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Aufwachen war schön!

Toliman wußte sofort wieder, daß dies sein siebenundzwanzigster Lebenstag auf dieser Reise war, es war das erste, das ihm einfiel. Und gleich danach fiel ihm ein, daß er sich letzten Abend mit Mira versöhnt hatte - letzten Abend, das bedeutete unter diesen Umständen vor der Anabiose; und daß sie sich mit ihm versöhnt hatte, bedeutete doch wohl, daß ihr genausoviel an ihm lag wie ihm an ihr. Ein so eigenwilliges Mädchen wie Mira würde das doch nicht tun, nur weil die Ärzte sagen, daß man keine seelischen Spannungen mit in die Anabiose nehmen soll! Toliman lächelte und öffnete die Augen.

Auf dem Bildschirm kein Signal, nur stumm blinzelnde Sterne. Die Antriebe ausgeschaltet. Die Energie fast verbraucht. Der Kapitän - in seiner Wanne? In seiner Wanne! Aber dann...

Das war nun leider kein schönes Erwachen mehr.

Toliman stand auf und ging zur Wanne des Kapitäns. Ein Knopfdruck ließ alle Angaben aufleuchten - die Wanne war offen gewesen, etwa zwei Stunden lang, jetzt war sie gesperrt, der Kapitän lebte, aber sein Zustand war irregulär, was Gefahr für die Gesundheit bedeutete. Und die anderen? Er ging zu ihnen - ja, ihr Zustand war regulär. Die Wannen hatten sie geschützt.

Irgend etwas mußte geschehen sein. Irgend etwas Schlimmes. Aber der KUNDSCHAFTER war unversehrt, und - und der Kapitän hatte ihn zum Nachfolger bestimmt, nicht Mira, die doch einen höheren wissenschaftlichen Grad hatte.

Flüchtig wurde ihm bewußt, daß er wohl um ein Haar überhaupt nicht wieder aufgewacht wäre, aber er war noch jung genug, um diese Möglichkeit als Berufsrisiko abzutun. Und außerdem ermutigte ihn das Vertrauen, das der Kapitän in seine Fähigkeiten gesetzt hatte.

Der Kapitän! Ihm hatte seine erste, spontane Sorge gegolten. Für ihn konnte er jetzt nichts tun. Die Anabiose, die alle Lebensprozesse aufhielt, auch die schädlichen, würde ihn bewahren bis zur Rückkehr ins Mutterschiff. Jetzt mußte seine ganze Sorge dem Schiff gelten, dem Schiff und seiner Besatzung, und seinem Auftrag vor allem. Er hatte nicht das Recht, sich um Dinge zu sorgen, die er nicht beeinflussen konnte, also etwa um die Gesundheit des Kapitäns. Er hatte jetzt eine Aufgabe, die größte seines bisherigen Lebens, und, das machte er sich klar, eine weitaus größere, als er sie je bei dieser Reise erwartet hätte. Er mußte sie erfüllen oder, falls er versagte, soviel wie möglich davon erfüllen und dabei so wenig Fehler wie möglich machen.

Was war als erstes zu tun? Feststellen, ob eine akute Gefahr vorlag, denn davon hing ab, ob er die anderen wecken konnte oder nicht. Wie war die jetzige Lage des KUNDSCHAFTERS im Raum? Die Position lag abseits vom programmierten Kurs, aber nicht so weit, daß es ihn beunruhigt hätte. Der Flug war antriebslos, die Geschwindigkeit konstant, die Richtung bildete mit dem Programmkurs einen Winkel von dreißig Grad in der galaktischen Ebene. Die Umgebung war leer; der nächste Stern, ein massiver Infraroter, lag zwei Lichtstunden voraus - zu weit entfernt, um den Kurs jetzt schon merkbar zu beeinflussen. Das Schiff selbst war intakt in allen seinen Teilsystemen. Nur die Außentanks fehlten, und die Aktivkomponente des Treibstoffs war bis auf einen kleinen Rest verbraucht. Das aber beunruhigte Toliman jetzt nicht mehr - irgend etwas war geschehen. Man würde feststellen, was, und dann die ALDEBARAN benachrichtigen. Und dafür, für einen Leitstrahl mit aufmodulierter Botschaft, reichte der kleine Rest Treibstoff allemal.

Also keine akute Gefahr, er konnte seine Gefährten wecken. Zuerst natürlich Mira - Toliman war froh, daß sie und nicht Gemma Kosmogonin war, so geriet er nicht in Konflikt; denn bevor man die ALDEBARAN warnen konnte, mußte man wissen, wovor, und um das festzustellen, war Kosmogonie nötig.

Er trat an Miras Wanne, deren Deckel jetzt noch undurchsichtig war, und schaltete die Weckvorrichtung ein.

Und nun, was war das Wichtigste? Energie. Die passive Komponente des Treibstoffs, die Stützmasse, war noch ausreichend vorhanden, außerdem konnten sie sie überall im interstellaren Raum aufsammeln, allerdings nur bei höherer Geschwindigkeit. Die Aktivkomponente aber fehlte. Wenn sie die Botschaft abgegeben hatten, blieb kaum genug übrig für das Leben an Bord, bis das Mutterschiff eintraf.

Ob die Infrarotstrahlung des nächstgelegenen Sterns stark genug war, einen Aktivgenerator zu speisen? Toliman maß sie noch einmal genauer - ja, das könnte gehen. Und da der Stern voraus lag, würde seine Strahlung nach und nach stärker werden. Das wäre also schon mal ein Auftrag für Rigel, der als nächster nach Mira zu wecken wäre; aber, da keine akute Gefahr vorlag, erst dann, wenn sie problemlos erwacht war.

Als letzte wäre Gemma dran, sie konnte dann den Leitstrahl programmieren, bis dahin würden sie wohl die Botschaft fertig formuliert haben.

Da hatte er ja schon ein ganzes Arbeitsprogramm zusammen, na also. Er grinste - wie hatten sie immer so schön als Grundprinzip der Organisation formuliert, als sie noch Studenten waren? Es kommt darauf an, daß jeder gleich morgens was zu tun hat.

Dann aber wurde er wieder ernst. Er mußte jetzt Standort und Kurs mit der erforderlichen Präzision vermessen, schließlich war er nicht nur Kommandant, sondern auch Navigator.

Er war gerade damit fertig, als der Personalkontakter in seinem Ohrläppchen zirpte. Miras Weckzeit!

Er trat an ihre Wanne. Die schlafende Mira hatte ein rührend kindliches Gesicht - obwohl in ihrem Charakter nichts Kindliches zu finden war. Oder hatte er es bisher nur nicht entdeckt? Vielleicht käme das noch irgendwann zum Vorschein? Zu entdecken gab es bei ihr schließlich immer irgend etwas.

Toliman sah, daß ihre Augenlider zu zucken begannen, die Augäpfel darunter bewegten sich, und er rief: »Wach auf, Schwester, große Dinge kommen auf uns zu!«

Dieses »Schwester« war eigentlich eine Gemeinheit, es knüpfte an ihren letzten Streit vor der Anabiose an und machte ihn sofort wieder gegenwärtig, sie hatte sich ihm damals entzogen, und er hatte sie mit so wütendem Ausdruck als Schwester angeredet, daß dieses Wort wie eine Degradierung wirken mußte. Aber schließlich hatten sie sich ja noch vor der Anabiose versöhnt, und so erinnerte das Wort eben auch daran.

Mira schlug die Augen auf, Bernstein im grünen Meer hatte Toliman sie einmal genannt, freilich nicht in einer Stunde des Streits. Dann belebte sich ihr Gesicht, sie richtete sich auf, kletterte heraus, sah sich um - und begriff. »Große Probleme für einen kleinen Kommandanten?« fragte sie.

Sie hatte das nicht spöttisch gesagt, sondern eher zärtlich, und deshalb war Toliman auch nicht gekränkt, sondern betrachtete sie mit Freude. Immerhin kannte er das alles, was er da sah, die ganze zarte Figur, die ihr Temperament halb verbarg, halb offenbarte; die kleinen Brüste, die tiefen Höhlen über den Schlüsselbeinen, aus denen der schmale Hals hervorwuchs.

Mira sah ihn nicht an und drehte und bewegte sich ganz so, als wüßte sie nicht, daß er sie betrachtete. Aber selbst als sie ihm den Rücken zudrehte, meinte sie, seine Blicke wie einen warmen Hauch zu spüren, und lächelte.

Sie bewegte nun wie probeweise ihre Glieder, wie man das nach einer Anabiose macht, und sie wußte dabei, daß jede Kurve ihres Körpers Energie ausstrahlte, wenn sie sich so bewegte. Sie wußte, es fehlte nur noch wenig, und sie konnte ihn zwingen, ihre Nacktheit als Aufforderung zu betrachten, und es tat ihr ein bißchen leid für ihn, aber nicht nur für ihn, als sie plötzlich bemerkte, daß sie sich schämte. Es war ihr in den Kopf gekommen, daß die Ärzte nach jeder Anabiose in der Regel einen etwas gestörten Hormonhaushalt erwarteten, der sich zwar so oder so auswirken konnte; aber der Gedanke, ihre Erotik könnte blind der biologischen Steuerung folgen, hemmte sie. Schnell zog sie sich an.

»Erzähl mal, Toli«, sagte sie, und um ganz deutlich zu machen, daß sie nicht mehr in so unduldsamer Stimmung war wie vor der Versöhnung, fügte sie hinzu: »Oder soll ich Kommandant sagen?« Er war so unvorsichtig, das zu verneinen.

»Ich hätte das Wort Kommandant dann auch auf Komma abgekürzt«, sagte sie. »Hallo, Komma!«

Toliman ließ sich nicht beeinflussen und berichtete sachlich und kurz.

Schon nach seinen ersten Worten straffte sich Miras Haltung, eine leichte Neigung des Kopfes, der schräge Blick aus den Augenwinkeln zeugten von höchster Spannung. Sie wartete auch nicht ab, bis Toliman fertig war mit seinem Bericht, sondern rief zwischendurch die vorige und jetzige Position auf ihr Terminal, rechnete, kritzelte mit dem C-Stift in der Rechnung herum, löschte wieder, unterbrach aber Toliman nicht. Erst als er sein Programm für die bevorstehenden Aufgaben aussprach, lachte sie leise.

»Bin ich zu optimistisch?« fragte Toliman.

Mira nickte. »Ich glaube kaum, daß wir so schnell herauskriegen werden, was da eigentlich passiert ist.«

»Du bist pessimistisch?«

Mira schüttelte den Kopf. »Ich bin Kosmogonin. Und ich frage mich, wo die ganze Energie geblieben ist, wenn wir uns kaum von der Stelle bewegt haben. Energie verbrauchen heißt Arbeit verrichten. Was für Arbeit?« Sie schaltete. »Hier, das ist die Position vorher, und das ist die jetzige, nach deinen Berechnungen. Und was ist dazwischen? Nichts. Leerer Raum.«

»Wird sich alles klären!« antwortete Toliman beruhigend.

Mira knurrte leise. »Selbstverständlich wird sich alles klären. Bloß nicht so schnell.«

»Nehmen wir uns die Protokolle vor, du die Sensoren, ich die Effektoren, einverstanden? Wir fangen an vor - vor vier Stunden, das wird reichen. Zu Beginn können wir ja schnell durchlaufen lassen, bis die ersten Abweichungen auftreten.«

»Und der Medicom?«

»Den kann nachher Gemma durchsehen, die versteht mehr davon.«

Mira nickte - das war richtig, Gemma hatte als zweites und drittes Fach Raumfahrtmedizin und kosmische Biologie.

