen. Jeder wollte eigentlich protestieren, sah aber dann ein, daß er - oder sie - an Gemmas Stelle genauso handeln würde.
»Und die Schwierigkeiten?« fragte Toliman schließlich.
»Die Schwierigkeiten bestehen darin, daß der Medicom nur für eine Person ausgelegt ist. Elektroden als Potentialgeber haben wir zwar ausreichend, und wenn die Frequenz gleichbliebe, könnten wir ein festes Programm dafür ausarbeiten. Und selbst wenn sie sich ändert, kann man ein adaptives Programm mit dem Resonanzdetektor koppeln. Aber.«
»Aber?«
»Wir haben dann keine Kontrolle durch das EEG. Geringfügige Änderungen können die Wirkungen zum Gegenteil verschieben, und wir merken es erst, wenn sie spürbar werden. Und ich weiß nicht, ob das nicht ganz plötzlich sein könnte. Denn die Desynchronisation durch Einwirkung von außen ist natürlich auch Streß.« Plötzlich fielen ihr Rigels Gelüste wieder ein. »Und wir müßten uns sowieso«, setzte sie hinzu, »aller emotionalen Beanspruchungen enthalten, sowohl unangenehmer als auch«, sie blickte Rigel an, »als auch angenehmer. Und erst recht der entsprechenden Betätigungen.«
»Verstanden«, sagte Rigel, »brauchst dich nicht so gewunden auszudrücken.«
»Ja, ist klar«, sagte auch Mira, und Toliman nickte.
»Wie lange würdest du einen Dauerversuch ansetzen?« fragte Toliman.
»Vierundzwanzig Stunden«, antwortete Gemma prompt. »Mit einem festen Programm, aber mit Überwachung durch den Medicom. Ich muß aber auch schlafen, nicht meinetwegen, das gehört zum Versuch, und da müßt ihr abwechselnd am Medicom bleiben. Ich weise euch vorher noch ein, worauf zu achten ist.«
»Dann fang gleich an«, sagte Toliman, »ich denke mit Sehnsucht daran zurück, wie wohl ich mich unter deiner Haube gefühlt habe. Kann man übrigens dabei arbeiten?«
»Selbstverständlich«, sagte Gemma, »wenn du dich bei der Arbeit nicht aufregst. Was meinst du, was ich heute noch zu tun habe. Ich brauche auch Rigel, wir müssen eine ganze Menge Elektronik zusammenknüppern.«
Am nächsten Tag, nach Ablauf der vierundzwanzig Stunden, war Gemma die einzige, die noch einigermaßen frisch und bei Kräften war. Zwar hatte der Selbstversuch nicht alle ihre Bedenken zerstreut, sie war nicht frei von Beschwerden, und der Medicom gab nicht etwa nur positive Auskünfte über die Wirkung auf ihren Organismus. Aber das Bild, das die andern boten, überzeugte mehr als ihr eigenes relatives Wohlbefinden: Matt und zerschlagen standen sie auf von unruhigem, immer wieder durch Schmerzen unterbrochenem Schlaf. Toliman hatte Kopfschmerzen, Mira fühlte sich hochgradig nervös, und Rigel entdeckte zu seinem Entsetzen, daß seine Hände zitterten. Trotzdem drängte keiner Gemma zur Entscheidung, und erst recht beneidete niemand sie darum, daß sie diese Entscheidung fällen mußte.
Was ihr diese schwierige Aufgabe erleichterte, war die Aussicht, daß das Maximum der Anomalie in drei, vier Tagen überschritten sein würde und man dann die Prozedur allmählich aussetzen konnte, wenigstens ihren Dauerbetrieb. Und was auch immer spätere Folgen sein mochten - im Augenblick war klar, daß sie diese Tage ohne Schutz nicht überstehen würden. Freilich, sie wurden nur vom Randfeld gestreift, während der Kapitän mitten drin gewesen war - aber er hatte das Schutzfeld gehabt, die stabilisierten Wände des KUNDSCHAFTERS; und so würden sie sehr bald an den Punkt kommen, wo sie sich ebenfalls wie seinerzeit der Kapitän in Anabiose begeben mußten, wenn sie überleben wollten. Und eben das durften sie nicht, angesichts der möglichen Gefährdung durch die Springmäuse. Sie hatten jetzt keine Wahl, sie mußten um jeden Preis aktionsfähig bleiben.
Und trotzdem war Gemma nicht bereit, jeden Preis zu zahlen. Sie nutzte die vierundzwanzig Stunden - mit Ausnahme ihrer Schlafzeit -, um alles gründlich zu durchdenken und jeden kleinen Hinweis, den ihr Selbstversuch lieferte, soweit sie irgend konnte zu berücksichtigen.
Wenn man davon absah, daß ihr Versuch eine grundlegende Erkenntnis, eine rundum zufriedene Lösung nicht geliefert hatte und wohl auch nicht hatte liefern können, bei der Begrenztheit der Mittel und der Unzulänglichkeit ihres Wissens und ihrer Erfahrung - wenn man also davon absah, war es gar nicht so wenig, was sie ihrem eigenen Empfinden und den Protokollen entnehmen konnte, vor allem, wenn sie die kurzzeitigen EEGs der anderen dazu nahm.
Beispielsweise war deutlich zu erkennen, daß der Einfluß der Resonanzen im Schlaf schwächer war oder wahrscheinlich richtiger: daß das Gehirn im Schlaf besser damit fertig wurde. Das hatte freilich auch eine andere Seite, die die Dringlichkeit einer Lösung bekräftigte: Wenn die andern schon so schlecht geschlafen hatten - wie schwer mußte erst der Tag werden, ohne Schutz! Denn Mira hatte inzwischen festgestellt, daß die Stärke der Resonanzen nicht von der Rotation des Planeten abhängig war; sie durften also nicht damit rechnen, daß die Wirkung des Randfeldes sich wenigstens etwas abschwächen würde, wenn der Planet sich zwischen ihnen und der Anomalie befand.
Sie hatte außerdem festgestellt, daß die notwendige Desynchronisation der Gehirnwellen am wirksamsten erreicht wurde, wenn die Potentiale nicht gleichzeitig mit dem Auftreten der Piks angelegt wurden, sondern eine bestimmte, sehr kleine Zeitspanne davor, und sie vermutete, daß diese Zeitspanne nicht bei allen gleich war. Sie mußte also auch die andern noch einmal je eine Viertelstunde unter die Haube nehmen, bevor sie endgültig ihre Maßnahmen bekanntgab und verwirklichte, und schon diese Viertelstunde war für jeden von ihnen eine solche Erleichterung, daß es für sie alle und auch für Gemma kein Zurück mehr gab.
Ihr Plan war kompliziert und forderte ein hohes Maß an Disziplin, aber er leuchtete allen sofort ein und wurde ohne die geringste Diskussion akzeptiert und auch gleich in die Tat umgesetzt. Folgendermaßen sah das Verfahren aus, das sie zusammengestellt hatte:
Der Medicom wurde überhaupt nicht angetastet. Jeder von ihnen bekam Elektroden, die von einem eigenen Geber mit dem der Person entsprechenden Vorlauf Potentiale erteilten, und die Geber wurden wiederum vom Resonanzdetektor gesteuert. Damit keine Verschiebungen auftraten oder damit sie, wenn sie auftreten sollten, möglichst klein gehalten werden konnten, saß immer einer von ihnen eine Stunde lang unter der Haube des Medicoms, wobei der Betreffende zu schlafen hatte, bis dann, gegen Ende der Stunde, sein Geber neu justiert wurde. Zugleich bot das eine relative Sicherheit gegen Nebenwirkungen, wenigstens gegen solche, die während der Laufzeit des Verfahrens sichtbar wurden: Der Medicom würde sie anzeigen, und Gemma behielt sich vor, in solchem Fall das Verfahren für den einzelnen oder auch für alle zu ändern. Dabei sollte jeder einmal am Tag zwei Stunden ohne Behandlung schlafen.
