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Es war eine anstrengende Woche, die diesen Aufregungen folgte, gewiß die anstrengendste bisher, und das nicht nur körperlich.
Die ungewohnte, schwere Arbeit stellte die Hauptbelastung dar. Die Anbaufläche mußte noch einmal erweitert werden, wobei Gemma, des Biestes wegen, zeitweise und Rigel ganz ausfiel - Rigel hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Wasserkraftwerk zu bauen, bescheiden und klein zwar und ohne Verwendung von Holz, ihm würde schon etwas einfallen. Jedenfalls waren alle bis zum äußersten erschöpft, und die Ration, die sie sich selber zugeteilt hatten, reichte nur, um den wütendsten Hunger zu stillen. Dafür aber hatten ihnen diese Bohnen noch nie so gut geschmeckt, oder richtiger: so wenig widerwärtig.
Gemma arbeitete täglich dreimal eine Viertelstunde mit dem Biest, und wahrhaftig nicht erfolglos - das Tier lernte schneller als ein Hund auf der Erde. Aber leider kam Gemma mit der einen genehmigten und eingeplanten Schote nicht aus. Also gab sie dem Tier von ihrer Ration. Rigel, der das bemerkte, gab ihr dafür von seiner ab, und Mira, die auch nicht blind war, schummelte ihr ebenfalls hin und wieder etwas zu. Worauf Toliman dann wieder Mira etwas abgab. Und da ohnehin alles von allen bemerkt, aber nicht darüber gesprochen wurde, schienen sich die gegenseitigen kameradschaftlichen Beziehungen zu festigen.
Dann aber fiel der erste Regen, den sie hier erlebten. Es war ein heftiger Sturzregen. In kürzester Zeit schwoll das Bächlein zu einem respektablen Wildwasser an, das hier und dort über die Ufer trat. Auch die Anpflanzungen wurden in Mitleidenschaft gezogen, einige Kräuter wurden fortgespült, und wenn das auch, im ganzen gesehen, nicht gar so schlimm war, so erfüllte es doch alle mit Sorge.
Am anderen Tag schienen wieder die Sonnen. Aber nun hatte Rigels Staudammprojekt noch zusätzlich Bedeutung gewonnen - es mußte helfen, die Anpflanzungen zu schützen. Damit war auch eine Entscheidung über den Standort gefallen: Der Staudamm mußte oberhalb des Schiffes liegen, also im nördlichen Teil des Tals. Rigel hatte ursprünglich, nach Betrachtung der Luftaufnahmen, das südliche Ende im Auge gehabt, wo das große Tal in die Schlucht überging. Aber er änderte seine Pläne leichten Herzens, zumal er mit dem Gedanken spielte, man könne ja, wenn die Methode sich bewährt habe, immer noch da unten einen zweiten Staudamm bauen.
Eine Methode nämlich hatte Rigel schon ausgeknobelt, nur den geeigneten Platz mußte er noch finden, und er hatte seine Gründe, als er Gemma darum bat, ihn mit dem Biest zu begleiten; er wollte selbst sehen, wie sich das Biest so anstellte, weil er die Absicht hatte, es später für ein paar Transporte vom Raumschiff zum Bauplatz einzusetzen. Gemma wiederum war interessiert daran, ihren Einfluß auf das Biest in einer bisher ungewohnten Umgebung zu erproben. Und hinter der Biegung, die etwa achthundert Meter vom Schiff entfernt war, lagen ja weiter nördlich noch einige Kilometer Tal, die sie bisher nicht besichtigt hatten.
Sie zogen nach dem Mittagessen los, Rigel voran, dann Gemma, die immer mal hier und da eine Pflanze aufnahm oder ein Grasbüschel betrachtete. Hinter ihr trottete das Biest, dem sie das Kommando »Komm mit!« gegeben hatte.
Wie sie aus den Luftaufnahmen wußten, erstreckte sich hinter der Biegung das Tal etwa zwei Kilometer geradlinig nach Norden, und dann kam, kurz vor dem Massiv, an dem der Bach entsprang, noch einmal eine kleine Biegung. Viel mehr als die Luftaufnahme sagte freilich das Bild, das sich ihren Augen bot, auch nicht aus: auf der flachen, fast eben erscheinenden Talsohle gleichmäßig junger Graswuchs, die Wände rechts und links aus kahlem Stein, nur vereinzelt unterbrochen von einem winzigen Fleckchen Grün, dort, wo sich auf einem Vorsprung ein bißchen fruchtbarer Boden gesammelt haben mochte. Lediglich ganz am Ende des einzusehenden Teils war ein größerer grüner Fleck, der in halber Höhe der Felswand begann und sich bis nach oben zu erstrecken schien. Dieser Fleck vor allem erweckte Gemmas Interesse.
Rigel sah diesen Abschnitt des Tals anders. Er versuchte, den Lauf des Bachs mit den Augen zu verfolgen, und erkannte schnell, daß es auf dieser Strecke keine Möglichkeit gab, einen Staudamm anzulegen, jedenfalls nicht unter den gegebenen Bedingungen und mit ihren sehr begrenzten Mitteln. Enttäuschend also; aber doch nicht ernstlich schlimm, denn dann mußte der Wirkungsmechanismus, der den Bach bei Regen so schnell anschwellen ließ, hinter jener Biegung in der Ferne liegen, und dort würde es wohl auch günstige Bedingungen für einen Damm geben.
Beide hatten also keinen Grund, sich lange an Einzelheiten rechts und links ihres Weges aufzuhalten, und so schritten sie jetzt zielstrebig dem nördlichen Ende des Tals zu; nur das Biest blieb ab und zu stehen, weidete ein bißchen das junge Gras ab und galoppierte ihnen dann wieder nach, bis es sie eingeholt hatte.
»Familie mit Hündchen macht einen Sonntagsspaziergang!« sagte Gemma plötzlich und prustete gleich darauf los.
»Wenn unser Hündchen doch endlich mal einen Hasen aufstöbern würde«, sagte Rigel trocken, »dann hätten wir ein bißchen was zu den verdammten Bohnen.«
»Und wie wolltest du den Hasen fangen?« fragte Gemma.
Rigel war um eine Antwort nicht verlegen. In Gedanken hatte er schnell eine gut funktionierende Hasenfalle konstruiert, aber bevor er Gemma erzählen konnte, was er sich ausgedacht hatte, waren sie schon im letzten Drittel dieses Abschnitts, und plötzlich wurde erkennbar, was es mit dem grünen Fleck auf sich hatte: In halber Höhe war eine Lücke in der Wand, die sich zu einem winzigen Talkessel ausweitete, und darin standen, was sie so lange vermißt hatten: richtige kleine Bäume, dünnstämmig die meisten, wenigstens soweit sie das von unten sehen konnten, wohl gerade so dick, daß man sie mit beiden Händen nicht mehr ganz umfassen konnte.
Sehr groß war diese Stelle sicherlich nicht, denn das Luftbild hatte sie nur als winzigen Fleck gezeigt, aber es war doch seltsam und bedenkenswert, daß gerade hier, wo die Natur ein Stück des Tals isoliert hatte, Bäume wuchsen. Hatten Überflutungen ihren Wuchs auf der Talsohle verhindert? Aber die hätten dann wohl den ganzen Boden weggetragen.
Gemma kam mit diesen Überlegungen nicht sehr weit, denn Rigel hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Felswand hinaufzukraxeln. Gerade hier aber waren die drei, vier Meter, die er hätte überwinden müssen, ziemlich glatt, und er rutschte aus einer Höhe von anderthalb Metern wieder zurück. Ärgerlich sah er noch einmal den Fels an, dann musterte er sich und den leichten Schutzanzug, den er wie alle außerhalb des Schiffs trug. Doch bevor er zu einer Entscheidung kam, löste Gemma das Problem auf ihre Weise.
Sie brachte das Biest dazu, Hals und Kopf auf den Boden zu legen, saß auf, griff in den Hautlappen, und schon hob das Biest den Kopf. Jetzt hätte sie allerdings nicht weiter gewußt, wenn das Tier selbst nicht die einfachste Lösung gefunden hätte: Es legte den Kopf auf den Rand des kleinen Kessels und ließ Gemma absteigen. Anscheinend hatte sie bisher den Gegenstand dieser Instinkthandlung noch nicht richtig oder nicht vollständig gedeutet.
Jetzt aber stand sie erst einmal oben, und Rigel wartete unten. Ob er mit dem Biest.? Ob das Biest ihn. Nein, sie hatte mehr als einmal gespürt, welchen Respekt Rigel vor dem Tier hatte, und auch das Tier war mit den anderen nicht so vertraut wie mit ihr. Bisher war mit dem Biest alles gut gegangen, erstaunlich gut, überfordern durfte sie es aber nicht, das konnte alles gefährden.
»Das Seil!« rief Rigel von unten.
Natürlich! Die einfachsten Dinge vergaß sie, wenn sie über ihr Biest nachdachte. Jeder hatte ja in einer Tasche des Schutzanzugs ein dünnes, leichtes Seil. Es war wohl doch richtig, wenn man den Anzug trug.
»Warte noch einen Augenblick!« bat Gemma. Sie wollte sich erst genau umsehen, bevor sie hier beide vielleicht etwas zerstörten, was von Bedeutung war.
Das Fleckchen war nur etwa zehn, fünfzehn Quadratmeter groß, aber es war dicht bestanden mit diesen Bäumen, unterschiedlich alt offensichtlich, aber keiner dicker als die, die sie anfangs gesehen hatte. Ach, und Insekten schwirrten herum, der Boden war von sehr unterschiedlichen Pflanzen bedeckt, wie es aussah - alles in allem waren wohl auf diesem Fleckchen mehr verschiedene Lebewesen vertreten als in dem ganzen Tal da unten.
Neben ihr erschien jetzt der riesige Kopf ihres Biestes, der das Laub der Bäume abweidete, und unten winkte Rigel ungeduldig - nein, sonst gab es hier nichts, was ein Betreten verhindert hätte. Sie zog das Seil heraus, knotete es um einen Stamm, er bog sich etwas unter ihrem Zug, dann warf sie das Ende hinunter, und Rigel hangelte herauf; was leichter ging, als es aussah, da sie ja hier etwas weniger wogen als auf der Erde.
Rigel warf nur einen kurzen, abschätzenden Blick auf den Baumbestand und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Boden und den Seitenwänden zu.
»Was suchst du?« fragte Gemma, der es nicht gefiel, daß Rigel mit bloßen Händen im Boden wühlte.
»Das Wasser!« sagte Rigel. »Wo ist das Wasser? Wenn hier der ganze Untergrund aus Felsen bestehen würde, dann müßte der Boden nach dem gestrigen Guß noch mindestens feucht sein!«
Er betrachtete sorgfältig den Rand, wo der Kessel in die Felswand des Tals überging, pustete Staub weg, wischte mit der Hand darüber. »Nichts. Keine Spuren, daß hier etwas abgeflossen ist.«
»Vielleicht durch Felsspalten nach unten?« vermutete Gemma.
»Na ja eben, das ist es doch!« antwortete Rigel ungeduldig, so als müsse jedem andern selbstverständlich klar sein, was er sich dachte.
Ein heftiges Schnauben riß sie aus der Unterhaltung. Der Kopf des Biestes, das ein paar Meter weiter Bäume angeweidet hatte, war plötzlich von einer Wolke von Insekten umgeben.
»Schnell, Visier zu und ab nach unten!« kommandierte Gemma, und Rigel gehorchte ihr blindlings - in biologischen Fragen verließ er sich lieber auf sie.
Auch das Biest hatte schnell ein paar Sprünge rückwärts gemacht und schüttelte nun immer noch den Kopf und leckte sich mit der Zunge die Maulpartie. Gemma sah oben zwischen den Bäumen Insekten schwärmen, aber nach hier unten waren sie ihnen nicht gefolgt, und auch das Biest schien frei davon zu sein.