Der Durchlauf stoppte zuerst bei Toliman, und zwar an der Stelle, wo die Automatik den Weckauftrag für den Kapitän erteilt hatte. Das war sonderbar, denn eigentlich hätte ja vorher eine Abweichung bei Mira auftreten müssen, irgendeine Meldung der Sensoren, die den Grund für das Wecken angezeigt hätte.

Mira stoppte ihr Protokoll auch. Jetzt mußte sie suchen. Das war nicht einfach, denn das Protokoll war zwar genau, aber es erfaßte selbstverständlich nicht alle Vorgänge innerhalb und außerhalb des Raumschiffes, insbesondere nicht die Informationsströme in der Steuerung - eine Anlage, die dazu imstande gewesen wäre, hätte tausendmal so groß sein müssen wie die Steuerung. Denn von einem gewissen Grad der Kompliziertheit an wird die Beschreibung eines Vorgangs viel umfänglicher als der Vorgang selbst.

In diesem Zusammenhang bedeutete das: Wenn es irgendeine Veränderung in den Meßwerten gegeben hätte, die für die direkte Verarbeitung wichtig gewesen wäre, also etwa zur Kurskontrolle, dann hätte das Protokoll sie vermerkt. Also mußte die Veränderung, die zweifellos stattgefunden hatte, außerhalb dieser Bereiche liegen, aber doch so groß sein, daß sie registriert und verarbeitet worden war. Dann aber konnte sie alles Mögliche betreffen.

»Ich lass’ mal ganz durchlaufen, damit wir einen Überblick haben«, sagte Toliman, und auch das war eigentlich überflüssig, denn was zu tun war, wußte einer so gut wie der andere.

Die Navigation war, wie immer, auf bestimmte Sterne orientiert gewesen - auf weit entfernte für die Kontrolle der Richtung und auf einige nahe Objekte für die Kontrolle der Geschwindigkeit, wobei die weit entfernten voraus lagen und die nahen seitlich. Bei diesen suchte Mira zuerst. Es dauerte ziemlich lange, bis sie alle denkbaren Parameter kontrolliert hatte. Schließlich kam sie zu dem Schluß, daß hier wohl nichts zu finden sei.

Nun, dann also die fernen Richtsterne. Im Grunde genommen erwartete Mira nicht mehr, überhaupt irgend etwas zu finden, und überlegte schon, ob nicht ein interner Fehler der Automatik denkbar sei. Trotzdem ging sie gewissenhaft alle Möglichkeiten durch, und plötzlich fand sie ihre Geduld belohnt.

Mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei. Das Licht der Richtsterne war nach violett verschoben! Nicht viel freilich - aber halt, korrigierte sie sich, was heißt hier: nicht viel. Um diese Verschiebung hervorzurufen, hätte der KUNDSCHAFTER seine Geschwindigkeit verzehnfachen müssen, aber eine Änderung des Antriebs hatte bis dahin nicht stattgefunden. Oder aber der Stern hätte seine Bewegung innerhalb der Galaxis umkehren müssen, was noch unsinniger war.

Und der zweite Fixpunkt, ein Stern, der im Winkel von etwa zehn Grad zum ersten stand und eventuell Drehungen des Schiffs um die Achse Erster Fixpunkt - Sensor signalisiert hätte - was war mit dem? Ja, der zeigte die gleiche Violettverschiebung.

Mira kamen Hypothesen in den Sinn, nach denen irgendwann einmal die expansive Bewegung des Weltalls umschlagen sollte in eine kontrahierende, was durch eine allgemeine Violettverschiebung anstelle der heutigen Rotverschiebung der Spektrallinien sichtbar würde. Aber auch die kühnsten Spekulationen erwarteten so etwas erst in Jahrmilliarden. Und außerdem müßte das dann an allen Sternen zu beobachten sein, isotrop, also unabhängig von der Richtung, abhängig nur von der Entfernung. Die seitlichen Sterne dagegen für die Nahorientierung., aber die waren eben auch nah.

Immerhin brachte diese ziemlich müßige Spekulation Mira auf die Idee, alle von den Sensoren erfaßten Sterne zu kontrollieren und dann das gleiche zu tun an einem späteren Zeitpunkt des Protokolls, etwa zur Zeit der Erweckung des Kapitäns.

Das Ergebnis war verblüffend: Die Violettverschiebung wuchs weiter an, sie ergriff, allerdings viel später und in kleinerem Maße, auch die Nahorientierungssterne.

Ein Seitenblick zu Toliman zeigte ihr, daß der auch zu einem gewissen Abschluß gekommen war. Er nickte ihr zu, gleich würde auch Rigel wach werden. Mira rief schnell noch mal die im Protokoll vermessenen Sterne direkt vor die Geräte und vermaß sie erneut - nichts, jetzt hatte keiner mehr eine Violettverschiebung.

»Bist du soweit?« fragte Toliman. »Hier ist erst mal ein Überblick in Minuten!« Er warf ein Zeitschema auf den Bildschirm:

x - Weckauftrag für Kapitän x + 20 - Kapitän übernimmt

x + 35 - heftige Korrekturmanöver der Steuerautomatik x + 37 - Kapitän schaltet Automatik ab x + 40 - Kapitän setzt Boje aus x + 41 - Antrieb auf Beschleunigung x + 42 - Kapitän setzt zweite Boje aus x + 44 - Beginn einer Serie von Manövern mit wachsender Beschleunigung x + 83 - Kapitän sprengt Außentanks für Aktivkomponente ab

x + 127 - Kapitän schaltet alle Antriebe aus x + 129 - Kapitän geht in die Wanne.

»Das ist alles sehr sonderbar«, sagte Toliman und zeigte auf die Notiz unter x + 44. »Nach diesen mehrfachen Intervallen von zunehmender Beschleunigung müßten wir jetzt etwa ein Drittel der Lichtgeschwindigkeit haben, dabei driften wir mit schlappen dreihundert Kilometern in der Sekunde.«

»Was ich hier habe, ist noch viel seltsamer«, meinte Mira, aber als sie sah, daß Toliman zu Rigel hinüberblickte, sagte sie: »Geh ihn erst mal wecken, ich mach eine Grobübersicht, vielleicht ergibt sich da schon etwas.«

Mira verstand, daß Toliman sich Sorgen machte - das war ja nun sein Amt, und sie gönnte ihm dieses Amt. Ja, sie war sogar froh, daß es nicht ihr zugefallen war; aber vor allem fühlte sie sich angenehm erregt, weil das alles ja doch sehr interessant zu werden versprach.

Rigel war wie üblich noch eine ganze Weile nach dem Wecken verschlafen, ließ sich alles fünfmal erklären und verstand gar nichts - nur daß sie keinen Treibstoff mehr hatten und die Antriebe vorläufig nicht benutzt würden, das verstand er.

Nachdem er eine halbe Minute darüber nachgedacht hatte, fragte er, wozu man ihn denn dann überhaupt geweckt habe.

Über diese gedankliche Meisterleistung mußte sogar der sachliche Toliman lachen.

»Hast du über mich gelacht?« fragte Rigel verwundert.

»Ja«, sagte Toliman und fürchtete schon, er müsse erklären, warum. Aber Rigel schien sich zu freuen.

»Das hat mich richtig munter, gemacht«, sagte er. »Ich finde es immer besser, wenn die Leute über mich lachen, als wenn sie über mich weinen. Wie geht’s Gemma?«

»Ihre Parameter sind in Ordnung. Sie kommt in zwanzig Minuten.«

»Dann werde ich mich inzwischen mal hübsch machen«, sagte Rigel und rieb sich das Kinn.

»Wirst du nicht«, sagte Toliman, »Energie sparen.«

»Das bißchen!« maulte Rigel.

»Keine Wattsekunde darf verschwendet werden.«

»Ist gut, ich lass’ mir was einfallen«, sagte Rigel. »Wieviel Zeit habe ich? Zwanzig Minuten? Das reicht. Ich meine, falls du nicht etwas Dringendes für mich zu tun hast?«

»Nein, mach nur«, sagte Toliman entgegen seinen ursprünglichen Absichten. Als guter Organisator hatte er sofort erspürt, daß Rigel etwas vorhatte, das wahrscheinlich weitaus wichtiger für sie alle war als jede andere Arbeit, die er ihm hätte auftragen können: Rigel war, als passionierter Bastler, dabei, ein elektrisches Gerät auf irgendeinen anderen Antrieb umzustellen

- und das konnte ein Paradebeispiel für tausend andere Fälle werden.

Rigel kannte Tolimans Motive nicht, aber er war zufrieden mit dieser Entscheidung. Ein anderer Leiter hätte in diesem Fall vielleicht verlangt, daß er sich einen Bart stehen lassen sollte, was Gemma nicht mochte, oder Hormoncreme gegen Bartwuchs nehmen, was er selbst nicht mochte; er hätte nicht ohne weiteres sagen können, warum. Nur wenn er gründlich nachgedacht hätte, wäre ihm eingefallen, daß Gemma vor langer, langer Zeit, ganz zu Anfang ihrer Bekanntschaft, einmal gesagt hatte, seine Stoppeln seien männlich. Inzwischen hatte sie ihn freilich dazu erzogen, ohne Stoppeln anzutreten, aber der damalige Reiz, verstärkt durch das damalige Erlebnis, wirkte immer noch nach...

Solche Überlegungen jedoch waren Rigel fremd. Überlegungen waren überhaupt nicht seine Stärke - er konnte sicherlich denken wie jeder andere Mensch auch, aber am meisten Spaß machte ihm die Arbeit, wenn er das Gefühl hatte, es sei eigentlich nicht sein Kopf, der da dachte, sondern vielmehr seine Hände.

So hatten auch jetzt seine Finger schon aus seinen Bastelvorräten herausgesucht, was er brauchte: Für Arbeiten in starken elektrischen Feldern waren manche Geräte mit mechanischen Aufziehantrieben ausgestattet, und da solche altertümlichen Dinge eben auch häufiger zu Bruch gingen, hatte er in seinem Vorrat Federantriebe verschiedener Größe und Kraft, und es fiel ihm nicht schwer, einen geeigneten herauszufinden.

Toliman trat an Miras Pult. Er sah vor dem blendend hellen Bildschirm nur die Silhouette ihres Oberkörpers. Er beugte sich vor und küßte ganz leicht ihren Nacken. »Laß den Unsinn«, sagte Mira ohne Schärfe. »Setz dich hin, und denk mit. Nein, da an dein Pult, hier hinter mir ist deine Haltung auf die Dauer zu unbequem. Hol dir mein Schirmbild auf dein Terminal. Hast du? So, paß auf: Bei den Sensorenprotokollen kann man keinen Großüberblick herstellen, dazu passiert zuviel, und man muß immer erst mal herauskriegen, was das bedeutet. Ich glaube, wir müssen die ganze Geschichte Schritt für Schritt gemeinsam durchgehen. Ich zeige dir jetzt mal, wie weit ich gekommen bin. Unter der Maßskale links und rechts sind Ausschnitte aus den Spektren der beiden Richtsterne, so wie sie von der Erde aus aufgenommen wurden. Jetzt schalte ich darunter den gleichen Ausschnitt zum Zeitpunkt x minus fünf. Siehst du, die blaue Linie ist leicht nach violett verschoben, ich hab’s nachgerechnet, es entspricht genau unserer Geschwindigkeit. Und jetzt schalte ich den gleichen Ausschnitt bei x minus drei dazu - was siehst du?«

»Die blaue Linie ist noch weiter nach violett verschoben«, sagte Toliman gehorsam wie ein Schüler.

