Forschend ging ihr Blick über das Gewirr der Skalen und Lämpchen auf ihrem Pult. Dann holte sie nacheinander die EEGs ihrer Gefährten auf den Bildschirm. Nachdem sie alle gemustert hatte, schaltete sie noch einmal zu Erika zurück.

„Erika – müde?“

„Nein, bloß ein bißchen Kopfschmerzen. Nicht schlimm. Nicht meinetwegen gleich wieder umkehren.“

„Das entscheidet Irina“, sagte Uwe ruhig.

Irina zögerte. Dann befahl sie: „Bis auf Erika – Hauben ab. Erika, wenn es schlimmer wird, unbedingt melden.“

Der Planet RELAIS füllte nun schon das ganze Blickfeld aus. Nur auf dem oberen Rand von Uwes Bildschirm funkelten noch Sterne.

„Nach der magnetischen Deklination wären wir etwa zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Längengrad“, meldete Irina.

„Günstig“, kommentierte Uwe, „dann ist eine Taglandung möglich.“

Eine Viertelstunde arbeiteten alle schweigend. Dann fragte Irina plötzlich: „Erika?“

„Unverändert“, antwortete die Funkerin. „Keine Angst, ich melde mich schon.“

Aber Irina gab sich nicht zufrieden. „Uwe, wenn die Deklination ungefähr richtige Werte ergeben hat – wann würden wir dann den ersten markanten Punkt auf dem Planeten wahrnehmen?“

„Etwa in einer dreiviertel Stunde“, antwortete der Kommandant.

„Könnte einer von euch Erikas Meßreihen übernehmen?“

„Das ließe sich machen, der Kurs bleibt ja stabil.“

„Gut. Erika, ich gebe dir einen Sauerstoffrausch, danach wirst du eine halbe Stunde autogen schlafen. Setz bitte die Atemmaske auf. So, und jetzt klapp deine Lehne zurück, bis du ganz ausgestreckt liegst. Danke. Ich gebe jetzt reinen Sauerstoff. Tief atmen. Langsamer. So, Tempo halten. Danke, Maske ab. Jetzt die Daumen in den Gürtel haken, und nun – schlafen! Schlaf ein!“

Irina wandte sich wieder ihren Geräten zu. Plötzlich stutzte sie. „Nach der Deklination müßten wir jetzt auf dem hundertzwanzigsten Längengrad sein, das wären achtzig Grad in einer Viertelstunde oder ein Umlauf in einer Stunde – das kann doch nicht stimmen?“

„Nein“, bestätigte Uwe.

„Die Magnetanomalie?“ fragte Erich.

„Nein, die würde auf der anderen Seite liegen. Außerdem sind Inklination und Feldstärke unverändert.“

„Interessant!“ bemerkte Erich nur. Die anderen sahen, daß er eifrig irgend etwas berechnete.

Uwe war sicher, daß sie das Ergebnis dieser Berechnungen gleich erfahren würden. Er war überhaupt hochgestimmt – bisher hatte er nicht eingreifen müssen, seine Einschätzung des Kollektivs bestätigte sich. Erika war autogen eingeschlafen, und das bedeutete, daß sie sich völlig sicher fühlte im Kollektiv.

„Wahrscheinlich eine Magnetpolverschiebung, und zwar eine recht erhebliche in der kurzen Zeit von einigen Jahrzehnten!“ verkündete Erich Braune.

„Läßt das schon Schlußfolgerungen zu?“ fragte Michael.

„Noch nicht, aber wenn wir genau wissen, wie weit und wohin der Magnetpol gewandert ist, können wir die Hypothesen über die Verhältnisse auf dem Boden schon präzisieren.“

Eine weitere Viertelstunde verging, ohne daß jemand etwas sagte. Das Raumschiff und etwa hundert Kilometer vor ihm die Sonde jagten durch die Exosphäre des Planeten, und die Insassen beobachteten, maßen, rechneten.

Wieder war es Irina, die das Schweigen brach.

„Die Infrarotstrahlung scheint sich etwas erhöht zu haben, allerdings so wenig, daß… Aber wenn man berücksichtigt, daß wir uns dem Abend nähern, wo sie eigentlich doch abnehmen müßte…“

„Dann könnte man“, führte Erich den Satz fort, „mit einiger Vorsicht annehmen, daß wir die Küstenlinie überschritten haben, daß wir vorhin Meer unter uns hatten und nun Land. Wo wären wir da jetzt?“ Er holte sich den Atlas auf den Bildschirm. „Es ist ja kaum anzunehmen, daß der Magnetpol hundertachtzig Grad um den planetographischen Pol herumgewandert ist. Wir wären also jedenfalls auf der westlichen Hälfte des Koordinatensystems, und dann müßten wir“ – er tippte auf eine Stelle, wo der Äquator die Küste eines Kontinents kreuzte – „hier sein. Hundert Grad westlicher Länge. Wir hätten dann noch etwa zehn Minuten bis zur ersten Vulkangruppe.“

„Erika wecken?“ fragte Uwe knapp.

„Nein“, entschied Irina. „Autogen. Muß von allein aufwachen.“

„Gut“, entschied Uwe.

Die Uhrzeiger schienen immer langsamer zu schleichen. Etwa fünf Minuten mochten vergangen sein, da sagte Uwe: „Ich denke, wir schalten jetzt alle auf Infrarotbild, damit uns nichts entgeht!“

Uwe bemerkte, wie alle erleichtert aufatmeten und sich mit neuem Interesse ihren Pulten zuwandten. Ein paar Schalter klickten, und auf drei Bildschirmen erschien das gleiche trübe, durch nichts unterbrochene Grau, das vorher schon auf Erikas Schirm von Irina beobachtet und gemessen worden war – über ihren eigenen zogen immer noch die Kurven von Erikas EEG.

Irina warf einen Seitenblick darauf. Die Kurven hatten sich normalisiert, es schien alles in Ordnung zu sein. Und plötzlich mußte sie lachen. Es sah eigentlich sehr komisch aus, wie sie hier alle saßen und gebannt, mit gerunzelter Stirn, auf eine unverändert graue Fläche starrten. Aber schnell richtete sie ihren Blick wieder auf den Bildschirm, gerade noch rechtzeitig, denn jetzt erschien auf dem oberen Rand – ja, ganz deutlich – ein heller Punkt.

Keiner wagte jetzt wegzublicken, aber jeder wußte, daß die andern es auch sahen. Langsam, unendlich langsam wanderte der Lichtpunkt abwärts, der Schirmmitte zu. Und da erschien der zweite.

Erich maß den Abstand und rechnete. „Es stimmt genau mit der ersten Vulkankette im Atlas überein!“ sagte er triumphierend. Doch da, in wesentlich kürzerem Abstand, erschien schon der dritte.

Die Blicke wanderten von den Bildschirmen zu den Atlanten und wieder zurück auf die Schirme. Das stimmte nun nicht überein! Das konnte – konnte die zweite Kette sein, aber auch nur beinahe…

Und dann erschien noch ein Lichtpunkt, noch einer, und noch… keine Kette mehr, ein Kranz von Lichtpunkten, Vulkanen also.

