21
Nach der Konfrontation mit Soren war Khalil die Lust an der Jagd vergangen. Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. Da der Zirkel nun nicht mehr im Geheimen agieren konnte, brauchten sie das Ungeziefer nur noch einzusammeln. Außer Therese wurden zwölf Kakerlaken festgesetzt, die dickste davon Brandon Miller. Jaydon Guthrie, für den so viele Verbrechen begangen worden waren, hatte nichts von den Angriffen gewusst. Schon am Montagabend saßen alle Verschwörer in Gewahrsam.
Es freute Khalil für Grace, dass nicht alle zwölf Helfer, die zum Freiwilligen-Arbeitstag erschienen waren, an der Sabotage ihres Hauses beteiligt gewesen waren. Bis auf Olivia hatten sie alle zur Humanistenpartei gehört, aber nur vier von ihnen zum Geheimzirkel. Die anderen acht waren einfach nur unfreundlich gewesen.
»Irgendwie ist es etwas leichter zu ertragen, wenn ich weiß, dass nicht alle von denen, die am Samstag hier waren, mit der Verschwörung gegen mich und die Kinder zu tun hatten«, sagte Grace zu Khalil. Sie schauderte.
»Diejenigen, die das getan haben, waren verrückt«, sagte Khalil. »So wie Ausgestoßene.«
Nachdem die Verschwörung aufgedeckt war, meldeten sich die acht unschuldigen Teilnehmer des Freiwilligen-Arbeitstags sowie Jaydon Guthrie und viele andere Hexen per E-Mail oder Telefon bei Grace. Sie wollten ihrer Empörung und Trauer über die Ereignisse Ausdruck verleihen und sich im Namen der Humanistenpartei entschuldigen.
Unter ihnen war auch die Babysitterin Janice. Als Grace die Nummer auf ihrem neuen Handy erkannte, wäre sie beinahe nicht drangegangen, doch dann änderte sie ihre Meinung, und schließlich unterhielt sie sich eine Viertelstunde mit der anderen Frau. »Ich habe bestimmte Überzeugungen«, sagte Janice. Ihre Stimme klang belegt. »Wir alle glauben an etwas. Aber was dieser Zirkel getan hat, war abscheulich, und auch wenn ich nichts davon wusste, tut es mir im Herzen weh, zu wissen, dass ich überhaupt mit diesen Menschen in Verbindung stand.«
»Ich schätze, Terrorismus in jeder Form ist nur schwer zu begreifen«, sagte Grace. »Wir müssen nur daraus lernen, wie es von nun an weitergehen soll.«
Isalynn bestand darauf, dass Grace und Khalil die nächste Zeit in ihrem Haus verbringen sollten. In Isalynns Wohngegend waren die Sicherheitsleute ausgeschwärmt, und das Haus war groß und komfortabel. Grace willigte ein, und das war die letzte Entscheidung, die sie und Khalil an diesem Sonntagabend treffen mussten. Nach einem frühen Abendessen, einer heißen Dusche und in behaglicher, eingetragener Kleidung, die eine der Dschinn-Ermittlerinnen vorbeigebracht hatte, konnte Grace die Augen nicht länger offen halten. Als sich Khalil zu ihr legte, war selbst er müde genug, um sich auszuruhen und sich gedankenlos durch die dunkle Nacht treiben zu lassen.
Sobald die Behörden am Montag bestätigten, dass sich alle zwölf Verschwörer in Gewahrsam befanden, rief Grace als Erstes Katherine an. Zwar glaubte niemand, dass die Kinder noch immer in Gefahr waren, dennoch willigten Katherine und John ein, mit den Kindern noch eine Woche länger in Houston zu bleiben, damit sich Grace und Khalil mit den Folgen des Hausbrands befassen konnten.
Es gab so viele Einzelheiten, um die sie sich kümmern mussten. Da war die Gebäudeversicherung. Außerdem fiel Grace wieder ein, was der Geist des Lastwagenfahrers über seine Unfallversicherung gesagt hatte. In dieser Sache wurde eine Ermittlung eingeleitet.
Khalil hatte es vorhergesagt: An bereitwilliger Hilfe mangelte es nicht. Zu jeder Zeit stand ein halbes Dutzend Dschinn zur Verfügung. Dank einiger zielstrebiger Dschinn, die sich mit dem Thema befassten, fanden sie heraus, dass der Versicherungsschutz des Lastwagenfahrers nicht abgelaufen gewesen war, wie die Versicherungsgesellschaft zuerst behauptet hatte. In Wahrheit war der Versicherung ein Fehler bei der Bearbeitung seiner Beiträge unterlaufen. Wie sich herausstellte, war die Versicherungsgesellschaft seiner Witwe und Grace eine Zahlung schuldig. Es würde kein Vermögen sein, aber doch eine beträchtliche Aufbesserung für Grace’ wachsende finanzielle Mittel.
In der Zwischenzeit, solange Chloe und Max noch in Houston waren, veranlasste Khalil eine Freistellung von seinen Ämtern und nahm gemeinsam mit Grace die Aufgabe in Angriff, auszusortieren, was sich aus dem Haus zu bergen lohnte. Sie retteten einige Familienandenken, Fotos, die gesammelten historischen Zeitungen und Magazine von früheren Orakeln, die in Koffern auf dem Dachboden lagerten, die Akten und den Computer, etwas Kleidung und Spielzeug von den Kindern sowie die Sommerkleidung, die Grace im Büro aufbewahrt hatte.
Den Schaukelstuhl, in dem die Kinder gewiegt worden waren, wollte sie behalten, auch wenn er beschädigt worden war. Sie wollte versuchen, ihn zu reparieren, denn ihre Großmutter hatte auch sie und Petra schon darin gewiegt. Khalil wollte den alten Ledersessel behalten, in dem er gesessen hatte, um den Kindern vorzulesen. Das war eines der wenigen materiellen Dinge, die er je liebgewonnen hatte. Sonst gab es nichts, das sich zu bergen gelohnt hätte. Das Gebäude selbst würde nur mit großem Aufwand zu reparieren sein – mit mehr Aufwand und Kosten, als das Haus wert war.