»Und das war mit großer Wahrscheinlichkeit der Grund für den Weckauftrag an die Kapitänswanne. Das geht nun so weiter, hier bei x plus zehn, hier bei x plus zwanzig, inzwischen geschieht mit den Nahorientierungssternen das gleiche, auch ihr Licht verschiebt sich nach violett. Aber das kommt noch viel verrückter. Bei x plus fünfunddreißig nämlich, wo die Steuerung anfängt, Bocksprünge zu machen, schaltet sich hier die Zielsucherautomatik ein. Das heißt, die Navigationssensoren hatten die Richtsterne aus dem Visier verloren.«

»Das Schiff hat sich gedreht«, warf Toliman ein.

Mira schüttelte den Kopf, dachte aber erst dann daran, daß Toliman ja auf den Bildschirm blickte, und sagte: »Nein.«

»Oder eine äußere Kraft hat das Schiff gedreht.«

»Das habe ich zuerst auch gedacht«, sagte Mira. »Aber jetzt gebe ich dir die Winkeldifferenzen von Richtstern A, B und C, nachdem sie wieder aufgefaßt waren.«

»Das gibt’s doch gar nicht!« rief Toliman.

»Alle verschieden. Ja, das Schiff müßte sich nicht gedreht, sondern geschlängelt haben, um diesen Effekt hervorzurufen. Aber wie soll eine Kugel sich schlängeln? Und dabei geht das so weiter, die Winkel verschieben sich immer wieder. Da mußte ja die Steuerung verrückt spielen.«

Toliman schwieg lange. Er war Navigator und konnte sich die Vorgänge in der Steuerungsautomatik ziemlich genau vorstellen. Eine exakte Berechnung konnte sie nicht mehr anstellen, so hatte sie die jeweils größte Abweichung berücksichtigt und deren Korrektur berechnet und ausgeführt. Aber was konnte die Ursache sein? Fehler an den Sensoren?

»Ich glaube, wir können Fehler an den Sensoren ausschließen«, sagte Mira, als hätte sie Tolimans Gedanken mitgehört. »Es ist nicht möglich, daß alle Sensoren zum exakt gleichen Zeitpunkt analoge Fehler aufweisen. Nein, es muß da etwas sein, was die elektromagnetischen Wellen beeinflußt - anfangs nur mit Violettverschiebung, dann aber auch in Form von Wirbeln.«

»Ein Schwarzes Loch?« fragte Toliman ungläubig.

Wieder schüttelte Mira den Kopf, und wieder ergänzte sie die für Toliman nicht sichtbare Bewegung, indem sie sagte: »Nein, das wäre viel früher signalisiert worden, die Naheffekte von Schwarzen Löchern sind ja bekannt. Außerdem wären wir da nicht entkommen.«

»Was passiert denn eigentlich weiter?« fragte Toliman.

»Wollen sehen«, sagte Mira. »Bei x plus siebenunddreißig schaltet der Kapitän die Antriebe ab, aber die Navigation geht ja weiter. Ich nehme mir den Richtstern A, nimm du B, und wir fangen an bei x plus vierzig.«

Nach wenigen Minuten hielten beide das Protokoll an.

»Ist deiner auch verschwunden?« fragte Mira.

»Genauer: verloren und dann von der Suchautomatik nicht wieder aufgefaßt. Aber es ist wohl so, wie du vorhin gesagt hast: Wenn in beiden Fällen zur selben Zeit dieselbe Abweichung auftritt, dann handelt es sich nicht um einen Fehler der Automatik.«

»Ja«, sagte Mira. »Und die Violettverschiebung hat weiter zugenommen, bei dir auch?«

Toliman schüttelte den Kopf.

»Nein?« fragte Mira erstaunt. Sie hatte ihn angeblickt.

»Ach so, ja doch, entschuldige«, sagte Toliman zerstreut. »Ich hatte einen ganz blöden Gedanken.«

»Glaub ich nicht«, sagte Mira provokativ.

Toliman ging auf ihren Ton ein. »Was glaubst du nicht - daß ich einen Gedanken hatte oder daß er blöde war?«

»Such dir aus, was die lieber ist«, antwortete Mira.

Toliman fuhr sich mit der Hand über die Augen, die kurze Entspannung hatte ihm gutgetan. »Mir ist eingefallen, daß irgendwann in diesem Zeitraum der stündliche Leitstrahl der ALDEBARAN fällig war, nehmen wir doch mal die Bordzeit, dann wäre das nach unserer Tabelle.«, er schaltete, »x plus einunddreißig, also noch vor den Bocksprüngen.«

Mira schaltete ebenfalls. »Die Spur ist leer!« sagte sie, nun schon nicht mehr nur verblüfft, sondern ein wenig besorgt.

Der Leitstrahl des Mutterschiffs diente nicht nur der Kurskontrolle, sondern war für die Besatzung eines Kundschafterschiffs immer so etwas wie eine Nabelschnur, die sie mit den anderen verband, selbst wenn sie nicht oder nur im Notfall darauf antworten konnten. Es war einfach unvorstellbar, das Gefühl weigerte sich anzuerkennen, daß diese Verbindung abgerissen sein sollte, daß die ALDEBARAN nicht gesendet hatte oder aber die Sendung unterwegs verlorengegangen sein sollte, nicht angekommen, nicht aufgenommen. Moment, da lag vielleicht die Lösung: zwischen nicht angekommen und nicht aufgenommen.. angekommen, ja, aufgenommen, nein. Und warum nicht? Die Violettverschiebung! Auch die Frequenzen von Funksprüchen mußten ja verschoben sein, und die Abstimmung der Antenne war ziemlich genau, ging ja nicht anders bei der Entfernung.

»Ja, deine Idee war richtig«, sagte Mira. »Es scheint, die Violettverschiebung hat überall die Bandbreite der Rezeptoren überschritten. Das sollten wir am Beispiel des Leitstrahls ziemlich einfach prüfen können. Wir müssen freilich aus dem Unterschied zwischen den voraus und den seitlich gerichteten Messungen extrapolieren, wann und wie stark die Violettverschiebung in rückwärtiger Richtung eingesetzt hat, aber wenn das einigermaßen übereinstimmende Ergebnisse liefert.«

Zehn Minuten später wußten sie: Es gab Übereinstimmung. Man durfte mit Sicherheit annehmen: Die Sterne waren nicht erloschen, nur die Sensoren konnten ihr Licht nicht mehr registrieren, weil es zu kurzwellig geworden war. Auch der Leitstrahl der ALDEBARAN war nicht aufgenommen worden, weil seine Frequenz für die Antenne zu hoch geworden war. Das ließ sich zwar nun nicht mehr direkt nachweisen, aber sie konnten in ihren weiteren Überlegungen davon ausgehen.

»Eins noch«, sagte Toliman, »das Kind braucht einen Namen. Wir können schließlich nicht jedesmal, wenn wir davon sprechen, sagen: diese Erscheinung, für die wir keine Erklärung haben - oder so etwas.«

»Nennen wir es Anomalie«, schlug Mira vor. »Wenn wir nur niemals vergessen, daß das bloß ein Wort ist, das über das Wesen des so bezeichneten Sachverhalts keinerlei Auskunft gibt!«

»Gut«, sagte Toliman.

Rigel hatte den mechanischen anstelle des elektrischen Antriebs in den Rasierapparat eingepaßt. Das Gerät war dadurch etwas größer und schwerer, aber nicht unhandlicher geworden, er schäumte alles ein, gab dem Plastschaum die entsprechende Form und härtete ihn mit einem Mikrowellenschock. Dann rasierte er sich.

Das Merkwürdige war, daß er bei all seinen Basteleien nicht wie andere die Zeit vergaß, er bewahrte sich im Gegenteil ein ziemlich genaues Zeitgefühl. Als er mit dem Rasieren fertig war, konnten es nur noch ein oder zwei Minuten sein, bis seine Gemma aufwachte, und wenn er auch sonst keineswegs eifersüchtig war, im Gegenteil, es freute ihn und schmeichelte ihm, wenn sie von ihrer Fröhlichkeit und guten Laune allen mitteilte - so war er jetzt doch darauf bedacht, daß sie beim Erwachen ihn sah und nicht Toliman mit seinem attraktiven

Seeräubergesicht. Und er nahm auch ihren Umhang mit - er selbst sah sie freilich gern nackt, aber gar nicht so gern hatte er es, wenn die andern sie so sahen. Obwohl Mira sie beide manchmal deswegen verspottete, hielt Gemma es damit genau wie er, ob aus persönlichem Bedürfnis oder seinetwegen, das wußte er nicht, er hatte sich eine solche Frage noch nicht gestellt, er wäre gar nicht darauf gekommen.

Selbst wenn Gemma schlief, drückte ihr Gesicht Heiterkeit aus. Es war ruhig und gelöst, und die weizengelben Haare machten es - Rigel hatte kein besseres Wort dafür - einfach sonnig. Und wenn sie wie jetzt wach wurde und die hellgrauen Augen aufschlug, dann wurde das Gesicht mit einem Schlag lustig, und es schien, als sei es im Raum heller geworden.

Als sie aufstand, hätte ein von Ganzheitseindrücken freier Automat feststellen müssen, daß sie größer und wohl auch etwas schwerer als Mira war. Tatsächlich aber wirkte sie kleiner und zierlicher - wie das zustande kam, wußte niemand, aber es war jedenfalls nicht Rigels Eindruck allein. Es hatte vor Zeiten eine Wette darum gegeben, Gemma hatte sie gewonnen, aber nicht, weil sie sich für wirklich größer und schwerer gehalten hatte, sondern weil sie geglaubt hatte, sie würde Mira eine Freude machen, wenn sie das behauptete.

Sie blickte also Rigel an und lächelte. »Da bin ich wohl die letzte?« fragte sie und sah sich um. »Wo ist der Kapitän?«

Rigel half Gemma heraus, hüllte sie in ihren Umhang, nahm sie in die Arme und streichelte sie; dabei erzählte er ihr leise, was geschehen war - so weit er es wußte und so gut er es verstanden hatte.

Sanft machte sie sich von ihm frei. »Weiß du«, sagte sie mit einem etwas kläglich ausfallenden Lächeln, »weißt du, da wird es jetzt viel Arbeit geben!«

Dann, als er sie losgelassen hatte, wurden ihre Bewegungen rascher und zielstrebiger. Rigel aber hatte das unklare Gefühl, nicht er habe sie, sondern sie ihn getröstet.

Minuten später saßen sie zum ersten Mal seit ihrem Start von Bord der ALDEBARAN beieinander.

»Ich will mal zusammenfassen, was wir jetzt im Augenblick wissen und was wir als nächstes tun müssen«, begann Toliman und übernahm damit ohne Deklaration, aber für alle verständlich, die ihm vom Kapitän zugewiesene Funktion des Kommandanten. »Was wir wissen, ist sehr wenig, und das Wenige ist ziemlich unklar. Was wir tun müssen, ist eine ganze Menge, aber das meiste davon ist zum Glück ziemlich klar. Wir hätten freilich jetzt nach dem Wecken alle unsere Aktivierungsgymnastik nötig, aber dies ist ja wohl so etwas wie eine Alarmsituation, und wir müssen erst noch einiges tun, bevor wir an uns denken können.

