„Er ist bewußtlos“, antwortete Uwe über Helmfunk. „Verletzungen sind nicht zu sehen.“ In der Zentrale stellte Irina eine erste Untersuchung an.
„Keine äußerlichen Verletzungen. Aber Fieber.“
„Was sagt er denn?“ fragte Uwe.
Irina blickte ihm ins Gesicht und sah nun auch, daß sich seine Lippen bewegten, aber es kam kein Ton heraus.
„Die fünfzehn g hätte er doch aushalten müssen!“ meinte Uwe besorgt.
„Vielleicht hatte er Angst, und die Muskeln haben sich im entscheidenden Moment gespannt?“ vermutete Irina.
„Angst? Michael – Angst? Das glaube ich nicht. Er hat doch solche Situationen zu Dutzenden bestanden.“
„Tja, mein Lieber, es gibt etwas, was Feiglinge zu Mutigen macht und Mutige ängstlich.“
„Ach, das ist doch Poesie. Wenn ich nur wüßte, was er sagt. Es scheint immer das gleiche Wort zu sein.“
„Ja“, erwiderte Irina, „und ich glaube, es heißt: Eileen.“
Alle Neu-Rostocker und TERRA-Leute, bis auf Michael, der noch pflegebedürftig war, und Eileen, die ihn pflegte – hatten sich auf dem mittleren Gipfel des Dreispitz versammelt. Sogar die Biologen waren zu diesem feierlichen Anlaß aus ihren Labors gekommen und hatten die Schutzanzüge angelegt: Das Plasmawind-Kraftwerk sollte eingeweiht werden.
Man hatte sich im gedeckten Leitstand versammelt, von dem aus man durch Sehschlitze einen guten Ausblick auf das eigentlich gar nicht so imposante Bauwerk hatte. Die halbkugelförmige Kuppel war unter dem Gewirr von Antennen, Meßfühlern, Drahtgitterschirmen und verschieden geformten Elektroden kaum noch zu ahnen. Hier sollte die Energie aus der Atmosphäre empfangen und von hier aus über ionisierte Luftschläuche weitergeleitet werden an das Entkohlungswerk, das ebenfalls für einen Probelauf bereit war, an den Sender, der noch im Bau, und an die Station Neu-Rostock, die noch nicht angeschlossen war.
„Na, Jochen“, meinte Klaus Rudloff, der Biologe, „nun bist du mal wieder dran, ein paar passende Worte zu sagen.“
„Das läßt sich wohl nicht vermeiden“, antwortete Jochen Laurentz, „nur ob sie allen passen werden, das ist eine andere Sache. Es war doch wohl bisher so, daß wir Biologen hier das A und O des Unternehmens waren. Zu Recht waren wir stolz darauf, mit Hilfe unserer Wissenschaft eine solche Zahl von Problemen praktischer, ja sogar technischer Art lösen zu können. Aber wenn wir jemals vergessen haben sollten, daß vieles davon nur der Not entsprang und daß wir im System einer entwickelten Technik einerseits vertausendfachte Möglichkeiten, andererseits aber auch nicht mehr die absolute Vorrangstellung für unsere Wissenschaft haben werden, dann wird der in unseren Dienst gebannte Blitz uns gleich daran erinnern.“
„Hauptsache sind die Möglichkeiten“, rief Klaus Rudloff, „ob Vorrang oder nicht, das wird sich noch herausstellen!“
„Einverstanden, es wird sich herausstellen – in einer neuen Entwicklungsetappe unserer Station, die heute beginnt.“
„Na, denn mal los!“ meinte der Biologe.
„Einen Augenblick, hier ist noch jemand, der etwas zu sagen hat: Kommandant Uwe Heywaldt. Vorher möchte ich ihm und seiner Mannschaft für ihren selbstlosen Einsatz danken. Und wenn ich noch ein persönliches Wort hinzufügen darf: Ich wäre auch stolz auf ihn, wenn er nicht mein Sohn wäre!“
„Der Dank“, sagte Uwe, „gebührt eigentlich nicht uns, sondern der Erde, und nur als ihr Vertreter nehme ich ihn entgegen. Wir als Raumschiffbesatzung haben nur hierher gebracht und ausgepackt, was die Erde geschaffen hat. Ihr habt gesehen, was in den Sonden war, ihr seht, was hier steht, aber heute ist auch der geeignete Anlaß, zu dem ich euch etwas unendlich viel Wertvolleres mitteilen darf. Wir sind übereingekommen, daß mit dem heutigen Tage Erika Braune, Funkerin und Automatentechnikerin, und Erich Braune, Planetologe, aus dem Mannschaftsbestand der TERRA ausscheiden und der Station Neu-Rostock auf dem Planeten RELAIS unterstellt werden.“
„Hoho“, rief Klaus Rudloff, „heißt das, daß ihr anderen abschwirren wollt? Wir brauchen euch noch für eine Expedition in die Tropen. Woher sollen wir erfahren, was unsere Schöpfungen dort anstellen?“
„Ein Glück“, antwortete Uwe, „daß wenigstens einer da ist, der keine Feierlichkeit aufkommen läßt. Aber im Ernst – darüber läßt sich reden, denn bevor der Sender fertig ist, starten wir sowieso nicht zum Rückflug. Aber das muß doch nicht hier entschieden werden.“
„Ich nehme jede Kritik an, die mit einer Zusage verbunden ist!“ erwiderte der Biologe schmunzelnd.