Alle starrten bewegungslos auf das Bild. Nur Erich war rastlos tätig, maß, skizzierte, rechnete.

„Ist das nun die erste, zweite oder dritte Vulkangruppe auf dem Äquator?“ fragte Michael schließlich.

„Wenn wir nur davon ausgehen, daß zu den alten zusätzlich neue Vulkane entstanden sind, dann könnte es jede sein“, antwortete Erich sachlich, „oder auch eine ganz neu entstandene. Aber…“ Er verstummte.

Michael blickte Uwe an, aber Uwe schüttelte den Kopf. Nicht stören, hieß das, und Michael verstand.

Irina blickte abwechselnd auf das EEG auf ihrem Bildschirm und auf Erikas Gesicht. Die halbe Stunde war um, jetzt mußte sie erwachen, wenn ihr Zeitgefühl richtig funktionierte.

Uwe bemerkte auch Irinas besorgte Blicke und freute sich wieder, daß Irina sich nicht ablenken ließ durch das Vulkanproblem und daß Erich sich nicht ablenken ließ durch den Zustand seiner Frau und beide sich aus dem gleichen Grund so verhielten: weil sie die Sache in besten Händen wußten, weil sie einander vertrauten.

Da, jetzt mußte Irina auf dem Bildschirm etwas bemerkt haben, denn ihr Gesicht entspannte sich.

„Ja“, sagte Erich nachdenklich in die Stille hinein, „die größte Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es sich um die erste Vulkangruppe handelt. Wenn wir den ersten und zweiten Vulkan dieser Gruppe, die sich ja mit der Vorlage decken, außer acht lassen und von dem dann folgenden Kranz von Vulkanen das Zentrum nehmen, sind wir an dem Punkt, wo der Atlas den dritten Vulkan zeigt. Das wäre denkbar. Wenn man das Schema auf die anderen Vulkangruppen legt, müßten eine Reihe zusätzlicher Bedingungen angenommen werden. Wir können also davon ausgehen, daß unsere erste Annahme richtig war, müßten das allerdings noch durch zusätzliche Beobachtungen bestätigen. Damit wissen wir jetzt mit einiger Sicherheit, wo wir uns befinden.“

„Guten Morgen!“ sagte Erika und richtete sich auf. „Ich fühle mich wunderbar frisch!“

Erich sah sie erstaunt an, dann lachte er. „Ich hatte dich fast vergessen, hoffentlich bist du mir deswegen nicht böse!“

„Wart’s nur ab!“ rief Erika. „Auf dem Boden! Hoffentlich wachsen dort ordentliche Knüppel.“

Uwe lachte laut. „Wer weiß, was da jetzt wächst. Aber wenn die Herrschaften vielleicht ihren wissenschaftlichen Meinungsstreit etwas verschieben könnten, dann würde ich empfehlen, daß Erika sich erst mal mit den Aschewolken beschäftig. Wir kommen in zehn Minuten auf die Nachtseite, und da wird das etwas schwierig.“

„Zu Befehl, mein Herr!“ sagte Erika und wandte sich ihren Geräten zu. Ein Druck auf den Knopf, und auf ihrem Bildschirm erschien das teleoptische Bild des Teils der Atmosphäre, den sie gerade überflogen. Das Grün strahlte tief und satt, und die Aschewolke, die sich nun in das Blickfeld schob, leuchtete so intensiv purpurn, daß Erika einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken konnte.

Ein Druck ihrer Hand löste eine Folge von Laserblitzen aus, deren Wellenlängen sich über das ganze Spektrum verteilten. Dann schaltete sie die Ausgabe auf Druckdiagramm. Ein Papierstreifen wuchs vor ihr aus dem Pult. Er war leer.

„Zu schwach, wir sind noch zu hoch“, erklärte sie.

Die purpurne Wolke verschwand vom Bildschirm, und auch das Grün wurde immer dunkler. Schließlich war der Schirm schwarz. Sie waren in die Nachtseite des Planeten eingeflogen.

Auch die anderen, grauen Bildschirme, die auf Infrarotempfang eingestellt waren, wurden nun dunkler. Um so deutlicher zeichneten sich die Lichtpunkte ab, die jetzt sichtbar wurden: die zweite Vulkangruppe. Auch hier hatte sich einiges verändert, aber der Abstand von der ersten stimmte genau, und damit hatte man die geographische Lage exakt bestimmt.

„Jetzt geht’s los“, sagte Uwe, „ihr drei teilt euch die Arbeit brüderlich, alle Messungen und Beobachtungen sind jetzt eure Sache; wir beide, Michael und ich, müssen die weitere Flugbahn berechnen.“

Als sie nach einer guten halben Stunde wieder in die Tagseite einflogen, stand diese Flugbahn fest. Sie befanden sich jetzt in einer Höhe von etwa achthundert Kilometern, würden den Planeten noch einmal umrunden und dann, beim erneuten Einflug in die Tagseite, zum Übergang in die Ionosphäre ansetzen.

„Falls keine Änderungen mehr nötig werden“, schloß Uwe seinen Bericht.

In der folgenden arbeitsreichen Stunde sammelten sie neue Informationen. Es gelang, die zwei oberen Schichten der Ionosphäre ziemlich lückenlos zu vermessen. Die Laserblitze lieferten erste Ergebnisse über die genaue Struktur der Vulkanaschewolken. Gemeinsam mit den Magnetfeldmessungen, dem Verhalten der oberen ionosphärischen Schichten und einer Reihe anderer Meßergebnisse ermöglichten sie Erich doch schon ziemlich bestimmte Aussagen über die unteren atmosphärischen Schichten. Man würde etwa die gleichen Bedingungen antreffen, die früher die automatischen Sonden gemessen hatten, allerdings quantitativ gesteigert. Die klimatischen Erscheinungen in der Troposphäre würden sehr heftig sein und die dünnen, elektrisch aufgeladenen Schichten der Ionosphäre einen sehr starken und schnellen Elektronenstrom aufweisen, so daß Wirbelströme auf der Außenhaut des Raumschiffs und ihre magnetischen Folgeerscheinungen die elektronische Bildübermittlung stören konnten und die Besatzung sich vielleicht optisch orientieren mußte.

„Alles?“ fragte Uwe, als Erich geendet hatte.

„Im Moment ja“, antwortete der Planetologe. Uwe blickte ihm ins Gesicht, er las eine verborgene Sorge darin.

„Im Moment alles, was mit der Landung zu tun hat“, wiederholte Erich.

„Gut“, schloß Uwe ab. „Wir haben die Sonde so manövriert, daß sie jetzt etwa hundertfünfzig Kilometer hinter uns liegt. Wir zünden jetzt ihre Bremsung, und der Befehl ist so formuliert, daß der Bremsantrieb in dem Moment eingestellt wird, in dem die Sonde die Funkverbindung mit uns verliert. Danach bremsen wir selbst, gehen aber tiefer.“

Er nickte Michael zu, der drückte eine Taste. Auf seinem Bildschirm sah man den Radarreflex der Sonde langsam nach unten wandern. Ein leises Tuten ertönte.