Was wissen wir also? Der KUNDSCHAFTER ist in ein Ereignis hineingeraten, von dem wir nicht einmal ahnen, was es ist. Mira und ich schlagen vor, dieses Ereignis vorläufig Anomalie zu nennen; ein Allerweltswort, das uns unsere Unwissenheit immer bewußt halten wird.

Die Einwirkung der Anomalie auf den KUNDSCHAFTER war so stark, daß erstens der Kapitän bei der Rettung des Schiffs geschädigt wurde, und zwar unheilbar für unsere medizinischen Möglichkeiten; daß zweitens die Aktivkomponente des Treibstoffs und damit unsere Energiequelle fast vollständig verbraucht wurde; daß drittens aus noch unbekannten Gründen die Außentanks abgesprengt werden mußten. Die Folgen sind klar: Die ALDEBARAN, die nicht so stark geschützt ist wie der kleine KUNDSCHAFTER, würde diese Anomalie nicht unbeschädigt überstehen; wir werden es noch genauer ausrechnen, aber ich glaube, das Mutterschiff würde zerstört. Unsere wichtigste Aufgabe ist also, der ALDEBARAN einen Leitstrahl mit Informationen über diese Anomalie zu senden. Dazu sind nur noch ein paar Vorarbeiten nötig, über die ich gleich sprechen werde; die Energie reicht zum Glück noch dafür. Oder richtiger: nicht zum Glück – der Kapitän hat sie so eingeteilt, daß sie noch reicht.

Die zweitwichtigste Aufgabe ist, daß wir unser Leben sichern und erhalten, bis die ALDEBARAN hier ist, das wird in zwei, drei Wochen sein. Dazu brauchen wir vor allem Energie. Mit dieser Frage wird sich Rigel befassen. Voraus liegt ein Infrarotstern, er kann zwar nicht viel liefern, aber ein bißchen schon. Und dies und das können wir vielleicht auch einsparen. Ich denke, mit dem Ausbringen der Sonnenkollektoren wirst du etwa zwei Stunden zu tun haben, Rigel. In Ordnung? Gut. Wir andern bereiten die Botschaft an die ALDEBARAN vor. Mira und ich werden weiter das Protokoll durchgehen, damit wir wissen, was wir dem Mutterschiff mitteilen können, und Gemma, du solltest versuchen, die Anomalie zu orten - irgendwo muß sie ja geblieben sein. Mira sagt dir noch, was wir schon wissen über ihre Eigenschaften; sie ist bestimmt nicht leicht zu erkennen. Danach werden wir dann zu den guten Sitten und Gebräuchen zurückkehren.«

Toliman nickte, drehte sich zu seinem Pult um; Rigel erhob sich, und Mira flüsterte noch ein paar Minuten mit Gemma. Dann wandte sie sich wieder Toliman zu.

»Machen wir bei x plus vierzig weiter«, schlug Toliman vor. »Der Kapitän setzt eine Boje aus. Warum? Versetz dich mal in seine Lage. Orientierung nach den Sternen ist nicht mehr möglich. Das Licht wird in dieser Anomalie offenbar beschleunigt, was sich in höherer Energie der Quanten, also in Violettverschiebung ausdrückt.«

»Moment«, unterbrach ihn Mira. »Ich glaube, nicht nur beschleunigt. Anscheinend hat die Automatik das Licht der Richtsterne ganz unverändert empfangen bis zu dem Zeitpunkt, als das Schiff direkt in die Anomalie einflog. Also muß das Licht die Anomalie genau so wieder verlassen, wie es in sie einstrahlt, mit der gleichen Energie. Jetzt erinnere dich: Nach den Seiten war die Violettverschiebung zunächst geringer, nach hinten noch kleiner. Also müßten wir als Denkmodell annehmen, daß das Licht zur Mitte der Anomalie hin beschleunigt und von der Mitte weg gebremst wird. Sterne, deren Licht durch die Peripherie der Anomalie empfangen wird, müßten also mit örtlicher Verschiebung zu sehen sein. Darauf habe ich Gemma orientiert, danach wird sie suchen. Aber ich fürchte, dieses Denkmodell ist viel zu simpel.«

»Na gut, so oder so«, sagte Toliman. »Jedenfalls würde ich an dieser Stelle wissen wollen, wie die Anomalie auf die Bewegung mechanischer Körper einwirkt, also auch auf die des Raumschiffs. Dazu brauche ich einen Bezugspunkt. Den schafft eine Boje. Und nun sieh mal ab x plus vierzig nach, was der Kapitän an der Boje gemessen hat. Ein benachbarter Körper muß ja auf jeden Fall im Protokoll stehen. Auch wenn der Kapitän es nicht direkt eingeschaltet hat.«

Aber der Kapitän hatte ein direktes Protokoll aufgenommen. Eine freie Spur nahm die Bewegung der Boje auf. Sie wurde mit kleiner Geschwindigkeit aus dem antriebslosen Schiff ausgestoßen. Nach den Gesetzen der Mechanik hätte nun der Abstand zwischen Schiff und Boje gleichmäßig anwachsen müssen. Er wuchs zuerst auch, aber zunehmend langsamer, bis er schließlich auf dem gleichen Wert stehenblieb. Die Relativgeschwindigkeit zwischen Schiff und Boje war gleich Null.

»Zeit?« fragte Toliman.

»x plus vierzig Minuten vierunddreißig Sekunden.«

Einige Minuten verstrichen, ohne daß einer von beiden etwas sagte.

»So schnell wie der Kapitän kann ich nicht denken«, gestand Toliman. »Innerhalb von sechzehn Sekunden hat er die einzig richtige Schlußfolgerung gezogen.«

Mira nickte. »Ist mir inzwischen auch klargeworden. Er mußte jetzt sehen, wohin das gleiche Experiment unter Beschleunigung führt. Also schaltet er die Antriebe ein und setzt dann eine Minute später eine neue Boje aus.«

»Und jetzt laß uns sehen, was dabei herausgekommen ist«,

forderte Toliman.

Die zweite Boje entfernte sich zunächst, wie es sich gehörte, mit wachsender Geschwindigkeit, dann aber, während die Antriebe das Schiff immer noch beschleunigten, wurde die Geschwindigkeit konstant, die Relativgeschwindigkeit zur zweiten Boje also. Als die Antriebe ausgeschaltet und die Beschleunigung infolgedessen gleich Null wurde, verschwand auch die Relativgeschwindigkeit der Boje, sie blieb in konstantem Abstand stehen.

»Merkwürdig«, grübelte Toliman. »Jede Bewegungsgröße verhält sich hier wie ihre erste Ableitung, mathematisch gesehen. Der Weg wie die Geschwindigkeit, die Geschwindigkeit wie die Beschleunigung.« Plötzlich wurde er lebhaft. »Aber darin steckt die Möglichkeit, wieder herauszukommen, und die hat der Kapitän gesehen. Wenn ich dem Schiff Beschleunigung erteile, erreiche ich eine konstante Geschwindigkeit, und damit kann das Schiff entkommen!«

»Ganz schön voreilig«, kommentierte Mira. »Sieh mal da!«

Das Protokoll wies aus, daß der Abstand zu den beiden Bojen zwar gleich blieb, solange kein Antrieb einwirkte, aber es wies auch noch etwas anderes aus: Die Bojen lagen nicht mehr geradlinig hintereinander, vom Schiff aus gesehen; die drei Körper - erste Boje, zweite Boje, Schiff - bildeten vielmehr einen flachen Kreisbogen.

»Es sieht so aus«, sagte Mira, »als ob deine Kinetik nur auf einer Kreisbahn innerhalb der Anomalie gilt. Zum Verlassen der Anomalie wird wohl mehr nötig sein.«

»Warte, laß uns denken!« sagte Toliman. »Wenn das so ist, wie du vermutest, dann müßte also zum Verlassen nicht eine einfache Beschleunigung, sondern eine wachsende gebraucht werden. Gleichmäßige Beschleunigung entsteht, wenn die Antriebe gleichmäßig laufen, wachsende, wenn die Kraft der Antriebe zunimmt. Ja, so wird es sein. Wollen sehen.«

»Weißt du, was mich viel mehr verblüfft?« fragte Mira, und sie gab auch gleich die Antwort. »Daß der Zeitraum, bis die Eigenschaften der Anomalie sich voll auswirken, beim zweiten Mal der gleiche ist - vierunddreißig Sekunden. Man sollte doch annehmen, daß er bei höherer Geschwindigkeit sinkt. Oder, von mir aus, wächst.«

»Und was schließt du daraus?« fragte Toliman.

»Ach du lieber Himmel«, sagte Mira seufzend, »von nichts bin ich weiter entfernt als von Schlußfolgerungen.«

»Ja, du kannst dir’s leisten!« sagte Toliman in friedfertigem Ton.

»Ach?« meinte Mira, lenkte aber gleich über: »Lassen wir also das Protokoll synchron laufen, mit Minimalgeschwindigkeit.«

Tatsächlich hatte der Kapitän jetzt eine Serie von Manövern begonnen, bei denen die Beschleunigung jeweils zunahm, bis die Antriebe ihre maximale Leistung erreichten. Dann hatte er sie abgeschaltet und den Zyklus von neuem begonnen. Dabei hatte er in jeder Beschleunigungsperiode nach links ausgelenkt, und tatsächlich blieben auch die Bojen seitlich zurück.

»Na also!« sagte Toliman, und es klang nicht wenig Stolz in dieser kurzen Bemerkung mit. Mira verstand diesen Stolz, verstand, wie notwendig Toliman ihn brauchte, um in seiner jetzigen Funktion nicht zu versagen. Aber sie fühlte auch, daß sie diese ganze Anomalie, so sensationell sie gerade für sie selbst als Kosmogonin war, nicht verstehen würden, daß ihnen die Mittel dazu fehlten, und zwar jegliche Art von Mitteln, die geistigen wie die materiell-technischen, und sie ahnte schon zu diesem Zeitpunkt, daß die Klärung dieser Zusammenhänge nicht das wichtigste Problem sein würde, mit dem sie als Besatzung würden fertig werden müssen. Trotzdem bewunderte sie den praktischen Verstand, mit dem der Kapitän aus wenigen und höchstens spekulativ zu wertenden Beobachtungen den Weg ermittelt hatte, den KUNDSCHAFTER zu retten - eine Leistung, die Toliman immerhin wenigstens nachvollzog, wenn er dazu auch mehr Zeit und Ruhe und Kraft hatte. Ja, Kraft, denn irgend etwas mußte den Kapitän doch so sehr geschwächt haben, daß sein Zustand für Bordverhältnisse irreparabel geworden war und ihm nur noch im Mutterschiff geholfen werden konnte. Überhaupt lag wohl in dieser Tatsache viel mehr verborgen als in allen automatischen Protokollen, die sie hier verfolgten.

