3

Auf dem Dach des Hauses nahm Khalil wieder Gestalt an. Nicht unbedingt, weil er den Wunsch verspürte, wieder eine physische Form zu besitzen, sondern damit sich seine aufgewühlte Energie auf einen Punkt konzentrieren konnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen eine Dachgaube. Wie er missbilligend feststellte, war das Dach schäbig, und an einigen Stellen fehlten Ziegel. Das Grundstück war ebenso verwahrlost wie das Haus – das Gras stand zu hoch, und an den Zaunpfählen wucherte das Unkraut. Es annektierte die einst wohlgepflegten Blumenbeete. Überall, wo er hinsah, fand er Zeichen von Vernachlässigung, während die faule, streitsüchtige Menschenfrau schlief. Er fand keinen Gefallen daran – weder an der Art, wie das Anwesen gepflegt wurde, noch daran, wie sie für die Kinder sorgte. Er klopfte mit den Fingern auf seinen Bizeps und dachte nach.

Die Dschinn hatten zu den ersten Wesen gehört, die sich bei der Entstehung der Erde entwickelt hatten. Geboren aus Magie und Feuer, waren sie Wesen aus reinem Geist. Ihre Nahrung gewannen sie aus der Kraft der Sonne, aus dem Lebendigen auf der Erde und aus den Quellen magischer Energie. Jede Gestalt, die Khalil annahm, war wie ein Satz Kleidung, den er anzog, eine Fassade ohne echte Substanz. Dieser Körper, den er im Augenblick trug, besaß keine Organe und würde nicht hungrig werden oder altern und sterben. Er war leicht anzunehmen und leicht zu verwerfen und würde sich einfach in nichts auflösen, sobald Khalil ihn losließ.

Er war nicht der Älteste seiner Art, kein Dschinn der ersten Generation, die am verwegenen, strahlenden Morgen der Welt geboren worden war. Aber er entstammte der zweiten Generation und galt deshalb in seinem Volk als alt. In seinem Haus war er eine Autorität, und seine Stimme hatte bei allen Geschlechtern der Dschinn Gewicht. Verglichen mit seiner alterslosen Existenz war dieses junge Menschenwesen nichts weiter als ein Atemhauch der Zeit, und die Tatsache, dass sie ihn ignorant nannte, war einfach nicht hinnehmbar.

Während er ziemlich genau wusste, warum sie ihn wütend machte, wusste er nicht, warum sie ihn interessierte. Ihre Gesichtszüge und Körperformen waren hinreichend ansprechend, zumindest soweit das bei Menschen möglich war. Sie war blass, und in ihrem Gesicht lagen dunkle Schatten wie die Geister der Erinnerung. Diese Schatten waren faszinierend. Sie erzählten eine Geschichte, allerdings in einer Sprache, die er nicht verstand. Er fragte sich, was für eine Geschichte das sein mochte.

Ihre Haare – nun, ihre Haare fand er interessant. Sie hatten ein helles, rötliches Blond, als wären Feuer und Sonnenlicht darin eingefangen, und in ihren Augen lagen grüne und honigbraune Sprenkel. Ihr Temperament war so feurig wie ihr Haar, und auch sie trug magische Energie in ihrem schlanken Körper, eine ganze Menge sogar. Es war merkwürdig, dass ihm die magische Energie eines so jungen Wesens so alt vorkam. Auf dem Grundstück lagen Echos derselben Energie, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

In der nahe gelegenen Stadt nahm er Bewegungen und weitere Funken uralter magischer Energie wahr. Er wusste, dass ein paar der Wesen von der Konfrontation vom frühen Morgen noch in der Gegend waren. Carling und Rune, einige Ratsmitglieder des Tribunals, der König der Nachtwesen und der Drache waren irgendwo ganz in der Nähe. Khalil war neugierig darauf, wer von ihnen aufbrach und ob vielleicht jemand zurückkäme, um noch einmal mit dem Orakel zu sprechen.

Die Schatten über der Landschaft wurden länger. Der mittlere Westen fühlte sich schwer an, als hätte er sich mit Wasser vollgesogen und ginge mit einer Art Sturm schwanger. Von seiner Position auf dem Dach aus konnte Khalil den Ohio sehen, der die Westgrenze des Grundstücks einfasste. Es war einer der größten Flüsse des nordamerikanischen Kontinents, und auf seiner Wasseroberfläche fing sich das Sonnenlicht, sodass er aus sich selbst heraus zu leuchten schien.

Er lauschte auf die Geräusche im Inneren des Hauses, kleine, alltägliche Geräusche wie das Klirren von Besteck und Geschirr, das ansteckende Kichern des Babys oder Chloes helle Stimme. Das Kind plapperte über irgendetwas, wofür es sich begeisterte, und wenn es nicht redete, sang es. Unablässig stellte es Fragen. Trotz des feurigen Temperaments, das Grace Khalil gegenüber an den Tag gelegt hatte, beantwortete sie Chloes Fragen geduldig.

Es war wie ein kleines Vogelnest. Bei diesem Gedanken musste Khalil grinsen. Zwitscher, zwitscher, zwitscher. Dann das Geräusch von laufendem Wasser und vielen flatternden Flügeln. Das Zwitschern wurde lauter. Viel Gekicher, unterbrochen von Chloes Geträller und Max’ fröhlichem Jodeln. Der Lärm verlagerte sich von der Küche in einen anderen Teil des Hauses. Grace brachte die Kinder zu Bett. Sie überschüttete ihre Babys mit Liebe. Obgleich er keinen Gefallen an ihr fand und sich so gut wie sicher war, dass er sie nicht mochte, musste er der Menschenfrau dafür doch Respekt zollen.