„Jetzt!“ sagte Erika, die auf die Uhr geblickt hatte. Aber das Tuten erlosch nicht, es vibrierte nur. Offenbar unterbrach die oberste Ionosphärenschicht die Funkverbindung nicht, sondern störte sie nur.

„Sie ist durch“, meinte Uwe.

„Klar“, bestätigte Michael und schaltete den Sender ab. Das Tuten verstummte. Der Radarreflex hörte auf zu wandern.

„Und jetzt wir!“ sagte der Kommandant. „Lehnen zurück!“

Die unsichtbaren, gewaltigen Kräfte des Andrucks preßten die Glieder auf die Unterlagen. Das Raumschiff war von einem seltsamen, bedrohlichen Knistern erfüllt. Aber Uwe lächelte, etwas mühsam freilich, denn selbst das war anstrengend. „Keine Sorge – das sind nur – die Entladungen auf der Außenhaut.“

Das Knistern, der schwache Widerhall der außen um das Raumschiff züngelnden Blitze, hörte schnell auf – die oberste Schicht war durchstoßen.

Minuten später schwand auch der Andruck wieder.

Irina stellte eine kurze Untersuchung an – ohne Befund. Dann nahmen alle die Arbeit wieder auf.

Sie sanken in einer nun schon viel steileren Spiralbahn schnell nach unten, der Stratosphäre zu. „Funkspruch an RELAIS 1?“ fragte Erika.

Uwe nickte.

Erika hämmerte auf die Taste. Plötzlich schrie sie auf. „Funksignale! Wir empfangen!“

Uwe schüttelte den Kopf. „Funkecho!“ sagte er lakonisch. „Spiegelung zwischen zwei Schichten“, ergänzte Michael, „kommt nicht gerade oft vor, aber ab und zu doch.“

Erika schwieg enttäuscht. Dann versuchte sie zu lachen und sagte: „Schon gut – ich trag’s mit Fassung!“

Aber in Wirklichkeit empfand sie eine seltsame Art von Betäubung. Sie hatte innerhalb weniger Sekunden einen schwindelnd hohen Gipfel der Freude erklommen und war wieder davon heruntergestürzt in die tiefste Enttäuschung. Und während sie sich wunderte, daß das so und nicht schlimmer war, konnte sie gleichzeitig ganz nüchtern denken, daß das für sie die erste wirklich große Erregung bei dieser Expedition war und daß sie sie gut bestanden habe. Bestanden, ja, auch an diesem Wort zeigte sich, daß Prüfungen und Examina bisher den Hauptinhalt ihres Lebens ausgemacht hatten, aber nun würde das anders werden, dies hier war der Anfang. Seltsam, welche Bedeutung für sie ein winziger Zwischenfall gewann, den die anderen wahrscheinlich schon wieder vergessen hatten. Doch nun wich die Betäubung und machte einem Gefühl der Leichtigkeit und Sicherheit Platz, einmal schon hatte sie so etwas Ähnliches gefühlt, damals, als sie sich klar darüber wurde, daß sie Erichs sicher sein konnte, nach ihrem ersten gemeinsamen Erlebnis – und jetzt? Handelte es sich vielleicht jetzt darum, daß sie ihrer selbst sicher sein konnte?

Keiner hatte bemerkt, was in Erika vorgegangen war, ausgenommen vielleicht Irina, die sie genau beobachtet hatte und jetzt lächelnd den Blick ihren Instrumenten zuwandte.–

Der Übergang in die Stratosphäre gestaltete sich einfacher, als Uwe befürchtet hatte. Er wendete das Raumschiff – für den folgenden aerodynamischen Flug mußte ja der Schub nach hinten statt wie bisher beim Bremsen nach vorn gerichtet sein –, ließ die Tragflächen ausfahren und alle in das Cockpit umsteigen. Denn wenn sie weiter in der Zentrale geblieben wären, hätte nun, da das Oben und Unten von der Schwerkraft des Planeten bestimmt wurde, keiner mehr in seinem Arbeitssessel sitzen können. Was in der Zentrale oben war, war jetzt vorn, und unten war hinten, weil sich das Raumschiff ja in ein Flugzeug verwandelt hatte.

Bei der Wendung hatte sich die TERRA zwar ein paarmal unwillig geschüttelt, aber das war eigentlich nur das Zeichen dafür gewesen, daß der Luftdruck hier schon hoch genug war, einen wenn auch noch schwachen aerodynamischen Auftrieb zu liefern.

Das Cockpit war breit genug, daß alle fünf nebeneinander sitzen konnten. Durch die Scheiben sahen sie jetzt alle in einen noch dunklen, aber am Horizont schon grünlich schimmernden Himmel. Unter ihnen dehnte sich eine rötliche Fläche; sie befanden sich dreißig bis vierzig Kilometer über einer der weit ausgedehnten Aschewolken.

Erika versuchte unermüdlich, aber ergebnislos, mit den RELAIS-Leuten Funkverbindung aufzunehmen. Aufregung und fieberhafte Erwartung hatten einem Gefühl der Beharrlichkeit Platz gemacht, das von der Ergebnislosigkeit nicht mehr erschüttert werden konnte.

Die TERRA sank schnell, aber noch schneller stürmte sie vorwärts, westwärts, mit mehr als drei Mach Geschwindigkeit.

„Neuer Kurs Nordwest“, sagte Uwe an, „wir fliegen eine Rechtskurve!“

Die kaum sichtbare Linie des Horizonts drehte sich etwas, die Körper wurden ein wenig schwerer – das war alles.

Inzwischen war das Rot der Staubwolke immer mehr verblaßt, sie sah jetzt fast grau aus, und weit voraus zeichnete sich mit dem Übergang zu einer grünlichen Färbung undeutlich der Rand der Wolke ab.

Uwe wollte lieber nicht in oder unter die Wolke kommen. Er beschloß deshalb, weit über ihren Rand hinauszufliegen. Trotzdem wollte er auch noch die Sonde zur Hand haben, wenn sie in die wolkenführende Schicht einflogen. Er wandte sich an Michael. „Sonde!“ befahl er.

Michael brauchte all seine navigatorische Geschicklichkeit, um die Sonde auf eine geeignete Bahn zu bringen. Endlich stellte er fest: „Sonde auf gleichem Kurs, zwanzig Kilometer Nordwest, acht Kilometer über uns, fliegt und sinkt schneller.“

Inzwischen war der Rand der Wolke erreicht. Sie befanden sich etwa fünf Kilometer darüber. „Hauben auf!“ befahl Uwe.

Irina meldete sich als erste über Helmfunk. „Der nördliche Horizont sieht finster aus!“ sagte sie.

Erich peilte die dunkle Schicht mit dem Radar an. „Anscheinend eine weitere Wolke!“ erwiderte er. „Die Sonde gerät darunter – bei jetzigem Kurs“, teilte Michael mit.