Die ersten zwei Tage lief das Verfahren erfolgreich. Bald fühlten sich alle bedeutend besser. Sie konnten zwar jetzt das Schiff nicht verlassen, aber sie konnten arbeiten, und wenn die Arbeit getan war, es gab jetzt nicht mehr allzuviel zu tun, konnten sie lange Debatten führen und - wohl zum ersten Mal seit der Katastrophe - gründlich alles besprechen, was sich seither ereignet hatte. Manchmal hatte der eine oder die andere kurzzeitige Phasen von Abspannung und Nervosität, aber die wurden immer schnell überwunden; jedenfalls waren sie Lappalien im Vergleich zu der Belastung, die sie vorher verspürt hatten.
Die Anomalie schien jetzt wirklich ihr Maximum erreicht zu haben, die Amplitude der Resonanzen wuchs nicht mehr, sondern war schon zwanzig Stunden gleich geblieben, und sie sahen nun schon stündlich nach, ob sie nicht bald zu sinken anfing.
Am dritten Tag aber machte Gemma sich Sorgen. Was sie störte und beunruhigte, wurde zuerst im Medicom sichtbar. Einen halben Tag danach spürte es der eine oder andere schon gelegentlich. Obwohl die Intensität des Randfeldes nicht mehr anstieg, ließ die desynchronisierende Wirkung der Potentiale allmählich nach.
Als Rigel um ein Beruhigungsmittel bat, schüttelte Gemma den Kopf und biß sich nervös auf die Lippen. Wollte denn dieses verdammte Randfeld nicht endlich schwächer werden? Und wenn es im Gegenteil stärker würde? Aber nein, Mira hatte gesagt. Doch auch Mira hatte nur vage Rechnungen.
Beide Zugänge mit Steinen versetzen, alle in die Anabiose gehen und die Mäuse Mäuse sein lassen? Das blieb ihnen immer noch. Nein, sie waren noch nicht am Ende. Rigel hatte recht - Sedativa. Als sie mit der Elektrobehandlung begann, hatte sie die Beruhigungsmittel abgesetzt. Wenn man sie jetzt zusätzlich einnahm. Warum weiß ich so wenig, so verdammt wenig? Und was soll das dauernde Verdammt, ist doch sonst nicht mein Lieblingswort, also ruhig, ruhig, überlegen. Was denn überlegen? Ach ja, die Pillen. Es gab drei Möglichkeiten: Entweder sie unterstützten die Elektrobehandlung und halfen ihnen wieder ein Stück weiter, oder sie wirkten entgegengesetzt und verschlimmerten alles. Oder, drittens, sie bewirkten gar nichts.
Wenn doch die ALDEBARAN käme, dachte Gemma in einem Anfall von Mutlosigkeit. Aber nein, sie kann noch nicht kommen, jetzt noch nicht, in einer Woche vielleicht, und bis dahin.
Ich werde - dachte Gemma, und dann gebot sie sich Einhalt. Sie hatte sich eben zu einem weiteren Selbstversuch entschließen wollen, mit Beruhigungstabletten, aber plötzlich fragte sie sich, ob sie sich nicht zu schnell entschlösse, ob sie denn wirklich alles durchdacht habe. Siebenmal messen, einmal abschneiden. Daß die Wirkung der Behandlung nachließ, mußte doch einen Grund haben. Die Anomalie hatte sich nicht verändert, die Potentiale hatten sich nicht verändert. Also mußte das Gehirn sich verändert haben. Nicht spezifisch, sondern bei allen gleich. Na klar, ihre Köpfe waren erschöpft, sie leisteten ununterbrochen Schwerstarbeit, da mußte ja. Aber dann waren Beruhigungsmittel genau das Falsche! Das Gegenteil war nötig!
Und war das nun genügend durchdacht? Das Gehirn, das so schon mit höchster Leistung arbeitete, noch weiter anzutreiben? Wieder empfand sie schmerzhaft ihre Begrenztheit; ganz gewiß würde sie, wenn man sie hier herausgeholt haben würde, studieren, bis ihr der Kopf rauchte, aber das nützte jetzt gar nichts. Sie mußte mit dem Wissen auskommen, das sie hatte, und denken. denken. Wenn sie die Elektrobehandlung nicht hätte, würde sie wahrscheinlich überhaupt nicht nachdenken können. Na eben, das bedeutete doch, daß die Behandlung zugleich Belastung und Entlastung war; oder anders: Die Belastung war spezifisch, erfaßte nicht das ganze Hirn, sondern nur Teile, Teilsysteme; welche, wußte sie nicht, aber ein Anregungsmittel würde das ganze Gehirn aktivieren, und eventuell verteilte das auch die Belastung auf die Nachbarsysteme. Vielleicht Unsinn, aber es war doch einen Versuch wert. Einen Versuch womit? Mit einem schwachen Mittel zunächst, es kam ja erst einmal darauf an festzustellen, ob überhaupt eine Wirkung eintrat.
Rigel saß jetzt unter der Haube des Medicom. Gleich war sie dran. Sie stand auf und tippte ihm auf die Schulter. Dann wechselten sie.
»Rigel, mach mir bitte eine Tasse Tee!« sagte Gemma.
»Was? Was soll ich dir machen?«
»Unter den ganz eisernen, ganz geheimen Reserven unserer Küche befindet sich eine Büchse schwarzer Tee, im Fach C drei ganz hinten.«
Der Tee schien Zauberkraft zu besitzen. Er bewirkte, daß die Elektrobehandlung wie bisher anschlug, und steigerte sogar ihr Wohlbefinden. Auch als sie nach einer Stunde die Haube des Medicom weitergab, hatte die Wirkung nicht nachgelassen. Gemma verordnete daraufhin für jeden, der unter die Haube ging, eine Tasse Tee.
Die Stimmung unter den Gefährten war schon tagelang nicht mehr so gut und fröhlich gewesen wie heute. Nur zum geringeren Teil war das ein Ergebnis des Wohl- oder richtiger: des Besserbefindens. Sie alle bewunderten Gemma; nicht, daß sie ihr wenig zugetraut hätten; aber nicht einmal Rigel, geschweige denn Toliman hätten gedacht, was in ihr steckte und jetzt hervortrat, wie sie mit sicherer Hand und ohne Aufhebens in dieser Situation die rettende und führende Rolle im Kollektiv spielte. Einzig Mira hatte seit langem etwas davon geahnt, und sie freute sich deshalb um so mehr. Rigel war selbstverständlich unbändig stolz auf Gemma, und auch Toliman fühlte sich in gewisser Weise bestätigt - es war richtig gewesen, daß er sich schon einmal, bei der Exerzise, Gemmas Führung anvertraut und sie dann auch im folgenden nicht mehr gehemmt hatte; das trug gewiß dazu bei, daß sie jetzt tun konnte, was sie tat.
Nur Gemma war sich klar darüber, daß auch der Tee lediglich eine schnell vorübergehende Hilfe sein konnte. Schon morgen - wenn sich sonst nichts änderte - dürfte er nicht mehr die Wirkung haben wie heute, dann mußte sie stärkere Mittel einsetzen, die Eskalation war unvermeidlich, und sie konnte nur darauf hoffen, daß ja nun bald die Intensität der Anomalie nachlassen mußte.
Trotzdem war sie wie gewöhnlich guter Dinge; aber mit einer für sie neuen Hellsichtigkeit erkannte sie, daß sich da etwas in den Kollektivbeziehungen umgekehrt hatte: Früher war sie es gewesen, die die anderen aufheiterte - jetzt war es umgekehrt. Vielleicht, weil sie in dieser Lage tonangebend war, so wie damals Toliman tonangebend gewesen war? Eigentlich ganz einfach: Wer die Einsicht hatte, der hatte auch die Sorgen und der bedurfte am meisten der Ermunterung.