Aufatmend öffnete Gemma ihr Visier wieder. Rigel folgte ihr auch darin und fragte: »Glaubst du, daß die gefährlich sind?«
»Sie könnten es in doppelter Hinsicht sein«, meinte Gemma. »Erstens könnte ihr Gift für unsere Körper nicht so harmlos sein wie Bienengift, sondern vielleicht so wie Schlangengift auf der Erde, und zweitens könnten sie Mikroben übertragen. Falls sie stechen. Und falls sie nicht einen ganz anderen Abwehrmechanismus verwenden, von dem wir überhaupt keine Ahnung haben.«
»Sie tun doch aber so wie Bienen oder Mücken!«
»Woher willst du das wissen?« tadelte Gemma ihren Gefährten. »Was weißt du denn über ihr Zusammenleben? Ihre Ernährung? Ihre Arbeitsteilung, falls sie eine haben? Ihre Brutpflege? Bloß weil sie schwärmen? Das kann auch einfach dazu dienen, die Wirkung ihrer großen Zahl zu entfalten.«
»Gut, gut«, wehrte Rigel lächelnd ab, »du hast ja recht. Aber komm, jetzt bin ich gespannt, was wir hinter der Biegung finden.«
»Die Leine laß ich hier hängen, wir werden ja noch öfter.«, sagte Gemma, aber Rigel winkte ihr ungeduldig, so daß sie den Satz nicht vollendete.
Hinter einer Biegung fanden sie nun endlich, was Rigel so lange gesucht hatte. Der Boden stieg an, und zahlreiche, jetzt trockene Rinnen, die von allen Seiten zum Bach liefen, zeigten deutlich, daß hier bei Regen die Wasser der umliegenden Massive zusammenflossen, vor allem auch von dem das Tal nach Norden abschließenden Massiv, aus dem der Bach selbst entsprang. Vielleicht gab es hier sogar in den Felsen Wasserreservoire, aber das war jetzt nicht so wichtig. Viel bedeutsamer war, daß sich auch eine Stelle fand, an der die Abriegelung des Bachs mit ziemlich kleinem Aufwand möglich sein würde. Aufgeregt schritt Rigel die verschiedenen Entfernungen ab, legte sich auf den Boden, um die Niveauunterschiede zu prüfen, stellte sich schließlich in Positur und sagte fast feierlich: »Hier werden wir den Staudamm bauen!«
Der Bau des Staudamms, an dem alle beteiligt waren, wenn auch in unterschiedlichem Maße, half ihnen drei Tage lang über Hunger und Unbequemlichkeit hinweg. Denn zu der Nahrungsmittelknappheit war nun, bei häufigem Regen, noch die unangenehme Tatsache gekommen, daß sie die ohnehin nicht sehr wohlschmeckenden Bohnen und Kräuter manchmal roh verzehren mußten. Da wirkte sich die Rationierung des Trinkwassers doppelt aus.
Aber die Hoffnung, daß der Damm ihr Leben erleichtern würde, ließ alle emsig arbeiten. Sie freuten sich, daß sie hier mit wirklich primitiven Mitteln, sozusagen mit einer Behelfstechnologie, ein solches Werk zustande brachten.
Rigel hatte primitivste und modernste Technik mit Schwung kombiniert, Holz wurde für den Damm verwendet, Holz und Steine aus dem Kessel und der Umgebung, aber auch Quellstoff, Fallschirmleinen und Folie aus dem Schiff, und so unglaublich es schien, der nächste Regen bestätigte es: Der Damm hielt.
Zur Energiegewinnung diente eine kleine Turbine, an die ein Stromgenerator angeschlossen war - alles Teile, die aus dem Arsenal des Schiffs stammten, deren eigentliche Bestimmung freilich ganz anders war: Sie sollten bei planetaren Landungen zur Montage geeigneter Landefahrzeuge oder Boote dienen. Und zur Umwandlung des Stroms in Aktivkomponente wurden die Strahlwaffen benutzt, sie konnten nämlich mit elektrischem Strom aufgeladen werden, speicherten aber die Energie so, daß man sie direkt in den Kommutator ableiten konnte, der sie in Aktivkomponente verwandelte. Das Aufladen dauerte ungefähr einen Tag, dann mußten die vollen Magazine entnommen und gegen leere ausgetauscht werden.
Einen Teil des Holzes hatte Rigel zum Schiff transportiert und dort, zerkleinert, zu einem Stapel aufgebaut - der Himmel mochte wissen, wo er das mal gesehen hatte und woher er das konnte. Mehr als Staudamm und Minikraftwerk verdeutlichte dieser Stapel die körperlichen Anstrengungen, die sie alle hinter sich gebracht hatten. Toliman, der als Leiter und Organisator alle wichtigen Abläufe nicht nur von ihrem Ziel her betrachtete, sondern auch auf die dabei angewandten Methoden hin, stellte nach einer Überschlagsrechnung fest, daß sie auf der Erde mit ihrer etwas größeren Schwerkraft solche körperlichen Leistungen wahrscheinlich nicht vollbracht hätten - abgesehen davon, daß sie dort auch nicht nötig gewesen wären. Diese Feststellung verblüffte ihn selbst, denn trotz etwas Muskelkater hatte er nicht das Gefühl, überfordert worden zu sein. Zugleich machte er sich auch Sorgen: Wie würde der Körper in der Phase der Reproduktion darauf reagieren? Bestand nicht auch die Gefahr der tatsächlichen Überforderung, die nur von dem auf irdische Maße geeichten Körper nicht erkannt und nicht durch Schmerz oder andere Anzeichen zu Bewußtsein gebracht wurde?
So zufrieden er auch über den Zuwachs an Energie war - all diese Überlegungen zwangen ihn zu noch größerer Vorsicht. Und er mußte diese Vorsicht allein durchsetzen. Sprach er diese Besorgnisse aus und die Praxis zeitigte dann keinerlei Schwierigkeiten körperlicher Art, dann verwandelte sich das in ein Argument gegen ihn, und dann würde nichts mehr den Tatendrang der anderen bremsen. Vielleicht sollte er sagen, er habe das sichere Gefühl, man müsse jetzt kurztreten? Er lächelte etwas bitter, er wußte genau: Gemma oder Mira wurde es abgenommen, wenn sie »so ein Gefühl« hatten - ihm nicht. Nein, ihm gewiß nicht. Warum das so war, wußte er nicht, aber daß es so war, dessen war er ganz sicher.
Und alle, alle strebten sie nach weiteren Arbeiten, nach Erweiterung der Beobachtungen, der Kenntnisse, des Einflusses. Schon nahm Rigel ein neues Projekt in Angriff. Toliman wußte noch nicht, worum es sich handelte, sah aber sichere Anzeichen dafür in seinem Gehabe. Gemma redete immer wieder davon, daß sie etwas untersuchen müsse, sie wisse zwar noch nicht, was, aber sie würde es schon finden, wenn sie nur richtig suchen dürfte, und es sei bestimmt wichtig für Schiff, Besatzung und Aufgabe. Auch bei Mira konnte Toliman in dieser Sache nicht auf Unterstützung hoffen. Er wußte das, wenn er es auch nicht ganz verstand - vielleicht, weil sie Kosmogonin war, geistig an die Unendlichkeiten des Weltraums gewöhnt und deshalb durch die Beschränkung des Aktionsradius mehr als andere eingeengt? Aber er verstand sie ja auch sonst oft nicht ganz. Sie verstanden sich nicht ganz, und noch genauer: immer weniger. Selten waren die Minuten geworden, da eine Geste oder ein Wort plötzlich Zärtlichkeit von einem zum andern trug, und allzu oft zerstörte schon die nächste Geste, das nächste Wort wieder, was eben erst aufklingen wollte.
Aber er durfte sich davon nicht ablenken lassen. Was da vor sich ging, verstand er nicht und konnte er nicht beeinflussen. Aber was er verstand und beeinflussen konnte, war die Meinungsbildung des Kollektivs. Er durfte nicht warten, bis sie mit ihren Ausweitungstendenzen alle auf einmal auf ihn zukamen und ihn niederstimmten. Gegen einen oder zwei würde er sich immer durchsetzen können, wenn nicht mit Argumenten, dann mit Hilfe seiner Autorität, das traute er sich schon zu. Also mußte er selbst Zeitpunkt und Gegenstand der nächsten Auseinandersetzung bestimmen. Wer war am leichtesten zu beeinflussen und - nun ja, gegebenenfalls - zu besiegen? Das war sicherlich Rigel.
Toliman hatte all diese Überlegungen bei abendlichen Pflegearbeiten angestellt. Bald würden sie wieder ernten können, ein oder zwei Tage noch, die Anstrengungen waren schon geringer geworden, denen sie sich unterwerfen mußten, und hin und wieder hatte jeder auch eine Mußestunde. Toliman beendete seine Arbeit und ging zu Rigel hinüber, der am Bach saß und an irgendeinem kleinen Gegenstand fummelte. Toliman trat näher. Rigel schnitzte mit einem Messer an einem Stück Holz herum, das innen hohl war, so etwa wie Rohr oder Bambus. Toliman setzte sich daneben und sah zu. Ihm schien, als sei der Gefährte älter und ernster geworden. Bisher hatte er auf solche physiognomischen Eindrücke nicht viel gegeben, schon gar nicht hier, wo die Gesichter je nach dem Stand der beiden Sonnen zu jeder Tageszeit anders aussahen. Jetzt aber schien es ihm doch, als seien darin Züge eines stärkeren Selbstbewußtseins erkennbar - nun, dazu hatte Rigel wohl nach dem Dammbau auch allen Grund. Was er da wohl wieder basteln mochte?
»Etwas für dein nächstes Projekt?« fragte Toliman mit einem Kopfnicken und deutete auf das Holz.
»Nein«, sagte Rigel, setzte das Stück Holz an die Lippen und blies hinein. Ein dunkler Ton entstand, etwas gequetscht noch, aber Rigel nickte zufrieden und schnitzte weiter.
»Es überlegt sich so gut dabei«, setzte er hinzu, als müsse er sich entschuldigen.
»Und was überlegst du?«
»Ich möchte einen zweiten Damm bauen, unten am Talausgang, und noch ein Windrad, oben auf dem Hang.«
Toliman nickte. Ja, das waren gute Projekte, sie blieben im Tal. Darauf konnte er sich stützen. Darauf konnte er die Energie des Kollektivs lenken. Dankbar nickte er Rigel zu. Und dabei war er auf eine Auseinandersetzung gerüstet gewesen! Plötzlich erschien ihm seine eigene Einstellung unehrlich, unkameradschaftlich, hinterhältig. Na ja, das war wohl auch übertrieben; aber stand er nicht wirklich in einer etwas zwielichtigen Position seinen Gefährten gegenüber? Wollten sie denn etwas anderes als er? War er selbst wirklich derjenige, der es besser wußte? Ging er nicht schon zu sehr mit Argwohn und Vorurteil an alle Vorschläge und Gedanken der anderen heran?
Andererseits: Als Organisator mußte er tagtäglich Dutzende von Einzelheiten entscheiden, wichtige und unwichtige, vor allem aber doch solche, bei denen sich die Entscheidung nicht aus Grundsätzen herleiten ließ und schon gar nicht aus vollständiger Information über den Sachverhalt; also brauchte er, um überhaupt entscheiden zu können, gewisse Leitlinien, gewisse selbst gesetzte Grenzen und Richtungen, und die waren zwar vorläufig und widerrufbar, aber wenn sie Sinn haben sollten, mußte man sie genauso nachhaltig verteidigen und durchsetzen wie die heiligsten Prinzipien der Menschheit. Und eben das tat er doch, das war seine Aufgabe, seine Pflicht. Sache der anderen war es, Ideen zu finden, ohne immerzu an diese Grenzen zu denken; seine Sache war es, die Grenzen zu behüten, dazu war er der Organisator. Oder nicht? Oder war diese Vorstellung auch schon zu einseitig, zu sehr von dem Wunsch erzeugt, seine Position zu verteidigen?