Uwe überschlug seine Kursberechnungen. Ausweichen nach Westen? Dann müßten sie vor der Wolke herfliegen, die ja auch nach Westen wanderte. Auf Nordkurs gehen? Dann konnten sie von den Ausläufern der Wolke eingeholt werden, die sie gerade überflogen hatten – wer konnte wissen, wie breit sie war.

Erich unterbrach seinen Gedankengang. „Von oben gesehen lagen die Wolken nie so dicht beieinander. Vielleicht ist das hier nur eine Ausbuchtung? Es kann auch sein, daß es in der Wolke Turbulenz gibt, so daß wir einen kleinen, abgesprengten Teil vor uns haben.“

„Danke“, sagte Uwe. Alle Umstände zusammengenommen, war es das beste, sie versuchten, in diese Lücke hineinzustoßen. Sie befanden sich jetzt schon auf einem Niveau mit dem oberen Rand der Wolken. „Die Sonde hinunter!“ befahl er.

Michaels kleiner Radarschirm zeigte die Sonde in natürlicher Gestalt. Uwe konnte verfolgen, wie sie sich – unter dem Einfluß der Steuerdüsen – in eine andere Lage drehte und dann mit einem Ruck an den oberen Rand des Bildschirms rutschte. Die Zielsucherautomatik korrigierte zwar sofort den Stand der Antennen, so daß sich die Sonde langsam wieder in die Bildmitte schob, aber an den Koordinatenwerten, die auf drei Skalen neben dem Bildschirm angezeigt wurden, war zu erkennen, daß sie schnell sank, bedeutend schneller jedenfalls als die TERRA.

Plötzlich begann sich die Sonde zu drehen. Michaels Hand schnellte vor und drückte eine Taste. „Antrieb aus!“

„Achtung!“ rief Uwe. Seine Hände flogen über die Tastatur seines Steuerpults, plötzlich wurde es dunkel im Cockpit, eine Riesenlast legte sich auf die Körper, die TERRA stöhnte auf – und dann begann ein unheimliches Kratzen, Schurren und Schleifen.

Als die Geräusche nachließen, schwand auch der Andruck, und die Sichtblenden schoben sich wieder auf. Das hellrote Licht der Proxima flutete in die Kanzel.

„Ein kleiner Vorgeschmack“, verkündete Uwe. „Ich mußte wieder auf größere Höhe gehen, weil die Sonde offenbar in einen kräftigen stratosphärischen Wirbel geriet. Dabei haben wir den Rand der vor uns liegenden Aschewolke gestreift. Michael, fang die Sonde wieder ein. Wenn sie aus dem Wirbel heraus ist, führ sie unter der Wolke entlang. Die anderen überprüfen die Geräte.“

Die Sonde taumelte noch leicht auf dem Bildschirm, aber ihre Flugbahn schien sich stabilisiert zu haben – die Koordinatenangaben veränderten sich gleichmäßig. Mit viel Fingerspitzengefühl korrigierte Michael ihren Kurs.

„Die Teleobjekte sind blind!“ meldete Erika.

„Die Infrarot-Objekte auch!“ ergänzte Irina.

„Und ohne die Blenden wären auch die Sichtscheiben der Kanzel blind“, vollendete Uwe mit unerschütterlicher Ruhe. „Das ist der Vulkanstaub. Wir müssen uns also für den Rest der Landung mit Radar und Direktsicht orientieren. Erich, woher kommen die Wirbel?“

„Folgende Hypothese“, erklärte Erich, „die Luft unter den Wolken wird weniger aufgeheizt als die Umgebung, sie ist folglich kälter und dichter. Die Wolken liegen wie auf einem Polster, darum können sie sich auch so hoch halten. An den Rändern gibt es Druckunterschiede und darum seitlich und vor allem hinter den Wolken viele kleine, aber offenbar sehr kräftige Wirbel.“

„Auswirkungen auf die Troposphäre?“

„Wahrscheinlich Verstärkung der Turbulenz vor allem im oberen Teil.“

Inzwischen hatte die TERRA die zweite Wolke überflogen, es war wohl doch nur ein abgesprengter Teil der ersten gewesen, und unter den Augen der Besatzung lag nun eine gleichmäßige, helle, mit einem grünlichen Hauch überzogene Tiefe.

„Gleitflug!“ kündigte Uwe an.

Die TERRA senkte die Nase. Der Höhenmesser kletterte die Skala hinunter: zwanzig, neunzehn, achtzehn Kilometer. Sonst änderte sich minutenlang nichts.

„Ich habe den Orientierungspunkt K auf dem Radarschirm!“ verkündete Erika. Dieser Punkt war ein einzeln stehendes Bergmassiv etwa zwanzig Kilometer vor dem Landeplatz.

„Punkt K festhalten. Gehe auf Horizontalflug!“ Kräftiger Andruck war zu spüren, die TERRA hob die Nase. Der Himmel sah dunkelflaschengrün aus, wie aus Glas.

„Sonde hat westliche Drift“, meldete Michael.

„Das ist die Tropopause, Kurs korrigieren!“ entgegnete Uwe. „Achtung!“

Ein leichtes Rütteln war spürbar, dann lag das Raumschiff wieder ruhig. Nach einer halben Minute wiederholte sich das Rütteln, nur war es jetzt stärker.

Die Tiefe erschien jetzt nicht mehr gleichmäßig, strukturlos. Ganz unten lagen Schichtwolken, aber ihre graue Fläche wurde durch zartrosa getönte Wolken von großer Ausdehnung unterbrochen. Etwas seitlich von ihnen führte eine schmale, langgestreckte weiße Spur in die Ferne: der Kondensstreifen der Sonde.

Der Höhenmesser sank jetzt auch viel langsamer – der aerodynamische Auftrieb hatte sich seit dem Eintritt in die Troposphäre bedeutend erhöht, und Uwe hatte auch die Geschwindigkeit gesteigert. „Ein Loch in der Wolkendecke!“ rief Irina.

Tatsächlich – vor ihnen war die unterste Wolkendecke aufgerissen. Aber der Boden war nicht gelb oder braun, wie zu vermuten gewesen wäre, sondern schwarz, regelrecht schwarz. „Ein Wirbelsturm?“ vermutete Erika.

Aber Erich widersprach. „Nein, da müßte die Struktur der umgebenden Wolkendecke anders sein.“

„Richtig“, bestätigte Michael, „der sieht von oben anders aus.“

Bevor man genauere Untersuchungen anstellen konnte, war das Loch in der Wolkendecke überflogen. Aber jetzt zeigten sich öfter Löcher – manche schwarz, manche in der von früheren Aufnahmen automatischer Sonden bekannten gelbbraunen Färbung.

Auch sonst veränderte sich die Umgebung. Vor, über und dicht unter ihnen lagen jetzt vereinzelt rosige Watteschichten, und voraus am Horizont verfinsterte sich der Himmel.

„Wir holen eine stratosphärische Aschewolke ein!“ sagte Erich und deutete nach oben.