Der nächste Tag aber brachte neue Einsichten, die ihre Sorgen zwar noch nicht zerstreuten, aber doch minderten. Der Resonanzdetektor zeigte an, daß die Intensität des Randfeldes nachließ.
Selbstverständlich hatten sie auch während des Maximums die Instrumente abgelesen, ab und zu einen Blick auf das Panorama geworfen, das die Ballonkamera lieferte und überhaupt die dringlichsten Außenarbeiten, soweit sie nicht stundenlang dauerten, erledigt. Sie hatten keine weiteren Farbveränderungen in den Schneisen im Süden festgestellt, es schien also, daß die Springmäuse nicht weiter vormarschierten, sei es nun, daß ihre Zeit noch nicht gekommen war, sei es, daß sie ebenfalls durch das Randfeld beeinflußt waren. Nun aber, da die Wirkung auf die Hälfte abgeklungen war, dunkelten sich die Schneisen auf dem Bild fortschreitend ab - offenbar waren die Mäuse auf dem Vormarsch und fraßen dabei die Vegetation auf.
Das Wetter war im wesentlichen gut, und auch das Biest war wieder zum Schiff gekommen und nahm seine Bohnen in Empfang. Aber es war immer noch unruhig oder besser: wieder und auf andere Art. Gemma schien es, als wolle das Biest sie nach Norden locken. Es entfernte sich auch nicht mehr nach Süden, und es kam immer zögernder bis zum Schiff. Gemma war ganz sicher, daß dieses Verhalten mit den Mäusen zu tun hatte; sie wußte nur nicht, ob das Biest schon irgendwelche Signale über deren Annäherung erhielt oder ob es einfach instinktiv, der Jahreszeit entsprechend reagierte.
Und dann, eines Morgens, kam das Biest nicht mehr bis zum Schiff. Es blieb etwa hundert Meter weiter nördlich stehen und zischte. Gemma ging zu ihm hin und gab ihm Bohnen. Das Biest legte Hals und Kopf auf den Boden, eine Aufforderung an Gemma aufzusteigen. Und als Gemma das nicht tat, erhob sich das Biest, schwenkte den Hals hin und her, drehte sich um, galoppierte ein Stück, sah dann noch einmal zurück und lief weiter. Gemma winkte ihm nicht nach, um es nicht zu irritieren, aber sie wußte, daß das der Abschied war. Als sie zu den andern zurückkam, lächelte sie traurig und abwesend, als müsse sie um Entschuldigung bitten, daß ihr die Trennung naheging.
Mira legte ihr den Arm um die Schultern. »Es war doch für uns alle ein Freund«, sagte sie, »obwohl es ausgerechnet dich adoptiert hat. Geholfen hat es uns allen. Auch jetzt wieder. Sieh mal hier!«
Das Bild der Ballonkamera zeigte, daß sich schon fast die ganzen Schneisen dunkel verfärbt hatten. Die Springmäuse mußten bereits einige Kilometer vor dem Rand des Gebirges stehen.
»Zwei Dinge müssen wir herauskriegen«, sagte Gemma betont sachlich, »wie schnell die Mäuse jetzt marschieren und ob sie das auch nachts tun.«
»Richtig«, schaltete sich Toliman ein, »das ist das Wichtigste. Aber besser wäre es, wenn wir noch viel mehr wüßten.
Hast du nicht wenigstens noch ein paar Annahmen? Und wenn es nur Spekulationen sind? Es wird sich ja dann herausstellen, was davon stimmt oder nicht. Und überhaupt.« Er verstummte.
»Was überhaupt?« fragte Mira.
»Ich bin mir über unsere Arbeitsteilung noch nicht klar«, sagte Toliman leise. »Aber laßt erst mal Gemma sprechen.«
»Ich hab mir natürlich dauernd Gedanken gemacht über diese Tiere«, erklärte Gemma. »Ich stelle mir vor, daß der Zug durch die Täler, die mal enger und mal weiter sind, einen so großen Druck ausübt, daß alle sozialen Beziehungen zwischen ihnen unwirksam werden und nur noch der Zuginstinkt wirkt. Wahrscheinlich sogar stärker als der Freßinstinkt. Hm, und dann noch was. Ich sehe noch die eine Maus auf dem großen Stein sitzen, erinnerst du dich, Toli? Man könnte auf den Gedanken kommen, daß sie einzeln oder auch in kleinen Gruppen Hindernisse überspringen oder umgehen. Auf der andern Seite sagen die beiden Täler und auch die Schlucht und das enge Tal etwas anderes aus. In ihnen gibt es keine Hindernisse mehr, keine kleinen und nur sehr wenig große Steine. Es scheint also, wenn der Zug seine volle Stärke erreicht, werden die Mäuse aggressiv gegen jedes Hindernis.«
»Das ist aber sehr wichtig!« rief Toliman.
»Ja, genau«, sagte auch Rigel. »Und deshalb sollte Gemma bei dieser Geschichte die Leitung übernehmen!«
»Nein, im Gegenteil«, widersprach Toliman, »warte, ich erklär es gleich, mir ist jetzt die notwendige Arbeitsteilung klargeworden. Also Gemma. Gemma ist die wichtigste Person. Da wir so wenig über die Mäuse wissen, müssen wir während des Zuges möglichst viel über sie lernen. Nur Gemma kann sie genau sehen und so schnell Schlußfolgerungen ziehen, wie es nötig ist. Deshalb sollte sie durch nichts davon abgelenkt werden. Gemma wird beobachten, nachdenken und nur im allerschlimmsten Notfall in die Operation eingreifen. Die Technik, die vorbereiteten Maßnahmen, das ist dein Gebiet, Rigel. Ich leite. Mira wird uns versorgen, einspringen, wo es nötig ist, und vor allem das Wichtigste tun, was es sonst noch gibt.« Er lächelte.
»Und das wäre?« brummte Rigel, der wohl einsah, daß Toliman recht hatte, aber nur ungern seinen Vorschlag fallenließ.
Mira wußte, was Toliman gemeint hatte. »Darauf achten, ob die ALDEBARAN sich meldet.«
Am Abend wußten sie, daß die Mäuse das Gebirge fast erreicht hatten. Selbst wenn sie weitermarschieren sollten, und auch, wenn sie das mit erhöhter Geschwindigkeit täten, würde die Spitze nicht vor morgen früh das Schiff erreichen. Sie hatten noch eine Nacht, die ihnen gehörte, in der sie einander gehörten.
Für Mira und Toliman war es die Sorge um den anderen, die sie dazu brachte, sehr behutsam miteinander umzugehen, so behutsam, daß sie nicht die kleinste Möglichkeit der Steigerung ausließen oder übersprangen, daß jeder beim andern die leiseste Reaktion erhaschte und verstand und auf fast ebenso leise Art belohnte.
Hinterher waren sie nicht von der üblichen satten Müdigkeit beherrscht, sondern heiter und ausgelassen, als stünde ihnen nicht der vielleicht schwerste Kampf seit der Katastrophe bevor, sondern eine Urlaubsreise in die Flitterwochen. Sie unterhielten sich über Freunde und Bekannte an Bord der ALDEBARAN, über den weiteren Flug, über tausend Dinge - eine grundsätzliche Erklärung war nicht mehr nötig, sie spürten beide, daß die Frage ihrer zukünftigen Beziehungen entschieden war, und dennoch drängte diese Entschiedenheit zum Wort.
Toliman hielt den Kopf etwas erhoben und sah zu Mira hinüber. Es war nicht so stockfinster wie sonst, die Lämpchen der Funkanlage, die in Betrieb bleiben mußte, warfen einen schwachen, glimmenden Schein in den Raum, die an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten die Umrisse des anderen ahnen.
Mira beugte sich zu ihm, nahm das Kopfkissen und packte es ihm unter den Kopf.
»Warum müssen einem alle Frauen fortwährend Kissen unter den Kopf schieben?«
»Kennst du denn so viele?« wollte Mira wissen.
Toliman lachte leise. »Genügt es nicht, wenn ich dich kenne?« fragte er.