»Und jetzt paß genau auf, wir nähern uns dem Zeitpunkt, wo der Kapitän die Außentanks absprengt. Irgend etwas muß ihn dazu veranlaßt. Was ist denn das? x plus siebenundsiebzig: Schaltung, die Aktivkomponente aus den Außentanks umflutet. Und bei dir? Kein Hinweis?«

»Kein Hinweis«, sagte Mira, »nichts.«

»Die Tanks waren zu dem Zeitpunkt noch voll«, sagte Toliman. »Kapazität des Umflutkanals mal Zeitdauer - jetzt bricht er ab, vier Minuten, das ergibt.. ja, zwanzig Prozent müssen in den Tanks verblieben sein, aber. nur zwanzig Prozent! Das ist unvorstellbar!«

Toliman hatte das Protokoll gestoppt und sich zurückgelehnt. Mira tat das gleiche. Sie wunderte sich ein bißchen, sie verstand nicht gleich, was ihrem Gefährten da plötzlich in den Kopf gekommen war. Kein Wunder, Navigation war ja auch nicht ihr Fach. Aber dann begann sie doch zu überlegen, neugierig, ob sie wohl auch darauf kommen würde. Es mußte mit dem Treibstoffverbrauch zu tun haben. Achtzig Prozent des Inhalts der Außentanks, das hieße ja, die Innentanks für die Aktivkomponente mußten fast leer gewesen sein. Aber - ja, das war es wohl, was Toliman so beschäftigte: Anderthalb Stunden Antrieb, selbst auf höchster Stufe, hätten nur einen kleinen Teil dieser Treibstoffmenge verbrauchen können! Was daraus folgte, war Mira auch klar, obwohl sie von den Teilsystemen des Schiffs weit weniger verstand als Toliman. Das einzige System, das Energie und damit also auch den Energieträger unbegrenzt verbrauchen konnte, war das Schutzfeld.

Seine Generatoren arbeiteten immer entsprechend der äußeren Belastung. Mira erschrak: Was mußte das für eine unerhörte Belastung gewesen sein!

»Rechne doch mal aus«, bat Mira, »wieviel Energie das Schutzfeld verbraucht hat. Überschlag genügt.«

Toliman erwachte aus seinen Grübeleien. »Ich hätte das gleich sehen müssen«, sagte er, während er die Werte eintippte. »Gehen wir davon aus, daß bei x plus hundertsiebenundzwanzig der jetzige Minimalstand erreicht war? Ich denke, ja. Dann also...«: Während er rechnete, erzählte er weiter. »Ich hab beim Grobüberblick nicht bemerkt, daß er Treibstoff umgeflutet hat. Aber auch ohne das hätte der Verbrauch mich stutzig machen müssen. Da haben wir’s!«

Sie starrten beide auf das Ergebnis. Die Energiemenge, die das Schutzfeld verbraucht hatte, hätte ausgereicht, um einen kleineren Planeten zu sprengen.

»Nein, das würde die ALDEBARAN wirklich nicht überstehen«, murmelte Toliman. Dann richtete er sich entschlossen auf, aber als er Mira jetzt ins Gesicht sah, zögerte er wieder. Er sah, daß sie etwas sehr beschäftigte, und es mußte wohl etwas anderes sein als das, was er eben ausgesprochen hatte.

»Was geht dir durch den Kopf?« fragte er.

»Die Wechselwirkung!« flüsterte Mira. Dann sah sie ihn an und begriff, daß er ihren Gedanken nicht folgte.

»Das Schutzfeld reagierte«, sagte sie. »Reaktion setzt Aktion voraus. Was ist der Träger der Aktion? Der Raum ist doch leer? Und dann: Die Reaktion muß die Aktion binden. Irgend etwas muß sich verändern. Das kann doch nicht einfach so - verpufft sein.«

»Wir waren uns doch einig«, erinnerte Toliman, »daß wir die Natur dieser Anomalie nicht ergründen können.«

Toliman stockte. Mira war plötzlich so blaß geworden, wie er sie noch nie gesehen hatte. Auch sonst sah ihr Gesicht im Kontrast zu ihrem schwarzen Haar immer sehr hell aus, fast weiß, und eigentlich hätte niemand sich vorstellen können, wie das aussehen sollte, wenn dieses Gesicht erbleichte, aber jetzt sah er es.

»Was ist mit dir, ist dir nicht gut?« fragte er.

»Ja, ja«, murmelte Mira, »sicherlich, da waren wir uns einig...«

»Willst du dich nicht einen Moment hinlegen?« fragte Toliman, jetzt schon sehr beunruhigt.

Miras Gesichtszüge wurden einen Augenblick lang hart und scharf, dann löste sich ihre Schärfe in einem etwas mühsamen Lächeln, und sie sagte eine Spur zu forsch: »Nein, ist schon gut. Los, laß uns weitermachen!«

Rigel hatte nicht die mindeste Vorstellung von all diesen Verwicklungen, den schon deutlichen wie den noch verborgenen. Das Schiff war intakt, Gemma war gesund - alles andere würde sich finden. Die Energiefrage? Großes Problem! Dazu hatte man doch die Aktivgeneratoren. Mit ihnen konnte man sozusagen die Sterne anzapfen. Ein kilometerweiter Schirm aus Sonnenkollektoren erzeugte Strom, und ein Kommutator verwandelte den Strom in Treibstoff-Aktivkomponente. Die Ausbeute war zwar in so großem Abstand vom nächsten Stern gering, aber Zeit hatten sie ja. Noch verbrauchten sie etwas mehr Energie, als der infrarote Stern jetzt schon liefern konnte, aber die Rechnung war einfach: Ihren Eigenverbrauch am antriebslosen Zustand würden sie senken können - und die Ausbeute der Anlage würde steigen. Dann würden sie von der gewonnenen Energie leben und sogar diese und jene Einschränkungen wieder aufheben können; und schließlich würde die ALDEBARAN kommen und sie aufnehmen.

Das Ausbringen der Anlage war nicht schwierig, es war nur etwas zeitraubend und brauchte Geschick und Genauigkeit - eine Arbeit, wie Rigel sie liebte. Geräte, Techniken, Verfahren, komplizierte oder primitive, ganz wie es gebraucht wurde - das war seine Welt. Schließlich hatte die Menschheit in ihrer vieltausendjährigen Geschichte einen schier unermeßlichen Vorrat an Ver- und Bearbeitungsmethoden aufgehäuft ausschließlich zu dem Zweck, daß er, Rigel, sich dieses Vorrats nach Belieben bedienen sollte.

Rigels Zuversicht hatte nichts mit Leichtsinn zu tun. Er hatte gelernt, Probleme und Aufgaben in zwei Arten einzuteilen: solche, die er lösen konnte, und solche, die er nicht lösen konnte und für die also andere zuständig waren; und auf diese anderen verließ er sich ganz selbstverständlich genauso, wie diese sich auf ihn verlassen konnten.

Trotzdem war er immer bereit, den andern zu helfen, wo er konnte, und sei es mit ganz untergeordneter Zuarbeit. Am liebsten freilich half er Gemma.

So setzte er sich gleich, nachdem er die Anlage zur Treibstoffgewinnung ausgebracht hatte, zu Gemma. Die machte kein sehr zufriedenes Gesicht. Bei anderen hätte Rigel das gar nicht gemerkt, aber bei Gemma fiel es ihm auf.

»Nichts gefunden?« fragte er. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Gemma erklärte ihm, was zu tun war. Man mußte den Standort weit entfernter Sterne aufnehmen und mit den Sternkarten vergleichen; ergab sich eine geringfügige Abweichung, so konnte das ein Indiz sein für den jetzigen Standort der Anomalie. Selbstverständlich konnten sie nicht den ganzen Himmel absuchen, sondern nur einen kleinen Sektor von wenigen Grad in der Richtung, aus der sie kamen. Aber eben da hatte Gemma nichts gefunden, und sie ging jetzt daran, den Sektor etwas zu erweitern. Rigels Hilfe war ihr dabei sehr willkommen. Sie wies ihm ein kleines Gebiet zu.

Rigel ging denn auch mit Feuereifer an diese Arbeit. Aber sehr schnell erlahmte seine Begeisterung - er konnte sich auf der ganzen weiten Welt nichts Monotoneres vorstellen als dieses Aufnehmen und Vergleichen, fertig, der nächste, aufnehmen, vergleichen, fertig, der nächste. Selbstverständlich erledigte er das zuverlässig und aufmerksam, erstens, weil es für Gemma war, und außerdem, weil er gar nicht anders als zuverlässig arbeiten konnte. Aber er war doch froh, als Toliman sie beide zu sich herüber rief.

»Seht euch an, was Mira gefunden hat«, sagte er. »Es handelt sich um folgendes: Bei x plus siebenundsiebzig pumpt der Kapitän die Aktivkomponente aus den Außentanks um. Ungefähr zwanzig Prozent bleiben aber drin. Bei x plus dreiundachtzig sprengt er die Außentanks ab. Bisher wußten wir nicht, warum, aber er hat das weitere Schicksal der abgesprengten Tanks aufgenommen. Wir zeigen euch jetzt die Protokollaufnahmen.«

Gemma ersah aus der Protokollchiffre, daß es sich um eine multifrequente Aufnahme handelte, deren diskrete Aufnahmefrequenzen vom Radarbereich über das sichtbare Licht bis hin zur Röntgenstrahlung verteilt waren. Das wunderte sie zuerst, denn das Bild der abgesprengten Tanks war selbstverständlich ein Radarbild und auch als solches in der Darstellung erkennbar. Dann aber flammte der Bildschirm plötzlich auf, und auch die Kontrollampen der einzelnen Meßfrequenzen leuchteten. Ganz klar, die Tanks waren explodiert.

»Danach folgt«, erklärte Toliman, »noch eine dreiviertel Stunde Höchstbeschleunigung, und, wie wir aus dem Treibstoffverbrauch errechnet haben, eine schnell abnehmende Belastung des Schutzfeldes. Ich glaube, der Kapitän hat sich mit dem Entkommen nicht zufriedengegeben, er hat versucht, die Anomalie zu sprengen, zu vernichten.«

»Darum ist sie auch nicht zu finden!« warf Gemma ein.

»Aha«, sagte Toliman erfreut und wandte sich Mira zu. »Da siehst du’s!«

Mira schüttelte den Kopf. »Es gibt tausend mögliche Gründe dafür, daß wir die Anomalie nicht orten können. Kann sein, sie bewegt sich sehr schnell und senkrecht zu unserer Kurslinie. Kann sein, sie kreist um den Infraroten wie ein Planet. Oder ganz anders. Kann sein, sie pulsiert. Und so weiter.«

»Kann alles sein«, sagte Toliman, »aber kann man das prüfen?«

»Ja, seht ihr denn nicht«, rief Mira fast zornig, »daß die Größenordnung nicht stimmt! So eine winzige Explosion kann doch nicht etwas so Ungeheures.« Sie sah, daß sie tauben Ohren predigte, und hatte sich sehr schnell wieder gefaßt. »Ich muß noch was nachmessen. Gemma, hilfst du mir?« fragte sie. »Die Männer können inzwischen Essen machen, wie es Brauch ist!«

Das erste Essen nach einer Anabiose wird immer gemeinsam eingenommen, später macht der Schichtrhythmus das leider unmöglich.

Der Innenraum hatte - wie übrigens der KUNDSCHAFTER im Ganzen auch - eine kugelförmige Gestalt, etwa viereinhalb Meter betrug der Durchmesser. Ein künstliches Schwerefeld wirkte radial, so daß unten immer die Außenhaut und oben immer das Zentrum des Raumes war, wo man auch stand. Da kein Mensch ständig nach oben gucken kann, ohne Halsschmerzen zu bekommen, war jemand, der über dem Kopf stand, so gut wie in einem anderen Raum - man hörte ihn höchstens, sah ihn aber nicht.