Plötzlich zerriß ein wild gezackter, greller Blitz den Himmel vor ihnen. Noch durch die Helme hindurch hörten sie leise den Donner.

„Die Sonde!“ rief Michael. „Sie ist explodiert!“

„Im Funkbereich typische Gewitterstörungen!“ meldete Erika.

Einige Sekunden lang schwiegen alle.

Dann fragte Uwe: „Erich?“

Nüchtern antwortete der Planetologe: „Im Schlepptau der stratosphärischen Aschewolken auf unserer Höhe offenbar gegensätzlich geladende Wolkenschichten. Das Dazwischentreten der Sonde und der von ihrem Antrieb ausgestoßenen ionisierten Gase ermöglichte Entladung.“

Uwe dachte nach, dann sagte er: „Der Blitz verlief ziemlich horizontal… Folgende Einteilung: Erika behält Radar und Funk. Irina konzentriert sich ausschließlich auf den Ionisationsgrad der Luft. Michael schaltet eine Messung für die Differenz der elektrischen Ladung auf der TERRA, und zwar einmal zwischen den Tragflächenspitzen und einmal zwischen Bug und Heck. Jede Veränderung sofort melden. Erich verfolgt alles und hält sich bereit für Konsultationen mit mir. Wir müssen uns um die blitzgefährdeten Gebiete herumschleichen.“

„Unsere schöne Sonde!“ sagte Michael traurig.

Von jetzt ab waren nur noch die Stimmen von Irina und Michael zu hören, die den Ionisationsgrad bzw. die Potentialdifferenz meldeten. Sehr schnell hatten sie sich auf einen Fünfsekundenrhythmus eingestellt.

Der Flug wurde jetzt außerordentlich strapaziös. Sobald eine Messung steigende Tendenz aufwies, steuerte Uwe enge Kurven nach rechts, links, oben und unten, um die günstigste Richtung herauszufinden. Bei der immer noch großen Geschwindigkeit brachte das harte Belastungen mit sich, und als endlich, in etwa vier Kilometer Höhe, beide Meßwerte konstant fielen, fühlten sich alle wie zerschlagen.

„Orientierungspunkt C im Radar!“ meldete Erika. „Wir befinden uns fünf Kilometer nördlich vom Zielgebiet.“

Vor ihnen riß die Wolkendecke auf. Wieder war das Land unter ihnen dunkel, fast schwarz.

Uwe flog mit einer weiten Linkskurve und einer Neigung von dreißig Grad abwärts. Eine Weile sahen sie noch den grünen Himmel, dann wurde es eintönig grau, aber selbst hier war noch ein rosa Schimmer zu erkennen.

Regen floß über die Lichtscheiben. Ab und zu erhellte ein Blitz die Kanzel, aber er war winzig im Vergleich zu dem, den sie vorhin erlebt hatten.

Der Höhenmesser zeigte zweitausend Meter. „Nach Radarorientierung Zielgebiet erreicht!“ meldete Erika.

Böen rüttelten an der TERRA.

„Irina, probier mal, ob der Regen die Teleobjekte ausgewaschen hat!“ verlangte Uwe.

Irina schaltete. „Kein deutliches Bild“, meldete sie.

Wortlos griff Michael in die Tastatur ihres Pultes und schaltete den Scheinwerfer an. Ein Lichtreflex drang in die Kanzel, das Telebild wurde hell. Grauer Felsboden wurde sichtbar, von Rinnsalen nach allen Richtungen durchzogen.

„Radar faßt einen metallischen Punkt auf, einen Kilometer voraus!“

„Strahlrohre ausfahren!“ kommandierte Uwe.

Michael schaltete, dann Uwe. Die TERRA erzitterte. Immer langsamer glitt das Bild über den Teleschirm. „Metallischer Punkt überflogen!“ meldete Erika. Gleich darauf stand das Telebild.

Die TERRA schaukelte wie ein Boot auf stürmischer See. Der Höhenmesser sank: dreihundert Meter, zweihundert, hundert…

Das anfangs dumpfe Brausen der Strahlrohre wurde immer heller; immer stärker schaukelte das Schiff.

Fast unbeweglich lagen Uwes Finger an den Reglerknöpfen. Nur um Bruchteile von Millimetern verschoben sie hier und da den winzigen Zeiger. Der Höhenmesser stand auf fünfzig Meter. „Automatik?“ fragte Michael.

„Nein!“ sagte Uwe kurz. „Teleskopbeine ausfahren!“ Endlich war es ihm gelungen, das Schaukeln etwas auszugleichen. Behutsam drosselte er die Treibstoffzufuhr. Langsam senkte sich die TERRA.

„Bodenböen!“ warnte Michael. Uwe nickte.

Fünf Meter über dem Boden fing das Schaukeln wieder an. Uwe drosselte noch mehr. Alle hatten das Gefühl, als sacke das Schiff wie ein Stein nach unten. Ein harter Ruck – und zitternd stand die TERRA auf ihren Beinen.

Mit einer müden Bewegung schaltete Uwe die Apparaturen ab. Alle Laute erstarben, nur das Rauschen des Helmfunks war noch zu hören.

„Raumanzug ausziehen; Michael, die Tragflächen einfahren, die TERRA verankern und den Blitzschutz auslegen. Alle ins Bett.“

„Wollen wir nicht nach dem metallischen Punkt sehen?“ fragte Erika neugierig und gar nicht müde. „Schlafen habe ich gesagt!“ wiederholte Uwe.

Erika war gehorsam zu Bett gegangen, aber sie schlief unruhig. Sie träumte wirres Zeug. Ab und zu nahm der Traum fast erkennbare Gestalt an, und jedesmal sah sie undeutliche Figuren, von denen sie genau wußte, daß es die gesuchten RELAIS-Leute waren. Sie streckten flehend die Hände aus, aber Erika konnte nicht zu ihnen – einmal war sie durch eine dicke Glaswand von ihnen getrennt, ein andermal klebten ihr die Füße am Boden fest. Als sie erwachte, lächelte sie spöttisch über ihre Traumgeschichte. Die Deutung war nur allzu klar: Sie hatte sich widerstrebend der Anordnung des Kommandanten gefügt, die Verzögerung war ihr unnötig erschienen, ja sie hatte sogar so etwas wie ein schlechtes Gewissen gegenüber den Verschollenen gehabt. Und weil sie nicht versucht hatte, energisch Einspruch zu erheben, rebellierten ihre Träume gegen sie.

Gut, das war erledigt. Sie hatte Disziplin zu wahren. Aber niemand konnte ihr verbieten, jetzt schon mit der Arbeit zu beginnen. Sie ging in das Cockpit und setzte sich auf ihren Sitz. Draußen war Nacht, es regnete, aber Gewitter war anscheinend nicht. Erika schaltete das Funkgerät ein und begann, die RELAIS auf der Wellenlänge der Sonden zu rufen.