»Ja«, antwortete Mira. Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Mir genügt es ja auch, wenn ich dich kenne.«
So war auch das endlich ausgesprochen.
Der erste schwache Schein der Dämmerung weckte sie. Gemma schaltete sofort alle Bildschirme ein und berichtete dann: »Sie sind weiter vorgerückt, aber langsamer als am Tage. Sie haben das Gebirge erreicht. In der Schlucht - nein, in der Schlucht sind sie noch nicht. Oder doch? Da bewegt sich etwas.. ein paar, eine kleine Gruppe, aber noch nicht der große Zug. Und im Tal?«
Unwillkürlich blickten alle nach draußen, dort war es noch finster, während die Schlucht am Südende des Tals wegen ihrer Ost-West-Richtung schon teilweise hell war.
»Ich geh mal raus und inspiziere noch mal alles«, sagte Rigel.
»Aber nur im schweren Schutzanzug!« forderte Toliman.
Rigel winkte ab - selbstverständlich.
»Ich mache Frühstück!« sagte Mira.
»Aber ein kräftiges!« verlangte Toliman. Mira nickte - wer konnte wissen, ob sie mittags zum Essen kommen würden.
»Guten Morgen, ihr Bestien!« sagte Rigel draußen.
»Schon da?« rief Toliman.
»Einzelne«, antwortete Rigel. »Sehen aber ganz harmlos aus. Ulkige Viecher.«
»Komm rein!« verlangte Toliman.
»Einen Augenblick noch«, bat Gemma. »Was tun sie?«
»Nein«, sagte Toliman, »Rigel soll hereinkommen, geh selbst hinaus, und sieh sie dir an - du kennst sie schon besser.«
Gemma sprang so flink hinaus, als hätte sie nur auf Tolimans Weisung gewartet. Sie freute sich ja auch wirklich darauf, zum ersten Mal diese merkwürdigen Tiere mit Muße betrachten zu können.
Die Springmäuse bewegten sich in vereinzelten Gruppen durch das Tal nach Norden, allerdings weniger springend als laufend. Gemma ließ drei von diesen Gruppen vorüberziehen, sie betrachtete sie aus etwa zwei Meter Abstand, die Tiere nahmen von ihr keine Notiz. Es waren einmal sieben, einmal acht, dann sechs Tiere in einer Gruppe. Manchmal blieb eins stehen und fraß etwas, meist eins der vorderen, doch wenn die anderen kaum vorbei waren, machte es einen Satz vorwärts und schloß sich wieder der Gruppe an. Es mochte sein, daß es sich um Familien handelte, die sich im Sommergebiet gebildet hatten und an der Spitze des Zuges, ohne den Druck der Masse, noch stabil blieben, aber das war nicht zu überprüfen, die Tiere waren alle gleich groß. Über jeder Gruppe lag ein leiser, kaum störender Pfeifton, und das alles war so freundlich anzusehen, die Tierchen wirkten so possierlich, daß Gemma einen Augenblick lang das Gefühl hatte, sie könnten unmöglich eine so große Gefahr darstellen, wie sie bisher vermutet hatten.
Das einzelne Tier sah wirklich einer Maus ähnlich, einer sehr großen Maus freilich. Nur anstelle der Nase schien es eine Art Dorn zu haben, eine Spitze, einen nach außen gewachsenen Zahn vielleicht, denn diese Spitze war heller als das Fell. Vielleicht bohrten die Tiere die Spitze in ihre Nahrung, ob pflanzlicher oder tierischer Art, blieb dahingestellt, und dann floß das Gift hinein und bewirkte eine Art Vorverdauung wie bei manchen Insekten auf der Erde? Vermutlich war der Stachel so hart, daß er damals ihre Helmscheibe minimal angeritzt und damit der Säure Zugang verschafft hatte. Ja, dieser Freßmechanismus und die Masse der Tiere - das waren wohl die Quellen ihrer Gefährlichkeit.
Es dauerte noch zwei Stunden, bis das Telebild aus der Schlucht einen kompakten Strom der Springmäuse zeigte. Am Übergang von der Schlucht ins Große Tal, von dem sie ebenfalls ein Bild hatten, zerstreute sich dieser kompakte Strom aber sofort und löste sich auf in einzelne Gruppen; ein Vorgang, der Gemma außerordentlich interessierte. Anfangs fiel es ihr schwer, in dem Gewimmel überhaupt irgend etwas zu erkennen, aber nach ein paar vergeblichen Versuchen gelang es ihr, den Prozeß der Gruppenbildung einigermaßen zu verfolgen. Es waren immer benachbarte Tiere, die eine Gruppe bildeten, aber nicht immer und niemals ausschließlich die unmittelbar einander benachbarten Tiere. Gemma konnte mehrmals beobachten, daß ein einzelnes Tier sich offenbar geirrt hatte und von der zuerst gewählten Gruppe abschwenkte und einer anderen zustrebte.
»Wann sprengen wir?« fragte Rigel ungeduldig.
»Noch nicht«, sagte Gemma, »noch ist genügend Platz im Tal, daß die Tiere sich in Gruppen ordnen können, und dann sind sie nicht gefährlich.«
»Je später, um so besser!« meinte auch Toliman.
Aber während Toliman von gewissermaßen strategischen Erwägungen ausging, hatte Gemma noch einen anderen Grund für ihr Zögern. Ihr war der Gedanke unerträglich, die Felsmasse des Wachhundes oben über der Schlucht auf den Zug hinabstürzen zu lassen und damit Tausende dieser Tiere zu töten. Sie wußte selbstverständlich, daß das über kurz oder lang doch geschehen mußte, aber die Vorstellung bewirkte schon jetzt, daß sie ein würgendes Gefühl im Hals spürte. Zum Glück waren die anderen Mittel, die sie noch einzusetzen hatten, weniger brutal. Feuer und Wasser würden die Tiere wohl umgehen können.
Und plötzlich schrie Mira auf. Alle fuhren herum und sahen zum Ausgang, aber da war nichts - dann zu Mira, und die wies mit der ausgestreckten Hand auf ein glimmendes Lämpchen: Funkempfang!
Mira, die es zuerst gesehen hatte, hatte sich auch als erste gefaßt. Sie schaltete ein. Doch der Jubel blieb ihnen im Halse stecken: Nur Kratzen und Rauschen kam aus dem Decoder. Ein, zwei Sekunden lang sahen sich alle betreten an. Der Lärm schien aber rhythmisch gegliedert zu sein. Gemma als Funkerin verstand den Sachverhalt als erste, sie lachte laut und herzlich auf, befreit von der Sorge, dann übersetzte sie:
»... ERREICHEN EUCH IN DREI TAGEN. ENDE. Menschenskinder, wir haben doch auch im Morsealphabet gesendet! Jetzt, Wiederholung: ALDEBARAN AN KUNDSCHAFTER EINS. NACHRICHT EMPFANGEN. ERREICHEN EUCH IN DREI TAGEN. ENDE. Wir haben’s geschafft! Wir haben’s geschafft! Wir haben. jetzt noch mal: ALDEBARAN AN KUNDSCHAFTER EINS. NACHRICHT EMPFANGEN. ERREICHEN EUCH IN DREI TAGEN. Halt, jetzt kommt noch was: DIESE SENDUNG WIRD IN FÜNF STUNDEN WIEDERHOLT UND ERGÄNZT. ENDE.«
Alle schwiegen. Gemma, die eben noch gejubelt hatte, bezwang sich, weil sie wußte, daß sie sich jetzt wieder mit ungebrochener Aufmerksamkeit den Mäusen zuwenden mußte. Rigel lächelte breit und etwas unsicher, weil die anderen schwiegen. Mira war merkwürdigerweise sogar ein wenig beklommen zumute. Toliman ging schließlich zum Empfänger und schaltete ihn ab.