Am Mittwochnachmittag saßen sie eine Zeit lang auf der Veranda, lauschten dem Wind in den Bäumen, und Grace hing ihren Erinnerungen nach. Khalil stellte ihr Fragen; es faszinierte ihn, einen so intimen Einblick in ihre Vergangenheit zu bekommen. Er hielt sie im Arm, während sie sich mit der Hand über das Gesicht fuhr.
»Irgendwie ist es eine Erleichterung«, sagte sie. »Das macht mir große Schuldgefühle. Und es tut auch weh.«
Er konnte es verstehen, besser jedenfalls, als er es früher gekonnt hätte, bevor er sie kannte. In diesem Haus hatte er zum ersten Mal dieses magische, kostbare Etwas gespürt, als er durch die Fliegengittertür nach draußen geblickt hatte.
»Du verlierst einen weiteren großen Teil deiner Vergangenheit«, sagte er.
Grace nickte. »Und ich brauche das Dach nicht reparieren zu lassen«, sagte sie.
Er lachte. Sie schlug die Hände vors Gesicht und lachte mit ihm, und gleichzeitig weinte sie.
Als sie den Rest des Grundstücks überprüften, entdeckten sie, dass die Höhle vollständig eingestürzt war. Mehr aus Neugier als aus irgendeinem anderen Grund legte Khalil seinen Körper ab und wehte durch die zerfallenen Winkel und Risse des Tunnels und in die darunterliegenden Trümmer. Es gab keine Hohlräume mehr, in denen ein Mann aufrecht hätte stehen können, nur noch Splitter von alter magischer Energie und geborstenen Fels. Als er wieder auftauchte, hielt Grace das Einzige in der Hand, was aus den Schränken wichtig genug war, um es zu behalten: die Maske des Orakels, eingewickelt in ihr Tuch.
Die ganze Zeit über beobachteten die Dschinn Grace abwartend. Die Anzahl der Dschinn, die zu großen Schaden erlitten hatten, um sich selbst zu heilen, war vergleichsweise gering, allerdings handelte es sich dabei um tiefgreifende Verletzungen. Khalil ermahnte sie, dass Grace Zeit brauchte, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und Vorkehrungen für das Wohlergehen der Kinder zu treffen, bevor sie ihre Energie für den Versuch verwenden konnte, deformierte Dschinn zu heilen.
Am Donnerstag schließlich brachte Grace das Thema selbst zur Sprache. »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte sie zu Khalil. »Ebrahim macht mich wahnsinnig. Ich glaube, seit er am Sonntag angekommen ist, hat er nicht mehr aufgehört zu arbeiten.«
Khalil rieb sich den Nacken. Er, Ebrahim und drei andere Dschinn waren damit beschäftigt, das Haus abzureißen, und Grace sah ihnen dabei zu. Khalil hatte eine kurze Pause eingelegt, um bei ihr zu sein. »Ich werde noch mal mit ihm reden«, sagte Khalil. »Ich werde ihm sagen, dass er fortgehen soll, bis du bereit bist.«
»Nein«, sagte Grace. Es war ein drückend heißer Tag, und Grace trug wieder eine dieser weiten, dunklen Shorts aus weichem Jersey-Stoff, den Khalil mochte, und dazu ein Tanktop und Sandalen. Von der Sonne hatte sie Farbe bekommen. Mit ihrem rötlich-goldenen Haar und dem Kupferton ihrer Bräunung sah sie wie eine schlanke, lebhafte Flamme aus. Daran fand er Gefallen. »Das halte ich auch nicht mehr aus – die Ungewissheit, meine ich. Wir müssen herausfinden, ob Phaedra nur ein glücklicher Zufall war oder ob ich wirklich in der Lage bin, einem anderen Dschinn bei der Heilung zu helfen.«
Er seufzte. »Einverstanden. Aber nachdem du es bei Ebrahims Gefährtin versucht hast, wirst du für mindestens zwei Wochen niemanden mehr empfangen. Am Sonntag kommen Katherine und John mit den Kindern zurück, und wir müssen immer noch eine Unterkunft für euch – für uns – herrichten.«
Grace sah ihn von der Seite an. Als er »uns« sagte, hoben sich ihre Mundwinkel, aber ansonsten ließ sie das unkommentiert. Stattdessen murmelte sie: »Das ist furchtbar herrisch von dir.«
Aber er konnte ihre Gesichtszüge tatsächlich sehr gut lesen. Er merkte, dass sie nicht angegriffen, sondern erleichtert aussah. Er rief nach Ebrahim, der sofort zu ihnen geflogen kam, und sagte: »Hol Atefeh.«
Nach einem überraschten Blick in Grace’ Richtung wirbelte Ebrahim davon. Khalil konnte beobachten, wie Grace ihre Kräfte sammelte. Er legte ihr die Hand auf den Rücken, und sie sah dankbar zu ihm auf.
Dann kehrte Ebrahim mit seiner Gefährtin Atefeh zurück. Atefeh war so schwer deformiert, dass sie keinen Körper für sich erschaffen konnte, und hatte ständig damit zu kämpfen, genügend Nahrung aufzunehmen. Als sie vor Grace schwebte, wirkte ihre Gegenwart matt und verzerrt.
Einer nach dem anderen hörten die Dschinn auf, das Haus einzureißen, und kamen zu ihnen. Lautlos tauchten weitere auf. Grace bedachte die Neuankömmlinge mit einem finsteren Blick, sagte jedoch nichts, und so blieben sie. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Atefeh zu, und ihre Züge glätteten sich. Sie richtete den Blick nach innen. Khalil konnte spüren, wie sich die dunkle Kraft in ihr erhob. Es wurde still.
Er wusste nicht, was als Nächstes geschah. Er spürte eine Bewegung, die irgendwie direkt unterhalb seiner Wahrnehmung ablief.
Keuchend krümmte sich Atefeh zusammen und stürzte nach vorn. Weil er glaubte, die Dschinniya wollte Grace angreifen oder überwältigen, stürzte Khalil los, um Grace von ihr fortzuziehen und sich zu ihrem Schutz eng um sie zu schlingen. Aber Atefehs Fokus lag auf etwas anderem, etwas, das anscheinend nur sie und Grace sehen konnten. Atefeh stieß einen scharfen, schmerzerfüllten Klagelaut aus. Ihr Gefährte Ebrahim antwortete mit einem erstickten Stöhnen, während er ihren Kampf mit gequältem Gesicht beobachtete.