Toliman merkte jetzt, wie sehr er sich verhedderte - so wurde alles nur immer unklarer. Nein, es war wohl doch richtig, den bewährten Kurs weiter zu verfolgen. In ein paar Tagen würde es wieder ausreichend zu essen und auch Wasser geben, dann würden die Spannungen schon nachlassen. Trotzdem nahm er sich vor, besser hinzuhören, wenn die andern ihre Gedanken aussprachen, mehr zu fragen als zu urteilen, die andern selbst zu klaren Ergebnissen kommen zu lassen, denn: selber denken macht klug!
Da rief Gemma nach ihm. Er drehte sich um, auch Rigel blickte in die gleiche Richtung, dann sprangen sie auf und liefen los: Gemma stützte Mira, die sich, man sah es an beider Bewegungen, kaum auf den Beinen halten konnte.
Es sei nicht schlimm, beteuerte Mira, ein bißchen übel sei ihr, ein bißchen schwindlig, etwas fiebrig auch. Auf gar keinen Fall wolle sie, daß sich nun alles um sie drehe. Sie brachten sie ins Schiff, und Gemma blieb bei ihr.
»Und wie geht’s dir wirklich?« fragte Gemma, als die andern gegangen waren.
In Miras Gesicht standen Schweißtropfen, und ihre Zähne klapperten aufeinander.
»Siehst du doch!« flüsterte sie mühsam.
Gemma wischte ihr das Gesicht ab und versuchte sie zu trösten. Was sollte sie sonst tun - ohne Computer, und noch dazu auf einem fremden Stern! Freilich, sie konnte Mira etwas eingeben, das das Immunsystem aktivierte - aber wenn es sich nun nicht um eine Infektion handelte, sondern um einen Komplex von Auswirkungen der verminderten Schwerkraft, der veränderten Lichtverhältnisse und des verkürzten Tagesrhythmus? Übelkeit, Schwindel, Schweiß - das konnten ebensogut die Folgen innersekretorischer Veränderungen sein, und dann bestand die Gefahr, daß das Immunstimulanz den Zustand verschlimmerte.
War es denn wirklich so unmöglich, den Medicom in Betrieb zu nehmen? Er mußte sich doch herauslösen lassen, herausschalten aus der Gesamtanlage. Oder man mußte eben kurzfristig den hohen Stromverbrauch in Kauf nehmen. Und so hoch war der ja gar nicht.
»Nein, nein«, flüsterte Mira, »das wird schon vorbeigehen, laß mal den Computer aus!«
Schon mittags, als sie die ersten Anzeichen der Erkrankung gespürt hatte, war ihr klargeworden, welche Belastung das für Toliman bedeuten würde. Hatte er seinerzeit bei Gemma die Einschaltung abgelehnt, so mußte er es nun bei ihr erst recht tun, aus vielen Gründen - einmal war Gemma, die dafür Zuständige, gesund und einsatzbereit, während sie damals selbst krank gewesen war; zum andern durfte er nicht die Meinung aufkommen lassen, er sei diesmal nachgiebiger, weil es sich um sie, Mira, handelte; und drittens würde ihre Krankheit, so glaubte Mira, ihm trotz seines ausgeprägten Organisationstalents und seines entsprechenden Verantwortungsgefühls nähergehen als die Krankheit irgendeines andern, sonst wäre er einfach kein Mensch. Aber er würde das nicht wahrhaben wollen, würde mit sich selbst im Streit liegen, würde unsicher werden, nicht nur darin, sondern in allem. Das alles durfte nicht geschehen. Die Krankheit würde vorbeigehen.
Und wenn nicht? Ach was, sie würde vorbeigehen. Mira hatte plötzlich eine Menge kluger Sprüche im Kopf wie: Was von selbst kommt, muß von selbst wieder gehen. Oder: Schwere Krankheiten fangen leise an. Es fiel ihr selbst auf, daß sie diese Weisheiten nicht aus eigener Erfahrung geschöpft, sondern wohl in verschiedenen Gesprächen aufgelesen hatte. Wenn ich schon so etwas brauche, um mich aufrecht zu halten, dachte sie, dann muß es doch ziemlich schlimm sein. Aber andererseits, tröstete sie sich, wenn ich noch selbstkritisch genug denken kann, um das zu merken, kann es so ganz schlimm auch nicht sein.
Über alldem schlief sie ein.
Gemma, die bei ihr wachte, erlebte zum ersten Mal bewußt, wie finster die Nächte auf diesem mondlosen Planeten waren. Aber nein, dachte sie dann, die Mondlosigkeit kann nicht die einzige Ursache sein, immerhin gibt es auf der Erde ja auch die Zeit des Neumonds, und auch um diese Zeit, so schien es ihr in der Erinnerung, waren die Nächte daheim nicht so ganz und gar lichtlos. Oder ob sie sich das bloß einbildete?
Hier am Krankenbett sitzend, den jetzt gleichmäßigen Atemzügen ihrer Patientin lauschend, erschien ihr diese Dunkelheit ungeheuer wichtig. Sollte das vielleicht, so grübelte sie weiter, eine Folge von seelischen Belastungen sein? Freilich, sie fühlte sich eigentlich nicht belastet, aber es muß ja auch nicht alles fühlbar werden; nehmen wir nur das Wissen, daß wir zu dieser Zeit doppelt existieren - man denkt nur noch selten daran, aber heißt es denn auch, daß dieses Wissen nicht unbewußt weiter wirkt? Oder verändert die Zeitverschiebung vielleicht überhaupt die Wahrnehmungsfähigkeit, oder richtiger: die Stärke der Sinneseindrücke? Nein, das war wohl Unsinn. Denn hinterher, wenn alles vorbei war, dann würden ja in der Erinnerung die parallelgelaufenen Zeiten als nacheinander erlebt erscheinen. Abgesehen davon, daß sie jetzt an Bord der ALDEBARAN nichts erlebten, weil sie im Dauerschlaf lagen. Ein irres Durcheinander.
Mitternacht. Gemma sah es auf der altertümlichen Uhr, die Rigel irgendwo im Materiallager aufgetrieben hatte, mit Aufziehmechanik und Zeigern und immer leuchtenden Ziffern. Wer konnte wissen, für welche unvorstellbaren Zwecke so etwas auf die Inventarliste geraten war - hier und jetzt jedenfalls stellte sich das antiquierte Ungetüm als höchster Luxus heraus.
Mitternacht also, und Mira schien ganz ruhig zu schlafen. Ihre Atemzüge waren flach und gleichmäßig. Ob sie, Gemma, nicht doch ein bißchen die Augen schließen konnte?
Ein entsetzlicher Schrei ließ sie hochfahren, und das Röcheln, das Mira danach von sich gab, klang nicht minder erschreckend.
Jetzt blieb keine Wahl. Gemma sprang auf und schaltete das Licht ein. Miras Gesicht war verzerrt, aber anscheinend nicht von der plötzlichen Blendung. Sie schien das Licht gar nicht wahrzunehmen, die Augen waren glasig, den Kopf bewegte sie ruckartig hin und her, der Körper bäumte sich bei jedem
Atemzug auf, als koste das Röcheln die letzte Kraft.
Dann klang das Röcheln ab, aber Mira begann, um sich zu schlagen. Die beiden Männer waren aufgesprungen und halfen Gemma, die Kranke festzuhalten. Während sie alle drei das Toben unterdrückten, redete Gemma beruhigend auf die Patientin ein. Endlich wurde auch das Toben schwächer, der Zustand Miras normalisierte sich. Gemma blickte auf die Uhr - seit dem Lichteinschalten waren elf Minuten vergangen, sie hatte geglaubt, es wäre mindestens eine Stunde gewesen.
»Mira muß an den Medicom«, sagte sie erschöpft.
Erst als eine Zeitlang niemand etwas sagte, stutzte Gemma und sah auf. Tolimans Gesicht war ausdruckslos, Rigel sah ihn forschend an. Und jetzt erst begriff Gemma, daß ihre Forderung nicht als selbstverständlich aufgenommen wurde.
Gemma war so verwirrt, daß sie einen Augenblick lang nicht wußte, was sie tun sollte. Zu oft schon hatten sie oder andere Toliman gebeten - in diesem Falle bitten und dabei von vornherein mit einer Absage rechnen zu müssen schien ihr einfach unwürdig. Eher noch war sie bereit, sich über alles hinwegzusetzen, was Kosmonautentradition und Raumfahrertraining an selbstverständlicher Disziplin herangezogen hatten - und einfach selbst alles einzuschalten. Sollte doch jemand wagen, sie mit Gewalt daran zu hindern! Und trotzdem, so einfach ging das eben nicht, bestand doch die Gefahr, daß ein solcher Schritt die Mannschaft spalten würde, für lange Zeit, wenn nicht gar endgültig.
Toliman war keineswegs so ruhig, wie er nach außen hin erschien. Am liebsten wäre er selbst zum Pult gestürzt und hätte alles eingeschaltet, was nur irgend Aussicht bot auf Hilfe für Mira. Er hätte sogar Argumente dafür ins Feld führen können - Mira wurde gebraucht, ohne ihre Kontrolle wurde der Leitstrahl vielleicht zum falschen Zeitpunkt oder in die falsche Richtung abgegeben, Miras Gesundheit mußte also unter allen Umständen erhalten bleiben. Aber er war damals bei Gemma hart geblieben. Was würden die beiden jetzt wohl sagen, wenn er nachgäbe; oder vielmehr, nicht was sie jetzt sagen würden, war von Bedeutung, sondern was sie später sagen würden, was sich in ihren Köpfen und dann auch in ihren Gesprächen festsetzen würde, was wie eine heimliche Krankheit am ganzen Kollektiv nagen würde.
In dieser seltsamen Situation war es der sonst so unempfindliche Rigel, der eher als die anderen verstand, was da unausgesprochen vor sich ging, und der mit größter Ruhe die richtigen Worte sagte.
»Nun komm aber nicht mit dieser blödsinnigen Konsequenz«, sagte er zu Toliman, »du müßtest diesmal dagegen sein, weil du beim vorigen Mal auch dagegen gewesen bist!«
Nur eine Sekunde zögerte Toliman, und auch das nur, weil ihm plötzlich einfiel, was er sich vorgenommen hatte: mehr auf die anderen zu hören, ihnen mehr Urteil zuzutrauen.
»Bereitet ihr Mira vor, ich schalte das System ein«, sagte er.
Als er fertig war mit der Schaltung, trat Gemma neben ihn.
»Wir müssen die bisherigen Symptome codieren und eingeben, am besten mach ich das. Geh du zu Mira. Nebenbei - ich finde es gut, daß du das kannst, hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Was denn?« fragte Toliman, der jetzt wirklich nicht ahnte, was Gemma meinte.
»Na, daß du deine Prinzipien auch mal verletzen kannst, wenn es um deine Frau geht. So muß es auch sein.« Sie gab ihm einen leichten Knuff. »Na, laß mich schon ran hier und geh dahin, wo es dich hinzieht!«
Nach Rigels Zureden hatte Toliman sich verstanden gefühlt, jetzt empfand er Gemmas Lob gerade jener Motive seines Handelns, die er selbst verurteilte, wie eine Ohrfeige. Aber weil die Sorge um Mira stärker war als jedes andere Gefühl, vergaß er die Enttäuschung schnell wieder.
Mira war offenbar so erschöpft - wenn nicht Schlimmeres eingetreten war -, daß sie bei all den Handlungen, die an ihr und mit ihr vorgenommen werden mußten, nicht richtig wach wurde. Zum Glück hatte sie unbekleidet geschlafen, so daß die andern sie wenigstens nicht ausziehen mußten.