Er dachte an eine lang vergangene Zeit zurück, als sein eigenes Kind, Phaedra, solche hellen, fröhlichen Geräusche gemacht hatte. Bei den Alten Völkern waren Kinder in jeder Form selten, als wollte die Natur einen Ausgleich für das lange Leben schaffen, das sie ihnen einräumte.

Dschinnkinder wurden nicht wie Menschen oder andere körperliche Wesen geboren, sondern bildeten sich bisweilen heraus, wenn sich die Energien zweier Dschinn vermischten. Sie brauchten auch keine so intensive Fürsorge wie die Kinder anderer Lebensformen. Wenn ihre Existenz begann, war ihre Persönlichkeit bereits voll ausgebildet, und sie hatten von beiden Elternteilen große Mengen Wissen geerbt. Trotzdem waren Dschinnkinder unschuldig, entdeckten die Welt völlig neu und waren von einer schalkhaften Leichtigkeit des Seins erfüllt.

Phaedras Mutter Lethe hatte noch mehr magische Energie besessen als Khalil – sie war eine Dschinniya der ersten Generation gewesen, die sich noch an die Frühzeit der Erde erinnerte. Im Laufe der Zeit waren er und Lethe zu Feinden geworden, und um ihn zu verletzen, hatte Lethe sein Kind entführt und gefoltert. Gemeinsam mit einigen Verbündeten, unter denen auch Carling gewesen war, hatte Khalil Phaedra gerettet und Lethe in Stücke gerissen.

Seine Tochter lebte, aber sie lachte nicht mehr, nicht wie diese strahlenden unschuldigen Wesen. Manchmal erlitten Dschinn so großen Schaden, dass sie deformiert wurden. Phaedra war eine von diesen Dschinn, ihre Energie war rissig und verbogen, sie scheute den Kontakt mit anderen, schlug schnell um sich und richtete dann Schaden an. Er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Hatte es nie gewusst.

Irgendwann verließ Grace das Kinderzimmer von Max und Chloe. Khalil hörte, wie sie in die Küche zurückging. Wieder ließ sie das Wasser laufen, und es gab weitere Geschirrgeräusche, Klirren und Platschen. Dann ging sie in ein anderes Zimmer, das linke im Erdgeschoss. Das musste das Büro sein. Eine Zeit lang blieb es still, dann ging sie ins Wohnzimmer. Khalil registrierte, wie sich ihr Gang nach und nach veränderte. Er begann gleichmäßig, aber schon bald wurde er langsamer, und die Schritte klangen unregelmäßig und plump. Noch etwas, das merkwürdig war.

Sie schaltete den Fernseher ein, und in diesem Moment schlüpfte er lautlos wie der Sommerwind durch das offene Fenster ins Kinderzimmer.

Das Spielzeug war aufgeräumt worden, der Boden frei und das Zimmer ordentlich. Es war nicht ganz dunkel, weil die Tür offen stand und aus dem Wohnzimmer Licht in den Flur fiel. Die beiden Betten standen an gegenüberliegenden Wänden, die mit Postern von Puppen geschmückt waren. Über Max’ Bettchen hing ein fröhlicher grüner Frosch, und über Chloes ein rosa Schweinchen mit blonder Perücke und einer Perlenkette.

Khalil setzte das Schwein mit der blonden Perücke auf die immer länger werdende Liste der Dinge, die er nicht verstand. So ungern er es auch zugab, aber vielleicht hatte die Menschenfrau in diesem Punkt doch recht.

Lautlos begab sich Khalil zu Max hinüber, um nach ihm zu sehen. Das Baby roch sauber und schlief wieder tief und fest, die runden Wangen gerötet. Khalil hob Max’ Hand an und betrachtete sie neugierig. Sie war noch kleiner und zierlicher als Chloes, ein weicher, kleiner Seestern von einer Hand. Diese Menschen waren so eigenartige Kreaturen.

Als er zu Chloes Bett hinüberging, sah er, dass sie auf dem Bauch lag und am Daumen lutschte. Auch sie roch sauber, und ihre glänzenden Locken waren gekämmt. Dann sah er im Dunkeln das Funkeln ihrer Augen und begriff, dass sie wach war und ihn ebenso beobachtete wie er sie.

Er ging in die Hocke, um sie anzusehen. Mit dem Daumen im Mund lächelte sie ihn an. »Weißt du, dass ich die Hündchen-Katze bin?«, flüsterte er.

Sie nickte.

»Kluges Mädchen.« Er dachte eine Minute lang nach, suchte nach Worten, die sie verstehen könnte. Es war verblüffend schwierig, so denken zu wollen, wie es ein kleiner Mensch tun würde. »Weißt du, dass ich nicht wirklich ein Hündchen oder eine Katze bin?«

Wieder nickte sie.

Gut. Das war gut. Er tätschelte ihr den Rücken. Unter der dünnen Sommerdecke fühlte sie sich warm und weich an, und auch ein bisschen pummelig. »Weißt du, dass du einen echten Hund – und auch eine echte Katze – nicht am Schwanz ziehen darfst? Und dass du ihnen nicht ins Auge piken darfst?«

Sie nahm den Daumen aus dem Mund und flüsterte: »Definitiv?«

Skeptisch runzelte er die Stirn. »Weißt du, was dieses Wort bedeutet?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er seufzte. »Wie ich sehe, haben wir noch einiges zu tun.«

»Kannst du auch ein Pferdchen sein?«, fragte sie.