Nicht, daß sie sofort mit Antwort gerechnet hätte – das hier war eine Sache der Geduld und Hartnäckigkeit. Natürlich konnte Uwe recht haben mit dem Argument, daß die RELAIS-Leute längst keine dafür geeignete Funkanlage mehr hatten. Ebenso war es möglich, daß das Funkgerät nicht besetzt war oder daß die atmosphärischen Bedingungen eine Verständigung unmöglich machten. Aber es bestand doch eine, wenn auch geringe Möglichkeit, daß wenigstens das eine oder andere Signal, und sei es verzerrt, empfangen wurde. Und diese Chance, so klein sie sein mochte, durfte nicht ungenutzt bleiben.

Immer wieder setzte sie ihren Ruf ab, lauschte, funkte weiter. Sie tat das so angespannt, daß sie zusammenzuckte, als Uwe hinter ihr sagte: „Hartnäckigkeit und Geduld sind wie Base und Säure, findest du nicht auch? Zusammen ergeben sie das Salz der Erde, die Zielstrebigkeit.“ Er setzte sich neben sie.

Erika blickte ihn von der Seite an. „Eben!“ sagte sie und funkte weiter.

„Ganz sicher sind das Tugenden“, fuhr Uwe in nachdenklichem Ton fort, als bemerke er ihre abweisende Haltung nicht, „aber ebenso sicher sind sie anstrengend. Warum läßt du nicht die Automatik rufen? Sie wird dir zuverlässig jede Antwort melden, auch wenn sie verzerrt ist.“

Mit verschlossenem Gesicht schaltete Erika die Automatik ein, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schlug die Arme übereinander. „Die Lanze eingelegt, das Visier geschlossen, nun kann das Turnier beginnen“, sagte Uwe mit leichtem Spott in der Stimme.

Sie schoß Uwe einen zornigen Blick zu, aber dann mußte sie doch lachen. „Also ohne schwere Waffen – wie lange wollen wir hier noch herumsitzen?“

„Wo die größte Geduld ist“, philosophierte Uwe, „findet man zugleich auch ihr Gegenteil: die größte Ungeduld. Alles lobenswerte Eigenschaften, aber…“ Er verstummte.

„Statt zu philosophieren“, antwortete Erika, „solltest du lieber jeden Augenblick daran denken, daß irgendwo da draußen dein Vater lebt!“ Sie war jetzt richtig wütend geworden.

„Wenn wir zuverlässig helfen wollen, müssen wir jeden Schritt mit äußerster Vorsicht tun“, erwiderte Uwe.

„Wir sollen uns also bewegen wie Blinde in einem unbekannten Zimmer?“ provozierte Erika.

„Nein“, sagte Uwe trocken, „wie Raumfahrer auf einem fremden Planeten.“ Er wandte sich Erich zu, der inzwischen hereingekommen war und Platz genommen hatte. „Was hast du übrigens gestern mit deiner Andeutung gemeint?“

Erich blickte überrascht. „Wegen des Magnetfeldes?“

„Ja.“

„Das ist so. Der Magnetpol dieses Planeten hat sich relativ schnell und weit verlagert. Die Ursachen für solche Vorgänge sind noch nicht ganz erforscht. Unter den verschiedenen Hypothesen gibt es eine, die besagt, daß sich das Magnetfeld eines Planeten unter bestimmten inneren und solaren Bedingungen umpolen kann, also der Nordpol zum Südpol wird und umgekehrt. Gewisse Erscheinungen in der Erdvergangenheit ließen sich damit erklären.“

„Und was würde das bedeuten?“

„Das würde vor allem folgendes bedeuten: Für die Zeit der Umpolung – von deren Länge man keine Vorstellung hat – wäre der Planet nicht geschützt vor den kosmischen Strahlungen, die jetzt alle durch das Magnetfeld abgefangen werden. Jede höhere Lebensform würde in ihrem Erbgut so geschädigt, daß sie aussterben müßte.“

Uwe wurde sehr nachdenklich. „Eine Hypothese?“ fragte er noch einmal.

„Ja. Keine endgültig nachgewiesene Theorie.“

„Angenommen, die Hypothese würde sich bestätigen – ich meine hier, in unserm Fall. Angenommen also, sie wäre richtig. Woran ließe sich erkennen, ob der extreme Fall eintritt oder nicht? Ist das überhaupt erkennbar? Könnten wir aussagekräftige Fakten ermitteln?“

„Wir müßten Klarheit schaffen über die Ursachen der Veränderungen in der Strahlung der Proxima. Oder wenigstens darüber, ob sie weiter wächst oder abklingt und wieder zum Normalwert zurückkehrt, wie lange die Veränderung anhält und in welchen Perioden sie auftritt. Aber das wäre schon das Programm einer langfristigen astrophysikalischen Forschungsarbeit.“

Inzwischen waren auch die anderen Besatzungsmitglieder aufgestanden und ins Cockpit gekommen. Irina hatte allen ein Konservenfrühstück gereicht, da die Benutzung der Küche in der jetzigen Lage zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unbequem geworden war und man sich deshalb darauf geeinigt hatte, nur die Mittagsmahlzeiten regelrecht zuzubereiten. So saßen sie alle in ihren Sitzen und kauten, nur Uwe hatte sich auf den Rand des Armaturenpults gesetzt und fragte zwischen zwei Bissen: „Und wo können die Ursachen für die höhere Strahlung liegen?“

Auch die anderen, die ja einen Teil von Erichs Ausführungen mitgehört hatten, warteten jetzt gespannt auf seine Antwort.

„Ich sehe zunächst drei mögliche Ursachen: erstens den Energiehaushalt der Proxima, zweitens ihren Ort auf der Bahn, drittens die Stellung von Toliman I und II. Es ist auch möglich, daß sich hier mehrere Ursachen überlagern. In dem Fall wäre das Ereignis noch seltener und dürfte nur einmal in…zig Millionen Jahren auftreten. Na ja, aber Endgültiges – wie gesagt…“

Uwe sah, daß besonders Irina und Erika, die in astronomischen Fragen nur eine kurze Ausbildung genossen hatten, an diesem Thema interessiert waren. Er fragte deshalb: „Kannst du das noch etwas genauer erklären?“

„Na – genau ist wohl hier ein unpassendes Wort. Sagen wir mal, sehr grob vereinfacht. Also erstens: Auch unsere Sonne unterliegt Schwankungen in der Abstrahlung mit einer Periode von etwa elf Jahren. Diese Schwankungen werden wahrscheinlich von anderen mit einer Periode von vielen Jahren überlagert. Selbst das ist noch nicht genau bekannt.

Zweitens bewegt sich die Proxima bekanntlich auf einer elliptischen Bahn in dreihundertsechsundsiebzigtausend Jahren einmal um die anderen beiden Komponenten des Dreifachsterns Alpha Centauri, nämlich um Toliman I und II. Nun ist die Anziehungskraft größer, wenn die Proxima sich auf dem Teil ihrer Bahn befindet, der dem gemeinsamen Schwerpunkt näher liegt. Das wird ausgeglichen durch eine höhere Bahngeschwindigkeit, aber die Gezeitenwirkung ist natürlich in Nähe des Schwerpunkts größer, und das kann wieder mit der Abstrahlung zusammenhängen.