„Erika zittert schon vor Aufregung“, sagte Jochen, die etwas aus den Fugen geratene Feierstunde beendend. „Jetzt muß ich ihr wohl das Kommando geben? Na also dann – los!“
Erika drückte eine Taste. Alle blickten durch die Sehschlitze zum Kraftwerk hinüber. Plötzlich brach ein Blitz aus den Wolken – kein gewöhnlicher, verästelter, sondern ein ganz gradliniger, der wie auf einem Foto stehenblieb. Und dann war ein Donnern zu hören, das alle zusammenfahren ließ. Mara und ihre Mutter, die seltener ins Freie kamen, wollten sich die Ohren zuhalten, aber ihre Hände klatschten gegen die Helme. Erst da wurde ihnen klar, um wieviel heftiger der Donner sein mußte, als sie ihn hörten.
Der Donner verrollte, aber der Blitz blieb stehen. Erika blickte lächelnd auf die Meßinstrumente.
„Jetzt schaltet sich der Neutronenstrom aus, der Ionenkanal wird aus eigener Kraft aufrechterhalten“, erklärte sie. „Und jetzt hat die Energieübertragung zum Entkohlungswerk begonnen.“
„Dann fliegen wir doch hinüber!“ schlug Jochen Laurentz vor.
„Tom fliegt den Hubschrauber. Erika, du bleibst wohl hier?“
Erika nickte. „Ich muß die Instrumente überwachen. Immerhin ist das Kraftwerk auf der Erde gebaut, und hier ist manches anders.“ Während des Fluges saßen Uwe und Jochen nebeneinander. Jochen stieß ihn an und zeigte auf den Kontakt des Helmtelefons. Sie koppelten ihre Helme miteinander – offenbar wollte sich Jochen mit Uwe allein unterhalten.
„Tut es dir nicht leid“, fragte er, „daß deine Besatzung auseinanderfällt?“
„Das ist nun mal so“, sagte Uwe seufzend, „das haben wir doch schon in der Schule gelernt: Ein Kollektiv mit einem echten gemeinsamen Ziel wächst zusammen, und ein Kollektiv, in dem die einzelnen verschiedene Ziele haben, zerfällt oder wird nur durch äußere Notwendigkeiten zusammengehalten – die hier nicht vorliegen.“
„Und es wird vielleicht noch weiter zerfallen“, vermutete Jochen.
„Du meinst Michael?“
Jochen nickte. „Es sieht mir ganz so aus. Könntest du denn mit Irina allein den Rückflug bewältigen?“
Uwe schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Ich würde dem nur zustimmen, wenn ich überzeugt wäre, daß er hier glücklich wird.“
„Und davon bist du nicht überzeugt?“
„Michael hängt vielleicht nicht so an der Erde wie ich, außerdem ist er auch jünger – aber er ist mit Leib und Seele Kosmonaut. Trotzdem, selbst wenn er hierbliebe: Auch zu zweit können wir zurückfliegen.“
„Du gibst also nicht auf, was deinen Rückflug betrifft?“ fragte Jochen.
Uwe lachte. „Du gibst ja auch nicht auf, was mein Hierbleiben angeht.“
„Da hast du recht“, meinte Jochen nachdenklich, „ich höre nicht auf zu hoffen.“ Er hatte noch eine Frage auf der Zunge, aber die Landung beendete das Gespräch. Der Hubschrauber setzte auf der Nachbarkuppe auf.
Sie standen vor einer Art Sieb, das etwa fünf Meter hoch und vielleicht zwanzig Meter breit war.
„Dies ist der Ansaugschacht“, erklärte Tom so stolz, als hätte er alles selbst ausgedacht, konstruiert und gebaut.
„Läuft denn die Anlage schon?“ fragte Mara.