»In fünf Stunden schalten wir wieder ein«, sagte er. »Wir werden den ganzen Rest an Energie brauchen, wenn sie in der Umlaufbahn sind. Und jetzt - Gemma, hast du nicht etwas zum Anstoßen versteckt?«
Mira wurde plötzlich fröhlich. Toliman ist nicht zu brechen, dachte sie. Er weiß immer, was als nächstes zu tun ist.
»Ich hab nichts versteckt«, sagte Gemma etwas ratlos.
»Aber der Kapitän hat«, sagte Toliman schmunzelnd, »und ich weiß auch wo. Daß ihr nicht denkt, er hätte mich dabei ins Vertrauen gezogen, ich hab sie zufällig entdeckt!« Er kletterte in einen Ring, der halbhoch stand, und mit der Gebärde eines Zauberers zog er eine Flasche Sekt aus den unergründlichen Tiefen der Armaturenschränke - Originalabfüllung von der Erde!
»Auf die Erde!«
»Auf die Erde!«
Sie schwiegen zwei, drei Minuten, während sie in kleinen Schlucken tranken. Zwar hatten sie dazu nur ihre Plastbecher, aber für sie war das Getränk ungewöhnlich genug, sie fühlten sich auch ohne Kristallgläser feierlich und würdevoll.
Dann runzelte Toliman die Stirn und sagte: »Drei Tage. Wir müssen mit unseren Waffen haushalten.«
Am Ausgang der Schlucht hatte sich die Situation inzwischen verändert. Auf dem Bildschirm konnten sie sehen, daß die Masse der Mäuse schneller nachdrängte, der Strom löste sich jetzt nicht auf beim Übergang ins Tal, anscheinend hatte die Hauptmasse der Tiere jetzt das Gebirge erreicht, und der Druck der Nachrückenden wurde zu groß.
»Ich glaube, ihr müßt jetzt sprengen«, sagte Gemma unsicher und wandte sich ab.
Toliman sah erstaunt zu ihr hin, aber Mira, die sie besser verstand, nickte ihm beschwörend zu.
»Rigel!« sagte Toliman.
Rigel schien diese Operation nichts auszumachen, er hatte wohl noch gar nicht darüber nachgedacht, was da jetzt vor sich gehen würde. Aber als er die Felsmasse des Wachhundes in die Schlucht stürzen sah, dann die Staubwolke, die hochwallte und sich nur langsam zu senken begann, kniff er doch die Augen zusammen.
In der Umgebung des Raumschiffs machte sich die Sprengung zunächst nicht bemerkbar. Der Zug der Springmäuse nahm noch an Dichte zu. Alle vier beobachteten und stellten dies und das fest und machten einander sachlich Mitteilung über das Gesehene und Festgestellte, ohne sich in die Augen zu blicken. Allmählich aber sahen sie ein, daß diese Handlung, deren Folgen sich vorher keiner so konkret vorgestellt hatte, Gemma vielleicht ausgenommen - daß also diese Sprengung unumgänglich gewesen war. Denn nun geschah es zum ersten Mal, daß die Mäuse vom Schiff Notiz nahmen - auf ihre Art: Diejenigen, die unmittelbar darauf zuliefen, konnten nicht mehr seitlich ausweichen, ohne mit anderen ins Gedränge zu geraten, und da sprangen sie das Schiff an. Bis zu einem Meter hoch sprangen sie, und es dauerte nur eine halbe Stunde, bis die durchsichtige Wandung sich an den am stärksten angegriffenen Stellen zu trüben begann.
»Ob das noch drei Tage hält?« fragte Rigel skeptisch, und er fand auch gleich eine Antwort: »Vielleicht, wenn wir die Wand von innen her verstärken, mit Kleber und Folie.«
»Zündet den ersten Haufen an!« sagte Gemma entschlossen.
»Noch vier Stunden bis zum Dunkelwerden!« wandte Toli- man ein.
Gemma überlegte laut. »Heute werden sie nicht mehr in voller Stärke über die Barriere kommen, in der Nacht auch nicht. Aber der Druck wird jetzt noch etwa eine Stunde anhalten, und bis dahin fressen sie uns vielleicht den Haufen auf!«
»Gut«, stimmte Toliman zu.
Rigel zündete über Funk den Brandsatz im ersten Holzstapel. Bald darauf loderte das Feuer auf.
Sie konnten freilich nicht genau beobachten, was dort bei dem brennenden Stapel geschah, denn gerade die entscheidende Stelle, wo die Mäuse frontal auf das Feuer stießen, lag auf der anderen Seite, aber der Druck des Zuges auf das Schiff ließ jedenfalls nach, jetzt sprangen keine Mäuse mehr die Außenwand an. Und Gemma hatte richtig geschätzt - nach einer knappen Stunde hatte sich der einheitliche Strom der Mäuse aufgelöst, sie wanderten wieder in Gruppen vorbei, zwischen denen genügend Platz zum Ausweichen war. Die schwelenden Reste des ersten Stapels, der zweite, noch unversehrte, und auch das Schiff blieben unbeachtet. Und über die Felsbarriere in der Schlucht, wo der Steinstaub sich jetzt vollständig gesenkt hatte, kamen lange Zeit überhaupt keine Mäuse; erst kurz vor Sonnenuntergang tauchten vereinzelte Tiere auf.
Die Nacht über hatten sie abwechselnd schlafen können, die Mäuse waren zwar weiter vorgerückt, aber langsam und ohne Aggressivität. Und selbstverständlich hatten sie die regelmäßigen Sendungen der ALDEBARAN empfangen, hatten erfahren, daß das Mutterschiff dank ihrer Warnung der Gefahr entronnen war und heute den zweiten KUNDSCHAFTER starten würde, um sie schneller zu erreichen. Auch die genaue Zeit seines Eintreffens kannten sie nun - nach ihrer Zeitrechnung in zwei Tagen, kurz vor dem Mittag, würde er in die Umlaufbahn einschwenken, sie sollten, wenn sie dazu in der Lage wären, Peilzeichen geben, da ihr genauer Standort auf dem Planeten tatsächlich nicht empfangen worden war. Am vierten Tag des Mäusezugs also, falls der so lange anhalten würde.
Gegen Vormittag hatten die Mäuse die massive Sperre in der Schlucht endgültig überwunden, wie, das konnte man nur vermuten; jedenfalls quollen sie wieder in ständig dichter werdendem Strom aus der Schlucht hervor.
Mittags wiederholten sie die Erfahrungen des Vortags. Die Mäuse sprangen das Schiff an, und wieder brachte der Brand des zweiten Stapels ein paar Stunden Entlastung.
Dann aber, am Nachmittag, machten die Mäuse zum ersten Mal den Versuch, den hinteren, nur halb mit Steinen zugesetzten Ausgang des Schiffs zu attackieren. Bisher hatte sich ihr Zug erst ein paar Meter hinter dem Schiff wieder vereinigt, ein kurzes Dreieck war frei geblieben, doch nun wurden erst einzelne Mäuse in diese Fläche förmlich hineingedrückt, dann aber kreiselten sie vor dem Eingang fast wie Wirbel, die sich in einer strömenden Flüssigkeit hinter einem Hindernis bilden. Fast alle griffen die Steine an, und ungefähr jede zehnte Maus sprang hoch; zwar erreichten sie den freien Raum zwischen Steinhaufen und Schleusendecke nicht, aber der nächste Sprung hätte sie ins Innere des Schiffs gebracht, wenn die beiden Männer sie nicht mit Strauchbesen zurückgestoßen hätten. Das ging so eine Stunde lang. Schweigend und verbissen und auch schon schwitzend arbeiteten die Männer, sie hatten nun schon die zweite Garnitur Besen, Rigel und Gemma hatten vorher ein Dutzend davon hergestellt, aber wie es jetzt aussah, würde das nicht einmal reichen - da war ihnen eine durchgeschlüpft, war im Schiff gelandet, sprang hierhin und dahin und blieb schließlich auf einem niedrigen Pult sitzen.