Aha. Klein, lautstark und bemerkenswert hartnäckig. Er lernte eine ganze Menge über neue Menschen.

»Ich glaube nicht, dass wir uns jetzt darüber unterhalten sollten«, flüsterte Khalil. Er wollte sie auf den Arm nehmen und drücken, hielt sich aber zurück.

Sie kicherte schläfrig. »Definitiv.«

Wieder tätschelte er ihr den Rücken.

Definitiv.

Der Fluch ihrer Existenz mochte vielleicht aus ihrem Blickfeld verschwunden sein, aber er war nicht wirklich weg. Noch immer spürte Grace seine Gegenwart, die wie der Nachhall eines Fegefeuers in der Luft hing.

Warum war er nicht gegangen? Was zog ihn an, und was konnte sie daran ändern, damit er das Interesse verlor und auf Nimmerwiedersehen verschwand?

Grace dachte über ihr Problem mit dem unwillkommenen Dschinn nach, während sie die Küche aufräumte und die matronenhaften Geister miteinander tuschelten.

Die Babysitterliste war nicht die einzige Hilfe, die sie von den Hexen erhielt. Jaydon Guthrie, Vorsitzender in einem der ältesten Zirkel von Louisville, hatte einen Tag gemeinnütziger Arbeit pro Quartal arrangiert, um Grace bei den wichtigsten Instandsetzungsarbeiten auf dem Grünstück zu helfen. Jaydon zufolge kamen diese Arbeitstage nicht nur Grace selbst zugute, sondern boten auch den Hexen, die mit ihrem Anteil an ehrenamtlichen Aufgaben zurücklagen, eine Möglichkeit, sich freiwillig zu melden. Grace war zu verzweifelt gewesen, um auch nur daran zu denken, dieses Angebot abzulehnen.

Am ersten Arbeitstag hatte sie die Hilfe genutzt, um das Haus so herzurichten, dass sie sich mit den Kindern hauptsächlich im Erdgeschoss aufhalten konnte. Die geräumige Küche verfügte über eine Essecke mit einem Tisch, einem Hochstuhl und vier Stühlen, sodass sie kein eigenes Esszimmer brauchten. Als Petra und Niko sich entschieden hatten, Kinder zu bekommen, hatten sie Waschmaschine und Trockner übereinander in der Küche installiert, damit Petra nicht so oft in den Keller musste. Außerdem gab es im Erdgeschoss ein kleines Gästebad.

Den großen Esstisch und die dazugehörigen Stühle hatte Grace in der Garage unterbringen lassen, das Büro ins Esszimmer verlegt und in dem Raum, der früher das Büro gewesen war, das Kinderzimmer für Chloe und Max eingerichtet. Sie selbst schlief auf einem Futon im Büro/Esszimmer. Das bedeutete, dass sie die Treppen nur noch hinaufsteigen musste, um ins Badezimmer zu kommen oder sich umzuziehen. Im Erdgeschoss war es im Sommer kühler und es war angenehmer für ihr Bein, und so funktionierte diese Lösung fürs Erste. Stück für Stück wanderte ihre Garderobe die Treppe hinunter und schaffte es nicht wieder nach oben. Deshalb hatte sie ihre Kleidung nach und nach in einen Aktenschrank in der Ecke des Büros geräumt.

Der nächste gemeinnützige Arbeitstag stand am Samstag an. Vielleicht konnte ihr jemand eine Kommode hinuntertragen. Solche einfachen Dinge konnten eine schwierige Situation viel erträglicher machen. Sie nahm die nasse Ladung Wäsche aus der Maschine und steckte sie in den Trockner. Anschließend wusch sie sich in der Küche und hielt den Kopf unter den Wasserhahn, um ihr kurzes, feines Haar mit dem Babyshampoo einzuschäumen, mit dem sie die Kinder gewaschen hatte.

Obwohl im Erdgeschoss zwei Ventilatoren liefen, war es im Haus zu heiß. Grace gab klein bei und ging ins Büro, um in ihrem Aktenschrank nach leichterer Kleidung zu suchen. Sie streifte sich ein Tanktop über und schlüpfte in eine Shorts aus einer alten, abgeschnittenen Trainingshose. Schließlich erwartete sie keinen Besuch, und sie selbst brauchte sich nicht anzusehen, wenn sie nicht wollte.

Allerdings würde sie sich daran gewöhnen müssen, wie sich ihr Körper verändert hatte. Vielleicht sollte sie ihr Aussehen nicht ignorieren. Vielleicht sollte sie sich so lange ansehen, bis die Narben nicht mehr wichtig waren. Mit der Zeit würden sie verblassen und weniger auffällig werden. Im Moment jedoch leuchteten sie in einem rohen, wütenden Rot.

Als der Unfall passierte, hatte Grace auf der Rückbank des Wagens gesessen. Das hatte ihr das Leben gerettet. Bei dem Frontalzusammenstoß war sie hinter dem Vordersitz eingequetscht worden. Narben hatte sie an beiden Beinen, aber die schlimmste Verletzung hatte sie am rechten Bein davongetragen, einen schweren Knorpelriss im Knie. Der Chirurg hatte alles in seiner Macht Stehende getan, aber dennoch würde Grace, die früher in der Highschool Kurz- und Mittelstrecke gelaufen war und mit dem Gedanken gespielt hatte, für den Halbmarathon von Louisville zu trainieren, nie wieder rennen können. Außerdem hatte der Arzt sie vorgewarnt, dass sie später trotz allem vielleicht ein künstliches Knie benötigen würde.