Als die Diagnose erschien, atmeten alle auf - nur fünfzehn Prozent Wahrscheinlichkeit für eine Infektion, aber achtzig Prozent für ein interplanetares Adaptionssyndrom; Schwierigkeiten bei der Anpassung an das hiesige Milieu waren also die Ursache für Miras Anfall. Die fünfzehn Prozent konnte man erfahrungsgemäß vernachlässigen; die Computerdiagnose war immer übergenau, und der Medicom berücksichtigte diese anderen Prozente bei den therapeutischen Maßnahmen, die er nannte.
Die vorgeschlagene Therapie war einfach. Sie kam ohne Medikamente aus und beschränkte sich im wesentlichen auf gymnastische Übungen und tagesrhythmische Regelungen; ein bis drei Tage wurden für die Heilung veranschlagt, allerdings mußte damit gerechnet werden, daß die Erscheinungen, wenn auch in abgeschwächter Form, in Abständen von etwa drei Wochen wieder auftreten würden.
Sie trugen Mira auf ihr Lager zurück, ohne daß sie aufwachte. Dann löschte Toliman das Licht. Er warf keinen Blick auf den Energiepegel - er wäre sich kleinlich vorgekommen, wenn er jetzt nachgerechnet hätte. Dazu war er viel zu glücklich.
Rigel war nicht so zartfühlend.
»Die Energieproduktion einer Woche«, sagte er, »ist doch gar nicht so schlimm, das holen wir schnell wieder auf, ich hab da schon Ideen.«
Draußen schimmerte bereits ein rotes Dämmerlicht.
Diesen Aufregungen folgte eine freundlichere Woche. Die Arbeit war freilich hart und anstrengend, noch umfänglicher sogar durch Miras zeitweiligen Ausfall. Aber die Sonnen schienen, Rigels Projekte gediehen, Energie und Nahrungsmittel flossen reichlicher zu. Doch in erster Linie war es Miras Krankheit, die alle enger zusammenrücken ließ, und ihre schnelle Genesung, die dazu anregte, sich auch aller anderen Fortschritte ungetrübt zu erfreuen.
Rigels zweites Wasserkraftwerk in der Schlucht am Südausgang des großen Tals brachte einige solcher Fortschritte. Als es Ende der Woche den Betrieb aufnahm, zeigte es sich, daß nunmehr die Wandlerkapazität ausgelastet war. Der Kommutator, der Elektroenergie in Treibstoff-Aktivkomponente umwandelte, hätte zwar auch einen höheren Durchsatz erlaubt, aber nur bei größeren Spannungen, als sie sie hier erreichen konnten; denn eingerichtet war er ja für die Aufnahme von Strom aus viele Quadratkilometer großen Sonnenkollektoren.
Rigels heimliche Rechnung begann also aufzugehen: Alle weitere Energie, die sie noch erzeugen würden, etwa mit einem Windrad, würde nicht mehr speicherbar sein; oder mit anderen Worten: Man würde sie verwenden, die eigene Situation zu erleichtern. Ganz soweit war es zwar noch nicht, aber er wußte jetzt sicher, daß dieser Punkt erreichbar war und daß er bald erreicht sein würde.
Doch noch vor der Inbetriebnahme gab es Fortschritte ganz anderer Art, die durchaus nicht allen sofort bewußt waren - teils, weil sie bei der jetzigen Belastung nicht mehr so oft ihre Gedanken austauschten, und wenn, dann nur zweckgebunden, auf die jeweilige Tätigkeit bezogen; und teils, weil die Bedeutung, die die eine oder andere Beobachtung später einmal haben würde, jetzt noch nicht deutlich zu Sehen war.
Ein allgemeiner Fortschritt bestand schon darin, daß sie sich das untere Ende des Tals zum ersten Mal direkt ansahen. Aus den Luftbildern wußten sie, daß dort der Bach durch eine Schlucht in das kleine Tal hinüberfloß, wo er sich nach Norden wendete, also parallel zu seinem diesseitigen Lauf, nur in umgekehrter Richtung floß, bis er am Nordrand des Gebirges in den Nordstrom mündete.
Es ergab sich aus dem Vorhaben, daß sie die ganze Schlucht abschritten und sogar in ihr herumkletterten. Drei oder vier Punkte hätten sich für die Anlegung eines Staus geeignet, und Rigel wählte sehr bedacht nicht denjenigen aus, der den größten Stau ergeben hätte, sondern im Gegenteil den Punkt, an dem der Stau am kleinsten ausfallen würde. Denn für einen starken Stau hatten sie nicht das geeignete Material, und sie hätten seine Energie auch gar nicht nutzen können mit ihren kleinen Generatoren, die Rigel aus seinem Gerätevorrat zur Verfügung standen.
Bei ihren Unternehmungen hatten sie auch einen Blick in das kleine Tal, das wohl schmaler war als das, in dem ihr Schiff stand, aber auch länger; es setzte sich nicht nur nach Norden fort, dem Bach sein Bett gebend, sondern auch nach Süden, in Richtung auf den Wald. Und auch hier sahen sie den gleichen merkwürdigen Pflanzenwuchs: nur junge Pflanzen, Gras vor allem, keine Pflanzen, die wenigstens in ihrem sichtbaren Teil schon vor ihrer Landung dagewesen wären, so genau traute sich Gemma inzwischen schon, den Zeitpunkt zu schätzen.
Auch hier aber fanden sie wieder an Stellen, wo die Schlucht zerklüftet war, kleine Kessel, in denen eine sehr viel ältere und differenziertere Vegetation wuchs. Für Rigel waren das in erster Linie Holzlieferanten, für Gemma Anstöße für besorgte Gedanken.
Freilich wurde Gemma von diesen Gedanken meist schnell wieder abgelenkt durch ihre Arbeit mit dem Biest - ihre Arbeit und ihr Spiel mit diesem interessanten Tier. Die anfängliche Sperrlinie war inzwischen aufgehoben. Es konnte sich frei bewegen, und es gab ihr zwar nicht gerade Rätsel auf, aber sein Verhalten rief doch viele Fragen hervor, und nur wenige davon ließen sich schnell und einfach beantworten.
Gemma bemühte sich, dem Biest beizubringen, sich hauptsächlich vom Gras des Tals zu ernähren, das ziemlich schnell wuchs und jetzt schon hüfthoch stand - die Bohnen und Kräuter, die es von Gemma bekam, waren nicht mehr als Appetitshäppchen für dieses Riesentier, Leckerbissen, Genußmittel. Aber wovon hatte sich das Biest vorher ernährt, als das Gras noch niedrig war?
Gemma hatte genau beobachtet: Das Gras sah durchaus nicht mehr so einheitlich aus wie anfangs, es bestand aus vielen unterschiedlichen Pflanzenarten, und das Biest fraß durchaus nicht alle und nicht gleichmäßig. Die Gleichaltrigkeit der Vegetation konnte also nicht daher rühren, daß vielleicht vorher das Biest oder seine Artgenossen das Tal gleichmäßig abgeweidet hätten. Außerdem war das Tier ja erst einige Zeit nach ihrer Landung erschienen. Von woher? Aus dem Sumpf? Aus der Steppe im Norden? Aus den südlichen Wäldern? Nach irdischen Vorstellungen hätte man am ehesten vermutet: aus den Sümpfen im Osten. Aber Gemma wußte längst, daß nicht alle Erfahrungen aus der irdischen biologischen Entwicklung anwendbar waren; manchmal gab es im Verhalten des Tiers Reaktionen, die ihr nicht nur unverständlich waren - was sie nicht weiter beunruhigt hätte -, sondern die überhaupt keine erkennbare Funktion zu haben schienen und die bei der Abrichtung des Tieres manchmal gefährliche Situationen heraufbeschworen. Gemma meisterte sie freilich immer, sprach aber weniger darüber, um die andern nicht zu beunruhigen.
Eine davon war eine bestimmte Form von Unruhe, von Unbehagen, die sich in einer Reihe Anzeichen äußerte, und das so deutlich, daß Gemma sie jetzt schon ganz zuverlässig diagnostizieren konnte. Und das sonderbarste daran war, daß diese Unruhe sich nach dem Kalender richtete, und zwar nicht nach irgendeinem, sondern nach dem irdischen. Jeden zweiten Montag trat sie auf!
Der Bequemlichkeit halber hatten sie nämlich nach der Landung einen Kalender angelegt, beginnend mit einem Montag. Wenn sie über Termine sprachen, gaben sie den Namen des Tages und die Zahl der Woche an. Es war jetzt die sechste Woche seit der Landung, die elfte seit der Katastrophe, in vierzehn Tagen bereits würde die halbe Zeit bis zur Abgabe des Leitstrahls vergangen sein.
Selbstverständlich waren die Tage entsprechend der Rotation dieses Planeten gerechnet, und insofern war der Kalender eben doch nicht irdisch. Aber sonderbar blieb es auf jeden Fall. Gemma hatte diese Entdeckung bisher für sich behalten, zuerst, weil sie ihren eigenen Beobachtungen nicht traute, später, weil sie es für einen Zufall hielt; inzwischen aber war ihr klargeworden, daß man das Biest noch viel mehr als Indikator für planetarische Vorgänge benutzen mußte, als eine Art Anzeigegerät für unbekannte Gefahren, und da tat sich die Frage auf: Wenn diese Regelmäßigkeit auf einem zufälligen Zusammenhang beruhte, oder richtiger, einem Zusammenhang, der zufällig immer an dem gleichen Wochentag hergestellt wurde, was für ein Zusammenhang war das dann? Zusammenhang womit? Gemma nahm sich fest vor: Wenn bei dem Biest am kommenden Montag, dem siebenten also, wieder die gleichen Anzeichen aufträten, würde sie die andern über diese Beobachtung informieren, vielleicht fiel denen etwas ein.
Es ergab sich, daß sie zuerst mit Mira darüber sprach. Die Kosmogonin hatte sich schnell erholt, aber Gemma, die auch als Medizinerin fungierte, hatte noch gezögert, sie wieder voll einzusetzen. Andererseits erschien es ihr angebracht, Mira das Gefühl zu nehmen, sie stände außerhalb, ein Gefühl, das gewiß nicht die Genesung gefördert hätte. Deshalb entschloß sie sich, die Patientin mit ihrem Problem zu beschäftigen, sozusagen mit leichter geistiger Aktivität - denn daß das Problem für die Gefährtin leicht sein würde, daran zweifelte Gemma nicht einen Moment.
Und wirklich brauchte Mira nur Minuten, um den richtigen - oder zunächst einmal einen sehr wahrscheinlich richtigen - Zusammenhang herzustellen: Mit der Wocheneinteilung hatten sie bei der Landung begonnen, den nächsten darauffolgenden Tag hatten sie zum Montag bestimmt. Am Sonntag, am Vortag also, hatte auch ein Strahlungsausbruch der hellen Sonne ihre Landung kompliziert, und diese Strahlungsausbrüche hatten eine Periode von vierzehn Tagen. Möglich also, daß die Physiologie des Tieres den Rest zusätzlicher Strahlungen registrierte, den die Atmosphäre nicht verschluckte, und darauf mit Ermattungserscheinungen reagierte; auch die zeitliche Verschiebung war, wie Gemma bestätigte, durchaus denkbar.
Diese Ausbrüche waren nicht etwa vollständig vergessen worden; Mira hatte, soweit energielos betriebene Meßgeräte das gestatteten, auch nach der Landung die Ausbrüche gemessen. Da aber die Atmosphäre die zusätzliche Strahlung fast vollständig zu verschlucken schien, hatte sie die Messungen eingestellt, und den anderen war dieses Problem bei der Fülle der zu bewältigenden Arbeiten aus dem Blickfeld gerückt. Es war also kein Wunder, daß Gemma dieser periodische Vorgang nicht eingefallen war, als sie die merkwürdigen Anzeichen bei ihrem Biest beobachtete. Ein Wunder war vielleicht eher, daß sie sich mit diesem Problem gleich an die richtige Adresse gewandt hatte; aber Mira fand auch das nicht so sehr sonderbar, sie war ja schon länger davon überzeugt, daß Gemma eine sehr hohe innere Affinität zu allen biologischen Erscheinungen dieses Planeten habe, oder, wie man vor hundert Jahren gesagt hätte, eine glückliche Hand in diesen Dingen. Auch heute noch war ja das Affinitätstheorem von Miller und Nayama umstritten; aber wegen seines heuristischen Werts hatte Mira sich öfter damit beschäftigt, und wenn sie den Ansichten der beiden Weltpreisträger auch nicht bis in die letzte Konsequenz folgte, so hatte sie doch wenigstens deren praktische Nutzanwendung oft genug an sich selbst erprobt und bestätigt gefunden.