»Kümmert euch nicht darum, ich mach das«, sagte Gemma. Die beiden Männer hatten sowieso keine Zeit, und Mira war das sehr recht, sie ekelte sich vor dem Tier.
Sie trugen alle seit Beginn des Zuges Schutzanzüge. Gemma zog jetzt die Helmscheibe herab und ging langsam auf die Maus zu. Als sie noch einen halben Meter entfernt war, sprang ihr das Tier gegen die Scheibe, Gemma hatte damit gerechnet, griff zu und hielt die Maus in den Händen. Es war gar nicht so einfach, mit Handschuhen fest und doch nicht zu fest zuzufassen, aber es gelang ihr. Erst dann merkte sie, daß an ihrer Scheibe diesmal kein Flüssigkeitstropfen klebte, und eine Idee überraschte sie so sehr, daß sie die Maus fast wieder losgelassen hätte. Mit dem Ärmel schob sie das Visier wieder hoch, warf dann das Tierchen zwischen Toliman und Rigel hindurch ins Freie und rief ihm nach: »Danke, Mäuschen!«
»Hat sie dir was erzählt?« fragte Toliman.
»Ja, sie hat mir was erzählt«, antwortete Gemma ernsthaft, »aber jetzt lösen wir euch erst mal ab.«
»Du sollst - verdammtes Vieh - nein, nicht du, selbstverständlich - du sollst beobachten.«
»Eine Minute Handeln hat mir mehr eingebracht als ein Tag passives Zugucken«, widersprach Gemma, »gib schon her!«
Toliman gab seinen Besen ab, auch Mira kam und nahm den Besen von Rigel. »Ruht euch erst mal aus«, sagte sie, »und eßt etwas.«
Anfangs machte dieses seltsame Mäusefegen den Frauen beinahe Spaß. Nach ein paar Minuten hatten sie sich in den
Rhythmus gefunden, ihre Bewegungen waren fließend geworden, und so fanden sie sogar Zeit, sich zu unterhalten.
»Was hat dir die Maus erzählt?« wollte Mira wissen.
»Sie hat mich über die einfachste Abwehrmöglichkeit aufgeklärt. Daß ich nicht selbst darauf gekommen bin!«
»Und worauf, willst du noch nicht verraten?«
»Du wirst selbst drauf kommen, paß auf!« Gemma dirigierte ihren Besen ein paar Augenblicke lang mit einer Hand, nahm mit der anderen einen Stein und warf ihn hinaus, so daß er einen halben Meter vor der Barriere lag. »Was siehst du?«
»Naaa«, sagte Mira gedehnt, »die Mäuse greifen den Stein an.«
»Welche?«
»Anscheinend alle, die gegen ihn stoßen. Sie stupsen ihn an und verspritzen ihr Gift.«
»Ja«, sagte Gemma. »Und dann ist ihre Giftdrüse leer.«
»Woher weißt du das?« fragte Mira überrascht.
»Die mich angesprungen hat da drinnen, die hatte kein Gift mehr.«
»Toll«, sagte Mira. »Und in ein paar Minuten werden sie bestimmt die Drüse nicht wieder füllen können. Und dann sind sie schon weitergezogen. Man müßte also.« Sie überlegte.
»Genau«, sagte Gemma. »Morgen früh machen wir das; am Anfang, wenn der Zug wieder auf Tempo kommt, da ist eine Viertelstunde, wo sie wieder in kleinen Gruppen vorbeiziehen. Dann holen wir Steine von oben und verteilen sie rund um das Schiff.«
»Nein, nicht rund«, widersprach Mira, »an den Seiten brauchen wir keine, dort wird das Schiff nicht angegriffen - davor und dahinter.«
»Gut, und wir müssen noch ausprobieren, welche Anordnung und welche Abstände die günstigsten sind.«
Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Dann fragte Mira: »Wieso klettern die eigentlich hier hoch? Das ist doch entgegengesetzt ihrer Zugrichtung?«
»Vielleicht haben sie die Orientierung verloren?« sagte Gemma. »Oder halt, nein, das ist Unsinn. Die Zugrichtung ist eine generelle Orientierung, lokal stärker wirkt wahrscheinlich der Druck der Nachdrängenden. Normalerweise in Zugrichtung. Aber bei Hindernissen auch um sie herum. Dadurch werden gewöhnlich Hindernisse beseitigt und die allgemeine Zugrichtung wieder hergestellt. So wird es sein. Der Zug als selbstregulierendes System.«
»Mein Besen ist schon wieder fast hin!« schimpfte Mira. »Na eben«, sagte sie dann überrascht, »die Mäuse, die hier oben ankommen, haben immer noch Gift!«
»Ja, ja«, sagte Gemma nachdenklich, »achte doch mal mit auf folgendes: Welche Mäuse springen, welche klettern, und was geschieht mit denen, die wir hinunterfegen?«
Eine Weile später waren sie sich einig: Die ersten, die auf ein Hindernis stießen, griffen es an, die nächsten kletterten über sie hinweg und taten das gleiche, falls sie da noch etwas zum Angreifen vorfanden, und von den übernächsten kletterten einige wiederum, und ein paar, wahrscheinlich die stärksten, sprangen. Und die hinabgefegten und auch andere, die ihr Gift verspritzt hatten, wichen anscheinend seitlich aus und ordneten sich wieder in die allgemeine Zugrichtung ein, aber das konnte man nicht mehr so genau verfolgen, dazu war das Gewimmel am Fuß des Steinhaufens zu groß.
Wieder arbeiteten sie eine Weile schweigend. Die ständigen, schnellen Bewegungen und die ununterbrochene Aufmerksamkeit, die das graue Gewimmel erforderte, strengten nun doch schon sehr an. Vor allem merkten sie jetzt, daß der andauernde Pfeifton sie entnervte.
»He, Männer!« rief Gemma schließlich. Die beiden kamen heran.
»Sollen wir den Stau sprengen?« fragte Toliman.
»Nein, den heben wir uns für morgen auf«, sagte Gemma.
»Macht doch mal folgendes: Nehmt zwei Dutzend Steine von der Reserve und werft sie so hinaus, daß sie vereinzelt in einem Halbkreis einen Meter um den Rand des Steinhaufens liegen. Und wenn ihr das getan habt, gebt uns neue Besen.«
Das war in ein paar Minuten getan. Die erste Wirkung war verblüffend - nur noch ab und zu kam eine Maus bis hoch an den oberen Rand des Steinwalls. Und eine Viertelstunde später wußten sie auch: Die Mäuse, die noch bis da hinaufkamen, hatten kein Gift mehr, die Besen blieben unversehrt.
»Wie bist du bloß darauf gekommen!« staunte Toliman, und Rigel sagte: »Na, dann wäre ja das Problem gelöst!«
»So sicher bin ich da nicht«, sagte Gemma zweifelnd, »ein so stabiler Zug hat sicherlich noch mehr Regelmechanismen. Aber erst mal wird es uns ein Stück weiterhelfen. Für heute reicht es jedenfalls. In einer Stunde wird es dunkel.«
Die letzten Tage über war der Himmel wechselnd bewölkt gewesen, und es hatte kaum geregnet. In der Nacht jedoch fing es an zu gießen, und das brachte eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich.
Die gesammelte Energie reichte für einen Funkspruch an den KUNDSCHAFTER ZWEI, morgen, wenn er sich auf der Umlaufbahn befinden würde. Nun allerdings würde der Zuwachs minimal werden, für einen zweiten Spruch würde es nicht reichen. Doch das störte sie am wenigsten.
Unangenehmer war schon, daß auch die Mäuse auf den Regen reagierten. Während sie sonst nachts nur langsam vorgerückt waren, kam der Zug jetzt schon beim Morgendämmern in Gang, zwar noch nicht so schnell wie am Tage, aber doch geschlossen. Gemmas Vorhaben war schwierig geworden. Aber das half nun nichts. Sie mußten eben Angriffe der Mäuse in Kauf nehmen, im Schiff würden sie ja den schweren Anzug nicht unbedingt brauchen.
