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Irina war aufgestanden, nachdem sie das Gedächtnis wiedergefunden hatte, und hatte ein paar Minuten lang leichte Gymnastik getrieben. Die Schmerzen, die die Anabiose hier und da zurückgelassen hatte, waren wie fortgespült; sie fühlte sich wunderbar frisch. Freilich wußte sie, daß sie schnell ermüden würde, aber sie hatte einfach keine Lust, das eben erst wiedergewonnene Leben mit Schlaf zu vertun, wie das Programm es vorsah. Es machte ihr direkt Spaß, ein bißchen gegen die Disziplin zu verstoßen. Sie legte einen leichten Dreß an, beobachtete dabei mit Vergnügen das Spiel ihrer Muskeln und Gelenke und sprach laut die lateinischen Namen der Gewebe, Knochen und Nerven aus, die daran beteiligt waren – alles war da, nichts vergessen!
Dann verließ sie die Grabkammer, wie dieser Raum im Kosmonautenjargon hieß, kletterte in die Zentrale hinauf und setzte sich in ihren Arbeitssessel.
Die Zentrale hatte die Gestalt eines regelmäßigen Sechsecks, obwohl nur fünf Personen an Bord waren. Jede der etwa drei Meter langen Seiten war der Arbeitsplatz eines der Besatzungsmitglieder – nur Irina hatte zwei: den medizinischen und den gastronomischen; denn als Ärztin war sie zugleich für die Ernährung verantwortlich. In der Mitte stand ein fünfeckiger Tisch, an dem alle gemeinsam ihre Mahlzeiten einnahmen – oder richtiger: einnehmen würden.
So, nun mußte sie aber doch diszipliniert sein und schlafen gehen. In einer halben Stunde hatte sie ausgeruht zu sein, denn dann würde Uwe erwachen, wieder eine halbe Stunde später Michael Kolk, der Navigator, danach Erika Braune, die Funkerin, und schließlich Erich, deren Mann, der Planetologe. Was sie wohl für Menschen sein mochten? Michael Kolk, den jungen Bären, der ihren Uwe schon länger kannte sie als und sich fast als sein Sohn fühlte, diesen Michael Kolk kannte sie ja schon aus der Vorbereitungszeit. Aber die beiden Braunes waren erst beim Starttraining zu ihnen gestoßen, er achtundzwanzig und sie fünfundzwanzig Jahre alt, beide junge Mitarbeiter der Gruppe, die auf der Erde das PROJEKT RELAIS weiterführte, beide glücklich über den ehrenvollen Auftrag, als Auserwählte ihrer Gruppe zum Planeten RELAIS zu fliegen…
Sie hatte schlafen gehen wollen, aber irgend etwas beunruhigte sie. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie die ganze Zeit auf den Datumsanzeiger gestarrt hatte. Das Gerät, auf Erdzeit synchronisiert, zeigte an: 25.8.112.
Irina lachte auf. Natürlich, seit dem Start im Jahre 102 Neuzeit waren ja zehn Jahre vergangen! Aber dann stutzte sie. Fünfundzwanzigster August? Sollten sie nicht am achtundzwanzigsten erwachen?
Sie zog eine Lade auf, nahm das medizinische Bordbuch heraus und legte es vor sich auf den Arbeitstisch. Noch war es leer. Was würde alles eingetragen sein, wenn sie zurückkämen?
Sie schlug das Buch auf. Da stand, schwarz auf dem zarten Hellgrau der Plastfolieblätter, das Datum, das sie schon vor Beginn des Fluges eingetragen hatte: Beginn 28.8.112.
Na wenn schon! dachte sie. Drei Tage, was machte das aus in zehn Jahren. Aber gleich kamen ihr Bedenken. War es richtig, so leicht darüber hinwegzugehen? Alles andere hatte die Automatik doch zuverlässig erledigt. Drei Tage – wie groß war denn die Abweichung eigentlich? Hm – nicht ganz 0,1 Prozent von zehn Jahren. Und die Weckautomatik hatte eine Toleranz von 0,01 Prozent. Also mußte es eine Ursache geben!
Sollte etwa bei einem der Gefährten eine Störung im Ablauf der Anabiose eingetreten sein?
Mit schnellen Handgriffen schaltete sie ihre Geräte an Uwes Anabiosebox. Auf ihrem Arbeitstisch begannen Lämpchen zu glühen. Lichtstreifen kletterten Skalen hinauf und hinunter, Kurven wanderten über Leuchtschirme. Uwes Erwecken war in vollem Gange, nichts deutete darauf hin, daß irgendein Teilprozeß unregelmäßig verliefe. Erleichtert atmete sie auf – aber im nächsten Augenblick wies sie sich zurecht: In dieser Sache mußte sie um jeden ihrer Gefährten gleichermaßen besorgt sein.
Plötzlich fühlte sie sich todmüde. Sie stand auf, turnte etwas, trank ein Glas Traubensaft und setzte sich wieder. Nacheinander schaltete sie sich in die Automatik der anderen Boxen ein, aber nirgends gab es Störungen, nirgends Anomalien. Bei Erich, der erst in knapp anderthalb Stunden an der Reihe war, hatte der Erweckungsprozeß noch gar nicht eingesetzt.
Irina versuchte vergebens, mit diesem beruhigenden Ergebnis ihre Sorgen zu zerstreuen. Sie wußte genau, wie wenig diese von ihr kontrollierbaren Parameter über den komplizierten Organismus des menschlichen Körpers im Grunde genommen aussagten. Die Automatik konnte ja auch eine Abweichung festgestellt haben, die jetzt, im Prozeß des Erweckens, nicht zutage trat, aber später, im wachen Zustand, wenn der Körper sich wieder voll und selbständig versorgen mußte, schlimme Folgen zeigen würde.