Beide Frauen bereiteten gemeinsam die experimentelle Prüfung des vermutlichen Zusammenhangs vor. Eine volle Bestätigung würden sie zwar nicht sofort erreichen, aber eine größere Wahrscheinlichkeit konnte der kommende Montag doch bringen. Denn der Abstand zwischen den Ausbrüchen war natürlich nicht genau vierzehn Tage, sondern ein paar Stunden mehr, so daß sich das Maximum von Mal zu Mal in der Tageszeit verschoben hatte. Mira errechnete die genauen Daten für die zurückliegenden Montage, und Gemma versuchte, sich präziser zu erinnern, wann ihr jeweils die Veränderung bei ihrem Biest aufgefallen waren. So kamen sie auf einen durchschnittlichen Abstand von fünfundzwanzig Stunden zwischen Maximum und Auswirkung. Wenn das stimmte, mußte das Biest diesmal gegen Abend reagieren, und zwar schwächer als früher, weil das Maximum auch auf den Sonntagabend gerückt war und die Abendatmosphäre mehr Strahlung absorbierte.
Mira brachte am Sonntag also wieder ihre Meßinstrumente in Stellung, und obwohl der Ausbruch erst am Nachmittag zu erwarten war, blieb sie schon ab Mittag dabei, sie konnte das ja, weil sie zur allgemeinen Arbeit noch nicht wieder zugelassen war. Und nicht vergeblich - der Ausbruch kam eine Stunde eher, als sie gerechnet hatte, und war, bezogen auf den Planeten, im Maximum stärker als die früheren; die Strahlung, die sie erreichte, war genau so stark wie seinerzeit, als das Maximum mittags gelegen hatte. Das beunruhigte Mira. Es sah ja fast so aus, als würden sich die Ausbrüche verstärken. Nach Miras Theorie waren die Ausbrüche eine Reaktion der Sonnenmasse auf die Gezeitenwirkung, die durch den Überriesen ausgeübt wurde. Zwar hatte die kleine, helle Sonne inzwischen auf ihrer hyperbolisch gekrümmten Bahn den Punkt der kleinsten Entfernung zum Infraroten schon hinter sich gelassen, aber solche Störprozesse konnten ihr Maximum lange Zeit danach haben - um das entscheiden zu können, hätte sie viel mehr und viel exaktere Messungen zur Verfügung haben müssen.
Nun warteten beide gespannt auf den Montagabend. Welche Wirkung würde das Biest zeigen?
Die fünfundzwanzigste Stunde nach dem Maximum kam heran - aber das Biest verhielt sich normal, es zeigte nicht die geringsten Anzeichen für irgendeine Auswirkung der Strahlung.
Gemma war teils froh, teils besorgt. Aber an der Richtigkeit ihrer früheren Beobachtungen zweifelte sie nicht, höchstens daran, ob der Zusammenhang mit der Strahlung zutreffend war. Aber Mira hatte bald eine Erklärung: Die Strahlung bestand aus recht unterschiedlichen Komponenten, deren Maxima dann auch zu unterschiedlichen Zeiten auf dem Planeten eintrafen. Wenn beim letzten Mal das Biest noch Wirkung gezeigt hatte, dann müßte also eine Komponente dafür verantwortlich sein, deren Maximum innerhalb von zwei bis drei Stunden nach dem Ausbruch auf dem Planeten wirksam wurde - denn so lange vor dem Abend hatte der letzte Ausbruch gelegen.
Das hatte nun wiederum eine gute und eine schlechte Seite. Die schlechte bestand darin, daß man die Richtigkeit dieser Vermutung frühestens in acht oder zehn Wochen würde prüfen können - bis dahin würden die fraglichen Maxima den Planeten nämlich erreichen, wenn bei ihnen Nacht war. Aber das war eben auch wieder gut: Man mußte damit rechnen, daß auch den Menschen schadete, was das Biest nicht vertrug, und so brauchten sie für die nächsten drei oder vier Ausbrüche keine besonderen Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Danach aber würden ja hoffentlich die Ausbrüche allmählich schwächer werden.
Dieses Ergebnis war freilich wenig geeignet als Gegenstand einer allgemeinen Diskussion. Trotzdem hatten weder Gemma noch Mira das Gefühl, sie hätten sich umsonst bemüht. Für Gemma hatte sich noch einmal die Notwendigkeit bewiesen, die Natur des Planeten viel zielstrebiger und planmäßiger als Indikator für mögliche Gefahren zu nutzen. Und Mira fand ihre Aufmerksamkeit wieder stärker auf den umgebenden Weltraum gelenkt. Die Schwierigkeiten, hier heimisch zu werden und den Energievorrat aufzufüllen, hatten auch sie von ihrer kosmischen Umgebung abgelenkt; auch sie hatte sich - in sträflich leichtsinniger Weise, wie sie jetzt fand - in Sicherheit wiegen lassen von der Hoffnung, daß die Atmosphäre sie vor allen Gefahren schützen werde.
Die Ausbrüche der kleinen Sonne waren jedoch nur eine harmlose Art von Störungen, wenn man mögliche Wirkungen der Anomalie ins Auge faßte. Keiner wußte, woher sie kommen würde, ob sie vor dem Zeitpunkt ihres Zusammentreffens mit dem KUNDSCHAFTER näher an diesem Planeten war oder weiter entfernt, und schon gar nicht, was danach geschehen könnte oder würde.
Und Mira war, ein paar Tage später, gerade so weit, das zur Debatte zu stellen, als eine weitere Plage über sie hereinbrach.
Es war Mittwoch. Der Vormittag war sonnig gewesen, mittags erschienen Wolken am Himmel. Was dann aus diesen Wolken fiel, sah zuerst aus wie einzelne Schneeflocken, und dann ließ das Biest, das bis dahin in der Nähe geweidet hatte, ein schreckliches Zischen hören und galoppierte mit einer Geschwindigkeit davon, die noch keiner erlebt hatte. Es rannte nach Süden und war bald hinter der nächsten Biegung verschwunden.
Gemma hatte dem Biest nachgerufen, aber es hatte nicht gehört. Jetzt wollte sie doch sehen, was das war. Sie folgte mit den Augen einer Flocke bis auf den Boden, wo sie verschwand. Statt dessen war dort plötzlich etwas Krabbelndes, so eine Art Insekt. Gemma sah auf und fing mit der Hand eine schwebende Flocke auf. Vorsichtig hielt sie das weiße Flöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger dicht vor das Auge. Das Weiße, eine Kugel, ein Ball, wurde immer kleiner, und als sie es hin und her drehte, entdeckte sie an einer Seite eben solch ein Insekt, wie sie es vorher auf dem Boden gesehen hatte. Und dann war dieser Ball ganz und gar verschwunden, und das Insekt lief ihr über den Daumen. Sie schüttelte es ab.
Inzwischen bildeten die einfallenden Insekten schon ein ganzes Schneegestöber, Gemma bemerkte es, als sie aufblickte, und während die andern noch halb staunend, halb ratlos auf diese seltsame Naturerscheinung blickten, hatte sie schon intuitiv das Wesentliche erfaßt, in ihrer Vorstellung verband sich irgendwie die Flucht des Biestes mit den Berichten über Heuschrecken- und andere Schwärme auf der Erde, und sie rief: »Schnell, schnell, die Pflanzungen mit Folie abdecken!«
Das war in wenigen Minuten geschehen, aber es half nicht viel. Noch während sie arbeiteten, ließ der Einfall der weißen Flocken nach; dafür konnte man nun sehen, daß es am Boden überall nur so kribbelte und krabbelte - und fraß!
Verzweifelt dachte Gemma darüber nach, wie man die Pflanzungen retten konnte. Die Folie wie ein Zelt in der Mitte stützen und in die Erde eingraben? Dazu mußte man die Pflanzungen selbst erst von Insekten säubern. Sie einzeln aboder auflesen und versetzen? Sie mußten es wenigstens versuchen. Und sie mußten sich selbst schützen!
Diesmal war Toliman schon zu den gleichen Ergebnissen gekommen - kein Wunder, denn es ging ja um die Organisation der Abwehr. Er ließ alle die leichten Schutzanzüge anziehen, den Helm schließen, dann gingen sie hinaus und nahmen die Besen mit, die Rigel vor einiger Zeit geflochten hatte, damit sie ihr Schiff sauberhalten konnten - ohne Strom. Der Eingang wurde mit Folie verschlossen.
Der Einfall der Insekten hatte jetzt ganz aufgehört. Sie nahmen die Planen ab, schüttelten sie etwas abseits aus und ließen sie fürs erste liegen. Die beiden Männer fegten dann den Raum zwischen den Pflanzen, und Gemma und Mira mühten sich, die Pflanzen von den Insekten zu befreien.
Das war gar nicht einfach. Zuerst versuchten sie es mit Schütteln. Ohne Erfolg. Einzeln ablesen? Das dauerte mit behandschuhten Fingern viel zu lange. Mira kam auf die Idee, einen Kamm zu benutzen - man konnte die Insekten leicht abheben und gleich wegschnipsen.
Eine Weile lang erschien es so, als könnte es ihnen gelingen, die Pflanzung zu säubern. Sie erreichten ein Gleichgewicht zwischen Andrang und Abtransport der Insekten, aber immer, wenn sie ein Zelt aufrichten wollten, genügte eine kurze Pause, und die Pflanzen wurden von neuem überschwemmt.
Besonders hilflos fühlte sich Gemma. Sie wußte, von ihr erwarteten die andern Hinweise, wie man sich dieser Invasion erwehren könne, aber sie hatte keine Minute Zeit und Gelegenheit, das Verhalten der Insekten zu studieren. Wenn sie wenigstens wüßte, was das Weiße gewesen und wo es geblieben war! Es mußte doch irgendein Körperorgan sein. Vielleicht eine dehnbare Blase, die dann wie ein Luftballon wirkt, ein Heißluftballon. Eben, die Insekten waren eingefallen, als die Sonne durch Wolken verdeckt wurde; sollte das etwa so funktionieren, daß der nächste Sonnenschein sie wieder zum Abfliegen brachte? Lauter kleine Luftballons? Nun ja, warum sollte das Leben nicht auch einmal dieses Prinzip verwirklichen, um sich in die Luft zu erheben!
Dann aber mußte es doch möglich sein, mit künstlicher Sonnenstrahlung. Sie schaltete die Helmlampe ein, das bedeutete zwar Energieverbrauch, aber hier war es notwendig. Nichts jedoch geschah, nichts Weißes zeigte sich, die Insekten reagierten überhaupt nicht. Licht war es also nicht. Oder: Licht allein genügte nicht. Vielleicht konnten die Insekten nicht immer fliegen, vielleicht mußten sie erst mal fressen und erwarben dann dadurch wieder die Fähigkeit, ihren körpereigenen Luftballon aufzublasen, und wenn der Sonnenschein als verstärkender Faktor hinzutrat. Aber es konnten auch andere Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel die Fortpflanzung.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Toliman, »wir können nicht tagelang die Pflanzungen frei halten. Was meinst du, Gemma, ob die hier bald wieder verschwinden?«
»Heute bestimmt nicht mehr!« erklärte Gemma.