Lass mich los!, sagte Grace zu Khalil. Sie schob ihn mit ihrer magischen Energie von sich, und er löste sich von ihr. Sie trat auf die kämpfende Dschinniya zu. »Gib nicht auf! Versuch nicht, nach ihr zu greifen. Bleib ruhig stehen und lass sie zu dir kommen. Versuch dich zu öffnen – sie muss in dein Inneres kommen.«
Von wem sprach Grace? Außer Grace und Atefeh konnte Khalil niemanden wahrnehmen.
Atefehs Gegenwart erzitterte und kräuselte sich, und dann erstrahlte sie plötzlich in neuem Glanz. Für einen Augenblick stand eine Frau mit ebenholzfarbener Haut vor ihnen, in ihren Augen glühte Triumph. Sie drehte sich um und schenkte ihrem Gefährten ein kämpferisches Lächeln. Ebrahim verließ seinen Körper und wurde zu einer durchdringend weißen Flamme voller Freude.
Alle anderen Dschinn begannen zu jubeln, und ihre Rufe schallten über das Land.
Dann erlosch Atefehs Lächeln. Im nächsten Augenblick erlosch auch ihre körperliche Gestalt. Ich kann es nicht länger aufrechterhalten, sagte die Dschinniya schwach. Ich muss mich ausruhen.
Ebrahims leidenschaftliches weißes Licht schlang sich um Atefeh. Zu Grace sagte er: Danke.
Gern geschehen, sagte Grace, und im gleichen Moment verschwanden die beiden Dschinn.
Strahlend wandte sich Grace an Khalil. Er lachte, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Dann blieb er stehen und hielt sie fest an sich gedrückt.
Mein Wunder, dachte er. Meine Rettung. Meine Grace.
Am Freitag hielt Khalil es nicht mehr länger aus. »Ich muss jetzt mal mit der Faust auf den Tisch hauen«, erklärte er Grace gegenüber, als sie an Isalynns Frühstückstisch saßen. Die letzten Nächte hatten sie in Isalynns Haus verbracht, doch außer Judith, die sich um den Haushalt kümmerte, hatten sie niemanden zu Gesicht bekommen. Isalynn selbst und ihr Sohn Malcolm waren nach Washington gereist. Allerdings hatte das Oberhaupt der Hexen vor seiner Abreise mehr als deutlich gemacht, dass Grace und Khalil so lange bleiben sollten, wie es nötig war.
Grace trug eine Caprihose und ein ärmelloses Oberteil, das an der Vorderseite geknöpft war. Khalil hatte sich wieder dafür entschieden, Jeans und T-Shirt zu erschaffen. Allmählich mochte er diese Art Kleidung. Das Kinn in die Hände gestützt, sah Grace ihn an. »Mit der Faust auf den Tisch hauen?«, fragte sie.
»Ich kann Fäuste haben, wenn ich will.«
Sie kicherte. »Das ist eine ziemlich menschliche Redewendung.«
»Definitiv.« Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.
»Und weswegen willst du nun auf den Tisch hauen?«
»So wie du das sagst, klingt es geradezu diktatorisch«, sagte er. »Iss dein Frühstück auf.«
Demonstrativ zog sie die Brauen hoch. Er lächelte sie an. Er liebte diese scharfsinnige, lustige, hitzköpfige Menschenfrau. »Ich wusste gar nicht, dass du eine so klare Meinung zum Thema Frühstück hast.« Sie verschlang ihren Toast mit zwei Bissen. »Ich habe es gegessen, weil ich es wollte.«
»Daran besteht kein Zweifel«, gab er zurück. »Du hast diese Woche jeden Tag bis zur Erschöpfung gearbeitet.« Abends war sie sogar kaum noch in der Lage gewesen, zu duschen und ein paar Happen zu Abend zu essen, bevor sie ins Bett fiel. Er hatte sich immer zu ihr gelegt, manchmal in seiner körperlichen Gestalt, manchmal in einer unsichtbaren Umarmung an sie geschmiegt. »Ich haue auf den Tisch wegen heute Abend. Wir werden heute nur leichte Aufgaben erledigen und früh Feierabend machen.«
Das humorvolle Funkeln wich aus ihrem Gesicht. »Die Kinder kommen am Sonntag nach Hause. Ich vermisse sie und will sie wiederhaben, aber es ist noch so viel zu tun.«
»Ich vermisse die Kinder auch«, sagte er. »Aber nicht alles muss diese Woche erledigt werden. Mörder wurden eingesperrt, Versicherungsansprüche wurden beantragt und untersucht; wir haben all deine Habseligkeiten durchgesehen und Dokumente sortiert, wir haben eingelagert, was sich zu bergen lohnte, und die Möbel und dein Auto zur Reparatur gebracht – obwohl ich immer noch finde, dass du den Wagen verkaufen solltest. Wir haben dein Haus abgerissen, eine Gewähr für meine Freiheit erwirkt, und du hast zwei Dschinn geheilt. Es ist genug, Grace.«
»Ich habe noch nicht einmal angefangen, nach einem Mietobjekt zu suchen, in dem wir wohnen können«, sagte sie. Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. »Wir brauchen einen Platz für die Kinder, wenn sie zurückkommen. Wir müssen Möbel kaufen. Kleidung und Spielsachen für die Kleinen. Ach ja, Kleidung für mich. Küchenutensilien, Töpfe, Pfannen und Geschirr. Eine Kaffeemaschine. Kaffeepulver für die Kaffeemaschine. Tassen, um den Kaffee daraus zu trinken.«
Wo sie gerade davon sprach, trank er den Rest seines Kaffees aus. »Mach dir deswegen nicht die geringsten Sorgen. Ich habe alles arrangiert.«
Ihre Haltung veränderte sich, sie ließ den Kopf sinken und stützte nun nicht mehr das Kinn, sondern die Stirn in die Hände. Den Blick auf den Tisch gerichtet, sagte sie: »Khalil, solche Dinge arrangiert man nicht einfach für andere und sagt es ihnen erst hinterher.«
»Ich schon«, sagte er. Sie hob den Kopf, und in ihren herrlichen Augen blitzte das Feuer. Während er an diesem Feuer mit ziemlicher Sicherheit Gefallen fand, bemerkte er allerdings auch die Anspannung, die es auslöste. »Wenigstens vorübergehend. Ich habe eine längerfristige Beurlaubung vom Parlament der Dämonen erhalten. Den Rest meiner zweijährigen Dienstpflicht kann ich später ableisten. Wir machen Urlaub, Grace. Du brauchst nur noch zu entscheiden, wo.«
Mit verständnislosem Staunen blickte sie ihn an. Er fand das erheiternd, aber gleichzeitig zog sich etwas in ihm zusammen. »Aber … aber …«
»Kein ›aber‹. Menschen haben es immer so eilig.« Er nahm ihre Hände und sah ihr tief in die stürmischen Augen. »Geld ist mehr als genug da. Du hast jetzt ein finanzielles Polster auf deinem Bankkonto, und die Dschinn werden nicht zulassen, dass du je wieder Geldmangel leidest. Auch ich habe Vermögen, und als ich zuletzt nachgesehen habe, war es sogar ein ziemlich großes. Zeit haben wir ebenfalls mehr als genug. Im Augenblick brauchst du nirgendwo mehr hinzugehen und nichts zu erledigen, wenn du es nicht willst. Du und die Kinder, ihr seid in Sicherheit, Grace. Ihr seid jetzt in Sicherheit.«
Ihre Augen wurden feucht. Sie sah bestürzt aus.