Zum dritten umkreisen Toliman I und II einander einmal in etwa achtzig Jahren. Dabei differiert die Anziehung wieder um eine Winzigkeit, je nach ihrer Stellung zur Proxima. Das allein könnte wahrscheinlich nicht solche Folgen in der Abstrahlung hervorrufen, aber es kann mit den anderen Gründen zusammenwirken. Alles das muß genau erklärt werden, bevor man sich endgültig zu einer umfassenden Besiedlung des RELAIS entschließt.“

Erich blickte nachdenklich drein. Uwes Fragen hatten viel weiter geführt, als er anfangs gedacht hatte. Er hatte seih Leben doch der Besiedlung dieses Planeten gewidmet! Wie kam er dazu, sie jetzt in Frage zu stellen? Und was bezweckte der Kommandant damit, daß er ihn zu dieser Konsequenz provozierte?

Offenbar gar nichts, denn Uwe schloß jetzt das Thema ab: „Wir wollen uns dieses Problem für später aufheben, denn jetzt kommen wir damit sowieso nicht weiter. Machen wir uns an die Arbeit. Bis es Tag wird und wir uns die Umgebung ansehen können, muß folgendes erledigt sein: Michael und ich führen die technische Kontrolle durch. Irina prüft die Lebensbedingungen: Atmosphäre, Druck, Temperatur, Klima, mikrobiologische Komponente – darunter auch die Luftproben, die während der Landung genommen wurden. Erika analysiert die Funk-, Radar-, Infrarot- und optischen Beobachtungen, vor allem auch die automatisch protokollierten. Erich – sehr wichtig – vervollständigt seine planetologischen Vorstellungen über den Zustand des RELAIS, die beiden Frauen leiten ihm dazu alle Ergebnisse ihrer Untersuchungen zu. Alles klar? Dann los!“

Uwe und Michael wechselten in die Zentrale über, suchten sich dort auf dem Rand des Tisches und auf der Lehne eines Sitzes die am wenigsten unbequemen Positionen und begannen die langweilige, aber gerade deshalb äußerste Konzentration erfordernde technische Kontrolle.

„Antriebssystem Totale?“

„Antriebssystem Totale ohne Befund.“

„Reaktor Brennzone Neutronenstrom?“

„Reaktor Brennzone Neutronenstrom Sollwert.“

„Reaktor Brennzone Moderatoren…“

Als Uwe und Michael in das Cockpit zurückkehrten, waren die drei anderen noch in angeregter Diskussion. Alles war überflutet vom tiefroten Licht der aufgehenden Proxima. Das Glühen nivellierte in allen Farben, Erikas grüne Kombination sah schwarz aus… Schwarz? Uwe stutzte, lächelte dann leicht, sah, daß niemand sein Stutzen bemerkt hatte, und lächelte wieder.

„Technische Kontrolle ergab einwandfreien Zustand. Nochmals: Unserer Sonde sei Dank. Und Ihr? Seid ihr euch einig geworden? Oder gibt es große Probleme?“

„Setzen wir uns erst einmal!“ schlug Michael vor. „Mir tun alle Knochen weh!“ Mit einem Laut der Erleichterung ließ er sich in den Sitz fallen.

Die drei verständigten sich mit den Augen, und Irina begann: „Die Gravitation ist gegenüber den früher ermittelten Werten selbstverständlich gleichgeblieben und beträgt etwa neunzig Prozent der irdischen. Der Druck schwankte in der Nacht zwischen tausendeinhundert und tausendeinhundertzwanzig Millibar, die Temperatur zwischen achtundzwanzig und dreißig Grad. Der Wind bevorzugt die oberen Teile der Stärkeskala, für heftige Stürme wird unsere irdische Skala vermutlich nicht reichen. In der Stratosphäre und in tieferen Schichten der Troposphäre wurden pflanzliche Sporen eingefangen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Arten. Der Sauerstoffgehalt der Luft scheint um ein Promille gestiegen zu sein, ich sage scheint, weil bei diesem geringen Unterschied ein Meßfehler vorliegen kann. Ansonsten Zusammensetzung wie gehabt: rund achtzig Prozent Stickstoff, fünfzehn Prozent Kohlendioxid, fünf Prozent Sauerstoff. Nicht atembar.“

Das Wetter schien Irinas Sturmprognose bestätigen zu wollen. Der Himmel hatte sich bezogen. Die Beleuchtung schaltete sich automatisch ein, und die TERRA schaukelte sanft auf ihren Teleskopbeinen. Weit entfernt zuckten Blitze, und leises Donnergrollen drang in das Cockpit.

Erika ergriff nun das Wort, aber nur, um zu berichten, daß ihre Ergebnisse alle in Erichs Bericht eingegangen seien. „Die klimatischen Bedingungen“ begann Erich, „scheinen sich weniger verändert zu haben, als zu befürchten war. Auf jeden Fall werden die Schutzanzüge, die wir mitgebracht haben, ausreichen. Der Wasserkreislauf ist beschleunigt, es wird überwiegend eine geschlossene Wolkendecke geben, allerdings können in höheren Breiten auch Schönwetterperioden auftreten, wir sind ja hier vergleichsweise in subtropischem Gebiet. Die Durchschnittstemperatur dürfte, wenn überhaupt, nur ganz geringfügig gesunken sein. Es scheint also, daß der Speichereffekt des Kohlendioxids immer noch viel stärker wirkt als die Abschirmung durch die Aschewolken. Aber um das genau zu wissen, müssen wir noch die Tagesmessungen abwarten…“

Erichs Ausführungen befaßten sich nun mit einigen speziellen planetologischen Problemen, die weniger von allgemeinem Interesse waren. Trotzdem unterbrach Uwe ihn nicht. Sie hatten ja jetzt Zeit und mußten sowieso das Gewitter abwarten, das allerdings bereits im Abklingen war.

Als die Sonne – nein: die Proxima – wieder durch die Wolken brach, beendete Erich seinen Vortrag: „Abschließend möchte ich nur noch auf zwei Erscheinungen eingehen, die wir noch nicht endgültig einordnen können. Wir haben zwei verschiedene Arten von pflanzlichen Sporen gefunden, wie Irina schon berichtet hat, die eine in geringer Höhe über dem Boden, die andere in der Stratosphäre. Das deutet auf eine erfolgreiche Arbeit unserer – wenn ich mal so sagen darf – Vorfahren hin. Der Anstieg des Sauerstoffgehalts entspricht allerdings nicht dem, was in den ursprünglichen Plänen für eine biologische Explosion vorgesehen war. Trotzdem halte ich ihn nicht für einen Meßfehler.“

„Ich auch nicht!“ warf Uwe ein.

Alle sahen ihn erstaunt an. Sie kannten ihren Kommandanten nun schon gut genug, um zu wissen, daß er so etwas nicht einfach daherredete.