»Dann müssen wir die Pflanzungen aufgeben, oder sieht jemand eine andere Möglichkeit?«
»Nein«, sagte Gemma, »geht ihr hinein, ich will beobachten, wie sie die Pflanzung in Besitz nehmen.«
Gemma wußte, daß die Gefährten äußerst bedrückt abzogen. Ihre Zukunft war plötzlich, gerade als alles im richtigen Gleis zu laufen schien, in Frage gestellt worden: Wovon sollten sie leben, wenn es diesen Balloninsekten einfallen sollte, hier etwa das nächste halbe Jahr zu verbringen?
Sie hätte ihnen freilich sagen können: Spätestens, wenn hier alles aufgefressen ist, müssen die Insekten weiterziehen. Oder sterben. Oder in eine Metamorphose eintreten, sich verpuppen vielleicht. Jedenfalls war dann Gelegenheit, ein Stück für ihre Pflanzungen so zu sichern, daß eine nächste Generation oder ein anderer Schwarm dieser Insekten nicht herankam.
Aber dazu hatten sie keine Zeit, sie mußte sich auf das konzentrieren, was sie jetzt sehen würde. Die Gelegenheit würde sich nicht wiederholen, den aufschlußreichen Vorgang zu beobachten, wie der Schwarm ein Gebiet in Besitz nahm. Sie wußte noch nicht, worauf sie ihre besondere Aufmerksamkeit lenken sollte, aber das würde sich ergeben, dessen war sie sicher.
Sie hatte sich in der Bohnenpflanzung so postiert, daß sie sowohl den Rand als auch das Zentrum einigermaßen gut sehen konnte; sehr groß war das Gebiet nicht. Sie wollte hier stehen bleiben und sich möglichst nicht bewegen, einerseits, um nicht unnötig viele Insekten zu zertreten, Raumfahrer achten fremdes Leben; andererseits aber auch, um den natürlichen Vorgang nicht zu beeinflussen.
Sie sah, daß die Insekten von allen Seiten gleichmäßig in die Pflanzung eindrangen, eigentlich sogar eher einsickerten, denn der Vorgang lief relativ langsam ab, das war kein Sturm auf eine eroberte Festung wie in der menschlichen Geschichte, natürlich nicht, wie denn auch, es wäre albern gewesen, so etwas anzunehmen, aber Gemma gestand sich ein, daß sie doch irgend etwas in dieser Richtung erwartet hatte, und nun wußte sie auch, worauf sie zu achten hätte: ob sich nämlich erkennen ließ, was eigentlich diese Bewegung hervorrief.
Nein, es ließ sich nicht feststellen, ob es chemische, taktile oder andere Signale waren, mit denen die Insekten aufeinander einwirkten, dazu hätte sie spezielle Meßgeräte haben müssen, und auch dann würde das vermutlich länger dauern, als dieser Schwarm überhaupt hier bleiben würde; aber daß sie wirklich aufeinander einwirkten, war mit ziemlicher Sicherheit an der Art und Weise zu erkennen, wie die Inbesitznahme der Pflanzung vor sich ging. Es war nicht etwa so, daß die am Rand befindlichen Tiere jetzt eine Wendung machten und zielstrebig auf das Zentrum der Pflanzung zumarschierten; ganz im Gegenteil: Jedes Tier schien ein gewisses eigenes Territorium zu haben, einen kleinen Fleck, in dem es hin und her lief, wobei allzu große Nähe zum Nachbarn wie eine abstoßende Kraft zu wirken schien. Diese Ordnung war jetzt freilich in Auflösung begriffen, aber Gemma fand später, nach der Besetzung, noch einmal Gelegenheit, sie zu beobachten, und da fand sie sie bestätigt. Jetzt also löste sie sich auf. Die Tiere fanden nach einer Seite hin, in die Pflanzung hinein, keine Nachbarn und weiteten ihr Gebiet aus. Als Folge davon weiteten deren Nachbarn wiederum ihr Gebiet aus, die Erweiterung des Einzelterritoriums zog also die Gesamtbewegung nach sich.
Und was passiert nun? Einige Insekten erreichten die ersten Bohnenpflanzen. Das erste kletterte hinauf, das nächste nicht, das bewegt sich auf dem Boden weiter, erst das zweit- oder drittnächste erkletterte wieder die Pflanze - und so überall.
Dann aber schien der Prozeß sich zu beschleunigen. Irgendein Signal mußte das Vorhandensein entweder von freiem Raum oder von Futter weitergegeben haben, denn von außen drängten jetzt die Insekten schneller nach, und auch die ersten marschierten schneller hinein - aber halt, keine voreiligen Schlußfolgerungen: Da der Raum für die Welle kleiner wurde, mußte sich ja ihre Bewegung verstärken; nein, es war nicht zwingend, auf ein Signal solcher Art zu schließen, auch diesen Effekt konnte die Nachbarschaftsbeziehung allein erklären. Aber dann wurde doch interessant, was in der Mitte passieren würde, wenn die von allen Seiten kommenden Insekten aufeinandertreffen würden!
Soweit war es noch nicht, jetzt hatten die Tiere erst einmal sie, Gemma, erreicht. Aber kein einziges Insekt versuchte, an ihren Schuhen hinaufzuklettern. Sie mußte an irdische Ameisen denken, die das ganz gewiß getan hätten - diese Tiere indessen schienen sehr gut unterscheiden zu können, ob das Senkrechte vor ihnen freßbar war oder nicht. Denn daß sie fraßen und wie sie fraßen, das konnte Gemma nun an den äußeren Bohnenpflanzen sehen. Auch das war interessant: Jedes einzelne Insekt fraß ein verhältnismäßig großes Loch in das Grün - und ließ sich dann einfach fallen. Als Gemma das zum ersten Mal sah, glaubte sie an einen Zufall, aber dann bemerkte sie, daß fast alle sich so verhielten. Freilich, diese Insekten waren leicht genug, um so einen Fall zu überstehen, von einem Grashalm herunter oder auch von einer Bohne. Aber von einem Baum?
Diese Frage zog eine Kette von Gedanken nach sich, die sich wieder einmal - wie schon so oft - mit dem Fehlen von Holzgewächsen in diesem Tal befaßten. Am Ende stand die Feststellung: Nein, diese Ballontiere können auch nicht die Ursache für das vegetatorische Rätsel sein - vor allem, weil sie ganz offensichtlich nur Grünes fraßen. Wenigstens abgestorbene Baumstümpfe hätten übrigbleiben müssen.
Nebenbei registrierte Gemma etwas verwundert die Tatsache, daß es ihr um die Pflanzung kein bißchen leid tat, obwohl sie doch in erster Linie ihr Werk war - die Insekten waren einfach zu interessant. Ein Jammer, daß man sich hier immer mit ungefähr und wahrscheinlich zufriedengeben mußte!
Jetzt aber näherten sich die Tierchen von allen Seiten der Mitte des Feldes, selbstverständlich nicht ganz und gar gleichmäßig, und auch nicht genau der geometrischen Mitte, aber trotzdem gab es einen Punkt oder ein kleines Gebiet, auf das sie jetzt von mehreren Seiten her zueilten. Gemma erwartete eigentlich, entsprechend ihren bisherigen Beobachtungen, daß dort momentan eine Überbelegung entstehen würde, die sich dann wieder wellenförmig ausbreiten würde, bis sich alles ausgeglichen hatte.
Das geschah auch - aber es geschah noch mehr, etwas, womit Gemma nicht gerechnet hatte: Im Augenblick der stärksten Konzentration bildeten sich an den Körpern der Insekten kleine, weiße Ballons, die sich freilich nicht zur anfänglichen Größe entwickelten, sondern wieder verschwanden, als sich die Belegung des Bodens normalisierte.
Also die Populationsdichte löste das Schwärmen aus! Eigentlich nichts Umwerfendes, auch bei einer Reihe irdischer Insekten war das so. Aber trotzdem war das Grund zur Besorgnis. Wie schnell pflanzten diese Ballonflieger sich fort? Das konnte ja Wochen oder sogar Monate dauern! Konnte allerdings auch nur Tage währen. Aber so lange reichte das Futter nicht, so wie die fraßen. Das war noch eine Hoffnung, wenn Gemma auch noch nicht wußte, wie man. diese Tatsache nutzen konnte. Fürs erste hatte sie genug gesehen. Gewiß waren noch viel mehr Beobachtungen nötig, aber zuerst mußte sie in Ruhe nachdenken. Vielleicht ließ sich manche Frage sogar durch ein Experiment beantworten, aber vorher mußte man ja die Fragen stellen.
Die Schleuse fand sie offen, den andern war auch schon aufgefallen, daß die Insekten nur an Pflanzen hochkletterten.
Fast klar, denn der Unterschied zwischen der Felswand und der niedrigen Schwelle der Schleuse war vom Standpunkt eines Insekts aus unerheblich. Aber galt das für immer und für jede Situation? Gemma bezweifelte das - aus Vorsicht, nicht weil sie konkrete Vermutungen gehabt hätte; und sie nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß zur Nacht der Zugang wieder geschützt wurde und daß er überhaupt nicht längere Zeit unbeobachtet blieb.
Drinnen geriet sie in eine lebhafte Diskussion, und sie wurde auch gleich einbezogen mit der Frage, was man tun könne, um die Insekten zu vernichten oder wenigstens so zu dezimieren, daß man sie von der Pflanzung fernhalten könne.
»Das laßt mal schön bleiben!« sagte Gemma.
»Tun dir die Insekten leid?« fragte Toliman.
»Das auch«, sagte Gemma, »aber vor allem sieht es so aus: Je mehr Insekten ihr tötet, um so länger bleiben sie hier!«
Die andern sahen sie überrascht an, und als sie nun erklärte, wie ihre Behauptung zu verstehen sei, daß nämlich die Populationsdichte das Schwärmen mindestens in Gang setzte - während sie das also ziemlich ausführlich erläuterte und mit irdischen Vergleichen belegte, wurde sichtbar, daß jeder der drei Gefährten auf andere Weise überrascht war. Rigel, an der wissenschaftlichen Seite ziemlich uninteressiert, rekelte sich gleichsam vor behaglichem Stolz auf Gemmas Findigkeit. Mira wunderte sich, daß sie sich hatte überraschen lassen, obwohl sie doch in dieser speziellen Sache sowieso schon Gemma mehr zutraute als alle andern, und es wurde ihr klar, daß sie nun bald aus dem massiven Zutrauen heraustreten und dafür sorgen mußte, daß Gemmas Fähigkeiten produktiver genutzt wurden. Und Toliman, plötzlich eine Möglichkeit witternd, wie man dieses Problem auf bessere Art lösen konnte, war, wie man so sagt, angenehm überrascht.
Gemma ihrerseits fielen, während sie berichtete und erläuterte, einige Fragen ein, die man würde experimentell beantworten können: War die Bewegung der Insekten ausschließlich von der Populationsdichte gesteuert, oder spielten noch andere Faktoren eine Rolle, etwa die Futterverhältnisse oder die Fortpflanzung? Bei letzterem war man auf Beobachtung angewiesen, die möglicherweise ergebnislos bleiben würde, da ja diese Lebenstätigkeit auf andere Phasen der Entwicklung beschränkt sein konnte; mit dem Futter aber konnte man experimentieren, das würde bald alle sein, das Tal draußen sah schon nicht mehr so grün aus wie vorher, zum Experimentieren jedoch würden kleinste Mengen genügen.
Gegen Abend, noch bevor die letzte Sonne sank, sah das Tal öde und grau aus. Jetzt war es Zeit, die aufgeladenen Magazine von den Stauanlagen zu holen, aber jeder scheute sich, diesen Weg anzutreten in dem Bewußtsein, daß er dabei Tausende dieser Insekten zertreten würde. Es war der praktische Rigel, dem eine Lösung einfiel.
»Bis zum Bach müßte man sich den Weg mit einem Besen frei fegen«, schlug er vor, »und dann immer im Bach bleiben.« Er wandte sich an Gemma: »Oder gehen diese Bemeisen auch baden?«
»Glaub ich nicht«, antwortete Gemma.
»Wie nennst du die?« wollte Mira wissen.