Auf dem Boden, der inneren Kugelfläche also, waren verschiedene Arbeits- und Lebensfunktionen in verschiedenen Ringen angeordnet, die durch hüfthohe Aggregat- oder Pultoder Möbelreihen voneinander abgegrenzt waren. Die beiden Männer hatten nach alter Sitte im Küchenring den Tisch gedeckt, und nun kamen die Frauen von oben herab - Gemma, indem sie lustig über die verschiedenen Ringe hopste, Mira dagegen mit dem Sprung durchs Zentrum, der war im allgemeinen verpönt, man tat das nicht, zu leicht konnte man sich oder andere verletzen; aber Mira war ebenso geschickt wie eigenwillig, und sie verletzte wenigstens in diesem Fall nur Tolimans Autorität, der sich einen Augenblick lang nicht klarwerden konnte, ob er sie rügen sollte oder ob das nicht alle als albern empfinden würden, und dann war schon der Augenblick verpaßt, es zu tun.

Obwohl sich beide Frauen sehr locker bewegt hatten, machten sie ziemlich finstere Gesichter, als sie sich an den Tisch setzten, und das nicht etwa wegen des Essens, im Gegenteil, das lobten sie wortreich. Also mußten wohl die Messungen... Aber wenn keine Alarmsituation vorlag, war es nicht üblich, bei diesem ersten Essen über die Arbeit zu sprechen. Und obwohl das nur ein Brauch war und im Grunde niemand mehr wußte, wie er eigentlich entstanden war, hielten sie sich doch immer daran. Auf Raumfahrt, wo das tägliche Leben ja nicht wie auf der Erde von einer großen Zahl natürlicher oder gesellschaftlicher Rhythmen, Anforderungen und Bedürfnissen geregelt wird, spielen solche Bräuche eine viel größere Rolle als zu Haus, und selbst rebellische Naturen respektieren sie gewöhnlich.

Es mußte schon etwas Außergewöhnliches sein, das die beiden Frauen veranlaßte, diesen Brauch zu provozieren, und die beiden Männer fragten sich selbstverständlich, was das wohl sei - nur hielt Toliman sich aus Disziplin zurück, er mußte ja Vorbild sein, während Rigel zu phlegmatisch war, auf irgendeine Art von Provokation hereinzufallen.

Es war schließlich Gemma, die die Spannung nicht mehr aushielt. Immer wieder sah sie Mira an, anfangs todernst, bald aber zuckte es um die Augenwinkel, dann in den Mundwinkeln, schließlich prustete sie fröhlich los, worauf Mira schrill und etwas nervös auflachte. Es paßte gar nicht zu ihr, aber sie tat das manchmal, vor allem wohl dann, wenn eine Spannung sich nicht in Tätigkeit entladen konnte.

»Wir sind sowieso beim Nachtisch, also erzählt schon«, sagte Toliman. Mira warf ihm einen schnellen Blick zu, sie durchschaute diese Aufforderung als einen Versuch Tolimans, seine Autorität zu retten - gesprochen worden wäre jetzt auf jeden Fall.

Sie setzte wieder ein ernstes Gesicht auf, und auch Gemma hatte sich inzwischen gefaßt.

»Entschuldigt den Ausbruch«, sagte Mira, »die Messungen waren mit ziemlichen Aufregungen verbunden. Ich hatte schon früher den Verdacht, daß wir.. nun also, daß wir zeitlich versetzt worden sind. Erstens, weil wir räumlich nicht so sehr weit entfernt sind, wie es bei diesem Energieaufwand der Fall sein müßte. Und vor allem, weil die vom Schutzfeld verbrauchte Energie ja irgendeine Arbeit verrichtet haben mußte. Also haben wir uns auf die Veränderlichen gestürzt. Ich meine, das Verfahren ist euch doch klar? Wir können feststellen, an welcher Stelle seiner Periode sich jeder veränderliche Stern befand, als unser Schiff in die Anomalie geriet. Wenn wir mehrere Veränderliche jetzt messen, sehen wir, ob wir noch in der Zeit liegen oder zeitlich versetzt sind. Wir haben mit MiraSternen angefangen, nein, nicht meinetwegen, Rigel, sondern weil die so schöne lange Perioden haben. Andererseits sind sie in ihrer Periodizität nicht sehr zuverlässig, also nahmen wir noch ein paar Delta-Cephei-Sterne hinzu.«

»Hilfe, mach’s kurz!« stöhnte Rigel, der für Astronomie und Navigation nicht viel übrig hatte.

»Das Problem«, fuhr Mira fort, ohne sich stören zu lassen, »besteht nun darin: Die Summe mehrerer periodischer Kurven ist selbst wieder periodisch, soviel Mathe wirst du doch noch drauf haben, Rigel, oder? Wir kamen mit unseren Messungen auf eine Periode von fünfeinhalb Jahren, und jede weitere Messung an einem anderen Stern bestätigt diese Periode. Exakter: Der Zeitpunkt, an dem wir uns jetzt befinden, liegt entweder fünf Jahre zukünftig oder ein halbes Jahr vergangen, verglichen mit der Zeit beim Eintritt in die Anomalie. Halt, das war noch nicht genau - diese beiden Punkte sind die nächstmöglichen, aber wenn man nur nach diesen Messungen geht, können wir ebensogut zehneinhalb oder sechzehn Jahre und so weiter voraus oder sechs oder elfeinhalb und so weiter zurück sein. Wir wußten also nur die Periode. Zuerst sind wir von dem Gedanken ausgegangen, daß wir in der Zukunft gelandet sind, denn eine schnellere Vorwärtsbewegung in der Zeit ist immerhin leichter vorstellbar als eine absolute Rückwärtsbewegung. Versteht ihr, was das bedeutet hätte? ALDEBARAN wäre schon vor fünf Jahren zerstört worden, und wir hätten nicht nur keine Aufgabe mehr, sondern auch keine Möglichkeit, jemals zur Erde zurückzukehren.« Mira machte eine Pause, nicht um ihren Vortrag effektvoller zu gestalten, sondern weil sie sich an all die Zweifel und Sorgen erinnerte, die ihr durch den Kopf gegangen oder gestürmt waren. Rigel hatte davor keinen Respekt, er brummte: »Mädchen, wir begreifen alles, daß es schwer war und daß du doch eine Lösung gefunden hast, und wenn du willst, küssen wir dich alle dafür, aber nun sag doch endlich, welche.« Mira warf ihm einen vernichtenden Blick zu, aber dann lächelte sie doch. »Kommt das nicht deinem Temperament entgegen, wenn du hier nur sitzen und zuzuhören brauchst?« fragte sie. Dann fuhr sie ungerührt fort: »Gemma und ich waren uns sehr schnell einig darüber, daß fünf Jahre voraus eine sehr große Distanz sind, gemessen am Energieaufwand, während wir bei einem halben Jahr rückwärts zwar keine Vorstellungen haben, wie das physikalisch möglich ist, aber rein von der Energiebilanz her ist das wahrscheinlicher. So oder so, wir brauchten einen Indikator, ob wir früher oder später dran sind. Das war der schwierigere Teil der Arbeit, dazu kann Gemma berichten, denn das hat hauptsächlich sie getan.« Gemma wurde rot und sagte bescheiden, es sei nach Miras Ideen geschehen, aber man sah doch, daß sie sich freute. Und was ein bißchen rührend, ein bißchen lächerlich war: Auch Rigel reckte den Hals, als sei er stolz. Nur daß hier kein unbeteiligter Beobachter war, der das rührend oder lächerlich gefunden hätte.

»Die beste Uhr im All«, sagte Gemma, »sind die Pulsare, das weiß jeder. Ihre Pulsationen sind sehr konstant, nur über längere Zeitspannen verändern sie sich geringfügig, und von vielen weiß man genau, wie. Aber der Witz, ist, die Periode liegt zwischen Sekunden und Hundertstel Sekunden, die Veränderung aber etwa bei monatlich einer Hundertmillionstel Sekunde. Wir konnten zwar jetzt die Pulsation mit dieser Genauigkeit messen, aber wir hatten keine Vergleichswerte aus der Zeit unmittelbar vor der Anomalie, die automatischen Messungen haben solche Präzision nicht. Wir hatten aber zum Glück in den Speichern Messungen der ALDEBARAN, die sie uns mitgegeben hat. Die sind nun zwar schon einige Jahre alt, aber nach vielem Hin- und Hergerechne sind wir doch auf ein Ergebnis gekommen, das hinlänglich genau ist. Wir befinden uns auf jeden Fall innerhalb eines Zeitintervalls, das mit plus minus einem Jahr begrenzt werden kann.«

»So daß also feststeht«, schloß Mira ab, »wir nehmen diese gute Mahlzeit sozusagen vor einem halben Jahr ein.«

»So’n Quatsch«, empörte sich Rigel. »Vor einem halben Jahr lagen wir in Anabiose! Und zwar auf der ALDEBARAN!«

»Das tun wir außerdem«, sagte Mira ruhig. »Zur Zeit gibt es uns zweimal.«

Rigel nickte. »Alles klar«, sagte er ironisch, »nur eines möchte ich noch wissen - wenn wir jetzt noch mal in die Anomalie und wieder rausgehen - ich meine: Gibt es uns dann dreimal oder viermal?«

Toliman feixte, Gemma lachte fröhlich auf, ein bißchen zu fröhlich vielleicht, als wolle sie Rigels Bemerkung die Schärfe nehmen, die man möglicherweise heraushören könnte. Nur Mira blieb ernst und nachdenklich, sagte aber nichts.

»Wir müssen alle noch etwas tun, bevor wir in die normale

Schichteinteilung gehen«, sagte Toliman, als sich die andern wieder beruhigt hatten. »Mira, du errechnest bitte den Standort der ALDEBARAN zu unserer jetzigen Zeit, damit wir den Leitstrahl richten können. Gemma, du programmierst den Leitstrahl und dann die Botschaft drauf, die ich inzwischen formulieren werde. Rigel, du bilanzierst die Energie und bereitest die Übertragung energetisch vor. Zur Abgabe des Leitstrahls setzen wir uns wieder zusammen, und dann sprechen wir über die weiteren Arbeiten.«

Toliman war recht zufrieden mit sich, als er die Botschaft formulierte. Es ließ sich doch alles noch besser an, als es zu Anfang ausgesehen hatte. Freilich, der Kapitän war krank, und man konnte nur hoffen, daß die Ärzte an Bord des Mutterschiffs ihn wieder heilen würden. Und es freute ihn auch gar nicht, daß er nun die große und unerwartete Bewährungsprobe eben dieser Krankheit zu danken haben sollte. Aber daß er sie bestehen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick. Und daß dieser Vorfall nicht in den Logbüchern der Raumfahrt begraben werden würde, dafür würde ja wohl diese sensationelle Anomalie sorgen. Und ein bißchen Berühmtheit, selbstverständlich, ohne daß man sich groß etwas darauf einbildet - wen würde das nicht kitzeln?

Aber als er noch ein paar Einzelheiten abrief, die er nicht im Gedächtnis hatte, bemerkte er, daß Mira reglos vor ihrem Pult saß.