Eine solche Operation würde an die 35000 Dollar kosten, vielleicht sogar mehr. Tja, dazu würde es in allzu naher Zukunft wohl nicht kommen. Grace hielt sich sklavisch an ihre physiotherapeutischen Übungen, und wenn es sein musste, trug sie auch ihre Knieschiene. Wenn alles andere versagte, benutzte sie einen Stock. Da ihr der Sturz von diesem Morgen noch immer zu schaffen machte, legte sie die Knieschiene an und spürte sofort die Erleichterung.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein, um durch die Datenbank der Alten Völker zu blättern, die Niko anhand der von früheren Orakeln verfassten Notizen und Bücher eingerichtet hatte. Aha, sie hatte doch gewusst, dass es einen Eintrag über die Dschinn gab. Sie klickte auf den Betreff, um den Eintrag zu öffnen und zu überfliegen.

Die gesellschaftliche Struktur der Dschinn im Dämonenreich bestand aus fünf Geschlechtern – den Häusern Shaytan, Gul, Ifrit, Jann und dem mächtigsten von allen, dem Haus Marid. Diese Geschlechter basierten auf Verwandtschaftsbeziehungen, ähnlich wie Clans oder weitläufige Familien bei den Menschen. Weitreichende Entscheidungen, die das ganze Haus betrafen, wurden nach dem Konsensprinzip getroffen, wobei der ältere, mächtigere Dschinn das letzte Wort hatte.

Dschinn waren Geschöpfe der Magie und des Feuers und besaßen beinahe unvorstellbare Kräfte. Sie machten sich nichts aus weltlichen Dingen oder Geld, sondern handelten mit Gefälligkeiten. Für einen Dschinn war ein Tauschhandel etwas Heiliges, und sich nicht daran zu halten, galt als schweres Verbrechen. Sie waren nicht gerade als versöhnliche Geschöpfe bekannt. Viele Legenden der Menschen erzählten vom bösartigen und schalkhaften Verhalten von Dschinn gegenüber jedem, der dumm genug war, sich auf einen Handel mit ihnen einzulassen und sich dann nicht daran zu halten.

Sie hatte nicht erwartet, dass die Informationen so faszinierend sein würden, aber so interessant der Artikel auch war, verriet er ihr leider nichts darüber, wie man einen Dschinn loswurde, der beharrlich bei einem blieb.

Dank der Unterrichtung durch ihre Großmutter wusste Grace, welche Maßnahmen sie ergreifen musste, um ein unliebsames Gespenst oder einen dunklen Geist zu vertreiben, aber ein Dschinn fiel in eine völlig andere Kategorie Geschöpfe. Die meisten Geister waren kaum mehr als die Erinnerungen eines Toten, und in der Regel verblassten sie von ganz allein. Dunkle Geistwesen, wie zum Beispiel Poltergeister, waren etwas Rudimentäres. Sie bestanden aus der verbliebenen Energie eines besonders bösartigen Geistes und konnten zwar physischen Schaden anrichten und Chaos verursachen, besaßen jedoch nur noch sehr wenig Persönlichkeit, mit der man vernünftig hätte reden können. Als wirklich lebendige Wesen waren Dschinn viel raffinierter und mächtiger. Seufzend fuhr Grace den Computer herunter und ging ins Wohnzimmer.

Sie schaltete den Fernseher ein, um noch das Ende der Lokalnachrichten zu sehen, während sie das Zimmer aufräumte, Spielzeug aufsammelte und Wäsche zusammenlegte. Als sie die aktuellen Nachrichten hörte, wandte sie sich um und starrte auf den Bildschirm. Die beiden Sprecher, ein Mann und eine Frau, spekulierten darüber, dass in Louisville plötzlich mehrere Ratsmitglieder aus dem Tribunal der Alten Völker aufgetaucht waren. Hauptsächlich jedoch konzentrierte sich der Beitrag auf Dragos Cuelebre, den Lord der Wyr, und seine neue Gefährtin, die im luxuriösen Brown Hotel in der Innenstadt abstiegen.

Cuelebre war ein riesenhafter, schwarzhaariger Mann, der fast jeden in seiner Umgebung um mehrere Köpfe überragte. Er hatte sein markantes Gesicht von den Kameras abgewandt und den Arm um eine große, schlanke Frau mit hellblonden Haaren gelegt. Grace kannte sie von der Auseinandersetzung auf der Wiese von heute Morgen. In dem Beitrag trug sie eine Sonnenbrille, die ihr herzförmiges Gesicht zur Hälfte bedeckte. Als sie das Hotel betraten, sagte die Frau etwas zu Dragos, und dieser nickte. Beide ignorierten die Horden von Reportern und Kamerateams, die sie umringten.

Die Nachrichtensprecherin sagte: »Die einzige offizielle Erklärung dafür, warum sich so viele Würdenträger der Alten Völker in Louisville versammelt haben, wurde heute Nachmittag von Tara Huston, der Sekretärin von Ratsmitglied Archer Harrow, abgegeben. In einer vorbereiteten Stellungnahme sagte sie, bei dieser Zusammenkunft habe es sich um eine private Angelegenheit gehandelt, die nichts mit den manchmal angespannten Verhältnissen zwischen den Reichen zu tun habe. Aber was könnte diese private Angelegenheit sein, Todd? Warum sollte dafür die plötzliche Anwesenheit von Dragos Cuelebre erforderlich sein – noch dazu mit seiner geheimnisvollen Begleitung, die, wie wir aus Insiderquellen erfahren haben, seine neue Gefährtin ist?« Das blonde Haar der Frau war mit so viel Haarspray zugekleistert, dass es sich wie ein Helm mitbewegte, als sie den Kopf ihrem Mitmoderator zuwandte.