»Bemeisen. Abgekürzt für Ballon-Ameisen.«
Die beiden Frauen lächelten, Toliman zeigte ein ausdrucksloses Gesicht. »Wer geht?« fragte er.
»Rigel und ich«, sagte Gemma, ohne ihren Vorschlag näher zu begründen. Niemand erhob Einwände.
Als sie zurückkehrten, brachten sie zwar die Magazine mit, aber keine neuen Beobachtungen, wenn man davon absah, daß Gemma im südlichen Staubecken das Biest gefunden hatte; es hatte sie herzlich begrüßt und eine Schote aus- Gemmas Hand dankend entgegengenommen, war aber durch nichts zu bewegen gewesen, das Staubecken zu verlassen.
Trotzdem war Gemma nicht unzufrieden. Keine Anzeichen veränderter Struktur in der Menge der Insekten, keine Versuche beispielsweise, zwischen den beiden Ufern des Bachs irgendeine Verbindung zu schaffen, überall nur das einzelne Insekt und der leere Raum darum - das wies mindestens darauf hin, daß hier keine Baue, Nester oder ähnliche dauerhafte Einrichtungen angelegt werden sollten.
Die letzte Helligkeit des Tages wollte sie noch für ein Experiment ausnutzen. Sie brauchte sich dazu nicht noch einmal aus dem Schiff zu entfernen. Sie nahm einfach eine einzelne Bohne und legte sie vor den Ausstieg zwischen die Bemeisen, die jetzt zum größten Teil inaktiv dasaßen.
Viel langsamer nahmen die benachbarten Tiere davon Notiz, als Gemma es nach ihren nachmittäglichen Erfahrungen erwartet hatte. Aber das konnte ihr nur recht sein, es erleichterte ihr das Vorhaben, Aufschluß über Informationswege zwischen den Tieren und innerhalb des Schwarms zu erhalten.
Zuerst geschah, was sie schon gesehen und auch jetzt erwartet hatte: Die benachbarten Tiere nahmen sich der Bohne an, und von ihnen ging die gleiche wellenförmige Bewegung aus wie nachmittags, nur langsamer. Und dank diesem verminderten Tempo entdeckte Gemma etwas, was ihr sonst bei dieser einfachen Versuchsanordnung vielleicht entgangen wäre: Der wellenförmigen Verdünnung der Populationsdichte schien eine Welle von Unruhe vorauszulaufen, Tiere, die von der Verdünnung noch nicht erreicht waren, zeigten plötzlich Zeichen von Aktivität, erhoben sich, wendeten den Kopf hin und her.
Ein schneller Blick in das Zentrum belehrte Gemma, daß dort jetzt mit Eifer gefressen wurde. Trotz der hohen Dichte zeigte aber keins der Tiere hier den Ansatz der weißen Blase. Statt dessen beobachtete Gemma einen Austausch: Insekten, die wohl nicht mehr fressen konnten, räumten den Platz, krochen etwas beiseite und wurden inaktiv; ein kleiner Wall von Insekten hatte sich dort gebildet. Andere strömten hinzu und nahmen die frei gewordenen Freßplätze ein.
Dann aber begann die Welle, sich umzukehren. Bei den Insekten, die sich, vom Fressen ermüdet, zum Wall gehäuft hatten, traten jetzt die weißen Blasen hervor, winzig, aber doch sichtbar. Sie rückten auseinander, die Verdickung setzte sich nach außen fort, ohne daß die paar Bemeisen, die die Reste der Bohne fraßen, dadurch irgendwie gestört wurden.
Als alles vorbei war, wiederholte Gemma noch einmal das Experiment, allerdings bat sie jetzt Mira dazu, weil sie sich nicht sicher war, ob ihre Interpretation nicht zu weit ging. Aber auch Mira meinte, auf irgendeine Weise müsse Information über freies Futter weitergegeben werden.
Im Tal wurde es dunkel.
»Der Himmel sieht aus, als ob wir morgen gutes Wetter bekämen, was meinst du?« fragte Mira.
»Ja, vielleicht«, antwortete Gemma. Es hörte sich an, als ob sie an etwas anderes dachte.
Tatsächlich brachte der nächste Tag Sonnenschein - und die Hoffnung, daß diese Bemeisen sich mit ihren Ballons auf und davon machen würden. Was hatten sie hier noch zu suchen? Aufgefressen hatten sie alles, was für sie erreichbar war, es würde wieder vierzehn Tage dauern, bis neue Anpflanzungen Nahrung geben würden. Wieder würden die Weltraumfahrer alle gesammelten Vorräte an Nahrungsmitteln verbrauchen. Wenn aber die Insekten blieben, dann reichten die Vorräte nicht. Oder sie müßten versuchen - brrr! - die Insekten zu essen.
Den ganzen Vormittag über trösteten sie sich damit, daß vielleicht die Sonnen noch nicht hoch genug ständen und der Strahlungseinfall noch nicht genügte. Aber auch dann geschah nichts, die Insekten lagen fast bewegungslos herum, in gleichmäßigen Abständen voneinander.
Nach dem nun wieder sehr kärglichen Mittagessen entdeckte Gemma dann doch eine winzige Veränderung. Bei dem Insekt, das sie gerade beobachtete, erschien für kurze Zeit ein Zipfelchen der Ballonblase. Gleich darauf geschah dasselbe bei dem benachbarten Insekt. Bald hatte sie sich überzeugt, daß jetzt jedes Insekt von Zeit zu Zeit seine Blase ein wenig lüftete. Sie hoffte nun, daß die Pausen kürzer oder die Blasen größer würden, aber das geschah nicht. Durfte man das so interpretieren, daß eine allgemeine Ballonbereitschaft bestand oder auch erst entstand, daß aber noch andere Faktoren fehlten?
»Man müßte irgendeine Fluktuation hervorrufen, bei der eine hinreichende Dichte entsteht, vielleicht wirkt das als Initialzündung!« sagte Gemma nachdenklich. Sie nahm eine Handvoll Bohnen und legte sie auf einen Haufen vor die Schleuse.
Die Wirkung war zunächst die gleiche wie am Vorabend, nur daß die Vorgänge schneller abliefen und einen größeren Kreis erfaßten. Dann aber, als die Bohnen fast aufgefressen waren, erschienen die ersten weißen Blasen. Diesmal vergrößerten sie sich schnell, und einige Bemeisen erhoben sich langsam in die Luft.
Und dann ging von diesem Fleckchen eine weiße Wolke aus, die sich über das ganze Tal ausbreitete. Das war ein fröhliches Bild, weil sich da eine große Gefahr erhob und wegflog; aber auch deshalb, weil es auf seltsam verdrehte Weise an etwas ganz Irdisches erinnerte: ein umgekehrtes Schneegestöber.
Der große Krach fing ganz harmlos an: mit einem Gespräch darüber, wie man verhindern könnte, daß die Pflanzung immer wieder zerstört würde.
Zuerst verlief das Gespräch friedlich und produktiv. Zwei Meinungen standen sich gegenüber, die aber von niemand absolut vertreten wurden. Die eine Variante lief auf eine Vergrößerung der Anbaufläche hinaus, die dann eine gelegentliche Zerstörung in Kauf nehmen könnte; einen Teil der Gewächse müßte man dann zur Saatgutgewinnung nutzen, denn der Vorrat an geeigneten Keimen im Überlebens-System des KUNDSCHAFTERS ging zu Ende, noch zwei-, höchstens dreimal würde man neu aussäen können. Selbstverständlich würde das ein nahezu übermenschliches Maß an Arbeit erfordern.
Die andere Meinung war entgegengesetzt: eine Verkleinerung der Anbaufläche bei entsprechend größerer Sicherung der Pflanzung. Rigel schlug vor, er würde eine Art Markise bauen aus einem Gestell, das im Gefahrenfall heruntergeklappt werden konnte, wobei der Rand in einen vorbereiteten Graben fiel, der auch noch unter Wasser gesetzt werden konnte. Je länger er darüber sprach, um so mehr Einzelheiten fielen ihm ein.
Während sich die Diskussion in weiteren Möglichkeiten und Varianten verlief, wuchs ganz langsam in allen Beteiligten ein Unbehagen heran, das anfangs aus verschiedenen Quellen zu kommen schien. Rigel, der so viel technische Phantasie entwickelte und weit über seinen sonstigen Anteil an Diskussionen hinaus gesprochen hatte, konnte sich plötzlich nicht mehr des ganz und gar fruchtlosen, aber traumhaft leichten Gedankens erwehren, wie einfach doch alles wäre, wenn man die normalen Schiffsanlagen nutzen könnte - Himmel, was für ein Vergnügen, Boden- und Luftfahrzeuge zusammenbauen, genau abgestimmt auf die Verhältnisse des Planeten; bequeme Behausungen mit dem entsprechenden Komfort, herum ein Schutzfeld, das weder Riesenbiester noch Insekten durchbrechen konnten.
Gemma hatte plötzlich eine Möglichkeit gesehen, wie sich die beiden Hauptvarianten zu einer Strategie zusammenschließen lassen müßten, nämlich durch mehrere kleine Felder, aber im gleichen Augenblick hatte sie Mutlosigkeit befallen: Das alles hatte ja doch wenig Zweck, denn wer sollte sichern können gegen alle denkbaren Gefahren. und gegen die undenkbaren Gefahren dazu, denn gerade die würden es sein. Wer hatte denn an Balloninsekten gedacht, bevor sie kamen. Es wäre doch unwahrscheinlich, wenn es dort, wo es solche Kolosse wie das Biest gab, nicht auch entsprechende Raubtiere geben würde: Da nützten keine Vorsichtsmaßregeln, da wäre sogar ihr Schiff in seinem jetzigen, ungeschützten Zustand nicht unverletzbar.
Mira war mit ihren Gedanken viel weiter entfernt, als das allgemeine Unbehagen sie erfaßte. Ihre Überlegungen hatten begonnen wie die Gemmas, aber das ursprüngliche Thema bald verlassen. Der sie umgebende Kosmos konnte ebensogut voller Gefahren stecken wie die hiesige Flora und Fauna. Bald war Halbzeit, ein Vierteljahr vergangen seit der Katastrophe, und sie wußten immer noch nicht mehr über diese Anomalie. Seit der Entdeckung, daß das Biest auf die Strahlungsausbrüche der kleinen Sonne reagierte, hatte sie das Gefühl, daß auf ihrem eigenen Gebiet gründliche Überlegungen viel notwendiger wären; daß ihre eigene Arbeit, wenn sie sie nur richtig betrachtete, viel dringlicher der Ausweitung bedurfte, und zwar auch im Sinne der Lebenserhaltung, der Überlebensaussichten. Aber wo lag der Fehler, wo die Barriere, die sie von den geahnten Erkenntnissen trennte? Hatte sie sich selbst eingeengt, selbst Grenzen gesetzt? Was für Grenzen? Natürlich, Grenzen waren da, ihr Wissen war begrenzt, ihre Möglichkeiten waren begrenzt, aber nicht um solche Grenzen ging es, sondern.. sondern um subjektive; um solche Stellen, wo sie ohne Notwendigkeit aufhörte weiterzudenken, ja, so etwas mußte es geben, und zwar in ganz einfachen Dingen, räumlich oder zeitlich - zeitlich? Ja, gewiß, ihr ganzer Zeitbegriff endete mit der Absendung der Botschaft im Leitstrahl an die ALDEBARAN, denn dann war ja ihre Aufgabe beendet, gelöst, erfüllt.. aber.