„Natürlich“, antwortete Tom. „Sie verarbeitet in der Stunde zwölftausend Kubikmeter Luft und liefert etwa eine Tonne Kohlenstoff und dreieinhalb Tonnen Sauerstoff.“
„Aber hier ist doch gar nichts zu spüren?“ fragte Uta Rudloff und legte ihre Hand auf das Sieb. „Ich dachte immer, hier müßte es wie ein Sturm heulen, und man dürfte gar nicht in die Nähe kommen, sonst würde man mitverarbeitet!“
Tom lachte. „Überleg doch mal – der Ansaugschacht hat einen Querschnitt von hundert Quadratmetern. Zwölftausend durch hundert ergibt eine Ansauggeschwindigkeit von hundertzwanzig Metern in der Stunde, also zwei Meter in der Minute. Das kann man gar nicht spüren, das ist eigentlich nur ein Sickern.“
„Aha“, meinte Uta. „Trotzdem solltest du nicht über deine Schwiegermutter lachen, es kann doch nicht jeder Techniker sein, es muß ja auch noch Biologen geben.“
Sie hatte das scherzhaft gesagt, und Tom ging auf den Ton ein.
„Das sind ja ganz neue Töne, das hat man von den Biologen noch nie gehört. Das eröffnet ja ungeahnte Perspektiven!“
Klaus Rudloff, der diese Unterhaltung schon wieder als Geschwätz empfand, fragte ungeduldig: „Und wie geht’s nun weiter?“
„Der Kohlenstoff wird in kubikmetergroße Würfel gepreßt, mit Korrosionsschutz versehen und in der Schlucht nördlich von hier gestapelt. Der Rest der Gase wird abgeblasen – ebenfalls in die Schlucht, allerdings durch eine Pipeline in zwei Kilometer Entfernung, ihr versteht, damit kein Kreislauf zustande kommt. Übrigens können wir jeweils nach Bedarf einen Teil des Sauerstoffs verflüssigen und bis zu zehn Tonnen in Thermosbehältern aufbewahren, als Reserve. Aber das nur nebenbei – in der Hauptsache wird der Sauerstoff natürlich in die Atmosphäre abgeblasen. Doch die Biologen brauchen keine Angst zu haben, daß sie arbeitslos werden: Selbst hunderttausend solcher Anlagen können nicht die Assimilation der Pflanzen ersetzen, ich meine, bei der Aufspaltung des Kohlendioxids, die die Luft des Planeten atembar machen soll.“
„Fliegen wir zurück“, schlug Jochen vor, „und essen wir zur Feier des Tages wieder einmal gemeinsam. Auf dem Rückweg holen wir Erika ab.“
Sie landeten wieder auf der Kuppe, die das Kraftwerk trug.
„Ja, einen Moment noch, ich schalte auf automatische Regelung“, meldete Erika über den Helmfunk. Tom ging zu ihr in den Leitstand, Jochen, Uwe und Irina stiegen aus und liefen ein paar Schritte.
Plötzlich blieben alle drei stehen. Ein Knattern ertönte. Sie blickten betroffen zum Kraftwerk, von dem das Geräusch kam. Der Blitz, oder richtiger: die leuchtende Ionensäule schien zu zittern – doch dann hörte das Knattern auf, und die drei fragten sich, ob das Zittern nicht nur eine Täuschung gewesen sei.
„Was ist los, Erika?“ fragte Uwe.
„Ich weiß auch nicht“, tönte Erikas Stimme im Helmfunk. „Unregelmäßigkeiten in der Zufuhr. Die Regelautomatik hat sie ausgeglichen. Geht aber lieber in Deckung, man weiß nicht, was noch kommt. Oder noch besser – fliegt nach Hause und laßt Tom und mich hier, damit wir die Sache untersuchen können.“
Die drei wandten sich um und wollten zum Hubschrauber gehen. In diesem Augenblick erlosch der stehende Blitz.
„Abschalten!“ rief Uwe, und gleichzeitig rief Erika: „Deckung!“
Ein scharfer Knall, für den Bruchteil einer Sekunde zuckte der Blitz noch einmal auf und erlosch sofort, es donnerte – und im Helmfunk war ein Aufschrei und ein Stöhnen zu hören. Uwe sah sich um, noch geblendet – lag da nicht jemand? Jetzt erkannte er:
Es war Jochen. Irina war schon bei ihm, sie hatte wohl nicht den Blitz gesehen. Uwe bückte sich, um ihr zu helfen, da sah er entsetzt, was geschehen war: Aus Jochens rechtem Unterarm spritzte Blut. „Hilf mir abbinden“, rief Irina. „Die Hand ist abgeschnitten.“