Routiniert lächelte Todd in die Kamera. »Gute Frage, Joanne. Cuelebre stand in letzter Zeit unter ziemlich hohem Druck. Wie der Rest der Finanzwelt musste auch Cuelebre Enterprises kürzlich einige schwere Rückschläge verzeichnen, dennoch wird das Unternehmen zweifelsfrei auch dieses Jahr in den Top Fünfzig des Fortune Magazines bleiben. Zudem gab es Spannungen zwischen dem Reich der Wyr und dem der Elfen. Und laut einer der überraschendsten Meldungen dieses Jahres hat Cuelebre außerdem einen seiner sieben Wächter verloren: Tiago Black Eagle hat sein Amt niedergelegt, um nun für Niniane Lorelle, die Königin der Dunklen Fae, zu arbeiten. Cuelebres sieben Wächter sind der Dreh- und Angelpunkt der Wyr-Regierung – demnach hat Cuelebre nicht nur mit finanziellen Herausforderungen und Grenzkonflikten zu kämpfen, sondern auch mit massivem Personalmangel. Worin diese ›private Angelegenheit‹ auch bestehen mag, es muss etwas ziemlich Wichtiges für ihn sein, wenn er deswegen kurzfristig aus New York kommt …«

Bei diesen Worten wurde Grace klar, dass der Nachrichtensender nichts von dem wusste, was an diesem Morgen tatsächlich vorgefallen war. Die Zusammenkunft auf ihrem Grundstück war nicht erwähnt worden, und laut ihren Angaben hatte Cuelebre einen seiner Wächter verloren – nicht zwei. Offenbar war Runes Rücktritt als Cuelebres erster Wächter noch nicht öffentlich gemacht worden. Der Beitrag enthielt nur Klatsch über Cuelebre, weil er ein Lieblingsthema der Medien war.

Sie verlor das Interesse an den TV-Sprechern und schaltete den Fernseher aus. Schweißtropfen liefen ihr zwischen den Brüsten hinab. Sie humpelte zum Standventilator und stellte ihn vor die Fliegengittertür, damit er die kühlere Luft von draußen ansog. Dabei warf sie einen Blick nach draußen in die Abenddämmerung.

Zwei große Gestalten mit Umhängen schritten die gekieste Einfahrt zu ihrem Haus herauf. Nach einem Blick auf die untergehende Sonne schlug der größere, breiter gebaute Ankömmling die Kapuze zurück, sodass seine starken, adlerartigen Gesichtszüge sichtbar wurden. Sein dunkles Haar war an den Schläfen von weißen Stellen durchsetzt. Es war Julian Regillus, der Vampyrkönig der Nachtwesen. Auch die zweite Gestalt zog ihre Kapuze ab. Der Mann hatte schulterlanges, nussbraunes Haar, ein freundliches, ausdrucksloses Gesicht und war einer der gefürchtetsten Jäger aller Alten Völker: Julians rechte Hand, der Vampyr Xavier del Torro.

Vampyre kamen ihre Einfahrt herauf.

Sie hatte es schon mal mit Vampyren zu tun gehabt. Nicht oft, aber immerhin. Und die Vampyre von damals waren ausnehmend freundliche Leute gewesen.

Die beiden, die jetzt auf ihr Haus zukamen, waren keine ausnehmend freundlichen Leute. Es waren zwei der mächtigsten Vampyre der Welt. Und ihre Begleiterin hatte an einem Ort, der nach reichsübergreifendem Recht zu einem Zufluchtsort für alle Arten und Völker bestimmt worden war, ein Schwert gezogen.

In gewisser Hinsicht waren Gesetze wie Türschlösser: Sie waren nur in dem Maße wirksam, wie die Leute sie respektierten.

Wie von einem Raketenwerfer abgeschossen, rauschte Adrenalin durch ihr Blut. Sie schob den Standventilator aus dem Weg, schloss die Eingangstür und verriegelte sie, obwohl das lächerlich war. Ein unsichtbarer Schraubstock quetschte ihre Rippen zusammen, bis sie keine Luft mehr bekam. Albernerweise musste sie an Nikos alte Schrotflinte denken, die ungeladen ganz oben in der Speisekammer hinter der Küche aufbewahrt wurde. Sie wusste, wie sie mit der Flinte umzugehen hatte, aber selbst wenn ihr genügend Zeit geblieben wäre, um sie zu holen und zu laden, würde sie, wenn sie damit herumfuchtelte, nicht mehr erreichen, als die Vampyre richtig wütend zu machen. Schaden konnte sie ihnen damit nicht zufügen.

Ihr Blick fiel auf den Fußboden. Sie hatte keine Zeit zum Staubsaugen gefunden, bevor sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, und so war der Boden noch immer mit Brezelkrümeln übersät. Die Krümel bildeten einen Abdruck in der Form und Größe von Chloes Fuß.

Vampyre kommen in mein Haus. Und es ist niemand hier außer mir, zwei kleinen Kindern und diversen Gespenstern.

Und einem arroganten, kindervernarrten Dschinn.

Khalil ist einer der ältesten und stärksten Dämonen, hatte Carling am Morgen zu ihr gesagt. Wenn er verspricht, dass deine Kinder bei ihm sicher sind, dann sind sie es auch.

»Ähm, hallo?«, sagte sie in ihr stilles, leer wirkendes Haus hinein. Ihre Stimme zitterte, genau wie ihre Hände. »Können wir uns kurz unterhalten?«

Die Stille schien die Ohren zu spitzen. Khalil jedoch tauchte nicht auf.