Er strich ihr übers Haar. »Du musst nicht einmal sofort entscheiden, was du mit deinen Sachen machen willst, oder was aus dem Haus werden soll. Ich hatte nur den Eindruck, dass es dir helfen würde, die Ereignisse zu verarbeiten. Es tut mir leid, dass du so viel verloren hast.«
»Urlaub«, sagte sie, als wäre es ein Wort aus einer fremden Sprache.
»Ja. Du hast drei Möglichkeiten zur Auswahl. Wir können zu den Kindern nach Houston ins Four Seasons Hotel gehen. Wir können uns ein Zimmer in einem Hotel hier in Louisville nehmen. Das würde ich allerdings nicht empfehlen; ich glaube nämlich nicht, dass du dich wirklich entspannen kannst, wenn wir in der Gegend bleiben.«
Sie wischte sich die Wangen ab. »Was ist die dritte Option?«
»Gestern haben Carling und Rune angerufen«, sagte er. »Du hast so fest geschlafen, dass du nicht mal das Klingeln deines neuen Handys gehört hast, deshalb bin ich drangegangen. Sie haben ein Strandhaus ganz in der Nähe von Miami gemietet, mit der Option, es zu kaufen. Drei Schlafzimmer, zwei Bäder, ein Gemeinschaftszimmer, ein Wohnzimmer, ein umzäunter Garten und eine Sonnenterrasse mit Blick aufs Meer. Es ist möbliert, aber Carling meinte, die Einrichtung könnte entfernt werden, wenn du deine eigene haben möchtest. Sie haben uns eingeladen, es so lange zu nutzen, wie wir möchten.«
»Strand«, sagte sie ausdruckslos.
Nach all den merkwürdigen Ereignissen, die ihr widerfahren waren, schien diese glückliche Fügung sie völlig zu lähmen. Mit sanfter Stimme sagte er: »Strand. Wenn du möchtest.«
»Du würdest uns begleiten?« Sie suchte seinen Blick.
»Ich werde dich immer begleiten«, sagte er schlicht.
»Wohin möchtest du?«, fragte sie. »Gibt es einen Ort, der dir gefallen würde?«
Er lächelte. Er mochte Paris beim ersten Morgenrot und St. Petersburg in einer verschneiten Winternacht. Er mochte die heißen Wüstenwinde in Nordafrika und die ungezähmte Landschaft der Wüsten von Colorado und Mojave, wo sich die Dschinn trafen, um in der sonnendurchtränkten Luft zu tanzen. Er genoss es, dem herabstürzenden Wasser der Niagarafälle zu folgen und den gewundenen Lauf des Amazonas entlangzuschwimmen, und er liebte es, auf den Gipfeln des Himalaya über das Dach der Welt nachzusinnen, wo die Luft dünn wurde und alles von ungezügelter Unendlichkeit bedeckt war.
Aber damit würde er sie in allzu naher Zukunft kaum begeistern können. »Ich mag die Sonne«, sagte er.
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn. »Wenn wir nach Houston fahren, hättest du keinen richtigen Urlaub.«
»Das ist ein guter Punkt«, räumte er ein.
Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich nicht. Langsam sagte sie: »Ich würde gern in Urlaub fahren, aber ich habe zwei Menschen das Versprechen gegeben, ihnen zu helfen.«
Er hob die Brauen. »Wem?«
»Erinnerst du dich an die Geschwister, die das Orakel an dem Tag befragen wollten, als Therese auf die Kinder aufgepasst hat? Sie konnten ihre Konsultation nicht durchführen, weil sie noch nicht bereit waren und sich in der Höhle unwohl fühlten.« Grace rieb sich den Nacken. »Ich muss das Versprechen halten, das ich ihnen gegeben habe. Ich will es halten.«
»Das ist kein Problem«, sagte Khalil. »Wir werden uns mit ihnen in Verbindung setzen. Sobald sie bereit sind, organisieren wir einen Babysitter, und ich versetze dich dorthin, wo diese Leute wohnen. Vorausgesetzt, du kommst ohne Höhle aus.«
»Das glaube ich tatsächlich.« Sie fing seinen Blick auf und lächelte. »Mir gefällt der Gedanke, Hausbesuche machen zu können. Das heißt, wenn die Menschen dafür ebenfalls offen sind.«
Sie sollten herausfinden, dass Grace tatsächlich Hausbesuche machen konnte. Zu dem Zeitpunkt, als Don und Margie per E-Mail anfragten, ob sie für eine weitere Konsultation zur Verfügung stünde, hatte sie schon einige Zeit mit Khalil geübt. Ismat wurde der erste Dschinn-Babysitter, und Khalil versetzte Grace in Margies Haus im südlichen Indiana. Dort angekommen, schwieg Khalil taktvoll und hielt sich im Hintergrund, während sich Grace mit den Geschwistern im mittleren Alter befasste. Margie lud sie in ihr gemütliches Haus ein, und so saßen sie am Küchentisch und unterhielten sich bei einer Tasse Kaffee, bis Don und Margie sich entspannt hatten. Als Grace schließlich den Kontakt mit dem Geist von Dons und Margies Vater herstellte, kam es ihr wie ein natürlicher, sanfter Vorgang vor, und es wurde eine sehr heilsame Sitzung.