Toliman, Rigel und Gemma kletterten hinaus, Mira blieb drin, einer mußte auf jeden Fall den Zugang bewachen.
Hier und da waren doch noch ein paar leere Stellen im Zug, und es gelang den Raumfahrern, sich zum Hang vorzuarbeiten, ohne daß sie allzu oft angegriffen wurden. Hier aber erwartete sie nun die dritte Schwierigkeit: Sie kamen in ihren schweren Anzügen nicht hinauf, der Regen hatte den Fels so glatt gemacht, daß sie immer wieder zurückrutschten. Ein bequemerer Aufgang befand sich zwar einen Kilometer abwärts, aber den konnten sie jetzt nicht mehr aufsuchen, der Zug wurde dichter.
Zum Glück fiel Toliman mit seinem fotografischen Gedächtnis eine nicht allzuweit entfernte Stelle ein, an der Geröll lag - die Stelle hatte bisher für sie keine Bedeutung gehabt, und niemand sonst hatte sie sich gemerkt. Von dorther holten sie dreimal Steine und verteilten sie vor und hinter dem Schiff. Danach kletterten sie ins Schiff zurück.
Sie schleppten natürlich keine Mäuse ein, wohl aber den ätzenden, üblen Geruch ihres Sekrets, denn jeder war ein paar dutzendmal angesprungen worden. Sie tauschten die schweren Schutzanzüge mit leichten und stülpten die ausgezogenen um, damit der Geruch wenigstens nicht so sehr herausdrang.
Gemmas Einfall erwies sich als außerordentlich wirkungsvoll. Keine Maus griff mehr das Raumschiff oder den Steinstapel vor dem halboffenen Ausgang an. Es brauchte nur immer einer Wache zu halten, für den Fall, daß sich doch einmal eine Springmaus hinauf verirren sollte. Aber das geschah nicht.
Wenigstens bis Mittag geschah das nicht. Dann aber, innerhalb einer Viertelstunde, wurde Gemmas Steingarten wirkungslos. Sie konnten es zunächst gar nicht begreifen, und sie hatten auch gar keine Zeit, lange Überlegungen anzustellen, erst gegen Abend kam Gemma darauf, was die Ursache war: Unter normalen Bedingungen würde ja auch ein Hindernis, ein Feind oder ein erjagtes Tier nicht endlos wieder und wieder angegriffen werden - offenbar signalisierte der Geruch des Sekrets den nächsten, nachrückenden Tieren, daß hier schon genügend angegriffen worden war, und vielleicht hatte sogar der Regen die Geruchswirkung verstärkt.
Jetzt aber wurde die Lage kritisch. Die Aggressivität der Mäuse war stärker als je zuvor, ununterbrochen hatten die Menschen zu kämpfen, zwei am Ausgang, einer hinter ihnen, falls mal eine Maus durchschlüpfte, was ein paarmal geschah, und einer ruhte sich jeweils aus - so Tolimans Einteilung. Anfangs zögerten sie, ihr letztes Mittel einzusetzen, die Sprengung des Staus nämlich, und als sie es am Nachmittag dann doch taten, erwies es sich als wirkungslos: Die Mäuse schwammen einfach hindurch, sie konnten es auf dem Bildschirm beobachten, und der Druck ließ nicht einen Augenblick nach.
Erst als es dunkel wurde, verlangsamte sich der Zug ein wenig, aber trotzdem kam noch ab und zu eine Maus heraufgesprungen - was sollten sie nun tun? Licht hatten sie nicht, die restliche Energie mußten sie aufheben für den Funkspruch. Also versetzten sie, solange noch etwas zu sehen war, den Eingang. Aber die Steine, die sie zu diesem Zweck bereitgelegt hatten, reichten nun nicht mehr aus - der Stapel rutschte nach, teils unter dem Einfluß des Regens, teils, weil die Mäuse begonnen hatten, oft bespiene Steine umzuwälzen. Also stopften die Gefährten nun die schon teilweise zerstörten schweren Schutzanzüge in die Lücke. Für morgen freilich würde diese Vorkehrung nicht ausreichen, es war zu erwarten, daß die Tiere fortfahren würden, die kleineren Steine zu wälzen. Außerdem war an einigen Stellen der Südseite, die dem Zug frontal entgegenstand, die Außenhaut bereits so weit beschädigt, daß man mit dem Daumen Löcher hineindrücken konnte; was gar nicht verwunderlich war, da die Außenhaut eigentlich nur dazu diente, die Innenluft festzuhalten - alle anderen Panzerfunktionen übernahm sonst das Schutzfeld, über das sie jetzt nicht verfügten. Selbstverständlich war die Stabilität des ganzen Raumschiffkörpers nicht gefährdet, aber sie würden wohl morgen auch einen Posten an die Vorderwand stellen müssen. Wenn sie nur bis zum Mittag, bis zum Eintreffen der anderen durchhalten konnten!
Schwer würde das werden. Sie hatten außer den Besenstummeln, die sie jetzt noch schnell mit Folienfetzen bewehrten, keine Waffen mehr, mit denen sie die Angriffe der Mäuse abwehren konnten. Und wenn der Mäusezug wiederum neue, noch unbekannte Strategien anwenden würde, dann konnte es geschehen.
»Wir müssen alle unsere Nahrungsmittelvorräte bereitlegen«, sagte Gemma, als Ruhe eingetreten war. »Wenn eine kritische Lage entsteht, können wir sie damit vielleicht ablenken und den Druck etwas senken, zwei- oder dreimal.«
»Und überhaupt alle kleineren Gegenstände«, schlug Rigel vor. »Warum sollen Gegenstände nicht genauso wirken wie die Steine?«
»Mira hat noch ihren schweren Schutzanzug«, sagte Toli- man, »sie könnte früh ein paar Arme voll solcher Sachen vor das Schiff tragen.«
»Ja, klar«, sagte Mira, aber Toliman hörte ihrer Stimme an, daß sie nicht bei der Sache war.
»Was hast du?« fragte er.
»Ich muß schon den ganzen Tag an Gemmas Interpretation der Vorgänge im Klippendreieck denken«, sagte sie.
»Ach du lieber Himmel«, stöhnte Rigel, »was soll denn das jetzt?«
Aber Gemma widersprach. »Laß mal hören«, bat sie.
»Es ist ein ganz verrückter Gedanke«, erklärte Mira zögernd, »aber deine Grundidee war doch, daß die hiesige Fauna Reaktionen zeigt auf die Anomalie. Und nun wissen wir es zwar nicht, aber wir haben doch vermutet, daß der Mäusezug auf den Schneisen zum Stillstand gekommen war, als die
Anomalie wirkte.«
»Ja, und?« fragte jetzt Toliman sehr interessiert.
»Wir haben die Schwingungen mit Rigels Resonanzgerät gemessen«, sagte Mira. »Könnten wir das Gerät nicht vielleicht so umbauen, daß es diese Schwingungen erzeugt?«
»Und dann unterbrechen die Mäuse ihren Zug?« fragte Rigel.
»Nein«, erwiderte Gemma sofort, »sie würden höchstens die Stelle meiden, wo die Schwingungen spürbar werden.«
»Kann man das umbauen?« fragte Toliman nun.
»Kann man«, sagte Rigel, »es ist nur eine Frage der Energie
- nein, auch nicht, das ist lösbar, so viel brauchen wir nicht, wenn man eine Schwungmasse in Gang bringt und ab und zu nachhilft und daran einen Dynamo anschließt und.«
»Ja, ist gut«, unterbrach Toliman, »mach das morgen früh.«
»Warum bin ich nicht darauf gekommen?« fragte Gemma fast betrübt.
»Mach dir nichts draus, ich bin auch erst ziemlich spät auf manches gekommen«, sagte Toliman. »Und jetzt schlaft, die erste Wache ist meine.«
»Worauf bist du gekommen?« flüsterte Mira Toliman ins Ohr.