»Wir haben nicht viel Zeit, und ich weiß, dass du mich hören kannst«, flüsterte sie. »Bitte.«

Schwarzer Rauch quoll durch die Wohnzimmertür. Eine Schwade löste sich daraus, stieg vor Grace auf und formte sich zu Khalils Gesicht. Das Gesicht betrachtete sie in etwa so freundlich, wie es zuvor die schwarze Katze getan hatte.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Der Artikel hatte ihr zwar nicht viel über Dschinn verraten, aber immerhin hatte darin gestanden, dass sie gern Tauschgeschäfte schlossen. Materielle Güter bedeuteten ihnen wenig. Ihre Währung waren Gefälligkeiten. Mit leiser Stimme sagte Grace: »Vielleicht mögen wir uns nicht besonders, aber meine Nichte und mein Neffe liegen uns beiden am Herzen, nicht wahr?«

Khalil hob eine seiner rauchigen, eleganten Augenbrauen.

An der Tür erklang ein kräftiges Klopfen, und Grace fuhr zusammen. Sie wechselte in den Telepathiemodus und sagte hastig: Ich möchte dir einen Handel anbieten. Wenn du mich und die Kinder vor den Vampyren beschützt, schulde ich dir einen Gefallen.

Der Khalil-Kopf aus Rauch neigte sich ein Stück zur Seite, während er über die Worte der Menschenfrau nachdachte. Sie war wirklich ein dummes Geschöpf, dachte er. Er hatte gesagt, sie wüsste das unbezahlbare Geschenk, das er ihr anbot, nicht zu schätzen. Jetzt begriff er, dass sie wirklich nicht verstanden hatte, was er meinte. Er hatte längst versprochen, auf die Kinder aufzupassen, und für dieses Angebot hatte er keine zeitliche Begrenzung genannt. Und wenn er für die Sicherheit der Kinder sorgte, dann schloss das auch ihre Bezugsperson ein, die sie so sehr liebten und brauchten.

Und jetzt wollte sie ihm einen Handel für etwas anbieten, das er ihr bereits aus freien Stücken geschenkt hatte? Beinahe hätte er lachen müssen. Er bemerkte ihren schnellen Herzschlag und die geweiteten Augen und erkannte, dass sie wirklich Panik hatte.

Ein mitfühlendes Wesen hätte das vielleicht berücksichtigt und keinen Vorteil daraus gezogen, aber Dschinn waren nicht gerade für ihr mitfühlendes Naturell bekannt.

Und ganz gewiss war er nicht für ihr mieses Verhandlungsgeschick verantwortlich.

Ein weiteres, lauteres Klopfen ertönte. »Mrs Andreas, öffnen Sie bitte die Tür«, sagte del Torro. »Wir wissen, dass Sie da sind.«

Ich werde dich und die Kinder vor den Vampyren beschützen, sagte Khalil, dessen mentale Stimme glatt wie ein Seil aus Seide über ihre Haut glitt. Zu einem Zeitpunkt meiner Wahl wirst du im Rahmen einer Gefälligkeit alles tun, was ich von dir verlange. Einverstanden?

Sie nickte ruckartig. Einverstanden.

Khalil schenkte Grace ein schwefelhaltiges Lächeln. Er wollte seine körperliche Gestalt annehmen, um die Vampyre zu empfangen, also löste sich sein Rauchgesicht auf und …

Grace straffte die Schultern, setzte eine ruhige, wenn auch angespannte Miene auf und wandte sich zur Tür.

Khalil musste zugeben, dass ihn das ein wenig überraschte. Das hätte er der Menschenfrau nicht zugetraut, nachdem sie solche Panik an den Tag gelegt hatte. Noch immer roch sie nach Angst, aber in ihrer Energie knisterte nun auch Wut. Offenbar gefiel es ihr nicht, dass ihr die Vampyre Angst eingejagt hatten. Da sie außerdem offenbar die Gabe besaß, seine Gegenwart zu spüren, beschloss er, sich doch nicht zu materialisieren. Lieber wollte er sich ansehen, wie sie mit dem fertigwurde, was da auf ihrer Türschwelle wartete.

Grace spürte Khalil hinter sich aufragen, als sie durch die feinen Maschen der Fliegengittertür zu den beiden Vampyren auf ihrer Veranda hinausspähte. Heute Morgen auf der Wiese war so viel konzentrierte magische Energie von so vielen Wesen versammelt gewesen, dass Grace kaum hatte auseinanderhalten können, welche Energie zu wem gehörte. Sie hatte sich von einer konturlosen Hitze umgeben gefühlt, als wäre sie im Mittelpunkt einer Sonneneruption gewesen.

Jetzt fiel es ihr nicht schwer, die intensive magische Macht wahrzunehmen, die diese beiden Vampyre in sich trugen. Sie hatte zwei Katastrophen direkt vor der Nase und ein Verhängnis im Nacken, und das war Grund genug, dass ihr der Mund trocken wurde und ihr Herz raste.

»Was wollen Sie?«, fragte sie den König der Nachtwesen.

Na hör mal einer an, dachte sie, ich klinge ganz schön unhöflich, was? Kaum habe ich einen Dschinn als Waffe, verliere ich meine Manieren.