Sie war ein Naturtalent, dachte Khalil voller Stolz, als er sie mit den beiden Menschen beobachtete. Sie war warmherzig und mitfühlend und konnte zuhören. Darüber hinaus ging sie so voller Zutrauen mit der Kraft des Orakels um, dass es auch für die anderen beruhigend sein musste. Sie hatte nicht nur die Kraft des Orakels übernommen, sondern auch dessen Position für sich eingefordert.
Aber all das kam später. Im Augenblick betrachtete Khalil seine Grace mit tiefer Befriedigung. Sie wusste, wie wichtig es war, ihr Wort zu halten, für ihre Schutzbefohlenen zu sorgen und ihre Seite eines Tauschhandels zu erfüllen, was auch immer geschah.
Er sagte: »Offenbar haben wir die Auswahl unseres Urlaubsorts eingegrenzt.«
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Wir fahren nach Florida.«
»Definitiv, so viel ist sicher.« Er wusste, dass Carling und Rune dort versuchen würden, sie zum Bleiben zu überreden, aber das interessierte ihn ganz und gar nicht. Was den geografischen Standpunkt anging, hatte er keine Präferenz und würde mit Freuden an jedem Ort bleiben, an dem es Grace gefiel. Er stupste sie auf die Nase. »Aber vor Sonntag, wenn die Kinder wiederkommen, brechen wir nicht nach Florida auf. Deshalb habe ich beschlossen, dass wir heute Abend unser zweites Date haben.«
Ihre Gesichtszüge froren ein. »Haben wir das?«
»Ich weiß sogar genau, was wir machen.«
Ihre Augen wurden groß. »Weißt du das?«
Mit tiefer Befriedigung sah er sie an. »Ja, ich werde dich an einen ganz besonderen Ort ausführen.«
Vorsichtig fragte sie: »Wie sollte ich mich dafür zurechtmachen?«
»Wie du möchtest.« Er machte eine Pause. »Zieh dir etwas Zwangloses an.«
»Alles klar … Wann möchtest du aufbrechen?«
Seine Befriedigung zerstreute sich. Sie wirkte von der Aussicht auf dieses Date überhaupt nicht so begeistert, wie er erwartet hatte. »Wann du möchtest.«
Sie sah an sich hinunter und dann wieder Khalil an. »Vielleicht sollten wir gleich gehen und es hinter uns bringen.«
Finster blickte er sie an. »Schön.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand hin. Auch Grace erhob sich, wenn auch langsamer, und trat auf ihn zu. Er nahm sie in die Arme, und sie wirbelten davon.
Fort von Louisville, fort von Kentucky, fort von der nördlichen Hemisphäre.
Von der Erde.
Khalil hatte Grace’ Bedürfnisse studiert und so lange geübt, bis er sicher war, eine Schutzhülle mit dem richtigen Druck und der richtigen Temperatur für sie erschaffen zu können, ihr den richtigen UV-Filter zu bieten und sie mit idealer Atemluft zu versorgen.
Mit einem Satz brachte er sie auf den Mond. Auf die nähere, der Erde zugewandte Seite, nicht auf die Rückseite. Er fand, sie sollten die Reise in Etappen bewältigen. Sie drehte sich in seinen Armen, um zu sehen, wohin er sie wohl gebracht hatte.
»Wa… waa…?«
»Ich habe dir gesagt, es ist ein ganz besonderer Ort«, sagte er in der unsichtbaren Luftblase, mit der er sie umgab.
Sie schrie.
Er lächelte selbstgefällig. Ja, dieser Ort war für ein zweites Date wirklich einen Freudenschrei wert. Nur sehr wenige Menschen hatten je einen Fuß auf den Mond gesetzt. Er wusste, was für eine seltene Gelegenheit das war. Das würde ganz bestimmt wettmachen, was bei ihrem ersten Date passiert war.
Grace schrie weiter. Sie drehte sich zu ihm um und krallte sich an ihm fest. »Oh mein Gott. Oh. Mein. Gott. OHMEINGOTT!«
Sein Lächeln erstarb. Er versuchte, sie behutsam und doch fest im Arm zu halten. Das war schwieriger, als er gedacht hatte. Ihr schienen ein halbes Dutzend Arme und Beine gewachsen zu sein. »Du darfst jetzt jederzeit aufhören, solchen Lärm zu machen«, informierte er sie.
Irgendwie war sie schon zur Hälfte an ihm hinaufgeklettert, ehe er es schaffte, sie an der Taille zu packen. Er pflückte sie von sich ab und stellte sie auf ihre Füße. Wieder fing sie an, an ihm hochzuklettern.
»Amüsierst du dich?«, fragte er skeptisch.
»Wir sind auf dem beschissenen Mond«, schrie sie. »Hier ist nichts!«
Er starrte sie an. »Ich habe nicht den Eindruck, dass du dich amüsierst.«
»Keine Luft!«
Er schüttelte den Kopf. »Denk doch mal logisch. Könntest du diese Worte gesagt haben, wenn es wirklich keine Luft gäbe? Natürlich gibt es außerhalb dieser Blase weder Luft noch Atmosphäre …«
»NatürlichgibteskeineScheißluftundkeineScheißatmosphäreaufdembeschissenenScheißMONDduGOTTVERDAMMTERSCHEISSVERRÜCKTERHIRNVERBRANNTERDSCHINN…«
»Grace«, brüllte er ihr ins Gesicht.