»Wollen wir tauschen?« fragte er, für einen Augenblick hatte er einen Anflug von schlechtem Gewissen, denn schließlich war er der Navigator und hätte eigentlich den Ort der ALDEBARAN berechnen müssen, während Mira sich wohl doch hätte genauer und zutreffender über diese Anomalie äußern können - aber Mira schüttelte den Kopf, gleich darauf hieben ihre Hände auf die Tastatur ein.

Toliman nickte befriedigt, wollte eigentlich nicht mehr hinsehen, tat es aber dann doch. Und wunderte sich. Das waren doch keine Kursberechnungen, das war keine Navigation, soviel war an den Angaben zu sehen, die über den Schirm huschten.

Toliman stand auf und ging zu Mira hinüber. Die schaltete den Schirm ab und wandte sich ihm zu. Jetzt sah er, daß ihr Mund einen geraden, dünnen Strich bildete und ihre Augen in stumpfer Abwesenheit blickten.

»Mira!« rief er erschrocken.

»Es hat keinen Zweck«, flüsterte sie.

»Was hat keinen Zweck?«

Mira bewegte die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. Toliman erkannte, daß es nicht Furcht oder Erschöpfung war, was sie stumm machte, sondern daß sie in tiefster Konzentration versuchte, irgend etwas zu formulieren.

»Hast du die Koordinaten der ALDEBARAN?« fragte er.

»Hab ich längst«, sagte sie in normalem Ton, ohne ihren Gesichtsausdruck zu ändern, »nützt uns aber nichts.«

»Was ist denn los, warum sagst du nichts!«

»Ruf die anderen. So, wie wir uns das gedacht haben, geht es nicht.«

Toliman nickte. Einerseits war er nicht gerade erfreut darüber, daß Mira seine Arbeitseinteilung über den Haufen warf, andererseits war ihm nicht entgangen, daß sie »wir« gesagt hatte und nicht du. Und in einer solchen ungewohnten Situation war es gewiß nicht auszuschließen, daß Entdeckungen und Einfälle plötzlich kamen, auch solche, die eben gefaßte Vorsätze über den Haufen warfen.

»Kommt mal alle her«, rief er, »Mira hat was entdeckt!«

Gemma fiel von oben herab, Rigel kam aus dem Nachbarring. »Bin sowieso fertig«, sagte er, »was gibt’s denn?«

»Ich habe nichts entdeckt, mir ist ein Problem bewußt geworden«, sagte Mira, »ich hätte gleich darauf kommen müssen, als Kosmogonin. Das ist von eurem normalen Denken so weit weg, daß ich gar nicht weiß, ob ich mich verständlich machen kann. Aber als Kosmogonin muß ich euch sagen, auch wenn ihr es nicht glaubt oder nicht versteht: Wir können jetzt nicht an die ALDEBARAN senden.«

Die anderen schwiegen und suchten zu verstehen.

Gemma sagte schließlich zögernd: »Du - das versteh ich aber nicht. Die Sendeanlage ist in Ordnung, wir sind hier und die ALDEBARAN da, zwischen uns ist leerer Raum, also.« Sie zuckte hilflos die Schultern.

»Das ist es eben«, sagte Mira ein wenig mutlos, »das Problem liegt tiefer, aber.«, ihre Stimme gewann wieder den normalen Klang, »ich werde versuchen, es zu erklären, vielleicht hilft das auch mir, klarer zu sehen. Fangen wir an: Wie der Zeitsprung zustande gekommen ist, darüber wissen wir nichts. Richtig? Es ist auch das erste Mal, daß eine solche Erscheinung beobachtet wurde. Nur vorher und nachher sind wir in unserem normalen Raum und unserer normalen Zeit, in denen die uns bekannten Gesetze herrschen. Richtig?«

Die anderen nickten, noch ahnungslos, wohin die Reise gehen sollte.

»Eins der grundlegenden Gesetze, das in unserer ganzen Welt gilt, nicht nur in der Physik, ist die Kausalität. Richtig? Wenn wir einen Spruch an die ALDEBARAN senden, und sie empfängt ihn, während wir noch an Bord sind, dann wird die Kausalität verletzt.«

»Na und - dann wird sie eben«, sagte Rigel verständnislos. Plötzlich lachte er. »Die werden sich ganz schön wundern, wenn sie von uns einen Spruch bekommen, dann in den Wannen nachsehen, und wir liegen noch drin!« Dann stutzte er. »Moment mal, als wir geweckt wurden, um in den KUNDSCHAFTER zu steigen. Nee, dann würden sie doch den KUNDSCHAFTER gar nicht erst. Also, da find ich mich jetzt nicht mehr ‘raus.«

»Du bist ja schon fast wieder draußen«, sagte Toliman beunruhigt, »wenn sie damals keinen Spruch bekommen haben, dann heißt das, daß wir jetzt keinen absenden. Denn wenn wir einen absenden würden, würden sie den KUNDSCHAFTER nicht losschicken, wir wären also gar nicht hier und könnten demzufolge auch nicht. Jetzt hab ich mich auch verheddert.«

»Von dieser Seite her«, sagte Mira so leise, daß es kaum zu hören war, »kommen wir nicht ‘ran, das liegt an der Methode: Wir postulieren das Antikausale und wundern uns dann, daß es nicht kausal ist. Nein, betrachten wir das Absenden eines Spruchs verallgemeinert als Experiment, so folgt: Das Experiment verstößt gegen eine grundlegende Gesetzmäßigkeit. In solchen Fällen setzt sie sich gegen das Experiment durch. Da wir nicht wissen, wie der Verstoß zustande kommt, wissen wir auch nicht, wie sie sich durchsetzt. Kann sein, es passiert gar nichts, kann sein, es gibt eine Katastrophe. Auf jeden Fall ist die Energie für die Sendung verschwendet, denn eins wissen wir sicher: Sie ist nicht angekommen.«

»Wann können wir denn dann senden?« fragte Gemma.

»Frühestens zu dem Zeitpunkt, wo unser KUNDSCHAFTER aus unserer normalen physikalischen Welt verschwindet, also wenn er in die Anomalie eintaucht. Dann sind wir wieder in unserer normalen Zeit, nur ein bißchen räumlich versetzt, aber unbedeutend; dann gibt es uns nur einmal, die ALDEBARAN ist auch da, wo sie hingehört, zwei bis drei Flugwochen hinter uns. Dann wird die Kausalität nicht mehr verletzt. Wir müssen also einfach die uns zusätzlich geschenkte Zeit verstreichen lassen, sozusagen unsere Zeit abwarten. Unsere echte Zeit. Ein halbes Jahr warten.«

»Verdammt noch mal!« sagte Rigel mit ehrlicher Bewunderung in der Stimme, »wie bist du bloß darauf gekommen, Mi?«

»Du hast mich drauf gebracht«, sagte sie.

»Ich?« fragte Rigel voller Staunen.

»Ja, mit deiner Frage, ob es uns dann drei- oder viermal gibt. Erinnerst du dich?«

»Das sollte doch bloß ein Gag sein«, sagte Rigel, als müsse er sich entschuldigen.

»Aber es hat mich darauf aufmerksam gemacht«, erklärte Mira, »daß die Dinge jetzt viel komplizierter liegen, als wir uns das bis zu diesem Zeitpunkt vorgestellt hatten, und daß man jeden konkreten Schritt viel sorgfältiger durchdenken muß. Vorher.«

»Ja, dann«, sagte Toliman nach einer Weile, »müßten wir mal feststellen, wo wir uns in einem halben Jahr voraussichtlich befinden, wenn wir weiter ohne Antrieb durch den Raum segeln. Wir haben da vor uns einen ziemlichen Brocken. Es hilft nichts, wir müssen noch mal ‘ran, bevor wir in die Schichtaufteilung gehen. Ich werde mich mit dem vor uns liegenden Raum befassen. Mira, würdest du bitte die Frage untersuchen, ob sich die Relativbewegung der Anomalie irgendwie wenigstens abschätzen läßt und ob es irgendwelche zuverlässigeren Anzeichen gibt, an denen man sie orten kann - jetzt, da wir Zeit haben, können wir uns um größere Effektivität der Botschaft bemühen. Rigel, für dich habe ich auch eine Knobelaufgabe. Sieh doch mal zu, ob du herauskriegst, was den Kapitän veranlaßt hat, die Außentanks rechtzeitig abzusprengen. Geh die Protokolle genau durch, achte auf die kleinste Abweichung. Gemma und Rigel, ihr nehmt euch die Medicom-Aufzeichnungen über den Kapitän vor. Während er wach war, sind ja seine Werte protokolliert worden, vielleicht ist da etwas zu sehen, welcher Natur seine Erkrankung ist. Ich würde mich nicht wundern, wenn es da Zusammenhänge geben würde. Alle mit dieser Einteilung einverstanden?«

Niemand erhob Einspruch.

»Und laßt euch nicht von dem Umstand beeindrucken«, schloß Toliman, »daß wir noch keinen Ausweg wissen. Kommt Zeit, kommt Rat. Und Zeit haben wir ja jetzt.«

Toliman begann mit einer Überschlagsrechnung. Wie weit würden sie in dem halben Jahr fliegen, wenn da vor ihnen nur leerer Raum wäre? Obwohl sie nicht sehr schnell waren, doch ziemlich weit, so weit, daß die benötigte Energie für den Leitstrahl größer wurde. So, und nun dieser Infrarotstern. Würde er den Flug beschleunigen oder bremsen? Vielleicht. Die Ahnung einer Möglichkeit begann in ihm heraufzudämmern. Wenn - ja wenn es sich machen ließe, daß der KUNDSCHAFTER auf einer Planetenbahn um den Stern kreiste, dann konnte die Sonnenenergie mindestens für die Lebenserhaltungssysteme genutzt werden. Und der Schutz konnte nach einiger Zeit, wenn man die Gegend richtig kannte, auch reduziert oder zeitweise abgeschaltet werden. Vielleicht. Leider war das alles vorerst nur vielleicht. Um darüber Genaueres sagen zu können, mußte vor allem der Stern aufgeklärt werden. Und seine Umgebung. Hatte er Planeten? War. Moment mal, was war denn das?

Während Toliman überlegte, hatte er die optischen und elektromagnetischen Sensoren auf den Stern gerichtet und das Sammelbild eingeschaltet, und da war doch auf der roten Scheibe ein heller Fleck zu sehen!

Einen Augenblick lang spielte Toliman mit dem Gedanken, Mira zu rufen, weil sie besser damit Bescheid wußte. Er ließ es dann aber, sie hatte Wichtigeres zu tun, und außerdem, außerdem, ach, verdammt, immer diese Gedanken an die Autorität, das mußte er sich abschminken. Wenn sich so etwas erst in die Entscheidungsfindung drängte.

Also dieser Fleck. Haben Infrarotsterne so helle Flecken? Eigentlich sollten sie ruhig sein, riesig und massig und relativ kalt, wie sie nun mal sind. Bitte schön, vermessen wir den Fleck, er wird uns schon sagen, was es mit ihm auf sich hat.

Oder halt, erst mal sehen, gab es noch mehr Unregelmäßigkeiten auf dieser Scheibe, die vielleicht nur nicht so hervorstechend waren? Toliman vergrößerte sie so weit wie möglich, schaltete dann einen feinmaschigen Raster darüber und gab der Automatik den Auftrag, die Teilquadrate zu vergleichen. Na also, da war noch ein dunkler Fleck. Kleiner. Mit bloßem Auge kaum zu sehen. Aber sonst nichts.