Julian Regillus sah sie mit seinen dunklen Augen an. Durch die Fliegengittertür hindurch spürte sie die Anziehungskraft seines Blicks. »Ich möchte natürlich mit dem Orakel sprechen.«

Die Stimme des Nachtwesenkönigs klang tief und rau wie ein Schluck Rohwhisky. Seinen Umhang hatte er in der warmen Sommernacht geöffnet, und darunter trug er ein schlichtes schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Er hatte eine breite Brust- und Schulterpartie, einen flachen Bauch und überall kräftige Muskeln. Aus der Nähe erkannte Grace, dass er sich in seinem sterblichen Leben nicht besonders gut gehalten hatte. Er sah aus, als wäre er bei seiner Verwandlung Ende vierzig gewesen, in Wirklichkeit also vermutlich Mitte dreißig. Seine groben Züge waren wettergegerbt, die Augen und der strenge Mund von Falten umgeben. Obwohl er das Haar militärisch kurz geschnitten trug, vermittelte er irgendwie den Eindruck eines zottigen Wolfs, der jede ihrer Bewegungen verfolgte.

Im Gegensatz zu seinem König wirkte der Killer neben ihm beinahe schmal. Del Torro hatte einen langen, schlanken Körper, in dem sich die Kraft und Schnelligkeit einer Peitschenschnur verbargen. Xavier del Torro sah aus, als wäre er mit Anfang oder Mitte zwanzig verwandelt worden, und konnte noch immer die Illusion von Jugendlichkeit verkörpern. Seine Augenfarbe lag irgendwo zwischen Grau und Grün, er hatte reine Haut und fein geschnittene Gesichtszüge, die allerdings weder attraktiv noch zart wirkten.

Del Torros Verwandlung war ein berühmtes geschichtliches Ereignis gewesen. Als jüngerer Sohn einer spanischen Adelsfamilie hatte er als Priester gelebt, bis das Tribunal des Heiligen Offiziums der Inquisition in der Nähe seiner Heimat Valencia eine Gemeinde friedlicher Vampyre folterte und vernichtete. Zu dieser Gemeinde hatten auch del Torros ältere Schwester und ihr Mann gehört. Nach diesem Massaker wandte sich del Torro von der katholischen Kirche ab, um sich Julian anzuschließen, der ihn in einen Vampyr verwandelte und ihm auftrug, eine Schneise der Vernichtung in die Offizien der Inquisition zu schlagen. Die folgende Dekade gehörte zu den blutigsten in der Geschichte Spaniens.

Auch wenn Grace theoretisch nichts dagegen einzuwenden hatte, dass jemand sich die Heilige Inquisition vorknöpfte, also … puh.

Sie wandte sich wieder an Julian. »Worüber möchten Sie sprechen?«

Del Torro, der bis dahin eingehend die Fassade des Hauses studiert hatte, schenkte Grace nun ein freundliches Lächeln. »Ist das Ihre Art, Fremden an diesem Ort Zuflucht zu gewähren?«

»Sie sind reich und mächtig«, erwiderte sie. »Sie brauchen keine Zuflucht. Was Sie brauchen, ist eine Luxushotelsuite in der Innenstadt. Und Sie haben Ihr Recht auf Zuflucht heute Morgen verwirkt, als Ihre Freundin auf meinem Grund und Boden ein Schwert gezogen hat.«

Hinter ihr loderte Khalils Gegenwart überrascht auf. Offenbar hatte er nicht gewusst, was vorgefallen war. Seine Aufmerksamkeit musste sich ganz auf das Haus konzentriert haben. Er schlang sich enger um sie.

Julian machte eine scharfe, ruckartige Bewegung, und das gelassene Lächeln schwand von del Torros Gesicht. »Wir haben nicht gewusst, dass sie bewaffnet war, und auch nicht, was sie vorhatte«, sagte Julian.

»Das erscheint mir ziemlich fahrlässig«, sagte Grace. »Soll mich das jetzt beruhigen, damit ich Sie unbesorgt in mein Haus lasse? Das tut es nämlich nicht.«

»Wir haben keine Einwände erhoben, als der Wyr sie getötet hat«, sagte Julian. »Wir haben zugestimmt, dass das gerecht war.«

War das Aufrichtigkeit oder Berechnung? In der Stimme des Vampyrs schwang irgendetwas mit, doch es war zu komplex und nuanciert, als dass Grace es hätte benennen können. Er war Tausende von Jahren alt, und sie war dreiundzwanzig. Sie würde nicht einmal versuchen, ihn zu verstehen, denn sie wusste, dass sie es nicht konnte.

»Ich bin immer noch nicht beruhigt«, teilte Grace ihm mit. »Einer zweiten Konsultation am gleichen Tag bin ich nicht gewachsen. Warum fragen Sie nicht einfach, was Sie wissen wollen? Dann kann ich Ihnen antworten, und Sie können wieder gehen.«

Julian sagte: »Ich möchte wissen, worüber Sie mit Carling gesprochen haben.«

Del Torro senkte den Blick. Mit einer plötzlichen Bewegung flüsterte er: »Madre de Dios.«

Sie sah an sich hinunter.

Schwarzer Rauch umwogte sie und hüllte sie von der Taille abwärts ein. Als sie mit den Fingern hindurchfuhr, kräuselte und ringelte er sich genau wie echter Rauch. Khalil machte die Vampyre unmissverständlich auf seine Anwesenheit aufmerksam. Mit dem Zeigefinger wirbelte Grace den Rauch auf. Es sah wirklich hübsch aus, als würde sie im Schlund eines Vulkans stehen. Oder vielleicht im Schlund der Hölle.

»Darf ich Ihnen meinen Begleiter vorstellen?«, fragte sie. »Er ist nicht sonderlich freundlich.«

Khalil Irgendwas-Wichtiges. Was wohl bedeutete, dass er nicht nur der Fluch ihrer Existenz war. Er konnte gut und gern der Fluch einer ganzen Menge Existenzen sein. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte Grace beinahe gute Laune.