„Deshalb!“ sagte Uwe und zeigte auf Erika, deren Kombination im Licht der Proxima wieder tiefschwarz aussah.

Die anderen verstanden noch nicht. „Habt ihr diese Farbe schon mal gesehen?“ fragte Uwe.

Erika kam zuerst darauf. „Die schwarzen Wolkenlöcher?“ fragte sie. „Richtig – die Kombination ist grün, und das bedeutet…“

„… daß der Boden da auch grün, folglich bewachsen ist, daß also eine ausgedehnte Kontinentalflora entstanden sein muß. Die grüne Farbe absorbiert das rote Licht fast vollständig. Es ist alles ganz einfach, man muß nur darauf kommen. – Und nun die Einteilung“, fügte Uwe hinzu. „Michael und Irina bleiben an Bord. Wir anderen untersuchen in fünfzig Meter Umkreis mit Sonde und Echolot den Boden. So lange, bis wir einen Blick für die Nuancen gewonnen haben, bleiben wir dabei angeseilt!“

Rotbraun sah der Fels aus, den sie betraten – leicht abschüssig, glattgewaschen vom fast ständig fließenden Regen. In Vertiefungen hatte sich golden glänzender Sand angesammelt. Hier und da Pfützen, in denen sich der grüne Himmel spiegelte.

Ein scharfer Wind drückte auf die Schutzanzüge, und sie hatten anfangs etwas zu kämpfen, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Dann richteten sie den Blick in die Ferne.

Rote Wolken leuchteten am Horizont. Davor einige sanfte Hügel, schwarz mit heller Kuppe. Unwirklich das Ganze, farbstark und doch eintönig.

„Es ziehen Wolken auf!“ meldete Michael von Bord des Raumschiffs. „Anscheinend aber kein Gewitter.“

„Schon gesehen“, antwortete Uwe, „wir fangen an.“

Sie nahmen Aufstellung – Erika dem Raumschiff am nächsten, dann Erich, dann Uwe. Schritt für Schritt vorwärts gehend, mit dem Stab den Boden sondierend, wo Sand lag, in immer gleichen Abständen den Kasten mit dem Echolot aufsetzend – so umkreisten sie langsam das Raumschiff.

Inzwischen erreichten die Wolken die Proxima. In dem Augenblick, als sie sie verdeckten, erlosch all das Braun, Rot und Gold. Stumpfes Grau blieb übrig, Dämmerung, Stimmung eines trüben Herbstabends auf der Erde.

Uwe veranlaßte, daß der Scheinwerfer des Raumschiffs ihnen den Weg erhellte, und nun erblickten sie wenigstens einen Teil des Bodens zum erstenmal in für sie normaler, irdischer Beleuchtung. Er sah kaum anders aus als entsprechender Boden auf der Erde, nur etwas anders verwittert, ausgewaschen.

Als die das Raumschiff einmal umkreist hatten, regnete es. Uwe kam der Gedanke, daß es nützlich sein könnte, die Gefährten probeweise aus der Sicht des Raumschiffs zu führen. Er befahl Michael, den Scheinwerfer abzuschalten, und ließ seine Gefährten die Helmleuchten anknipsen.

„Nicht abweichen von dem Weg, den ich gehe!“ befahl er. „Korrekter Gänsemarsch!“

Langsam schritt er vorwärts, sorgfältig den Boden sondierend. Nach hundert Schritten war das Raumschiff in der Dämmerung des dichten Regens verschwunden.

„Warte mal“, rief Erika – und schrie auf. Uwe blickte sich um – sie war verschwunden.

„Stehenbleiben!“ rief er Erich zu. Dann ging er Schritt für Schritt den Weg zurück, an Erich vorbei, bis zu der Stelle, wo die Leine im Sand verschwand.

„Komm her, Erich!“ befahl er. Gemeinsam zogen sie langsam und vorsichtig Erika aus der Sandaufschwemmung.

Erika hatte nach einer kleinen, schwarzen Pflanze greifen wollen, die im Schein ihrer Helmlampe grün aufleuchtete. Als sie den Boden unter den Füßen verlor, schrie sie auf, und als es schwarz wurde vor ihren Augen, hatte sie für einen Augenblick das Gefühl, das Herz bleibe ihr stehen. Sie ruderte wild mit Armen und Beinen, stieß sich dabei schmerzhaft am Felsen, aber der Schmerz brachte sie zur Besinnung. Mit diesen unkontrollierten Bewegungen konnte sie ihre Lage nur verschlimmern, sie verlor das Gefühl für oben und unten. Wenn sie dagegen stillhielt und die Arme ausbreitete, konnte sie am Widerstand der Sandaufschwemmung merken, wie der schwere Raumanzug sie nach unten zog. Und überhaupt – so schlimm war ja ihre Lage gar nicht. Sie hing am Seil, und die anderen würden sie gleich herausziehen. Dieser Kommandant schien aber auch alles vorauszuahnen, ach was, er hatte eben Erfahrung, und so gesehen war das vielleicht für sie auch eine nützliche Erfahrung, obwohl, angenehm war es gerade nicht, die Angst ließ sich nicht wegdenken, aber so lauerte sie wenigstens nur im Hintergrund, und wenn sie nicht noch einmal zuschnappen sollte wie eben, dann mußte sie jetzt etwas tun, etwas tun… Das Seil! Na klar, sie zog das Seil hinter sich her, wenn sie es zu fassen kriegte, konnte sie es schneller einholen. Nein, das war Unsinn, sie würde sich vielleicht noch darin verheddern, aber sie griff doch danach und nahm es in die Hände, sie wollte wenigstens mit dem Kopf zuerst wieder auftauchen, als aufrechter Mensch sozusagen – und da ruckte es auch schon in ihrer Hand.

„Bin wieder da!“ sagte Erika mit nicht ganz gelungener Forschheit, als sie das Licht der Helmlampen sah.

Uwe ging auf Erikas Ton ein: „Wieso, war was?“ Nur Erich fragte verstört: „Wie konnte denn das passieren?“ Nun meldete sich auch Michael von Bord. „Alles in Ordnung?“ fragte er.

„Alles in Ordnung“, bestätigte Uwe, „nur Erika ist baden gegangen, sie klettert aber gerade wieder aus dem Bassin.“

„Dann ist’s ja gut. Ihr müßt jetzt zurück, ein Gewitter zieht auf.“

„Gut, Ende!“ antwortete Uwe. „Halt, noch was – schalt den Scheinwerfer wieder ein!“

Er wandte sich Erika zu. „Welches Irrlicht hat dich denn vom Pfade der Tugend weggelockt?“

Erika suchte mit der Helmleuchte. „Da! Siehst du die Pflanze?“

„Ja“, sagte Uwe, ließ sich von Erich den Sondierstab geben, steckte ihn auf seinen. Es gelang ihm, die Pflanze an den Rand der verborgenen Felsspalte zu zerren. „So, nun haltet mich mal beide fest!“ Weit vornübergeneigt, nahm er die etwa handgroße Pflanze aus dem Sand und reichte sie Erika.