Er legte so viel magische Energie in dieses Wort, dass ihr Schreien abrupt verstummte. Mit stockendem Atem starrte sie ihn an. »Sieh mich an«, sagte er. »Sieh nur mich an. Es besteht keine Gefahr. Du bist vollkommen sicher. Ich bin bei dir. Ich werde immer bei dir sein. Du gehörst zu mir. Ich werde dich niemals loslassen. Ich werde dich immer beschützen. Du bist jetzt mein Leben. Verstehst du irgendetwas von dem, was ich sage?«
Wieder stockte ihr der Atem. »Ich atme«, flüsterte sie. »Auf dem Mond.«
»Sieh nicht weg!«, befahl er, als ihr Blick zur Seite driften wollte. Sofort sah sie ihn wieder an. »Es tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Ich wollte dir einen besonderen Ort zeigen, den ich liebe. Ich dachte, du würdest ihn auch lieben. Sollen wir wieder gehen?«
»Ich w… w… weiß nicht, gib mir eine Minute«, sagte sie matt. »Ich habe ein paar ernsthafte Schwierigkeiten mit meinen Instinkten. Bei dir komme ich mir immer vor wie Darrin, aber ich bin nicht Darrin, verdammt.«
»Von mir aus.« Er rieb ihr über die Arme. »Aber ich habe keine Ahnung, was das alles bedeuten soll.«
»Sobald du das Wort ›Date‹ gesagt hast, wusste ich, dass uns eine Katastrophe bevorstand. Du wirst mich nie – nie – wieder so überraschen, sonst hast du eine Woche lang meinen Austreibungszauber am Arsch, das schwöre ich dir!« Sie schnappte nach Luft. »Und zwar gewaltig, Khalil!«
»Nie wieder, ich verspreche es. So etwas werde ich nie wieder tun. Sag mir einfach, ob wir jetzt gehen sollen.«
»Warte.«
Irritiert sah er zu, wie sie ein paar Mal tief Luft holte, als ob sie unter Wasser tauchen wollte. Dann drehte sie sich ganz langsam um. Er zog sie mit dem Rücken an seine Brust und schlang die Arme fest um sie. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Oh gottverdammte Scheiße, ich bin auf dem Mond«, sagte sie. Nach allem anderen klang das fast beiläufig. »Ohne Helm. Ohne Raumanzug. Ohne Sauerstofftank. Nur mit dir.«
Aus bitterer Erfahrung hatte Khalil gelernt, vorsichtig zu sein. Zögerlich fragte er: »Ist das etwas Gutes?«
»Das Beste!« Sie schüttelte den Kopf, holte Luft und hielt sich an seinen Unterarmen fest, die er vor ihrer Brust verschränkt hatte. Mit schief gelegtem Kopf sah sie zu dem riesigen Himmelskörper auf. Die Erde. »Es ist das Herrlichste und Hirnrissigste, was ich je gesehen habe. Du verrückter Dschinn.«
Nun. Das wollte doch etwas heißen, oder nicht?
Mit einem tiefen Seufzen bettete er das Kinn auf ihr Haar. Diese Dating-Geschichte war wirklich aufreibend.
Grace hielt es nur wenige Minuten auf dem Mond aus. Nach dem heftigen Adrenalinschub fühlte sie sich, als hätte ihr jemand ein Kantholz über den Schädel gezogen.
Er sprach ruhig und in seiner wundervoll reinen Stimme zu ihr, während er mit seinen heißen, großen Händen ihre Arme rieb. »Die Rückseite ist auch ziemlich eindrucksvoll.«
»Ich werde überall mit dir hingehen, wirklich überall«, sagte sie. »Mit etwas Vorwarnung. Und Stück für Stück. Aber jetzt im Moment muss ich zurück.«
»Wie du wünschst.«
Sie drehte sich in seine Arme und klammerte sich an seiner Taille fest, als der Zyklon sie erfasste.
Khalil rematerialisierte sie in dem Gästezimmer, das sie in Isalynns Haus bewohnten. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wandte sich Grace ab, machte drei schwankende Schritte und brach auf dem Bett zusammen.
»Voll auf die Zwölf«, sagte sie in ihr Kissen.
Die Sprungfedern knarrten, als sich Khalil neben sie setzte und ihr Bein rieb.
»Ich liebe dich wie verrückt«, flüsterte er.
Ihr stockte der Atem. Wie verrückt. Ja, so ging es ihr auch. Verrückt und außer sich, wie neulich, als sie sich geliebt hatten und sie buchstäblich ihren Körper verlassen hatte. Sie streckte den Arm hinter sich, um nach seiner Hand zu greifen. Seine langen Finger schlossen sich um ihre. Fest.
»Was du mit meinem Vater gemacht hast – das war verdammt großartig, Grace. Nur wenige Wesen haben es bisher geschafft, Soren so entgegenzutreten und zu gewinnen.«
»Ich hatte gewissermaßen Insiderinformationen«, sagte sie. »Und vierzig, fünfzig Dschinn im Rücken.«
Am Sonntag waren die Visionen von möglichen Formen der Zukunft eine ganze Zeit lang nicht aus ihrem Kopf gewichen. Dann, als der Orakelmond vorüberging, waren sie verschwunden, und Grace war wieder im Hier und Jetzt verankert, wo sie hingehörte. Aber an einige dieser Möglichkeiten erinnerte sie sich noch, wie an glitzernde Horizonte in der Ferne, über die sie kaum nachzudenken wagte.
Sie spürte, dass sich Khalil über sie beugte, ein Gefühl von Masse und Kraft. Etwas geschah, eine straffe Komprimierung magischer Energie, wie in dem Moment, als er seine Wut in sich zurückgezogen hatte. Nur dass diese Komprimierung tiefer und fester war, als würde aus Luft ein Diamant gepresst.
Stirnrunzelnd stützte sie sich auf die Ellbogen und wollte sich umdrehen. Er gab ihr einen Kuss aufs Schulterblatt. Die Empfindung verweilte noch etwas auf ihrer Haut, nachdem er den Mund wieder weggenommen hatte.
»Versprich mir etwas«, sagte sie.