»Darauf, daß sie in eurem Institut doch bestimmt Wissenschaftsorganisatoren und -planer mit Raumerfahrung brauchen werden!« antwortete Toliman ebenso, flüsternd.
»Anzunehmen.«
»Ich bin nämlich der Meinung«, flüsterte Toliman weiter, »daß die Männer den Frauen folgen sollten und nicht umgekehrt.«
»Das ist aber eine anfechtbare These.«
»Nicht in unserem Fall. Die Frauen wissen nämlich genauer, was für ihre Kinder gut sein wird!«
»He, was flüstert ihr da!« sagte Rigel.
»Nur ganz was Kindisches!« antwortete Toliman laut.
Im Morgengrauen begann eine fürchterliche Hektik, weil sie so viele Dinge gleichzeitig zu tun hatten. Das Ausbringen der Gegenstände half ihnen eine Zeitlang, aber da sie nicht wußten, ob Miras Idee sich als fruchtbar erweisen würde, mußten sie auch damit sparsam umgehen; außerdem hatten sie jetzt Vorder- und Hinterwand zu überwachen, und dabei war Rigel voll in Anspruch genommen vom Umbau des Geräts. Endlich, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, war er fertig. Er hatte den Geber über einen Verstärker an das Schiff selbst angeschlossen, so daß er als Vibrator wirken mußte, und mühte sich nun, die Schwungmasse in Gang zu bringen. Toliman half ihm dabei, es war eine große Schwungmasse und deshalb eine schwere Arbeit.
»So, das reicht«, sagte Rigel schließlich. »Achtung, ich schalte ein!«
Zuerst war gar nichts zu bemerken. Dann entstand ein hoher Pfeifton, und es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen, daß dieses Pfeifen von draußen kam - die Mäuse waren plötzlich viel lauter geworden. Und dann sahen sie, daß sich der Raum um das Schiff herum zu leeren begann.
»Es klappt, es klappt!« jubelte Gemma.
»Ja, bloß nun werden wir wieder Kopfschmerzen kriegen«, sagte Mira trocken.
Es dauerte aber fast zwei Stunden, bis sich bei den Menschen die ersten Wirkungen einstellten. Gemma verteilte Sedativa, die ja für einige Zeit halfen.
Und exakt zur vorgegebenen Zeit meldete sich KUNDSCHAFTER ZWEI und gab seine Position auf der Umlaufbahn an. In drei Minuten mußte er ihren Zenit durchqueren. Toliman ging zum Funkgerät.
»Warte«, sagte Gemma, »laß sie noch einen Umlauf machen, bevor du sendest.«
Toliman hielt inne und sah sie fragend an.
»Und laß mich noch mal einen Blick in die Schlucht werfen.«
Toliman betrachtete die Energieanzeige.
»Dazu reicht es noch«, sagte er.
Gemma schaltete das Bild ein, betrachtete es und schaltete wieder ab. »Wie ich dachte«, sagte sie. »Der Zug wird langsamer. In ein paar Stunden ist er zu Ende. Wollen wir die Mäuse nicht in Frieden abziehen lassen - statt daß Ku zwei sie unter seinem Schutzfeld zerquetscht?«
Alle schwiegen.
»Und mein Kopf?« fragte Rigel.
»Den pfleg ich dir hinterher gesund«, versprach Gemma.
»Landung nach - fünf Umläufen?« fragte Toliman. »Wird das reichen?«
»Ja, es wird reichen«, sagte Gemma.
Zuerst verließen zwei Leute in Schutzanzügen den anderen KUNDSCHAFTER. Die vier liefen ihnen entgegen. Als die beiden das sahen, öffneten sie ihre Visiere. Es waren der Kapitän von Ku zwei und der Chefarzt der ALDEBARAN.
»Riecht das hier immer so scharf?« fragte der Kapitän.
»Ach woher«, sagte Gemma, »wir hatten nur gerade ein paar Haustiere hier.«
Alle lachten, und in diesem Lachen entluden sich alle angestauten Gefühle schneller als in noch so ehrbarer Feierlichkeit.
Die kam dann freilich auch noch, als Toliman einen sehr kurzen, sehr gerafften Bericht gegeben hatte. Der Kapitän von Ku zwei ehrte sie mit einem auch bei den Kosmonauten nur selten verwandten, tief im Geschichtlichen begründeten Titel. Er sagte: »Kommunisten bewältigen alles.«
Der Chefarzt hatte sich ohne ein Wort an den Medicom gesetzt. Rigel bat den Kapitän flüsternd, er möge ihm die Energiepatrone aus seinem Strahler geben, es sei nur noch eine Spur von Energie da, und setzte dann auch gleich die Patrone ein.
Halblaut unterhielt sich der Kapitän mit den vier Raumfahrern, ließ sich dies und das erzählen, nicht über die großen Abenteuer, sondern mehr über die kleinen Alltäglichkeiten, kaute mit komisch verzogenem Gesicht auch eine Bohne, sagte: »Davon habt ihr ein halbes Jahr gelebt? Alle Achtung!«, bestellte Grüße von Freunden aus dem Mutterschiff - jeder begriff, daß jetzt nicht die Zeit für Würdigung und Rechenschaft war; Toliman jedoch schien es, als forsche der erfahrene Kapitän sie auf eine versteckte Weise aus, als wolle er etwas von ihnen wissen, was mit ihren Ergebnissen und Leistungen nur bedingt etwas zu tun hatte.
Endlich schaltete der Chefarzt den Medicom aus.
»Hat sich Ihre Vermutung bestätigt?« fragte der Kapitän.
Der Chefarzt nickte.
»Wird unser Kapitän wieder gesund?« fragte nun Toliman direkt. Er ließ im Ton seiner Frage auch hören, daß er seine - ihre - Ungeduld für berechtigt hielt.
»In dieser Hinsicht habe ich wenig Sorgen«, sagte der Chefarzt. »Setzen wir uns zusammen.«
Die vier sahen sich mit leuchtenden Augen an, Gemma konnte eine Träne nicht unterdrücken. Freilich, irgendwelche Probleme schien es noch zu geben - aber was sollte es denn jetzt noch für Probleme geben!
»Also zuerst«, sagte der Kapitän, »eßt ihr mal was Anständiges bei uns drüben. Dann machen wir euren Kahn wieder flott. Und dann müssen wir uns entscheiden. Das heißt, ihr müßt euch entscheiden, aber ich habe ja nun mal das letzte Wort in dieser Sache. Damit ihr euch das überlegen könnt, sage ich gleich, was anliegt.
Ihr wißt, bei ungefähr halber Lichtgeschwindigkeit treten am KUNDSCHAFTER Resonanzen auf zwischen Schiff und Schutzschirm. An sich sind sie unbedeutend. Aber euerm
Kapitän können sie trotz Anabiose und Wanne zum Verhängnis werden. Eins von unsern beiden Schiffen muß also den Kapitän mit höchstens Drittellichtgeschwindigkeit zum Ziel bringen, zum ALDEBARAN. Es wird gerade dort eintreffen, wenn das Mutterschiff seine Forschungen beendet hat und sich zur Rückfahrt rüstet. Eigenflugzeit fünf Jahre. Zehnmal soviel wie das halbe Jahr hier.«
»Wir sind bereit«, sagte Toliman.
Der Kapitän zog die Augenbrauen hoch. »Daran hab ich keine Minute gezweifelt. Aber die Frage ist nicht, ob ihr bereit seid, sondern ob ihr dazu in der Lage seid.«
Alle schwiegen.
»Nun kommt, Ku zwei lädt euch zum Festmahl ein!« sagte der Kapitän.
»Warten Sie«, bat Mira.
»Ja?«
»Wir sind auch dazu in der Lage!« sagte sie.
Der Kapitän sah zuerst sie an, dann die andern drei. »Ich hatte eigentlich auch den Eindruck!« sagte er.