Ein heller Fleck, ein dunkler Fleck. Nicht zwei oder drei Dutzend oder hunderttausend, sondern von jeder Sorte einer. Komischer Stern. Nein, na klar, nicht der Stern war komisch, sondern seine, Tolimans, Begriffsstutzigkeit. Das waren keine Flecken. Das war, wollen wir wetten, ein kleiner, heller Stern mit einem dunklen Begleiter, die sich zwischen ihnen und dem Überriesen befanden.

Moment - wenn die kleine Sonne einen Planeten hatte, dann bedeutete das, daß sie sehr weit von dem Überriesen entfernt sein mußte, sonst hätte sie den Planeten längst verloren.

Und wenn schon die Tatsache, daß die beiden Körper sich gerade genau zwischen dem Schiff und dem Überriesen befanden, ein ziemlich unwahrscheinlicher Zufall war, so war es wohl fast unmöglich, daß zufällig zwei voneinander unabhängige Körper gerade vor der Scheibe vorbeizogen.

Wenn aber die kleine Sonne weit von dem Überriesen entfernt war, dann - dann mußte sie ihnen sehr nahe sein! Sehr viel näher jedenfalls als der Große, der etwa zwei Lichtstunden entfernt war. Da gab es Möglichkeiten!

Aber erst mal feststellen, ob das stimmte. Wie? Den dunklen Punkt anpeilen, er würde reflektieren.

Signal ab. So, das war’s. Wie weit mochte er entfernt sein, der Planet? Wann würde das Signal zurückkommen? In einer Stunde? Einer halben Stunde? Wenn man das Masseverhältnis. Also der Große war ein RV-Tauri-Stern, das hatte die Automatik schon an Hand der Strahlung klassifiziert; und der Kleine - wie sah denn das Spektrum aus? Na ja, ungefähr so wie das der heimatlichen Sonne. Mochte vielleicht auch so groß sein. Na gut, nehmen wir mal an, gleiche Größe wie zu Haus. Wie groß ist die Parallaxe? Bißchen schwer zu messen, vor der Scheibe, die wird ihn optisch kleiner machen, aber immerhin. Ach, das war alles zu ungenau. Mußte ja auch nicht sofort ganz exakt ermittelt werden. Die Bewegungsrichtung? War auch nicht so schnell festzustellen. Aber wenn sie Glück hatten, dann drehte der näher an ihren Kurs heran, dann konnte man vielleicht den KUNDSCHAFTER auf eine Planetenbahn bringen. Oder, halt mich fest, auf eine Parkbahn um diesen schwarzen Begleiter, diesen Planeten. Vielleicht war der gar nicht so schwarz. Vielleicht... Unsinn, Toli, jetzt fängst du an zu spinnen. Ist doch ganz egal, ob Planeten- oder Satellitenbahn, Hauptsache, die Sonnenenergie läßt sich nutzen, und das ist bei so einer kleinen, hellen Sonne ganz bestimmt leichter als bei den Infraroten.

Wenn nicht - verdammt, das mußte überhaupt erst einmal alles durchgerechnet werden. Es konnte ja sein, daß die alte Kursabschätzung nicht mehr zutraf, wenn da wirklich eine kleine Sonne den Kurs beeinflußte. Es konnte sein, daß nun die Bahn des antriebslosen KUNDSCHAFTERS gar nicht mehr an dem Infraroten vorbeiführte, konnte sein, daß er auf eine Spirale gerissen wurde, die schließlich zum Absturz in den Überriesen führte, und wenn das der Fall war, dann war die kleine, helle Sonne vermutlich die einzige Rettung, dann mußte man bei ihr oder ihrem Planeten eine Parkbahn beziehen - aber ohne die Antriebe zu benutzen? Kaum. Und was wurde dann aus dem Leitstrahl?

Es war Unsinn zu spekulieren, was sein könnte - erst mußte man Werte haben, dann konnte man rechnen. Die ganze Umgebung der kleinen Sonne mußte man abtasten, mit einem Fächerstrahl, und der mußte auch über den Winkel hinausgehen, unter dem der Überriese zu sehen war; das waren immerhin schon über zehn Grad, also zwanzigmal so breit wie zu Haus die Sonne.

Toliman programmierte einen fächernden Strahl und löste ihn aus. Jetzt gab es für ihn erst mal nichts mehr zu tun, als zu warten.

»Wie sieht’s bei dir aus, Mi?« fragte er, seine Unruhe verbergend.

»Noch keine Ergebnisse«, sagte sie, »aber ich könnte jetzt unterbrechen.«

»Und ihr beiden da oben?«

»Geht ihr mal in die Schichtpause«, empfahl Gemma, »wir sind gerade mitten drin!«

»Gut«, sagte Toliman, »geh du zuerst ins Faß, Mira, ich mach inzwischen die Betten.«

Das »Faß« war die luxuriöseste Einrichtung des Pilotschiffes, ein Wasserstrahlenbad, in dem man bis zum Hals saß und das eben mit Wasser betrieben wurde, nicht mit Aerosolen wie die sonst üblichen Duschsäcke.

Mira ließ sich das nicht zweimal sagen. Baden war ihr zweitgrößtes Vergnügen, hatte mal jemand festgestellt, und das bißchen Ironie, das in dieser Feststellung mitschwang, rührte wohl daher, daß dieser betreffende Jemand nicht in die Lage versetzt worden war, ihr »erstgrößtes« Vergnügen beurteilen zu können.

Die Betten, die Toliman inzwischen zurechtmachen wollte, waren selbstverständlich auch Schiffsbetten, und das Schlafzimmer ein Schiffszimmer. Einige der Ringe, in die die Innenfläche der Kugel aufgeteilt war, enthielten Liegen unter einem aufblasbaren Zelt, und wenn diese Schlafzimmer auch sehr klein und niedrig waren, so enthielten sie doch für Raumschiffverhältnisse einen ziemlichen Luxus. Einschlaf- und Weckhilfen, Kopfhörer, Leselicht und eine Trennwand zwischen den beiden Liegen, die sich verstellen ließ, so daß jeder auch die Möglichkeit hatte, einmal ganz allein zu sein.

In einem großen Raumschiff war das alles gewiß einfacher zu bewerkstelligen, dort hatte man Kabinen und andere Trennungsmöglichkeiten, und dabei waren sie dort in der Regel weniger nötig, weil die meisten Reisenden erst am Ziel wach wurden und dann die kurze Zeit bis zur Rückreise fast ununterbrochen tätig waren. Hier aber, im KUNDSCHAFTER, mußte man von vornherein damit rechnen, daß vorfristig geweckt würde, und dann konnte es wie jetzt auch passieren, daß die Besatzung sehr lange miteinander arbeiten mußte. Da war es unabdingbar, daß jeder die Möglichkeit bekam, seine Intimsphäre zu wahren und so offen oder abgeschlossen zu gestalten, wie es ihm paßte - das hatte sich längst als eine psychologische Notwendigkeit bei langen Reisen herausgestellt.

Diese Einteilung, daß Mira badete und Toliman die Betten machte, war ein Ritus. Und sie hatten beide diesen festen Brauch nötig, vor allem Mira, die sonst auch im Gefühlsleben viel spontaner empfand und handelte. Das war eine Folge der Anabiose; nach einer viele Jahrzehnte umfassenden praktischen Handhabung hatten die Mediziner jeden störenden Faktor und jede Quelle etwaiger späterer Defekte ausgeschaltet, und die Sternfahrer erwachten wirklich in einer körperlichen Verfassung, als sei es Morgen und sie seien am Vorabend rechtzeitig schlafen gegangen - aber eben nur in der körperlichen Verfassung. Was die Mediziner nicht beheben konnten, waren die seelischen Folgen des Wissens um die verflossene Zeitspanne; und diese Folgen äußerten sich, bei einem mehr, bei dem anderen weniger, aber fast immer mit dem gleichen Effekt: in einer Art Fremdheit gegenüber den anderen, gegenüber der Umgebung und sogar gegenüber sich selbst. Und bei normalen, gesunden Paaren, die ja doch einander kannten und verbunden waren, erzeugte diese Fremdheit zugleich starkes erotisches Begehren und die Unsicherheit einer ersten Begegnung.

Mira, deren Nervensystem schnell und heftig auf alle tieferen Eindrücke reagierte, fand in der wohligen Berührung des warmen Wassers die völlige Entspannung, aus der heraus sich eine freudige, mit dem Partner harmonisierte Spannung der ganzen Persönlichkeit aufbauen ließ, ja, eigentlich von selbst aufbaute, man mußte nur aufmerksam auf die kleinen Zeichen des anderen horchen und auf ihre leisen Echos in der eigenen Seele. Toliman dagegen fand in der Betätigung die Möglichkeit, sein Begehren auf einem erträglichen Anfangsniveau zu stabilisieren - er benutzte manchmal so umständliche Umschreibungen, um sich selber besser zu verstehen. Dabei war das gewiß nicht schwer zu durchschauen: Er hatte wahrhaftig genug Phantasie, sich vorzustellen, wie seine großen Hände Miras nackte, magere Schultern umspannten - aber jetzt mußte er mit eben diesen Händen den Luftdruck in ihrem Bett prüfen, es gab Geräte dazu, freilich, aber es galt zwischen ihnen der freundliche Aberglaube, daß kein Gerät so genau Miras bevorzugte Einstellung der Pneumatik prüfen könne wie eben Tolimans Hände. Toliman wollte alle Einzelheiten ihres »Schlafzimmers« prüfen, ob sie richtig angeordnet waren, ob alles vollständig war, und er hatte das schnell und planvoll zu tun. So, nun noch die Trennwand in die halbe Höhe, daß sie sich nicht sehen konnten, wohl aber hören, jetzt schnell ausziehen - und da huschte schon Mira in ihre Hälfte.

In diesem Moment überfielen ihn die Sorgen wie feige Hunde, die auf einen unbewachten Augenblick gewartet hatten: der Energiemangel, die Unsicherheit der Bahn, die beiden Sterne, die Botschaft an das Mutterschiff - konnte er das denn nicht jetzt beiseite schieben, er durfte doch nicht mit diesen Problemen im Kopf. Jede Frau würde so etwas merken und zu Recht beleidigt sein, na und erst Mira, die Empfindsame. Verdammt, ließen sich denn diese Gedanken nicht unterdrücken.

Da sah er Miras Hand auf der Trennwand liegen wie ein selbständiges Wesen, das mit gespielter Absichtslosigkeit auf sich aufmerksam machte. Der Zeigefinger zog sich zusammen, streckte sich wieder. Toliman legte seine Hand davor, es der anderen überlassend, ob sie die seine ergreifen wollte oder sich ihr nur sanft nähern. Aber sie tat keins von beiden, sie flüchtete nicht zu schnell freilich, damit das Einholen nicht zu schwierig würde. Endlich drückten sie beide die Trennwand herunter.

Da lag sie, nackt. Zog ihre Hand weg. Drehte ihm den Rücken zu - Fortsetzung der provozierenden Flucht. Seine Fingerspitzen verfolgten sie und näherten sich ihrem Nacken; einige Millimeter davor verhielten sie - ob sie sie wohl spürte? Mira schnurrte leise. Er berührte ihren Nacken, strich mit den Nägeln leicht den Rücken herunter. Ihr ganzer Körper schauerte zusammen, sie warf sich herum, ihre Augen leuchteten.