Mit der Fingerspitze fuhr er sacht über den Haaransatz in ihrem Nacken. »Alles, was du willst.«
»Verwandle dich nicht«, sagte sie. »Nicht für immer, nicht ohne vorher mit mir zu reden.«
Seine Finger verharrten in der Bewegung. Er schwieg.
Diesmal drehte sie sich auf den Rücken.
Er trug noch immer das T-Shirt und die Jeans vom Vormittag, aber auch wieder seine menschliche Haut, diese majestätischen, eleganten Züge mit dem leichten Bartansatz an seinem hageren Kinn und der Spur von Lachfältchen um die gedämpften Augen und den ernsten Mund. Sein langes Haar war offen, noch immer glänzend schwarz, aber undefinierbar verändert. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und spürte das Feuer seiner magischen Energie, tief in seinem Körper verborgen wie eine schimmernde Perle.
Sie hob die Hand an diese verblüffenden Lachfältchen. Zitternd schloss er die Augen und barg das Gesicht in ihrer Handfläche.
»Versprich es mir«, sagte sie. »Khalil, du besitzt die Fähigkeit, dich an einen Körper zu binden, aber eine Göttin hat mir im Traum verraten, dass ich meinen Körper wieder verlassen kann, wenn ich es nur genug will.«
Seine Augen sprangen auf. Er starrte sie an, jeder Muskel seines gewaltigen Körpers war gespannt. Er legte die Hand an ihren Hals und fuhr mit dem Daumen die Kontur ihres Kiefers nach. »›Was fängt eine Sterbliche schon mit einer unsterblichen Kraft an?‹«, hauchte er.
Sie hob die Schultern und sagte unbeholfen: »Na ja, es war nur ein Traum. Ich weiß nicht, ob es wirklich möglich ist. Wir brauchen Zeit, um damit zu experimentieren. Ich weiß nur, dass ich mich nicht in etwas anderes verwandeln will, bevor die Kinder erwachsen sind. Denn sie werden sich nie verwandeln können, und sie verdienen das beste menschliche Leben, das ich ihnen bieten kann.«
»Sie verdienen dich lebendig«, sagte Khalil. »Bei den Göttern – du könntest dich verwandeln, du könntest stärker werden, weniger leicht zu töten.« Er schluckte schwer. »Ihr seid alle so zerbrechlich.«
»Das gehört zum Menschsein dazu«, sagte sie. »Und außerdem sind wir verdammt zäh. Davon abgesehen …« Sie lächelte. »Bin ich vollkommen sicher, erinnerst du dich? Ich bin bei dir. Ich werde immer bei dir sein.«
»Bitte, bleib für immer mein«, flüsterte er.
»Für immer.«
Als sie mit der Hand über seinen Rücken fuhr, erzitterte er und drängte sich ihrer Berührung entgegen. Sein Bizeps spannte sich, als er sich das T-Shirt über den Kopf zog.
Oh mein Gott, er hatte ein paar dunkle Haare auf der Brust. Sie strich mit der Handfläche darüber, und sie waren so seidig, wie sie aussahen. Voll blanker Überraschung starrte Khalil sie an, und da war auch wieder dieses Verlangen, das wie eine Feuerwand über sie hinwegrollte.
»Zieh dich ganz aus«, zischte sie.
Er rückte ein Stück von ihr ab, um sich die Jeans vom Leib zu reißen. Sie wollte das Gleiche tun, wirklich. Aber zu sehen, wie sich Khalil von seiner Kleidung befreite, der Anblick seines nackten Körpers, entriss ihrem Kopf so ziemlich jeden zusammenhängenden Gedanken.
Bis auf zwei. Gleich – verschieden – gleich – sie waren wie zwei Seiten einer Münze, die sich in der Luft drehte. In jeder Kontur von Khalils Körper erkannte sie ihren Geliebten wieder, aber die Neuartigkeit seiner menschlicheren Gestalt ließ ihn fast wie einen Fremden wirken. Seidig schwarzes Haar bildete einen schmalen Pfad von seinem Bauch zu seinen Genitalien und wuchs auf seinen langen, muskulösen Schenkeln. Seine Hoden lagen stramm unter einer großen, harten Erektion. Grace starrte auf seine breite Eichel und den dicken Schaft seines wunderschönen Glieds.
Er drehte sich zu ihr und knurrte missmutig: »Du solltest dich auch ausziehen.«
Sie sah ihn Hilfe suchend an und flüsterte: »Hab’s vergessen.«
Sein hageres Gesicht verzog sich vor Lachen und Zuneigung, dann wurde seine Miene sinnlich und verrucht. »Mach dir deswegen gar keine Sorgen«, raunte er. »Ich helfe dir.«
Er streckte seinen langen Körper neben ihr aus und öffnete einen nach dem anderen die Knöpfe ihres Oberteils. Sie konnte nicht aufhören, ihn von oben bis unten anzustarren. Diese Erektion. Gierig umfasste sie mit beiden Händen sein warmes, hartes Glied.
Er stieß ein Geräusch aus, einen kurzen, scharfen Schreckensschrei, und krümmte sich über ihr, als hätte sie ihn geschlagen. Beunruhigt wollte sie die Hände wegziehen, doch er packte ihre Handgelenke. »Nein!«, presste er hervor. »Das war nicht schlimm. Es war nur so verdammt gut.«
Sie schloss die Hände um die samtige Haut, die sein pralles Fleisch bedeckte. Bebend durchströmte die Lust seinen Körper, und sie wollte ihn so sehr, dass sie kaum noch atmen konnte.
Ich liebe dich.
Sie gab sich dem Gefühl hin, gab sich ihm hin. Sie bog den Rücken durch und rutschte auf der Matratze weiter nach unten, bis zu seiner Taille. Dann drehte sie sich zu ihm und nahm seine breite Penisspitze in den Mund. Ein Stöhnen entrang sich Khalils Kehle. Jeder Zentimeter seines Körpers, alles, was sie von seiner Gegenwart wahrnehmen konnte, war erfüllt von tosendem Staunen. Seine Erektion zuckte in ihrem Mund. Sie schloss die Augen und spürte, wie er die Hände in ihren Haaren vergrub, als sie ihn ganz in den Mund nahm.
Ich liebe dich wie verrückt.