Ihre Gedanken verwischten sich wieder. Eben noch hatte sie das Gefühl gehabt, dicht vor einem entscheidenden Einfall zu stehen, und gerade in diesem Augenblick hatte die entstandene Stille angefangen, sie zu stören. Sie wußte, wie unangenehm Toliman solche Situationen waren, er ließ sie eigentlich nur sehr selten aufkommen und warf dann immer von sich aus etwas in die Debatte, und wenn er das jetzt nicht tat, dann hieß das, daß er selbst das Gefühl hatte, nicht weiter zu wissen, verdammt noch mal, sollte er doch, es würde ihm nicht schaden, ja, er brauchte jetzt ihre Hilfe, aber er würde diesmal ohne sie auskommen müssen, wichtiger war, daß sie. Sie zwang ihre Gedanken in die alte Bahn zurück. Also wie war das? Ihre Vorstellung von ihrer Zeit, als einer mit Arbeiten, Aufgaben, Prozessen erfüllten physikalischen Dimension, endete mit dem Leitstrahl. Um das Danach hatten sie sich noch nie Sorgen gemacht, das war dann Sache des Mutterschiffes. Aber das Danach war ja doch unfehlbar ein Ergebnis des Bisdahin und hing untrennbar damit zusammen. Die Kausalität. Nein, das führte auch nicht weiter, noch einfacher mußte man. Der Zeitablauf, ja, der Zeitablauf, auf den Zeitpunkt des Leitstrahls führten zwei gleichzeitige Prozesse, in denen sie doppelt lebten, dort vereinigten sie sich, und danach.
Das war es. Für das Danach gab es überhaupt keine Sicherheit, keine Garantien. Nichts berechtigte sie zu sagen: weil vorher das und das passiert ist, deshalb muß nachher dies und jenes passieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit liefen sie auf einen Zeitpunkt aus zwei Zeiten zu, aus einer Zeitgabel, aus zwei Prozessen, und es war ungewiß, ob der eine oder der andere sich fortsetzen würde - oder keiner von beiden! Bisher hatte sie aus theoretischen Spekulationen, aus der Betrachtung gewisser mathematischer Formelapparate heraus angenommen, die Anomalie sei eine Begleiterin des Überriesen. Es konnte aber auch anders sein. Alles war denkbar. Sie konnte eine momentane Störung sein oder das Ende der Welt. Oder das Ende dieses Systems. Oder eine Erscheinung, die aus der Zukunft kam und sich in die Vergangenheit bewegte. Oder. Die Oder waren alle fruchtlos. Fruchtbar konnte allein die Beobachtung sein. Und zwar um so fruchtbarer, je näher sie dem alles entscheidenden Zeitpunkt kamen. Sie brauchte Zeit und Rechnerkapazität. Uff! Das nun aber den anderen verständlich machen!
Toliman war anfangs das allgemeine Schweigen als Denkpause willkommen gewesen. Aber Unbehagen steckt an, auch wenn es nicht direkt aus Haltung und Mienenspiel der anderen ersichtlich ist. Er begann es zu spüren, war sich aber nicht sicher, ob er nicht nur seine eigenen Sorgen nach außen projizierte. Ihm war selbstverständlich nicht entgangen, daß sich in der letzten Zeit Ereignisse gehäuft hatten, die für eine Ausweitung ihrer Tätigkeit über das Tal hinaus sprachen; er war sich bewußt, daß die Argumente dafür immer mehr und nachdrücklicher wurden, und was er dagegenhalten konnte, wurde immer magerer. Und trotzdem war er nach wie vor davon überzeugt, daß die bisherige Linie beibehalten werden mußte. Die Praxis hatte bewiesen, daß sie richtig war. Argumente konnten trügen, konnten in die Irre führen, vor allem, wenn ihnen so viele Vermutungen, Abschätzungen, Extrapolationen zugrunde lagen, wie das hier der Fall war. Aber die Beschränkung auf das Tal hatte zu einem kleinen Überfluß an Energie und Lebensmitteln geführt, trotz aller Schwierigkeiten und Gefährdungen. Und Schwierigkeiten und Gefährdungen, Risiken und Problemsituationen würde es auch geben, wenn man das Tal verließ, und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar größere als hier. Nein, die Ausweitung des Operationsgebietes war etwas, das nur augenblicklich möglich und wünschenswert erschien oder sogar einen Beigeschmack von Notwendigkeit erhalten hatte - auf die Dauer war Sicherheit entscheidend: bei einem Minimum an Risiko in zähen, alltäglichen Bemühungen den Überschuß vergrößern. Nur Überschuß war Sicherheit - nicht mehr Wissen über die Umgebung. Und außerdem - wo war die zu Ende? Nach dem nächsten Tal kam wieder ein Tal, nach dem nächsten Berg wieder ein Berg, und wenn man in Steppe, Sumpf und Wald Vordringen wollte - wie weit denn? Waren fünf Kilometer ausreichend? Oder mußten es zehn sein? Oder fünfzehn?
Toliman schüttelte den Kopf, sein Entschluß stand fest. Er hoffte nur, daß Mira ihn auch diesmal unterstützen würde. Sie war doch die Klügste, die wissenschaftlich Gebildetste, und sie hatte trotz aller abweichenden Tendenzen letzten Endes immer seine Linie unterstützt, also durfte er wohl auch diesmal auf sie rechnen.
»Ich weiß, woran ihr denkt«, sagte er in die Stille hinein, »und glaubt mir, ich habe alle Gründe geprüft. Und wir können das auch noch einmal gemeinsam tun. Am Ende kommt aber wieder heraus: Wir müssen unsere jetzige Strategie beibehalten, ganz egal, wie es kommt. Egal, wie sehr es uns nach mehr gelüstet - mehr Wissen, mehr Raum, mehr Abenteuer.«
Mit der letzten Bemerkung disqualifizierte er zu Unrecht die Gedanken der anderen. Er merkte es wohl, für den Bruchteil einer Sekunde hatte er einer nervösen Gereiztheit nachgegeben. Normalerweise hätten alle das übergangen, oder einer hätte es mit einem Scherz abgetan, aber in dieser Situation wurde es zum Auslöser für alle Spannungen, die sich aufgehäuft hatten.
Mira reagierte ungewohnt heftig. »Abenteuerlich ist hier nur dein Versuch, Augen und Ohren zu verschließen und die Karre laufenzulassen, wohin sie will!« sagte sie wütend. Sie war doppelt gekränkt, einmal von dem Vorwurf überhaupt, zum anderen aber auch, weil sie sich seltsamerweise ein bißchen verraten fühlte - immer hatte sie ihn unterstützt, auch wenn es fast gar nicht mehr vertretbar war, und jetzt sagte er so was, das alle brüskieren mußte!
Auch Toliman fiel aus allen Wolken, und seine Entgegnung war frostig. »Retourkutschen sind keine Argumente.«
Jetzt wurde Mira ernsthaft böse. »Glaubst du, ich habe keine Argumente?« fragte sie. »Glaubst du, nur du hast Argumente? Wir haben auch welche, und vielleicht mehr als du. Und vielleicht bessere. Wollen doch mal sehen! Was ist mit der Anomalie, die in den nächsten dreizehn Wochen auf uns zukommt, irgendwoher, wir wissen es nicht, und was sie dann tut, wissen wir erst recht nicht? Was ist mit den Strahlungsausbrüchen, wo die Maxima in sechs Wochen wieder am Tage liegen und uns direkt treffen? Was ist mit der Tierwelt oder überhaupt mit der Biologie dieses Planeten, die ist doch wohl nun wirklich nicht so harmlos, wie wir gedacht hatten? Was ist...«
»Ja, ja, ja, ja«, unterbrach Toliman und hob die Hände an die Ohren, »das sind doch.. darüber haben wir schon ein Dutzendmal.. das sind alles Spekulationen!«
»Und du?« Jetzt wurde Mira aggressiv. »Du spekulierst auch nur! Du spekulierst darauf, daß nichts passiert! Ist das nicht viel armseliger als unsere Spekulationen? Die haben wenigstens noch Phantasie! Du weißt auch nicht mehr als wir, du tust bloß immer so!« Sie blickte sich in der Runde um, sah Gemmas entgeistertes Gesicht und mäßigte sich sofort. »Ist doch wahr!« sagte sie, und fühlte sich plötzlich ganz ruhig.
»Na, ist der Ausbruch vorbei?« fragte Toliman, um seine Unsicherheit zu überspielen. Aber diesmal gelang es ihm nicht, Mira aufzubringen.
»Sieh das doch mal so«, sagte sie freundlich, »bisher war deine Strategie erfolgreich. Gut. Also war sie richtig? Meinetwegen. Aber muß sie deshalb immer richtig sein? Manchmal wird etwas falsch, was bis dahin richtig war, das soll vorkommen, oder?«
Etwas verspätet und ziemlich unsicher sagte Gemma: »Kinder, so geht das nicht.« Aber ihr Einwand ging unter.
»Was richtig ist, weiß man genau immer erst hinterher«, sagte Toliman.
»Eben«, entgegnete Mira sachlich, »und damit gibst du zu, daß du auch nichts Genaues weißt!«
Dem folgte ein langes Schweigen. Jetzt stand Meinung gegen Meinung, zwar im Verhältnis drei zu eins, aber die Wahrheit ist ja nicht immer mit Mehrheitsbeschlüssen festzustellen.
Sie schwiegen sich in eine wachsende Erbitterung hinein, und sie standen diesem Prozeß fast ratlos gegenüber. Nachgeben, wenn die Argumente zeigen, daß der andere recht hat - ja, das wäre ihnen geläufig gewesen; ebenso beharren und durchsetzen, wenn man sich selbst im Recht weiß. Aber hier gab jeder im stillen zu, daß für die Meinung des anderen vernünftige Argumente sprachen und daß sie eigentlich zu wenig wußten, um die Frage zu entscheiden. Aber eine Entscheidung mußte gefällt werden. Nur, was man da noch reden sollte, was man durch Debattieren noch hätte erreichen sollen, das sah keiner.
Eine solche ratlose, ohnmächtige Erbitterung hatte keiner von ihnen je erfahren. Gemma schluchzte plötzlich, sie hielt die Spannung nicht mehr aus.
»Schluß jetzt«, sagte Mira, »vertagen wir die Sache!« Es war eine augenblickliche Reaktion, Gemma zu helfen, und erst danach begriff Mira, daß das wohl auch der einzige Weg gewesen war, aus dem Dilemma herauszukommen, und sei es nur vorläufig, für diesen Abend, für diese Stunden. Vielleicht, hoffte sie plötzlich, war man am Morgen klüger? Wenn sich die Spannung gelöst hatte?
Als sie zu Bett gingen, begann Toliman ihr seine Haltung zu erklären - obwohl doch sie ihn angegriffen hatte. Er tat das wohl auch nicht, um sich zu verteidigen, sondern, wie Mira bald spürte, um selbst Klarheit zu gewinnen. Daß er sich durchsetzen würde, wenn er ganz und gar davon überzeugt wäre, daß die Argumente der anderen nichtig seien, sagte er; und daß er die Leitung abgeben würde, wenn er zu der Überzeugung kommen müßte, daß seine Argumente nichtig seien; und daß er jetzt nicht weiter wisse, da man doch offenbar nur eins von beiden könne: entweder im Tal bleiben - oder nicht im Tal bleiben, seine Grenzen überschreiten.
Je länger Toliman sprach, um so deutlicher fühlte Mira, wie ihr Verlangen nach ihm wuchs - sie hätte nicht sagen können, warum, Toliman sprach ganz sachlich, frei von Zorn, Klage oder Selbstmitleid, und sie war zu sehr mit ihrem Verlangen beschäftigt, um zu erkennen, daß eben hinter dieser Sachlichkeit, die selbst Ergebnis der Überwindung kleinlicher Gefühlsregungen war, eine tiefe innere Hinwendung zu ihr stand, und daß ihr Verlangen nur das nicht bewußte Echo darauf war. Schließlich begriff sie es aber doch und legte ihm zwei Finger auf die Lippen. Es wurde die längste ihrer bisherigen Nächte.
Als sie - welche Disziplinlosigkeit! - unausgeschlafen in den neuen Tag gingen, unterdrückte Toliman das Bedürfnis, zu tanzen und zu springen und die Welt zu umarmen; aber Mira zweifelte, ob sich eine solche Nacht je wiederholen würde.