Khalils Gegenwart dehnte sich aus und nahm den gesamten Raum hinter Grace ein. Sie warf einen Blick über die Schulter. Wie gigantische Flügel erhob sich schwarzer Rauch über ihrem Kopf, und aus diesem Rauch beobachteten zwei boshafte, kristallklare Augen die Männer.

Wenn das mal nicht der nächste Schlag war.

»In diesem Haus schlafen kleine Kinder«, zischte Khalil. »Und das Orakel hat seinen Standpunkt hinreichend deutlich gemacht. Sie sind hier nicht willkommen.«

Sie drehte sich wieder um und sah Julian an, der mit loderndem Blick und zusammengepressten Lippen dastand. Er trat einen Schritt näher und brachte sein wütendes Gesicht dicht vor das Fliegengitter. Wie ein transparenter Schleier senkte sich der schwarze Rauch, der Khalil war, über sie. Mit eisiger Stimme sagte Julian: »Wir tun Kindern nichts zuleide.«

Grace rieb sich die Stirn und versuchte nachzudenken. Sie konnte damit leben, wenn sie und der König der Nachtwesen keine Freunde wurden. Aber sich ihn zum Feind zu machen, wäre regelrecht idiotisch.

»Sehen Sie, vielleicht wissen Sie nicht, was genau passiert, wenn das Orakel spricht«, sagte sie offen. »Aber wir haben diese Sache nicht ganz unter Kontrolle. Manchmal erinnern wir uns an das Gesagte, und manchmal sind wir einfach weg. Ich weiß nicht mehr, was mit Carling passiert ist. Ich war weggetreten, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf den Knien lag und alles vorbei war. Sie besitzen Wahrheitssinn. Also müssen Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage. Ich nehme doch an, dass Sie, der Sie so viel älter sind als ich, das erkennen können. Es gibt also keinen Grund, wiederzukommen. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

Julian sah sie lange mit hartem Blick an. In diesem Blick spürte sie das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit und seines Alters. Obwohl sie von Khalils Schutzschleier umgeben war, zitterte sie. Dann senkte Julian den Kopf und ging davon. Auch del Torro machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihm.

Grace sah den beiden Männern hinterher, während sie die Auffahrt hinuntergingen und hinter den Büschen und Bäumen an der Grundstücksgrenze verschwanden. Der Schleier aus schwarzem Rauch zog sich von ihr zurück. Sie spürte, wie Khalil den beiden Vampyren hinterhersauste – hoffentlich, um sich zu versichern, dass sie tatsächlich weg waren. Als die Anspannung aus ihrem Rücken wich, begann sie so heftig zu zittern, dass sie stolperte. Fast wäre sie gestürzt, aber sie hielt sich im letzten Moment am Türknauf fest.

Plötzlich überkam sie das Bedürfnis, nach Chloe und Max zu sehen. Sie griff nach dem Stock, den sie an der Haustür abgestellt hatte, und eilte so schnell sie konnte durch den Flur.

Im Zimmer war es dunkel und still. Zuerst schlich sie zu Chloes Bettchen und beugte sich über sie, um zu sehen, ob es ihr gut ging. Chloe schlief tief und fest, der Daumen war ihr halb aus dem Mund gerutscht. Grace schluckte schwer und steckte Chloes leichte Sommerdecke um das kleine Mädchen herum fest. Dann ging sie leise zu Max. Er war ans Kopfende seines Bettchens gerobbt und lag quer darin, die Füße gegen die Gitterstäbe gestemmt. Auch er schlief tief und fest.

Ihre Augen wurden feucht. Sie hasste es, wenn das geschah. Fest drückte sie sich die Faust gegen die Nasenwurzel, während sie mit der anderen Hand den Flaum auf Max’ Kopf berührte. Seine Haare hatten noch nicht richtig zu wachsen begonnen; er sah aus wie ein glatzköpfiger, glücklicher kleiner Charlie Brown.

Vielleicht hatte der König der Nachtwesen die Wahrheit gesagt. Vielleicht hatte er wirklich nicht gewusst oder befürwortet, was die andere Vampyrin getan hatte. Vielleicht taten sie Kindern wirklich nichts, und Chloe und Max waren die ganze Zeit über vollkommen sicher gewesen. Vielleicht hatte sie überreagiert.

Aber sie konnte das Leben von Chloe und Max nicht von einer Aneinanderreihung von Vielleichts abhängig machen. Und sie durfte auch ihr eigenes Leben nicht aufs Spiel setzen, da die beiden sie so sehr brauchten.

Neben ihr materialisierte sich Khalil und blickte ebenfalls auf Max hinunter. Grace drehte sich zu dem Dschinn um und fasste ihn am Arm. »Danke.«

Ein Geschöpf, das nicht gerade für sein mitfühlendes Wesen bekannt war, litt auch nicht an einem übermäßig ausgeprägten Gewissen. Aber als Khalil Grace in die Augen blickte und den aufrichtig dankbaren Ausdruck darin sah, verspürte er vielleicht doch den einen oder anderen Stich.

Er richtete den Blick auf das schlafende Baby. Danke, hatte sie gesagt, und das war etwas, das ein Dschinn nicht allzu oft hörte. Bei einem Handel hielten sich beide Seiten die Waage. In einem solchen Austausch gab es keinen Grund zur Dankbarkeit.

Er runzelte die Stirn, suchte widerstrebend nach den ungewohnten Worten und fand sie. »Gern geschehen«, sagte er.