Er schob ihr die Hüften entgegen und knurrte, während sie ihn mit dem Mund liebkoste. Sie verlor sich ganz in seiner Berührung, seinem Geschmack, seinem Rhythmus. Seine pure körperliche Lust war berauschend.
Als er seinen Schwanz mit einem Ruck aus ihrem Mund zog, sah sie blinzelnd zu ihm auf. Auf seinem Gesicht lag höchstes Begehren. »Nicht so«, brachte er hervor. »Nicht dieses Mal.«
Er zog sie auf dem Bett weiter nach oben, hastig setzte sie sich auf, und gemeinsam zerrten sie an ihrer Kleidung, bis Grace genauso nackt war wie er. Er umfasste ihren Nacken und ließ sie sacht zurücksinken, dann schob er sich über sie.
Sie spreizte die Beine, und er half ihr. Obwohl er am ganzen Leib zitterte, ging er dabei so vorsichtig mit ihrem Knie um, dass sie sich schon wieder von Neuem in ihn verliebte. Sie war so feucht vor Verlangen, dass er sie kaum zu streicheln brauchte, bis seine Finger von ihrer Lust benetzt waren. Mit einer stummen Frage im Blick sah er sie an, und sie nickte. »Komm her, verdammt noch mal«, keuchte sie.
Er drang in sie. Als er sie dehnte und ausfüllte, zitterte er am ganzen Körper. Sie hielt ihn leidenschaftlich und beschützend fest, denn so mächtig er auch sein mochte und so merkwürdig das auch war, das hier war sein allererstes Mal.
Menschliche Haut auf menschlicher Haut.
Dann war er ganz in ihr, ihre Körper waren vereint. Grace’ Augen füllten sich mit Tränen, als er sie ansah. Es hätte kein größeres Staunen auf seinem Gesicht liegen können.
»Grace«, sagte er, und er sprach es immer so aus, als wäre es nicht nur ein Name, sondern die zärtlichste und lebendigste aller Geschichten. Khalils großer Körper war über ihr völlig starr geworden, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte.
»Und jetzt küss mich«, flüsterte sie.
Er stützte sein Gewicht auf einen Ellbogen, umfasste ihre Brust und senkte sein Gesicht zu ihrem herab. Seine Lippen legten sich auf ihre, und er beugte die Schultern mit einer Ehrerbietung, als würde er in der Kirche zum Gebet niederknien. Nie hatte sie sich schöner gefühlt als in diesem Moment, als er völlig die Beherrschung verlor und in ihr zum Höhepunkt kam.
Sie dachte, das wäre alles gewesen, und es war mehr als genug, aber er überraschte sie, wie er es immer tat, denn als er kam, drängte er sich tief in sie, traf ihren Lustpunkt genau an der richtigen Stelle und riss sie mit sich.
Immer lieben, immer fallen.
Wie verrückt.
In völliger Erschöpfung sackte er mit dem ganzen Gewicht auf sie. Grace glitt taumelnd in sanfte Dunkelheit, denn es gab nichts, was sie drängte. Sie musste nirgends hingehen, brauchte nichts zu tun, und das war der größte, extravaganteste Luxus, den sie sich vorstellen konnte.
Irgendwann musste er sich bewegt und sein Gewicht von ihrem Körper verlagert haben, aber sie wachte erst davon auf, dass er sie in seine Arme zog. Sie gab einen schläfrigen Laut von sich, als er ihre Hand an seine Schulter führte und seine Arme fest um sie schlang, dann driftete sie wieder davon.
Ein seltsames Klingeln ertönte im Schlafzimmer. Schläfrig und verwirrt rollte sich Grace auf den Rücken und hob den Kopf, um zu sehen, woher der Lärm kam. Ihr neues Handy vibrierte auf dem Nachttisch an Khalils Bettseite.
Khalil knurrte, griff unwirsch nach dem Handy, klappte es auf und schnaubte: »Reden Sie. Und dann legen Sie wieder auf.«
Sie legte die Hand vor die Augen. Nein, er war überhaupt nicht sonderlich freundlich. Sie flüsterte: »Du hättest die Mailbox rangehen lassen sollen.«
Er sah sie finster an und sagte lautlos: »Hab ich nicht dran gedacht.«
Sie lachte, während er dem Anrufer zuhörte. Seine Augenbrauen hoben sich. »Hallo, Cuelebre. Nein, Sie können nicht mit ihr sprechen. Sie hat zu tun. Was wollen Sie?«
Grace machte große Augen. So viel zu ihrem Moratorium für unvorhersehbare Ereignisse. Sie griff nach dem Handy, aber Khalil zog es aus ihrer Reichweite. Als sie sich über ihn beugte und es erneut versuchte, packte Khalil ihre Hand, küsste sie und drückte sie an seine Brust.
Dadurch kam Grace nahe genug an das Telefon, um die kräftige, tiefe Stimme am anderen Ende zu hören. Der Lord der Wyr sagte: »Meine Gefährtin und ich planen unsere nächste Reise nach Louisville. Wir möchten das Orakel befragen.«
Khalil hielt das Gerät vor sich und starrte es überrascht an. Dann nahm er es wieder ans Ohr. »Ich dachte, Sie befragen keine Orakel.«
»Pia hat mich davon überzeugt, eine Ausnahme zu machen«, sagte Cuelebre. »Wir müssen mehr über diese Vision erfahren, die Grace hatte.«
»Vielleicht haben Sie davon gehört, dass jemand vor ein paar Tagen versucht hat, Grace und die Kinder umzubringen, und ihr Haus in die Luft gejagt hat«, teilte Khalil dem Drachen mit. »Rufen Sie in zwei Wochen noch mal an. Im Augenblick hat Grace Urlaub.«
Cuelebres Stimme klang schneidend. »Ich habe von dem Anschlag gehört, und auch davon, dass sie Hilfe im Überfluss hatte. Im Übrigen erwarte ich, mit ihr persönlich zu sprechen und nicht über Sie.«
»Tja, Alter«, sagte Khalil, »manche Sachen muss man einfach verkraften.«
Er klappte das Handy zu, warf es quer durchs Zimmer und drückte Grace sanft aufs Bett zurück, um sie noch einmal zu lieben.
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